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Kapitel sieben

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Kapitel sieben

Ich gehe und gehe. Ich marschiere und singe mir ein Lied dazu, eines jener Wanderlieder, die ich früher bei Ausflügen mit Magda sang. Dann humpele ich wieder lange Strecken auf schmerzenden Füßen. Ich habe mir eine Zehe an einem Stein gestoßen, mit meinen unbeschuhten Füßen ist es schlechtes Wandern. Längst sind meine Strümpfe zerrissen. Kreuze ich einen Bach, klettere die Böschung hinunter, setze mich auf einen Stein und halte die Füße ins Wasser, das mich zuerst durch seine Eiseskälte erschreckt. Dann tut es gut, und, auf einem Stein sitzend, schlafe ich ein. Ich erwache frierend, eisig, ich bin von meinem Sitz gefallen, ich wandere weiter. Je schneller ich gehe, umso länger scheint der Weg zu werden. Die Obstbäume an den Straßenrändern fliegen nur so an mir vorbei, aber ich komme nicht vorwärts. Ich weiß nicht, wo ich bin, nur sehr fern von Haus. Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber noch ist es Nacht. Zwei Hände breit steht der Mond noch über dem Horizont. Und ich wandere. Ich wandere durch ein schlafendes Dorf. Nirgends ist mehr Licht, alle schlafen, nur ich bin noch unterwegs, ich, Erwin Sommer, Inhaber eines Landesproduktengeschäftes en gros. Nicht mehr, nicht mehr, das war einmal. Was hier wandert durch die monderfüllte Nacht, was ist das noch? Es war einmal – lange ist's her. Versunken, vorbei, fast vergessen ... Ein Hund erwacht in seiner Hütte von meinem Schlurfschritt, schlägt an, fängt an zu kläffen, andere Hunde erwachen, und nun bellt das ganze Dorf, und ich schlurfe hindurch, auf blutigen Sohlen, ein Stromer, und gestern war ich noch ... O schweig stille –! Und im Schatten des hölzernen Kirchturms bleibe ich stehen, wieder einmal hebe ich die Flasche zum Mund und trinke. Das lullt die Fragen ein, das bringt die Schmerzen zur Ruhe, das ist eine Peitsche für die nächste halbe Stunde Weg ... Aber nicht viel ist mehr in der Flasche, ich muss den kostbaren Stoff zu Rate halten. Den letzten Schluck – und er muss groß sein! – trinke ich auf der Schwelle meines Hauses, ehe ich vor Magda trete. Aber Magda schläft, ich werde ganz leise mich auf ein Sofa legen, heute Nacht wird es keine Auseinandersetzung mehr geben. Und morgen? Morgen ist sehr weit, bis morgen werde ich tief, tief schlafen, ich werde alles vergessen, was heute war, ich werde wieder der Chef der Firma sein, der wohl einen kleinen Fehler begangen hat, aber der auch die Fähigkeit besitzt, die Scharte wieder auszuwetzen ... Ich habe die leere Flasche in einem Gebüsch des Gartens verborgen, nun steige ich auf meinen nackten Füßen ganz leise die Stufen zur Haustür empor. Auch das leise Öffnen des Schlosses gelingt mir leicht. Ich bin jetzt nicht mehr die Spur betrunken, obgleich ich eben erst nicht nur einen, nein, sogar zwei sehr große Schlucke Korn genommen habe – der Rest in der Flasche war größer gewesen, als ich erwartet hatte. Aber das ist nur gut, umso klarer und sicherer bin ich jetzt. Ich werde keinen Fehler begehen, niemanden werde ich wecken. Wie listig ich bin. Es zog mich ins Badezimmer, mir die blutigen Füße zu waschen, aber mein klarer Kopf erinnerte mich, dass das Rauschen der Hähne dort Magda wecken würde, und jetzt schleiche ich in die Küche. In der Küche darf ich mich waschen, neben der Küche schläft nur die kleine Else, sie meint es gut mit mir. Sie hat mich getröstet, sie ist nicht tüchtig und hart wie Magda. Ich mache Licht, ich sehe mich in der Küche um. Ich wähle eine große Emailleschüssel, und ich denke daran, im Boiler am Herd nachzusehen, ob dort noch etwas warmes Wasser ist. Das Wasser ist wirklich noch lau, ich bin stolz auf meine Tüchtigkeit, ich hole Waschseife, das Küchenhandtuch, die Geschirrtücher und eine Bürste. Dann setze ich mich auf einen Stuhl und stecke die Füße ins Wasser. Ach, wie gut das tut, wie sanft dieses laue Streicheln ist! Ich lehne mich zurück, ich schließe die Augen – wenn ich jetzt noch etwas zu trinken hätte, würde ich ganz glücklich sein. Irgendetwas fehlt immer am menschlichen Glück, ganz zufrieden werden wir nie. Ich habe den Rotwein ausgetrunken, sonst gibt es nichts zu trinken in diesem Haus. Ich muss mir gleich morgen einen Weinkeller zulegen, und ein paar Flaschen Schnaps müssen auch in ihm sein. Schnaps ist etwas sehr Gutes – wie schade, dass ich so viele Jahre versäumt habe, in denen ich hätte Schnaps trinken können – in aller Mäßigkeit natürlich. Ich lehne mich noch weiter zurück, genieße das Bad, fühle die brennenden Schmerzen nachlassen ... Und springe plötzlich auf! Das Wasser schwappt aus der Schale und überschwemmt den Fliesenboden. Aber das ist jetzt ganz egal! Eine Erleuchtung ist über mich gekommen! Natürlich haben wir noch etwas zu trinken im Haus! Hat denn nicht Magda Madeira für manche Suppen, zum Beispiel für die Ochsenschwanzsuppe? Und besitzt sie nicht Rum zum Sterilisieren ihrer Gelees? Ich weiß das doch aus den Haushaltsbüchern! Und ich laufe mit meinen nackten Füßen in die Speisekammer, ich suche, ich rieche an Flaschen, ich rieche Essig und Öl – und hier, da steht es ja: ‚Fine old Sherry’ und hier sogar Portwein, dreiviertel voll die Flasche, und Rum, halb voll – oh, wie schön ist das Leben. Rausch, Vergessen, auf dem Strome des Vergessens dahintreiben, in die Dämmerung hinein, tiefer in die Schwärze hinab, dorthin, wo es weder Versagen noch Reue gibt ... Guter Alkohol, sei gegrüßt, la reine Elsabe, an deiner nackten Brust habe ich geruht, den Ruch von Haar und Fleisch geatmet! –

Ich habe die Schüssel wieder gefüllt, ich habe die drei Flaschen aufgekorkt vor mich aufgebaut, ich habe einen tiefen Zug aus der Rumflasche getan. Zuerst widerstand er mir nach dem sanfteren und reineren Geschmack des Korns, dieser Rum schmeckte schärfer, brennender, er ist zusammengesetzt, aber auch feuriger. Wie dunkelrote Wolken fühle ich ihn in meinem Blute treiben, er beschwingt meine Phantasie, er macht mich noch wacher, achtsamer, listiger ... Ich weiß, ich muss die Küche gut aufräumen, aufwischen muss ich die Überschwemmung auf dem Fliesenboden, die Flaschen gut verkorkt wieder wegsetzen. Niemand darf etwas merken, auch Else nicht. Die gute Else, sie schläft fest, sie ist noch jung, sie hat den Schlaf der Jugend, aber ich, ihr Brotherr, ich sitze hier in der Küche und bewache ihren Schlaf. Wenn jetzt ein Einbrecher käme ... Aber wo habe ich bloß die Korken gelassen? Ich sehe sie nirgends, ich habe sie auch nicht in den Taschen – ob sie wohl in der Speisekammer liegen? Ich müsste dort nachsehen, ich muss die Flaschen gut verkorkt fortsetzen, aber das Wasser ist so linde an den Füßen, und jetzt werde ich müde, möchte ich schlafen, noch einen Schluck, dann werde ich so schlafen, nur einen kurzen Augenblick, und ich werde alles hier ordnen, tadellos werde ich alles in Ordnung bringen, und auch die Korken werde ich finden ... Wer kommt? Wer stört mich schon wieder? Ach, es ist nur Magda, die tüchtige Magda, mitten in der Nacht, nein, mehr dem Morgen zu, steht sie da gewissermaßen gestiefelt und gespornt, jedenfalls völlig angezogen in der Küchentür und sieht stumm mit einem sehr blassen, erschrockenen Gesicht auf mich! Ich richte mich halb auf, mache eine begrüßende Geste mit dem Arm, nicke ihr zu und sage fröhlich: „Da bin ich wieder, Magda! Ich habe einen Ausflug gemacht, eine kleine Landpartie in das Frühlingsgrün hinaus. Hast du in diesem Jahr überhaupt schon die Lerchen singen hören? Morgen werden wir gemeinsam gehen. Du sollst die Birken sehen, wie sanft grün sie sind, und du sollst die Königin des Schnapses kennen lernen, la reine d'alcool, ich habe sie Elsabe getauft ... Du bist so tüchtig, Magda, ich sah dich im Geschäft mit Hinzpeter über den Büchern. Du hast Bilanz gemacht, du hast Klarheit gewonnen, ich habe mich immer vor dieser Klarheit gefürchtet! Diesen Schluck dir, meine Magda, und noch einen und noch einen! Ich weiß, es ist dein Rum, aber ich werde ihn dir ersetzen, ich werde dir alles ersetzen; wir haben noch Geld, ich kann das Geschäft verkaufen. Es gehört mir, ich bin der Chef, ich kann tun, was ich will! Oder sagst du etwas dagegen?“

Sie sagte nichts. Sie sah stumm auf mich, dann auf meine blutigen Füße. Sie war sehr bleich. Aus ihren Augen lösten sich zwei Tränen, sie rannen langsam über ihre blassen Wangen, sie wischte sie nicht fort, ich verfolgte gespannt ihren Weg mit den Augen, bis sie auf das Kleid tropften. Diese Tränen rührten mich nicht, im Gegenteil, es tat mir nur gut, dass sie weinte, es war ein süßes Gefühl in mir, dass sie noch Schmerz empfinden konnte meinetwegen.

Ich trank wieder.

„Du bist so mitleidslos tüchtig, ja, ich habe die Lieferung für das Gefängnis nicht bekommen, aber du wirst das schon wieder ausgleichen. Ich habe immer in deinem Schatten gelebt, du hast mich deine Überlegenheit nie fühlen lassen, aber ich kam nie hoch, und nun bin ich unten angelangt. Auch unten lässt es sich leben, ich habe ein seltsames Mädchen kennen gelernt, auch sie ist ganz unten, aber auch sie empfindet Schmerz und Freude. Auch unten empfindet man Lust und Leid, Magda, es ist genau wie oben, es ist gleich, ob man oben oder unten lebt. Es ist vielleicht das Schönste, sich fallen zu lassen, mit geschlossenen Augen ins Nichts zu stürzen, immer tiefer in das Nichts. Man kann unendlich fallen, Magda, ich bin noch nicht unten angelangt, ich bin noch nicht aufgeprallt, alle meine Glieder sind noch heil ...“

„Erwin“, sagte sie bittend, „Erwin, rede nicht mehr. Höre auf zu trinken. Du bist krank, Erwin. Komm, lege dich ins Bett, ich will deine Füße verbinden. Deine Füße sehen schrecklich aus, ich will deine Füße verbinden ...“

„Siehst du“, rief ich und trank noch einmal, „du gönnst mir nicht einmal die paar Schlucke, gewiss, es sind deine Flaschen, aber ich bezahle sie dir. Ich bezahle sie dir bar oder gebe sie dir in natura wieder, das ist ein glattes Geschäft, dagegen kannst du nichts sagen. Du fragst mich nach meinen Füßen? Ich habe eine Landpartie gemacht, wenn die tüchtige Chefin arbeitet, kann der Chef sich wohl einmal eine Ausspannung gönnen! Ich bin barfuß gegangen, Barfußgehen soll gesund sein ...“

Sie ließ mich weiterreden. Sie hatte schnell die Küche verlassen und kam mit dem großen Badeschwamm, einer Salbendose und Binde wieder. Sie kniete neben mir, und während ich immer abgerissener und lallender über ihr fortredete, wusch sie meine Füße, wusch den Straßenschmutz aus den Wunden, trocknete sie gelinde ab, salbte sie und wickelte sie ein.

„Gut, gut“, sagte ich und trank, „du bist wirklich gut, Magda; wenn du nur nicht so verdammt tüchtig wärst!“

* * *

Hans Fallada: Der Trinker – Band 186e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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