Читать книгу Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski - Ханс Фаллада - Страница 6

Erstes Kapitel – Reif zur Entlassung – 6

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Erstes Kapitel – Reif zur Entlassung – 6

Der Wachtmeister sieht Kufalt über das Geländer weg nach. „Ein bisschen dalli, Kufalt! Tut, als wüsste er nicht Bescheid. Bist doch wahrhaftig genug zum Arzt gelaufen!“

‚Ist ja gar nicht wahr’, denkt Kufalt. ‚Seit der mich damals angezeigt hat wegen Simulieren, als ich den Daumen verknackst hatte und nicht stricken konnte, bin ich keine dreimal mehr bei ihm gewesen. Und ich hatte nicht Viole geschoben, ich hatte den Daumen wirklich verknackst!’

Nein, es sind schlechte Aussichten, den Schein noch irgendwie loszuwerden. Auf allen Gängen ist Hochbetrieb. Vorführung zum Direktor, zum Polizeiinspektor, zum Arbeitsinspektor, zum Arzt, zum Pastor, zum Lehrer – auf allen Stationen knallen die Riegel, knacken die Schlösser, laufen Beamte mit Listen, schieben sich Gefangene in ihren blauen Schlotterhosen lang.

‚Mir geht eben alles schief. Wenn ich mal wirklich kess bin und schneide mir eine Scheibe ab – ein richtiger Ganove werde ich doch nie...’

Unten begrüßt ihn Oberwachtmeister Petrow, ein oller Posener, schon in der Vorkriegszeit Kittchenhengst gewesen, Liebe aller Gefangenen.

„Na, Kufalt, olles Haus, is sich Zeit rum? Siehst du, is gewesen ein Blitz! Warum hat Hauptwachtmeister dir Zelle gegeben? Hättest du machen können auf der Treppe ab das kleine Endchen Knast! – Wie lange? Fünf Jahre? Mensch, Kufalt, Zeit läuft sich wie Auto; was sich kleines Mädchen freuen wird, dass du alles hast aufgespart für sie.“

Der dicke Petrow schnauft strahlend, und die Gefangenen grinsen beifällig.

„Nein, stell dich dort hin, Kufalt, Haus. Nich zu Batzke, denn ihr schwatzt, und der Olle kuckt aus Glaskasten, kuckt, kuckt! – Siehst du, hier, und drei Schritte Abstand. – Komm her, du Neuer mit Brille, willst du zu Fuß gehen auf Hamburg –? Bleib hier, mein Söhnchen, mach ein bisschen halt hier bei uns, Liebling ... Geh nicht mehr weiter.“

An die dreißig Gefangene stehen schon da, wartend auf die Arztvisite, und noch kommen immer mehr von allen Stationen dazu. Kufalt hat den kleinen Tischler, den Emil Bruhn, entdeckt und winkt ihm aus der Ferne zu.

„Das wird ja heute wieder endlos“, stöhnt er zu seinem Vordermann, „todsicher ist der Fraß eiskalt, wenn wir auf die Zelle kommen. Und heute gibt's Erbsen.“

Der vor ihm dreht sich um. Er ist ein langes Reff in einer unglaublichen Kledage, Röhren aus lauter hell- und dunkelblauen Flicken, eine Weste, die so kurz ist, dass zwischen Hosen- und Westenrand eine Handbreit Hemd hervorsieht, und eine Jacke mit Ärmeln nur bis an die Ellbogen. Darüber ein kleiner, blasser, böser Kopf.

„Dich haben sie ja beim Hausvater fein in der Mache gehabt“, sagt Kufalt. „Hast ihn wohl geärgert. – Wie lange reißt du ab?“

„Sprechen Sie mit mir?“ fragt das Reff. „Darf man denn hier sprechen?“

„Nee. Aber du darfst ruhig du zu mir sagen, unsre Kübel werden doch alle zusammen ausgeschüttet. – Wieviel musst du abreißen?“

„Ich bin zu zwei Jahren Gefängnishaft verurteilt. Aber ich bin unschuldig, zwei Zeugen haben einen Meineid geschworen. Ich habe schon Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet.“

„Das mit dem Meineid sagen wir alle, wenn wir reinkommen“, tröstet Kufalt. „Das gibt sich. – Was hat auf deinem Schild über der Zelle gestanden, vor der Verhandlung?“

„Schild –? Wie meinen Sie das? Ach so! Untersuchungsgefangener, als ein ‚U’.“

„Quatsch, das ‚U’ heißt doch nicht Untersuchungsgefangener, das heißt Unschuldiger. Und was hängt jetzt an deiner Zelle?“

„Strafgefangener. ‚S’.“

„Wieder Quatsch. Schuldiger! Das ist alles ganz einfach. Wenn du verknackt bist, bist du auch schuldig, da hilft kein Reden. Urteil ist Urteil. Rede hier bloß keinen Stuss von wegen Meineidsanzeigen, auf die süße Tour fallen wir hier nicht rein. Da sind 'ne ganze Menge, die nehmen das gewaltig sauer, wenn du so daherredest.“

„Na, erlauben Sie mal, ich bin unschuldig, meine Frau und mein Prokurist werden ein paar Jahre Zuchthaus wegen Meineid kriegen. Hören Sie mal zu, ich werde Ihnen das erzählen ...“

Aber es kommt nicht mehr zum Erzählen. Vom Glaskasten her klingt heftiges Schlüsselgeklopfe. „Herr Petrow, passen Sie gefälligst auf! Der Lange da, der Menzel, schwatzt immerzu mit dem Kufalt.“

Petrow stürzt sich wutenbrannt auf den ‚Unschuldigen’: „Soll ich dir Giftzahn ausreißen, Laster, langes, geklebtes? Bist du in Judenschule, denkst du? Glaubst du? Marsch, marsch, marsch, Linken, Rechten, Linken, Rechten in Arrestzelle, kannst du reden mit Eisen, bis Arzt kommt, Schwätziges, du!“

Knack knack, die Zellentür fliegt zu, der ganz verstörte Lange ist verschwunden, und im Vorbeigehen flüstert Petrow strahlend dem Kufalt zu: „Hat er Schiss gekriegt, der Neue? Bin ich schrecklich wütend? Söhnchen, mach mit dem nicht Kumpelage, immer ist das bei Direktor und Inspektor und schwätzt alles, was es hört.“

Und Petrow ist schon zehn Schritte weiter. Da stehen isoliert zwei Braune, schmucke Zuchthaushusaren, sicher auf Transport hier. Und die beiden Isolierten hatten drei Schritte vorwärts gemacht, vom Linoleum herunter auf den gewachsten Zementboden, wohl um etwas Anschluss zu finden bei den anderen Gefangenen, vielleicht wegen Tabak...

„Bleibt sich hier, die Herren, auf dem braunen Linolei, immer auf dem Linolei. Hier, die Herren!“

Die Zuchthäusler sehen nicht auf, sie sehen starr vor sich in die Luft, hören nichts, rühren sich nicht. Kufalt stellt wieder fest, dass Zuchthäusler eine ganz andere Art haben, mit Beamten umzugehen. Gefängnisgefangene schmusen sich an, suchen auf du und du zu kommen, der Zuchthäusler hat nie einen Beamten gesehen, die sind alle Luft für ihn.

Petrow empört sich ernstlich: „Auf den Linolei! Auf den Linolei!“

Die beiden hören nichts, sehen nichts. Nur wie zufällig machen sie gerade jetzt einen Schritt, zwei Schritte, drei Schritte – und stehen wieder auf dem Linoleum. Den Beamten haben sie gar nicht gesehen.

Die Tür zum Lazarett tut sich auf. In seinem weißen Mantel erscheint der Lazaretthauptwachtmeister: „Vorführung zum Arzt!“

„Paarweise antreten!“ schreit Petrow. „Einrücken ins Lazarett!“

Und im selben Augenblick bricht die sorgfältig bewahrte Ruhe und Ordnung zusammen. An die fünfzig Gefangene rücken im Gelärm und Geschwätz durch die enge Schlucht eines Ganges über eine Treppe ins Lazarett. Petrow versucht, wenigstens die beiden Zuchthäusler im Auge zu behalten, aber sofort sind die untergetaucht zwischen den anderen, tauschen Worte, ihre Hände fassen zu.

„Na, wartet! Werde ich filzen euch auf Tabak, Schweine, miserablige! – Na, lass sie! – Stellt euch hierhin, ihr beide!“

„Alles in zwei Gliedern aufstellen, die Gesichter zur Wand, die Rücken gegeneinander. Schuhe und Pantoffeln ausziehen und vor sich stellen!“ kommandiert der Lazaretthauptwachtmeister.

Es geschieht, ein Name wird aufgerufen, und der Gefangene verschwindet im Arztzimmer, der Hauptwachtmeister hinterher.

„Das wird heute wieder endlos dauern“, haucht Kufalt zum kleinen Bruhn, der neben ihm steht.

„Weiß man nicht, Willi“, flüstert Bruhn. „Manchmal macht er sechzig in einer halben Stunde fertig. Siehst du, geht der Krach schon los.“

Aus dem Arztzimmer tönt Geschimpfe, Geschrei, der Gefangene erscheint, wutrot: „Aber ich bin wirklich krank, ich beschwere mich beim Strafvollzugsamt, das lasse ich mir nicht gefallen!“

„Gehen Sie schon, gehen Sie“, drängt der Hauptwachtmeister.

„Simulantengesindel“, hört man den Arzt schreien. „Ich besorg's euch! Der Nächste!“

„Riecht heute sauer“, sagt Batzke auf der anderen Seite von Kufalt. „Wenn er schon beim ersten so anfängt...“

„Wenigstens kommen wir dann schneller dran. Ich will noch zum Fußball. Du doch auch?“

„Weiß noch nicht. Mein Affenfett ist alle, ich muss erst noch mal auf die Anschaffe.“

„Müssen wir uns eigentlich ganz ausziehen?“ fragt Kufalt.

Und Batzke: „In Fuhlsbüttel mussten wir's. Wie's hier bei den Preußen ist, weiß ich nicht.“

„Unsinn“, flüsterte Bruhn von der anderen Seite. „Gar nichts wird gemacht. Der sieht uns gar nicht an.“

„Glaub' ich nicht“, sagt wieder Kufalt. „In der Strafvollzugsordnung steht doch, dass die Gefangenen vor ihrer Entlassung gründlich auf Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu untersuchen sind.“

„Da steht viel.“

„Also du meinst, wir brauchen uns nicht auszuziehen?“

Batzke flüstert: „Na, was für heiße Sore hast du denn in deinen Lumpen, Kufalt? Machen wir Kippe oder –?“

„Stille seid ihr, Klatschtanten“, ruft Petrow. „Mit Schlüssel in Genick schlag' ich!“

„Ach, Herr Oberwachtmeister, darf ich nicht mal austreten? Herr Oberwachtmeister, es zieht mir ja so durch den Bauch! Ich hab' ja so 'ne Angst vor dem Arzt!“ grinst Kufalt.

„Na, geh scheißen, altes Haus. Drüben in Spülzelle. Dass du aber keine drinnen stößt, sonst alles Qualm, und Doktor schimpft.“

„Bestimmt nicht, Herr Oberwachtmeister.“

Und Kufalt verschwindet in der Spülzelle, deren Tür er anlehnt. Der Sicherheit halber zieht er die Hosen runter, aber dann stellt er sich mit dem Rücken gegen den Spion, nimmt hastig den Schein aus dem Halstuch, schiebt ihn tief in die Socken (‚so, Batzke, Kippe is nich’), macht sich zurecht, lässt einen Augenblick die Wasserleitung laufen und stellt sich wieder in Reih und Glied.

Petrow steckt den Kopf prüfend in die Spülzelle und zieht ihn befriedigt zurück. „Nicht geraucht, keine gestoßen, braver Kerl, Kufalt.“

Und Kufalt fühlt sich ob dieses Lobes richtig gerührt.

Doch Batzke flüstert: „Na, Mensch, Kufalt, wie is –? Kommst du rüber mit der Sore, oder soll ich?“

Und Kufalt dagegen: „Und was ist mit dem dicken Juden und der nackten Schickse? Mensch, hau bloß ab, bei mir immer Fehlmeldung!“

„Na also“, grinst Batzke. „Hast du den Stubben auch hochgenommen? Sauber! Sauber!“

Aus der Ecke grollt eine drohende Stimme: „Wie lange sollen wir hier noch in Socken auf dem kalten Fußboden stehen? Eine Schweinerei ist das! Beschweren werde ich mich!“

Petrow grinst: „Die Herren aus dem Zuchthaus? Hat sich Medizinalrat so angeordnet. Kann ich nichts machen, Herren. Beschweren sich bei Medizinalrat.“

„Möchte ich auch wissen“, sagt Kufalt leise zu Bruhn, „warum diese Schweinerei ist. Zehnmal habe ich mir schon den Husten bei dieser Steherei auf dem kalten Fußboden geholt.“

„Dass wir den Herren Lazarettkalfaktoren ihr Linoleum nicht zerkratzen“, meint Batzke.

„I wo“, erklärt Bruhn, der alles weiß. „Das ist schon sechs, acht Jahre her, da hat mal ein Gefangener dem Arzt die Latschen um den Kopf gehauen. Seitdem darf kein Gefangener mehr in Latschen zu ihm.“

„Verdammte Schweinerei“, knurrt Kufalt. „Wir dürfen uns hier erkälten, weil...“

„Wir sind eben Vieh“, sagt Batzke. „Aber ich will's denen draußen auch zeigen, was ich für ein Vieh bin!“

Die Gefangenen sind dahingeschmolzen wie Schnee an der Sonne, es hat mehr Krach gegeben, mehr Geschrei, empörte Proteste oder weinerliches Gewinsel, aber zum Schluss hat immer die dicke Schulter des Lazaretthauptwachtmeisters die Leute aus der Tür gekantet, Petrow hat sie weiterbefördert, hat mitfühlend ihre Klage angehört und ist froh gewesen, wenn er sie aus dem Lazarett raus hatte.

Nun kommen nur noch die beiden Zuchthäusler und die Entlassungen dran.

„Pass auf, jetzt gibt's Krach“, rät Kufalt.

„Glaub' ich nicht“, zweifelt Bruhn. „Sollte mich wundern.“

Und nach fünf Minuten erscheinen die beiden wieder aus dem Arztzimmer, mit denselben ausdruckslosen Gesichtern, und diesmal taucht der Herr Medizinalrat selbst hinter ihnen auf: „Der Hauptwachtmeister bringt Ihnen gleich die Medizin rauf. Ja, auch Watte. Jawohl.“

„Die können's besser, die Jungen“, beneidet sie Kufalt.

„Ach was“, sagt Bruhn, „feige ist er bloß, der Doktor. Das können doch Lebenslängliche sein – und was riskieren die schon, wenn sie ihm in die Fresse schlagen? Lebenslänglich bleibt immer lebenslänglich. Das weiß der Doktor ganz gut.“

„Kehrt! Den Arzt anschauen! Das sind die Leute, die diese Woche zur Entlassung kommen, Herr Medizinalrat.“

„Schön.“ Der Medizinalrat sieht nicht hoch. „Die Leute können abgeführt werden. Alle gesund, alle arbeitsfähig, Herr Hauptwachtmeister.“

„Dafür haben wir hier nun eine Stunde gewartet“, sagt Bruhn.

„Aber ich schreibe eine dicke Beschwerde, wenn ich raus bin“, erklärt Kufalt.

„Vieh muss wie Vieh behandelt werden“, grinst Batzke. „Recht hat er, der Pflasterkasten!“

* * *

7

Als Kufalt in seine Zelle kommt, hat er schon wieder Grund zum Ärger. Da haben sie unterdessen Essen ausgegeben und ihm seinen Essnapf auf den Tisch gestellt, aber nur einen Schlag haben sie hineingetan! Hunde, die verdammten! Soll er Kohldampf schieben noch in den letzten Tagen? Und gerade Erbsen, die er so gerne isst!

Aber als Kufalt dann sitzt und hastig löffelt – er muss schlingen, denn es kann jede Minute klingeln zur Freistunde der dritten Stufe –, widersteht ihm das Essen plötzlich. Das hat er ein paarmal gehabt in diesen Jahren: wochenlang, monatelang konnte er den breiigen Fraß nicht runterbringen.

So wühlt er nur appetitlos in der Schüssel, ob sich vielleicht ein Stückchen Schweinefleisch hinein verirrt hat – aber nichts.

Er kippt das Essen in den Kübel, macht die Schüssel sauber und schmiert sich einen Kanten mit Schmalz. Sein Schmalz schmeckt deftig, die Schneider braten es ihm unten auf dem Bügelofen mit Äpfeln und Zwiebeln aus. Zu ihm sind sie anständig, bei ihm nehmen sie nicht mehr als ein Viertel vom Pfund für ihre ‚Arbeit’, andere müssen die Hälfte oder gar drei Viertel geben, und wer grün ist, der kriegt überhaupt nichts zurück. Da hat es eben der Hauptwachtmeister beschlagnahmt. Die Schneider sind noch anständig gewesen und haben alle Schuld auf sich genommen. Erzählen die. Mach da schon was!

Kufalt hockt auf seinem Schemel und gähnt. Am liebsten haute er sich eine Weile aufs Bett, aber der Hauptwachtmeister kann jeden Augenblick an die Glocke schlagen, es wäre schon längst Zeit.

Wie sich die Zeit dehnt, diese letzten Tage und Wochen! Sie geht nicht hin, sie geht nicht hin, sie bleibt, sie klebt, sie geht nicht hin. Sonst hat er jede freie Minute gestrickt, aber er mag nicht mehr, nicht eine Masche mehr wird er denen stricken! Nichts mag er mehr. Auch nicht draußen sein. Sicher schreibt Werner überhaupt nicht, und dann darf er beim Pfaffen um Unterkunft betteln.

Das Beste wäre ein gutes sicheres Einkommen, es braucht nur klein zu sein, aber sicher. Nichts mehr von den Ganoven sehen, irgendwo ganz unauffällig hausen, ein gewisser, gleichgültiger Willi Kufalt, und man hat sein Zimmer und sitzt warm durch den Winter. Vielleicht mal Kino. Und nette Büroarbeit, und so weiter und so weiter. Er wünscht sich nichts Besseres. Amen.

Die Glocke schlägt an.

Er fährt hoch, greift nach Mütze und Halstuch, fühlt noch mal, ob der Schein fest im Strumpf sitzt – da macht schon Steinmetz die Tür auf: „Freistunde dritte Stufe!“

Unterm Glaskasten sammeln sie sich, elf Männlein von sechshundert.

„Seid ihr alle?“ fragt Petrow.

„Nein, Batzke fehlt noch.“

„Der pennt, muss extra geweckt werden.“

„Nein, der will nicht kommen.“

„Einen feinen Begriff kriegen die vorne. Die werden uns rasch wieder die Extrafreistunde abknöpfen, wenn sie sehen, dass wir nicht mal hingehen.“

„Wer hat den Fußball?“

„Einen neuen brauchen wir auch wieder. Den kann man nicht mehr flicken.“

„Halt's Maul, Schuster, gut ist der noch zu flicken, sei bloß nicht so faul!“

„Wenn die feinen Herren übermorgen rauskommen, können sie schon mal zehn Mark schmeißen von ihrer Arbeitsbelohnung.“

„Ich brauch' mein Geld für mich.“

„Nanu, Herr Oberwachtmeister, warum gehen wir denn heute durch den Keller?“

„Is sich näher.“

„Und verboten ist es auch.“

„Wer verboten? Gar nicht verboten!“

„Rusch!“

„Was der verbietet, ich hust' in die Hosen.“

„Da steht doch wer!“

„Mensch, Bruhn, kommst du mit uns mit?“

„Au fein, Emil, da können wir schön miteinander klöhnen.“

„Petrow hat mich rausgeschmuggelt, Rusch ist jetzt nicht im Bau. Fein, was, Willi?“

„Das gibt es gar nicht! Der ist noch nicht mal zweite Stufe! Herr Oberwachtmeister –!“

„Ich nichts sehen. Nicht wissen, wie Bruhn rausgekommen.“

„Hältst du den Sabbel, neidischer Hund! Gönnst das dem Bruhn wohl nicht, dass er ein einziges Mal mit uns rauskommt?“

„Stubben, dämlicher, wenn ich mal was will, gibst du an, noch und noch.“

„Bei Bruhn ist das anders, bei Bruhn sagt kein Wachtmeister was.“

„Anders – weil er dein Süßer ist, was? So was gibt's gar nicht, ich werde dir Lampen machen!“

„Tu's doch, wenn du's wagst! Ich weiß auch was von dir...“

Sie sind draußen. Es ist der Freihof vom Jugendgefängnis, auf dem sie Fußball spielen und spazierengehen dürfen, ohne Aufsicht – Petrow hat sich schleunigst gedrückt –, als Vorbereitung für die Freiheit, allerdings von einer fünf Meter hohen Mauer umgeben.

„Komm, Willi, lass ihn doch reden, ich bin ja jetzt draußen.“

„Ja, komm. Wir gehen hier die Mauer lang, da stören wir sie nicht beim Spiel.“

„Dir muss man eine in die Fresse schlagen, du hochnäsiger Hund, du!“

„Schlag doch, schlag doch, wenn du Courage hast!“

„Das will ich dir beweisen, du Priemmaul, du elendes –!“

„Spielen wir nun Fußball oder nicht, Schuster –?“

„Viel zu elend bist du mir, hau bloß ab mit deinem Puppenjungen. Aber ich sag' es dem Rusch –!“

„Also komm endlich, Willi!“

„Dieser elende Schuster, Emil! Ich will dir auch sagen, warum er so stänkert. Meine beiden gelben Spatzen hab' ich ihm verkauft für vier Pakete Tabak. Und der Rusch hat es gerochen. Nun ist er die Vögel und den Tabak los. Darum ist er so giftig, nicht deinetwegen.“

„Wann kommt er raus, der Schuster? Der spinnt ja schon.“

„Und ob! Drei Jahre muss er noch abreißen. Aber er schmiert sich ja an jeden ran, den Beamten besohlt er heimlich die Schuhe, noch und noch, und jetzt will er ja auch wieder in die katholische Kirche eintreten, da kriegt er sicher Bewährungsfrist!“

„Ja, der kommt immer wieder raus, der versteht den Bogen.“

Sie gehen in der warmen Maisonne immer unter der Mauer auf und ab. Grün ist kein Gräserl, kein Zweig zu sehen, aber der Himmel ist schön blau, und nach den trüben Zellen ist die Sonne doppelt hell und warm. Sie wärmt bis in die Knochen, die Glieder werden schlaff und lässig, die immer gespannte, sprungfertige, abwehrbereite Stimmung entspannt sich, die beiden werden weich und ruhig.

„Du, Willi“, sagt der kleine Bruhn.

Er ist ein dicker, molliger Junge, erst achtundzwanzig, mit siebzehn in den Bau gekommen. Mit seinen hellblauen Augen, dem rosigen, vollen Gesicht, dem fast weißen Haar sieht er aus wie ein großes Kind. Auf seinem Schild in der Zelle steht aber ‚Raubmord’, und er hat auch die Höchststrafe für Jugendliche bekommen, damals noch fünfzehn Jahre. Doch nach so was sieht er nicht aus, er ist ein guter Junge, alle im Bau mögen ihn. Nie hat er sich angeschmiert, und doch mögen sie ihn.

Übrigens behauptet er, wenn er auf die Sache, sehr selten und sehr hilflos, zu sprechen kommt, dass er zu Unrecht verurteilt ist. Es war kein Raubmord, es war Totschlag, in Wut und Verzweiflung hat er seinen Kahnschiffer, der den Schiffsjungen Bruhn bis aufs Blut peinigte, erschlagen. Dass es ihm dann leid tat, mit dem toten Schiffer die goldene Uhr ins Wasser zu werfen, das steht seiner Ansicht nach auf einem anderen Blatt. Nicht um die Uhr hat er den erschlagen.

Da gehen die beiden jungen Leute, fünf Jahre und elf Jahre Knast haben sie hinter sich, jetzt sind sie in der Sonne, und in zwei Tagen ist alles überstanden, und alles wird wieder gut.

„Du, Willi?“ fragt der kleine Bruhn.

„Ja, Emil?“

„Ich hab' dich schon in der Spülzelle gefragt: Willst du nicht hier bleiben? Hier am Ort, meine ich. Nein, sag noch nichts, ich denke mir, wir nehmen uns zusammen ein Zimmer, das wird billiger. – Und wenn du nicht gleich Arbeit kriegst, kochst du und wäschst und machst die Hausarbeit. Ich werd' gut verdienen. Und abends werfen wir uns fein in Schale und gehen aus.“

„Ich muss doch sehen, dass ich Arbeit kriege, Emil. Ich kann doch nicht ewig deine Hausarbeit machen.“

„Arbeit kriegst du. Nur so für den Anfang, dachte ich. Wenn du kräftiger wärst, würde ich dich in der Holzfabrik unterbringen, aber du musst wohl Schreibkram machen oder so was ... Der Alte mag dich doch gerne, der besorgt dir sicher was.“

„Ach, der Direktor, der kann auch nicht, wie er möchte. Und dann, Emil, hier das kleine Nest, überall laufen die Wachtmeister rum und die blauen Jungens auf Außenarbeit und ewig hast du den Bunker vor Augen und nach drei Tagen wissen die Krimschen, woher du bist. Und dann schwatzt es sich rum und die Wirtin erfährt's und dir wird gekündigt...“

„Wir gehen gleich zu einer, die's nicht stört.“

„Ach, das sind doch auch wieder solche, die wollen uns dann gleich hochnehmen.“

„Braucht nicht zu sein, Willi, glaub mir, braucht nicht zu sein. Es gibt auch andere. – Ich denk' immer, ich krieg' noch mal ein anständiges Mädel, nicht solch Nuttenpack, und heirate und werde Meister und hab' Kinder ...“

„Würdest du's ihr denn sagen?“

„Weiß nicht. Müsste man mal sehen. Aber besser nicht.“

„Aber du musst es ihr sagen, Emil! Sonst hast du ja immer Angst, es kommt raus und sie läuft dir weg.“

Sie stehen in der vollen Sonne, sie sehen sich nicht an, sie sehen vor sich hin in den grauen Sand, Kufalt wühlt mit seinem Pantoffel darin.

Bruhn bittet noch einmal: „Also, Willi, mach, komm mit mir!“

Und Kufalt: „Nein. Nein. Nein. Das mit dir, Emil, wäre doch auch wieder Kittchen. Wir würden immer nur vom Bau reden und vom Knast. Nee, nicht.“

„Nein!“ sagt nun auch Bruhn.

„Man hat ja hier alles mitgemacht, und man hat schön mitgeschoben und beschissen und hat andere in die Pfanne gehauen und ist denen in den Arsch gekrochen, denen vorne, aber nun Schluss!“

„Ja“, sagt Bruhn.

„Und dann, wegen des anderen auch ... Weißt du, als ich auf der Penne war, auf der Schule, verstehst du, da habe ich 'ne Liebe gehabt, ganz von weitem, wir haben höchstens zweimal miteinander gesprochen, und einmal hab' ich gesehen, wie sie ihr Strumpfband wieder festmachte in den Anlagen. Das war damals, als die Mädchen noch lange Röcke trugen, weißt du...“

„Ja“, sagt Bruhn.

„Aber das war nichts gegen das erste Jahr hier, als du mir gegenüber auf der anderen Seite die Zelle hattest und ich sah dich morgens. Du hattest nur Hemd und Hose an und setztest den Kübel raus und den Wasserkrug. Und dein Hemd stand offen über der Brust. Dann fingst du an, mir zuzulächeln, und ich hab' immer auf das Schließen gewartet, ob ich dich zu sehen kriegte ... Und dann schicktest du mir den ersten Kassiber ...“

„Ja“, sagt Bruhn, „das war damals noch durch den langen Kalfaktor, den Tietjen, der wegen Raub saß. Der war stiekum, der machte es selber so.“

„Und dann das erste Mal, als du im Duschraum, wie der Wachtmeister sich umdrehte, zu mir unter meine Dusche krochst und wie du dich immer hinter dem Schirm verstecktest, wenn der linste ... Gott, es waren doch manchmal schöne Zeiten hier im alten Bau ...“

„Ja“, sagt Bruhn, „aber ein Mädchen ist doch besser.“

Kufalt besinnt sich: „Siehst du, darum hab' ich mich daran erinnert: wenn wir beide zusammen wären, es ginge gleich wieder los wie früher ...“

„Nein“, sagt Bruhn. „Nicht, wenn Mädchen da sind.“

„Doch“, sagt Kufalt. „Und es soll alles vorbei sein. So schön es gewesen ist, es soll alles vorbei sein. Jetzt geht es ganz neu los, und ich will genau so sein wie alle anderen.“

„Also du gehst bestimmt nach Hamburg?“

„Nach Hamburg, ja, da fragt keiner nach mir.“

„Na schön, bleib bloß fest in Hamburg, Willi. – Gehen wir noch ein Stück?“

„Ja, gehen wir, die Sonne ist schon richtig heiß.“

Der kleine Bruhn sagt: „Dann werde ich also mit Krüger zusammenziehen. Der kommt am 16. Mai raus.“

Kufalt fragt erschrocken: „Hast du den jetzt, Emil? Der ist aber nicht gut.“

„Nein, ich weiß. Er klaut uns noch immer unseren Tabak. Und er hat drei Strafen, weil er Arbeitskollegen bemaust hat.“

„Na also!“

„Aber was soll ich machen? Einen muss ich haben, ganz allein halt' ich's nicht aus. Und die meisten wollen draußen nichts von mir wissen, von wegen Raubmord, weißt du.“

„Aber nicht gerade mit Krüger!“

„Wer kommt denn schon mit mir! Du hast doch auch nein gesagt.“

„Aber doch nicht darum, Emil!“

„Und ich muss auch jemanden haben, der mir hilft, Willi. Ich bin doch elf Jahre im Bunker, ich weiß doch von nichts, Mensch. Manchmal habe ich direkt Angst, ich denke, ich mach' was falsch, und es geht gleich wieder schief und ich sitz' mein' Lebtag drin.“

„Schon darum ginge ich nicht mit Krüger.“

„Also zieh du zu mir.“

„Nein. Ich kann nicht. Ich will nach Hamburg.“

„Dann nehme ich Krüger.“

Eine Weile gehen sie stumm nebeneinander. Dann sagt Bruhn: „Ich muss dich auch noch was fragen, Willi. Du weißt doch mit solchen Sachen Bescheid...“

„Mit was für Sachen?“

„Mit Geld. Mit Sparkassenbüchern.“

„Ein bisschen. Vielleicht.“

„Wenn jemand – also einer hat ein Sparkassenbuch auf meinen Namen und er hat auch die Marke dazu, kann er da Geld abheben darauf? Nicht wahr, das kann er doch nicht?“

„Meistens wird er's können, wenn das Sparbuch nicht gerade gesperrt ist oder es ist Kündigung ausgemacht. Meistens kann er's. Hast du ein Sparbuch?“

„Ja. Nein. Es ist eins angelegt worden für mich...“

„Vor deinem Knast?“

„Nein, hier...“

„Quatsch dich rein aus, Emil, ich halt' schon den Sabbel. Vielleicht kann ich dir was helfen?“

„Ich hab' doch immer in Schuppen drei gearbeitet, erst bei den Möbeltischlern und nachher für die Firma Steguweit die Geflügelställe...“

„Ja?“

„Und dann hat doch Steguweit auf der großen Geflügelausstellung die goldene Medaille gekriegt auf seine Fallennester und musste liefern, noch und noch. Und damit wir ordentlich was fertig kriegten, haben seine Werkmeister uns heimlich Tabak zugesteckt. Das war damals, als im Bau überhaupt noch nicht geraucht werden durfte.“

„Vor meiner Zeit...“

„Ja, und dann kam es raus, es gab einen Riesenkrach, und mit dem Tabak war es alle. Aber sie hatten sich was anderes ausgedacht. Wir hatten ja nun keine Lust mehr, uns das Leder von den Händen zu arbeiten, bloß damit Steguweit Geld verdiente, und schlugen so Nest für Nest zusammen, gerade, dass der Tag hinging. Und da kamen dann die Werkmeister und sagten: ‚Jungens, für jedes Nest, das ihr über fünfzehn abliefert pro Tag und Mann, kriegt ihr zwanzig Pfennig. Und das Geld wird für jeden von euch eingezahlt auf ein Sparkassenbuch mit seinem Namen. Und wenn ihr entlassen seid, dann kommt ihr zu uns und holt euch das Geld ab.’“

„Saubere Sache das! Da wurden Nester fertig?“

„Mensch, ich sage dir! Wir haben Tage gehabt, da haben wir zweiunddreißig, ja, fünfunddreißig pro Nase extra abgeliefert. Na, es war auch Schinderei, meine Pfoten hättest du sehen sollen, das hat was gekostet!“

„Und das Geld ist richtig für dich eingezahlt?“

„Klar. Im ersten Jahre waren schon über zweihundert Mark da. Und im nächsten machte es noch mehr. Jetzt müssen's schon weit über tausend sein.“

„Na, nun verlang doch das Sparbuch. Nimm's ihm einfach weg, wenn er's dir zeigt.“

„Ja, jetzt zeigt er es doch nicht mehr. Ist zu gefährlich, sagt er, riecht sauer, sagt er. Da sind doch eine Masse Leute rausgekommen in der Zeit, und manche haben Krach gemacht und sind zum Direktor gelaufen, weil es zu wenig ist. Und Steguweit hat zum Direktor gesagt, das alles ist Scheißhausparole, so was wie Sparbücher gibt es natürlich überhaupt nicht, weil es nicht zulässig ist vor dem Gesetz, dass Gefangene sich Geld extra verdienen.“

„Es sind doch sicher welche von den Entlassenen wieder reingekommen in der Zeit in den Bau, was haben die denn erzählt?“

„Welche sind, die hat der Steguweit gefragt, wenn sie zu ihm gekommen sind, ob sie träumen, er weiß von Sparbüchern nichts. Und wenn sie gemein geworden sind, dann hat er mit der Polizei gedroht. Manchen, die sehr gebettelt haben, hat er auch zwanzig Mark gegeben und manchen fünfzig, aber was ist das gegen die vielen Hunderter, die sie zu kriegen hatten? Ich hab' allerdings das meiste, ich bin von Anfang an dabei.“

„Und was sagen die Werkmeister?“

„Dass die Kerls schwindeln. Dass die ihr Geld gekriegt haben und dass sie es nur nicht wahrhaben wollen, weil sie es gleich versoffen und verhurt haben.“

„Möglich ist das ja. Das sind doch alles Scheißer, die wieder reinkommen in den Bunker. Aber warum zeigen sie dir das Buch dann nicht? Das ist doch Schwindel, dass sie Angst haben! Du müsstest den Steguweit anzeigen. Aber nee, das ist auch nichts, das lass lieber. Nachher kriegst du noch Knast wegen Erpressung wie der Sethe da an der Mauer.“

„Der hat doch was mit dem Küchenmeister gehabt?“

„Ja. Lass schon, ich seh' rot, wenn ich daran denke. Der käme auch übermorgen raus und muss noch drei Monate abreißen, weil ich den Sabbel nicht gehalten habe. Der brächte mich am liebsten um. Na, lass schon...“

„Ich hab' gedacht“, sagt der kleine Bruhn, „ich geh' am schlausten zum Alten. Der ist doch ein netter Kerl und hilft uns, wenn er kann.“

„Freilich, wenn er kann. Er kann nur nicht, wie er will.“

„Warum soll er nicht können? Er braucht nur jeden Gefangenen in Schuppen drei zu fragen, dann hört er, dass ich die Wahrheit sage.“

„Und wenn er dir auch glaubt, er kann gar nichts machen. Das ist doch was Verbotenes, das Spargeld, und er kann dir doch nicht zu was Verbotenem verhelfen! – Sieh mal, da ist die Sache von dem ollen Sethe drüben, die war ganz sauber, und doch schiebt der Olle Knast dafür noch ein Vierteljahr.“

Sie stehen in einem Winkel. Die Fußballspieler sind müde geworden, liegen an der Mauer in der Sonne, schlafen und rauchen. „Rauchen auch wieder, die Äster“, murrt Kufalt. „Wissen, dass es verboten ist hier vorm Jugendgefängnis. Na, lass sie, übermorgen bin ich in der vierten Stufe, da kann mir piepe sein, was aus der dritten wird. – Also, der olle Sethe, der war Kartoffelschäler für die Küche und saß seine sechs oder acht Jahre im Kartoffelkeller und schälte Kartoffeln. Und jeden Monat einmal meldete er sich zum Arbeitsinspektor, er bäte um andere Arbeit, er wäre nun lange genug im Kartoffelkeller gewesen, möchte auch mal an die Luft. Und immer wurde sein Gesuch abgelehnt. Schließlich kommt er dahinter, dass es der Küchenmeister ist, der den Arbeitsinspektor aufputscht, er soll ihn nicht aus dem Kartoffelkeller rauslassen. Weil Sethe nämlich so viel schafft wie sonst zwei Kartoffelschäler. Das hast du vom vielen Arbeiten hier im Bau.“

„Richtig.“

„Und er fleht den dicken, vollgefressenen Küchenbullen an, er soll ihn doch rauslassen, er wird trübsinnig in dem nassen, dunklen Keller, und der sagt: ja, ja, nur noch dies Vierteljahr, und im Frühjahr soll er zu den Gärtnern kommen. Und dann wieder nicht und wieder nicht, bis dem ollen Sethe die Geduld reißt.

Der weiß doch eine ganze Menge aus der Küche, und so weiß er auch, dass der Küchenmeister sich jeden Mittwoch und Sonnabend seine fünf, sechs Pfund Fleisch unter die Weste steckt und nach Hause schleppt. Und dann dürfen die Beamten sich doch Hobelspäne holen aus der Tischlerei, in einem Sack auf dem Handwägelchen, zum Feuer anmachen. Aber im Sack vom Küchenmeister sind oben Späne, und unten drin sind Erbsen und Linsen und Graupen und Grieß. Aber das Beste ist: meistens muss ausgerechnet der olle Sethe dem Dicken das Handwägelchen nach Hause ziehen.

Na, der Sethe überlegt sich hin und her, wie er es machen soll, dass er den Küchenmeister absägt und ein anderer kommt und er aus dem Keller. Schließlich erzählt er mir den ganzen Quatsch und fragt: ‚Kufalt, was soll ich machen?’ Und ich sage ihm: ‚Sethe, die Sache ist klar wie Kuhkäse, mit der Scheiße gehen wir zum Direktor.’ Und er sagt: ‚Zum Alten! Auf keinen Fall! Da schussele ich rein!’ Und ich sage: ‚Wie kannst du da reinschusseln, der Quatsch ist klar, wir drehen das Ding so, dass du nicht reinfallen kannst.’ Und er zu mir: ‚Ich wollte Gott, ich hätte dir nichts gesagt, ich falle rein, du bist ja grün.’ Und ich zu ihm: ‚Ich bin nicht grün, aber du bist in einer Woche bei den Gärtnern.’ Und melde mich zum Direktor.

Denn eine schöne Wut hatte ich im Bauch auf das fette Schwein von Küchenmeister. Uns armen Gefangenen, die Kohldampf schieben, frisst so ein Speckjäger noch das bisschen Fleisch weg!“

„Und was sagt der Alte?“

„Der Direktor hört sich also die Geschichte an und wiegt seinen ollen Glatzkopf hin und her und sagt: ‚So ist das also. Gehört habe ich auch schon davon, aber wie es im Einzelnen zuging, das wusste ich noch nicht.’ Und ich sagte ihm: ‚Ja, nun darf aber der Sethe nicht reinfallen. Wenn Herr Direktor sich vielleicht am nächsten Mittwoch oder Sonnabend um sechs Uhr am Tor aufhalten wird? Da kommt der Küchenmeister mit seinem Handwagen mit Spänen drauf und Sethe vorneweg. Und kneift Sethe die Augen zu, so ist diesmal wirklich nur Holzzeug im Sack, und lässt er die Augen offen, so greifen Sie zu und haben den Speckjäger.’ – ‚Ja’, sagt der Direktor, ‚das haben Sie sich gut ausgedacht, das machen wir. Und ich danke Ihnen auch, Kufalt.’

‚Na’, sage ich zu Sethe, ‚die Sache ist in Butter.’ Und er freut sich auch. Aber am nächsten Mittwoch sagt er: ‚Der Direktor war nicht da, und drei Büchsen Corned beef waren im Sack!’ Und am Sonnabend sagt er: ‚Die haben dem Küchenmeister die Sache verpfiffen, der ist ganz anders zu mir.’

Und wie der Kram zum Klappen kommt, kriegt der Sethe eine Anklage wegen Beamtenbeleidigung in die Zelle. Und die Köche stehen wie ein Mann da und schwören, dass sie nie gesehen haben, dass der Küchenmeister sich Fleisch genommen hat oder Erbsen und dass das auch gar nicht möglich ist, und ol Vadder Sethe hat drei Monate Knast weg. Übermorgen wäre er sonst rausgekommen.“

„Aber vielleicht hat er wirklich geschwindelt. Warum soll der Direktor so was machen?“

„Das hat doch nicht der Direktor gemacht, das hat doch die Beamtenkonferenz gemacht. Das geht doch nicht, dass ein alter Beamter von einem Gefangenen reingelegt wird! – Sei du vernünftig, mach es, wie ich es dir gesagt habe, und geh nicht zum Direktor.“

„Ich weiß nicht, Willi. Bei mir ist das doch anders.“

„Natürlich ist es anders bei dir. Aber das gleiche ist, dass der ein Verbrecher ist und du auch, und uns wird schon von vornherein gar nichts geglaubt. Mach es, wie ich es dir gesagt habe. Halt die Klappe und sei froh, wenn du draußen bist und Arbeit hast!“

„Wenn du wirklich meinst, Willi?“

„Natürlich meine ich das. Ich mach' es auch nicht anders, Emil!“

* * *

8

Am Nachmittag wurde Kufalt plötzlich von einem jähen Arbeitseifer ergriffen. Eigentlich hatte er bloß seine Zelle wienern wollen, aber dann sah er, dass ihm am Netz nur noch gegen zweitausend Knoten zu einem vollen Pensum fehlten, und wenn er sich dranhielt, war das zu schaffen und er bekam achtzehn Pfennig mehr ausbezahlt bei der Entlassung.

So strickte er denn los auf Deubel komm raus. Ein bisschen schluderig wurde es ja, und gerade bei einem Heringsbelli sah es immer infam aus, wenn die Knoten nicht fest waren. Aber die Hauptsache blieben die achtzehn Pfennige, und wenn der Netzekalfaktor das Netz ordentlich reckte, war es noch zehnmal gut für die ollen Fischdampfer.

Dann ist er mit dem Stricken fertig, setzt sich auf den Fußboden und reibt ihn ein. Auch das muss man weghaben, nur eine Spur Terpentin mit Graphit, sonst bleibt die Erde stumpf und wird nicht blank, soviel man auch mit der Bürste reibt. Zum Schluss macht er ‚Muster’, das ist augenblicklich die große Mode im Zentralgefängnis: aus einem Pappdeckel schneidet man sich eine Schablone und bürstet nun den Boden durch die Schablone ‚gegen den Strich’, dann hat man hell und dunkel glänzende Muster auf der Erde, Blumen und Sterne und kleine, galoppierende Tiere. Es ist das kein Muss, aber es macht Spaß und gefällt dem Auge des Hauptwachtmeisters Rusch und macht sein Herz geneigt für solche Künstler.

Als er auch das fertig hat, geht er ans Putzen des Metalls. Der schwierigste Fall ist die Innenseite des Kübeldeckels, die direkt mit dem Urin und Kot in Berührung kommt, da bildet sich immer ein weißlicher, schleimiger Schimmel. Nun, er hat den Bogen raus, man scheuert das erst mit einem möglichst hart gebrannten Backstein, dann...

Zu Anfang hat es ihn gestört, dass unterdes der offene Kübel dicke Gestankwolken in seine Zelle sendet, jetzt weiß er von so was nichts mehr. Der Kübel stinkt eben, da kann man nichts machen, und er stinkt auch noch lange nach, denn die Zellen sind klein und lüften sich schlecht. Dann nimmt man etwas Putzpomade...

Aber da geht die Tür zu seiner Zelle auf, und der Netzemeister kommt herein, mit seinem Netzekalfaktor. Doch das ist der Rosenthal nicht mehr, das ist schon wieder ein neues Gesicht.

„Nanu, Meister“, grinst Kufalt und putzt emsig weiter, „haben Sie schon wieder 'nen neuen Kalfaktor? Das geht bei Ihnen ja wie's Brezelbacken!“

Der Meister antwortet nicht, sondern sagt zu seinem Gehilfen: „Da, das Netz raus und alles Garn und die Eisenstange und – wo haben Sie Ihr Messer, Kufalt?“

„Liegt im Schrank bei der Bibel. Nee, auf dem Fenster. Habe eben noch das Pensum fertiggestrickt, Meister.“

„Welches Pensum? Wollen Sie nicht den Kübel solange zumachen? Das stinkt hier wie die Pest.“

„Ihre riecht wie Veilchen, was? – Welches Pensum? Das letzte Pensum natürlich. Immer, was unten dranhängt!“

„Sechzehn Pensum haben Sie seit dem Ersten! – Machen Sie jetzt den Kübel zu, ich befehle es Ihnen!“

„Geht nicht, muss den Deckel wienern. Trampeltier du da hinten, heb das Netz gefälligst auf und verschramm mir nicht meinen Boden! Siehste nich, dass ich frisch gewienert habe?“

Der Gefangene, ein ‚Studierter’, wie Kufalt gleich gesehen hat, sagt: „Schnauzen Sie mich nicht an, ich verbitte mir das! Und dann sollen Sie den Kübel zumachen, haben Sie ja gehört, das stinkt hier wirklich gemein.“

„Mit dir red' ich überhaupt nicht, du hast doch sicher 'ne alte Tante um ihre Spargroschen betrogen?! – Wieso sechzehn, Meister? Jetzt sind's siebzehn, und die will ich morgen bezahlt haben, sonst kracht's.“

„Seien Sie nicht so frech, Kufalt“, bittet der Meister förmlich. „Oder ich muss Herrn Hauptwachtmeister rufen.“

Kufalt aber ist in Wut und sagt: „Den ruf du man, mit dem erzähle ich mir gerne was. – Guck nicht so, du Dussel, raus mit dem Netz, raus mit dir aus meiner Zelle! – Wollen Sie mich zum Tort um ein Pensum betrügen?“

Der Netzemeister ist ganz verzweifelt: „Sie sind ja reine wild, Kufalt, Sie spinnen ja. Der Arbeitsinspektor hat doch heute früh schon die Pensumlisten von den Entlassenen verlangt! Da kann ich doch nichts mehr ändern, Kufalt. Nehmen Sie doch Vernunft an!“

Kufalt schreit: „Dann mussten Sie's mir sagen!“

„Sie waren doch beim Arzt.“

„Ganz egal! Denkt ihr, ich schenke euch viertausendfünfhundert Knoten! Bring das Netz rein, du, ich knot's wieder auf.“

„Kufalt“, fleht der Meister, „seien Sie nur einmal vernünftig. Sie brauchen doch sechs, acht Stunden, die Knoten wieder aufzumachen.“

„Ganz egal!“ schreit Kufalt wieder. „Das ist Schikane von dir! Das ist deine Rache, dass du mir das Pensum nicht zahlen willst, ich kenn dich doch! Das Netz her, oder ich schmeiß' den Kübel mit dem ganzen Scheißdreck...“

„Wat denn! Wat denn!“ klingt es von der Tür, und der Herrscher des Zentralgefängnisses, Hauptwachtmeister Rusch, schiebt sich herein. „Mit Scheiße schmeißen? Feste, feste! Aber alles wieder einsammeln, mit den Händen, selbst! Selbst!!“

„Und der Mann will übermorgen rauskommen“, sagt der Netzemeister, der sich plötzlich sicher fühlt.

„Das geht Sie gar nichts an“, fährt Kufalt neu auf. „So was haben Sie überhaupt nicht zu sagen! Sie sind hier kein Beamter, verstehen Sie! Beim Direktor werd' ich Sie melden! Sie, Sie haben mich erst so gemacht! Schikaniert haben Sie mich Tag für Tag! Ich hab's Ihnen nicht vergessen, Meister, wie Sie mir immer das schlechteste Garn gegeben haben und immer gesagt haben, die Knoten sind nicht fest genug. Und ich hab' getreckt und getreckt, bis ich mir den Daumen verknackst habe, und Sie haben sich in den Bart gelacht und immer gesagt: immer noch nicht fest genug.“

„Warum schreien Sie denn so, Kufalt?“ fragt der Hauptwachtmeister. „Sind Sie krank?“

„Gar nicht bin ich krank, aber siebzehn Pensum hab' ich gestrickt und der Meister will mir nur sechzehn anrechnen. Ist das Gerechtigkeit? Ich denke, wir werden hier nach Gerechtigkeit behandelt?“

„Wenn der Mann siebzehn gestrickt hat, muss er auch siebzehn bezahlt kriegen“, erklärt Rusch.

„Aber ich hab' dem Arbeitsinspektor...“

„Wat! Wat! Aber! Hat er siebzehn gestrickt –?“

„Ja, aber...“

„Wat! Wat! Aber? Kriegt er siebzehn bezahlt! Alles klar!“

„Aber ich hab' die Listen doch schon abgeliefert.“

„Dann sagen Sie eben, Sie haben einen Fehler gemacht.“

„Es ist nur, Herr Hauptwachtmeister“, sagt plötzlich grinsend Kufalt, „weil er denkt, ich hab' ihn in die Pfanne gehauen mit seinem Rosenthal. Darum soll ich ein Pensum weniger kriegen. Und darum bin ich so wütend gewesen.“

Der Hauptwachtmeister guckt und wartet. Dies ist seine Stunde. In solchen Stunden erntet er, in diesen Stunden, wenn sich die Kumpel verfeinden und die Genossen anschwärzen, da sammelt er sein Material gegen Gefangene und Stufenstrafvollzug, da kommt der Stoff her für seine Anzeigen. Alles weiß er, alles erfährt er, und vorne in seinem Büro, der Direktor schlägt die Hände über dem Kopf zusammen und verzweifelt: ist denn nicht ein Gerechter...?

Der Netzmeister läuft blaurot an und schluckt: „Herr Rusch, wenn hier einer in die Pfanne gehauen werden muss...“

„Na, wat denn?“ fragt Rusch breit und gemütlich. „Sie meinen doch nicht unsern Musterknaben, den Willi Kufalt? Gucken Sie sich die Zelle an, wissen Sie sonst noch so 'ne Zelle im ganzen Bau? Gewienert, glänzt wie ein Affenarsch.“

Und Kufalt ist seiner Sache so sicher, dass auch er noch den Meister hetzt: „Freilich, ich muss in die Pfanne gehauen werden, Meister, Sie haben's gerade nötig, mir Lampen zu machen, Meister. Haben doch wohl auch als Hilfsbeamter einen Eid geschworen, Meister?“

Worauf nun wieder der Netzemeister wütend losbricht: „Der Erpresser der, aber ich will Ihnen sagen, Hauptwachtmeister...“ Und besinnt sich, dunkelrot, aber besinnt sich: „Also Sie kriegen Ihre siebzehn Pensum bezahlt, Kufalt. Und wenn ich Ihnen die achtzehn Pfennig übermorgen unterm Tor selber geben muss. Sie kriegen Sie!“

Der Netzemeister geht ab. Jetzt steht der Hauptwachtmeister unzufrieden und wütend da.

„Hab' ich keine Post, Herr Hauptwachtmeister?“ fragt Kufalt.

„Post. Post. Sie kriegen Ihre Post, wenn's Zeit ist. Und überhaupt haben Sie nicht so frech zu sein. Der Netzemeister ist Ihr Vorgesetzter. Ich schreib's in Ihren Entlassungsschein, Kufalt, dass die Führung schlecht war. Dann kommen Sie bei keiner späteren Strafe auch nur in die zweite Stufe.“

Spricht's und schrammt die Tür zu, ehe Kufalt sich von neuem entrüsten kann.

* * *

9

Abends um acht Uhr hat die dritte Stufe ihren allwöchentlichen Radioabend. Es ist schön still im Bau, die paar Wachtmeister vom Nachtdienst schlurren auf Filzlatschen herum und schließen die schon für die Nacht versperrten Zellen der Leute von der dritten Gruppe vorsichtig und leise noch einmal auf. Und sachte gehen die runter zum Schulzimmer, denn nichts ist schlimmer als ein Gefängnis, das nachts in Lärm gerät. Sind die Gefangenen erst einmal in ihrer kostbaren Nachtruhe gestört, dann hört das Schreien und Toben und Brüllen überhaupt nicht wieder auf.

Im Schulzimmer sammeln sich die Zwölf, es ist noch ziemlich taghell, der Schuster hantiert schon am Radio.

„Was gibt's denn?“ fragt Kufalt, aber der Schuster ist noch von mittag her böse und antwortet nicht.

Dafür sagt Batzke, der lange Batzke, der über nackte Mädchenschönheiten gebietet und der die Heizkessel der Anstalt versorgt: „'ne Oper, von Verdi. Willste zuhören?“

„Nee, nur nicht. Warum die am Abend nie was Humoristisches machen, versteh' ich nicht. Könnten doch auch mal an 'nen Gefangenen denken.“

Aber Batzke leiert seinen alten Vers: „Warum sollen die an uns denken? Sind froh, dass sie nicht an uns zu denken brauchen. Heilfroh, dass sie uns los sind, Vieh, das wir sind.“

Das Radio hat eingesetzt, und die beiden gehen den langen Gang neben den Schulbänken auf und ab.

„Hast du Tabak? Au, Mensch, Batzke, wo kriegst du nur immer den feinen Tabak her? Ich habe hier ja auch was gelernt von Schieben, aber so wie du...“

„Wenn du erst vierzehn Jahre Knast abgerissen hast wie ich“, sagt der sechsunddreißigjährige Batzke, „kennst du den Laden auch schon besser.“

„Nur nicht!“ ruft Kufalt. „Lieber tot!“

„Das sag man nicht“, tröstet Batzke. „Dafür ist die Zeit draußen umso schöner.“

„Nee, danke, ich werde jetzt solide.“

„Mach bloß so was nicht“, warnt Batzke. „Du hältst es ja doch nicht durch. Da strampelst du dich zwei Monate ab oder drei oder fünf und schiebst Kohldampf und rennst dich um nach Arbeit. Und vielleicht kriegst du wirklich Arbeit und schuftest dich tot, dass sie dich nur behalten. Aber dann kommt's doch irgendwie raus, dass du gesessen hast, und der Chef befördert dich an die Luft oder die Kollegen – die sind immer die schlimmsten – wollen mit so 'nem Verbrecher nicht arbeiten. Hab' ich alles versucht. Aber wenn du dann mürbe bist und hast drei Tage nichts gefressen und fasst was an und gehst hoch dabei, gleich sagen sie: ‚Das haben wir uns doch gedacht. Gut, dass wir den damals gleich rausgeschmissen haben.’ So sind die, und wenn du schlau bist, dann hörst du auf mich und fängst gar nicht erst so was an wie Solidwerden. Dann machste mit mir mit.“

„Aber man wird geschnappt und kommt wieder ins Kittchen.“

„Nicht so leicht, wenn man ausgeruht ist und Geld hat. Immer wenn man Kohldampf hat und Angst, und Geld kriegen muss. – Irgendwann fassen sie einen natürlich doch, aber bei mir wird das seine Weile haben.“

„Aber es gibt doch welche, die kommen nicht wieder rein?“

„Wer denn? Wer denn? Sag doch, wie lange schiebst du Knast? Wieviel Leute hast du schon wiederkommen sehen in der Zeit? – Na also! Und die nicht hierher wiedergekommen sind, die schieben jetzt woanders Knast. Ich dreh' mein nächstes Ding auch nicht wieder in Preußen, ich geh' mit 'nem Stadtplan brechen in Hamburg, dass ich nur nicht über die Grenze nach Altona gerate. Knast in Fuhlsbüttel ist viel besser als in Preußen, da kann schon die zweite Stufe Fußball spielen.“

„Ich mag aber nicht brechen gehen. Hab' keinen Mumm für so was.“

„Sollst du auch nicht, mein Junge. Weiß ich doch selber. Wie wirst du mit solchen Ärmchen brechen gehen? Nee, auf so einen wie dich habe ich schon lange gewartet. Du bist doch fein, kennst die Fremdwörter und ein bisschen Englisch. Parlewuh, du ahnst ja nicht, wie einem so was fehlt. Ich mach' auch lieber was anderes als auf Bruch gehen.“

Kufalt fühlt sich geschmeichelt.

„Ich hab' gelernt und gelernt“, erzählt Batzke weiter, „aber den richtigen Dreh krieg' ich doch nicht raus. Eine Weile lang hab' ich mal in Heiratsschwindel gemacht, das Risiko ist nicht so groß und du brauchst kein Geld auszugeben für die Nutten, aber glaubst du, ein besseres Mädchen hab' ich gekriegt –? Ich hab' so aufgepasst wie's gemacht wird, auf der Rennbahn und in der Bar, und die Fingernägel hab' ich mir manikürt – nichts. Die feinen Kavaliere sind mit den großen Kallen abgezogen, und wenn ich meine besah, dann waren 's immer ein Dienstbolzen oder höchstens 'ne Stütze, mit ein paar hundert Erspartem, es lohnte nicht.“

„Richtiges Benehmen könnte ich dir schon zeigen.“

„Siehst du, das ist es, was einen wurmt. Ich versteh' alles, ich kann 'nen Geldschrank knacken mit 'nem Schneidbrenner wie nur einer. Aber immer krieg' ich nur die kleinen Sachen, die anderen gehen mit den großen über den Harz. So was wurmt einen, wenn man sein Fach versteht.“

„Aber zum Einbrechen braucht man doch keine Bildung, Walter!“

„Du hast 'ne Ahnung! In einen feinen Klub kommen als Doktor Batzke oder mit einem Luxuszug mitfahren, ohne dass gleich die Schmiere den Braten riecht in einem hochherrschaftlichen Haus die Vordertreppe raufgehen und der Portier hat nicht einmal die Courage, dich zu fragen, wieso und zu wem – das, sage ich dir, das musst du mir beibringen.“

„Ich glaub' immer, du kannst das alles schon. Du hast sicher in deinem Leben mehr Sekt gesoffen als ich.“

„Sicher ... aber eben gesoffen ... aber eben mit Huren. Sekt trinken, weißt du, und dabei 'ne Unterhaltung führen mit 'ner richtigen Dame und ihr nicht schon nach dem dritten Glas in den Ausschnitt fassen – so was will ich lernen!“

Sie gehen auf und ab. Alle unterhalten sich, rauchen, streiten, ein paar im Winkel spielen Schach. Verdis Melodien gehen unter in dem Gelärm.

Walter Batzke fängt an zu schwärmen: „Mensch, ich sage dir, wir wollen es fein haben! Wenn wir jetzt rauskommen, haben wir beide Geld, da wird gelebt, sage ich dir. Was du in der ersten Nacht tust, weißt du?“

„Nee? was tue ich da?“

„Nichts weißt du! Eine feine Nutte freist du dir auf der Reeperbahn oder in der Freiheit und gehst mit ihr auf ihre Bude. Und wenn sie anfängt von Marie und Abladen und so, dann haust du deinen Entlassungsschein auf den Tisch und sagst: ‚Mädchen, heute blechst mal du! Fahr Sekt auf!“

„Die wird mir schön auf den Kopf spucken.“

„Das weiß er nicht! Nicht mal das weiß er! Die erste Nacht nach dem Knast ist bei allen Huren in Hamburg frei. Das ist so. Das kannst du mir glauben. Da schließt sich keine aus.“

„Wirklich?“

„Ehrenwort! – Na, und am Sonntag komme ich dann ja nach.“

„Soll ich dich von der Bahn abholen?“ fragt Kufalt.

„Nee, lieber nicht. Ich muss erst mal nach Haus und nach meiner Ollen sehen.“

„Verheiratet bist du plötzlich auch?“

„Nee! Seh' ich so aus? Ne olle Witwe habe ich, so an die Fünfzig, die sonst keinen mehr findet, die besorge ich und dafür habe ich zwei feine Zimmer und Bad und fein Essen – Präpelchen, Junge! Vielleicht kannst du auch bei mir wohnen, muss mal sehen, Harvestehuder Weg, Witwe Antonie Hermann. Die ist von der großen Reederei, davon hast du doch schon gehört?“

„Glaubst du denn, dass die all die Jahre auf dich gewartet hat?“

„Du bist gut! Natürlich hat sie 'nen Jungen und natürlich hat sie keine Ahnung, dass ich jetzt wieder rauskomme aus dem Knast. Aber du weißt ja, wie ich bin, fromm bin ich nicht. Ich stell mich einfach hin vor den Jungen und sag: ‚Der Rabe ist da. Raus!’ Und wenn er seine Sachen packt, da steh' ich dabei, und was sie ihm zu viel geschenkt hat, das wird meins!“

Kufalt macht es Spaß, er grinst: „Und lässt sie sich das gefallen?“

„Die –? Ich weiß doch, wo die Reitpeitsche hängt, und wenn ich sie erst einmal verdroschen habe, weiß sie von keinem anderen mehr.“

Es geht Kufalt etwas durcheinander, der Rauch ist dick und der Abend trüb geworden und die Musik der Oper klingt aus weiter Ferne. Witwe vom Harvestehuder Weg, Reedereibesitzerin, Reitpeitsche, Rabe – es ist ein bisschen viel. Aber wenn man fünf Jahre Knast geschoben hat, scheint nichts unmöglich – Dinge hat man hier erlebt!

Er lässt es auf sich beruhen und fragt: „Also wo treffen wir uns? Und wann?“

„Ich will dir sagen“, schlägt Batzke vor, „wir treffen uns auf dem Hauptbahnhof – nee, da läuft immer so viel Schmiere rum, die kennen mich alle. Wir treffen uns um acht auf dem Rathausmarkt unterm Pferdeschwanz.“

„Wo ist das?“

„Unterm Pferdeschwanz? Warst noch nie in Hamburg?“

„Nur ein paar Tage.“


„Da ist ein Denkmal von Kaiser Wilhelm auf dem Rathausmarkt, da reitet er. Unterm Pferdeschwanz weiß jeder in Hamburg.“

„Gut. Das finde ich. Also um acht.“

„Abgemacht. Und wirf dich fein in Schale. Wir machen einen langen Zug.“

„Schön. An mir soll's nicht liegen.“

„An mir auch nicht.“

* * *

10

Durch den schlafenden, fast dunklen Bau schleicht hinter dem Nachtbeamten Kufalt, auf Socken, die Pantoffeln in der Hand.

Der Wachtmeister schließt die Zelle auf, er steht einen Augenblick da, den Lichtschalter zögernd in der Hand. „Gehen Sie einmal ohne Licht ins Bett, Kufalt. Ich muss sonst in zehn Minuten die vier Treppen wieder rauf. Und ich hab' den ganzen Tag zu Haus Holz gesägt und bin hundemüde.“

„Selbstverständlich“, sagt Kufalt. „Das macht mir nichts. Gute Nacht, Herr Thießen.“

„Gute Nacht, Kufalt. Es ist ja wohl Ihre letzte Nacht?“

„Vorletzte.“

„Und wie lange haben Sie abgerissen bei uns?“

„Fünf Jahre.“

„Lange Zeit. Auf und ab eine lange Zeit“, sagt der alte Mann und schüttelt den Kopf. „Sie werden sich wundern draußen. Fünf Millionen Arbeitslose. Schwer ist das, Kufalt, schwer. Meine beiden Söhne sind auch arbeitslos.“

„Ich hab' ja warten gelernt.“

„Haben Sie's gelernt? Hier doch nicht! Hier hat's noch keiner gelernt. – Na, wenn ich Sie nicht mehr sehen sollte, Kufalt, alles Gute. Sie werden's nicht leicht haben, schwer werden Sie's haben. Ob Sie's aushalten werden? Wer einmal aus dem Blechnapf frisst...“

Der alte Mann steht wartend, denn Kufalt ist schon beinahe fertig mit Ausziehen im Licht der Flurlampe.

„Schlecht sind Sie nicht gewesen, nur zu leicht. Fleißig, ja. Und höflich, wenn man höflich war. Aber immer gleich im Bruddel, wenn was verquer ging, und hinter jeder Scheißhausparole hinterher. Fünf Millionen Arbeitslose, Kufalt...“

„Sie machen mich nicht gerade munter, Herr Thießen.“

„Munter werden Sie schon genug sein, wenn Sie entlassen sind, da sorgen die Mädchen schon für und der Suff – das Muntersein macht's nicht. Denken Sie immer dran, Kufalt, wir haben hier im Bau an die siebenhundert Zellen – denen ist's egal, wer sich drin sorgt. Uns ist's egal, bei wem wir schließen, alles kennen wir schon, alles, was es gibt.“

„Jeder ist anders, Herr Thießen.“

„Draußen ja. Aber hier drinnen seid ihr alle gleich, das wissen Sie doch selbst, Kufalt. Wie rasch lernt ihr's. – Na, gehen Sie jetzt man schlafen. Ihr Bett haben Sie schon runtergeklappt. Sehen Sie, das ist nett, so was mag' ich, das sind die wirklich Gebildeten. Aber andere gibt's. Der Schlimmste ist der Batzke, der macht sein Bett nachts um zwölf vom Haken und haut es mit aller Gewalt auf den Steinfußboden, dass der ganze Bau rebellisch wird. – Na, schlafen Sie denn also gut, die vorletzte Nacht. Gute Nacht.“

„Gute Nacht, Herr Thießen. Und danke auch schön. Für alles!“

* * *

11

Es ist dunkel in der Zelle. Durch das Fenster kommt Mondlicht. Kufalt stellt sich auf sein Bett und zieht sich an der Blechblende hoch. Nun kann er mit einem Knie auf dem schmalen Fenstersims ruhen und sieht oben, unter der Decke, in die Nacht.

Ja, es ist still. Wenn sich auch einmal ein Hund rührt und ein Schritt laut wird auf dem Hof von der Nachtwache, darum ist die Nacht nur noch stiller.

Nein, keine Sterne. Auch den Mond kann er nicht sehen, nur seine Helligkeit ist in der Luft. Die dunklen, schweren, langen Schatten da, das sind die Mauern, und was sich kuglig über ihnen wölbt, das sind die Kastanien. Die blühen jetzt, aber man kann sie nicht riechen. Kastanien riechen nur von ganz nah und dann riechen sie unangenehm, wie Samen.

Aber sie werden noch blühen wenn er draußen ist. Er kann unter ihnen gehen, wenn sie blühen, er kann hingehen, wenn sie voller werden im Grün, wenn die ersten gelben Blätter kommen, wenn die Früchte platzen, wenn sie kahl sind, wenn sie wieder blühen – immer kann er zu ihnen gehen, überallhin kann er gehen, wie er will, wann er will.

Es ist nicht auszudenken. Fünf Jahre lang hat er viele hundert Male hier unter der Decke gehangen, immer in Gefahr, mit der Blende herunterzurasseln oder vom Wachtmeister erwischt zu werden, nun braucht er das alles nicht mehr.

‚Der Thießen hat gut quasseln’, denkt er. ‚Der versteht von nichts mehr was, so ein Wachtmeister hat ja lebenslänglich. Und das mit seinen zwei Söhnen. Ich weiß ganz gut, der Jüngste hat lange Finger gemacht und säße auch hier, wenn der Vater nicht alles abbezahlte. Viel Gehalt hat er auch nicht.’

Er hat Lust auf eine Zigarette und klettert hinunter. Während er im Dunkeln der Zelle nach den Hosen und dem Tabak in ihnen tastet, überkommt ihn plötzlich ein Gefühl ... er bleibt stehen...

‚Ich will nicht mehr’, denkt es in ihm. ‚Ich will gewiss nicht mehr. Ein guter alter Mann, er ist immer nett gewesen zu allen. Es ist auch so wie draußen die Nacht, es wird dunkel, der Mond scheint, dann wird es wieder hell, es ist alles ganz einfach...’

Er bemüht sich, klar zu werden. ‚Alle diese Schuftigkeiten, es macht es nur schwerer, es war vorher alles viel leichter, als ich noch ganz einfach in meiner Zelle saß, nichts von Schieben und Angeben wusste. Ich muss sehen, dass es wieder leichter wird. Ich komme sonst nicht durch, bin zu schwach, recht hat er. Es wird mir immer gleich alles zuviel. Man müsste irgendeinen sauberen Anfang haben, ganz gleich wie. Vielleicht gehe ich morgen doch zum Pastor.’

Er dreht sich die Zigarette und zündet sie an. ‚Ich muss sehen, dass es geht. Ich will gleich morgen früh damit anfangen, nicht um fünf am Fenster nach Batzkes Trulle zu sehen.’

Er sitzt im Hemd auf der Bettkante und starrt vor sich hin, sehr hilflos. Die Asche fällt unbeachtet auf den herrlichen Fußboden. Seiner hat ein Sternmuster, mit Mond und Sonne.

* * *

Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – Band 185e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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