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Die Mutter ist weg

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Alwins Suche nach Erfüllung

von Hans Joachim Gorny



Zwischen dem Verschwinden seiner Mutter und deren Wiederauftauchen hatte Alwin eigentlich eine schöne Zeit verlebt.

Es geschah im Jahr 1986. In diesem Jahr ging Opa Robert in Rente und kam Alwin Anfang Dezember von der Bundeswehr zurück. Der Obergefreite durfte seinen Resturlaub bis zum 31.12. zuhause verbringen. Seine Wehrpflicht hatte er bei den Gebirgsjägern in Mittenwald abgeleistet, weshalb Alwin sich als Elitesoldat fühlte, der auf Gleichaltrige etwas herab sah. Er konnte Skifahren wie der Teufel, glatte Felswände hochklettern, schwere Lasten schleppen und mit Maultieren umgehen.

Alwin war eins achtzig groß, dunkelhaarig, schlaksig und durchtrainiert, er bediente sich einer anständigen Wortwahl und war diplomatisch. Von Anfang an hatte er bei den Ausbildern einen Stein im Brett. Seine Mitgliedschaft im heimatlichen Karate-Club brachte ihm auch einige Freiheiten ein, denn in Mittenwald gab es eine Karategruppe. Während seine Kameraden im Schnee und Matsch herumrobbten, durfte er in der geheizten Sporthalle trainieren, um dem Bataillon 233 Ruhm und Ehre zu verschaffen. Bei den Gebirgsjägern errang er den Schwarzen Gürtel.

Die teils ekligen Aufnahmerituale der Soldaten wurden mit Vorliebe bei schwächeren Kameraden zelebriert. Bei einem ersten Streit, der zugleich auch sein letzter war, verschaffte sich Alwin mit zwei Karategriffen den nötigen Respekt, der ihn vor weiteren Schikanen bewahrte. Was ihn aber nicht vor Alkoholexzessen schützte. Bei seiner Entlassung schwor er vor versammelter Einheit, dass er in seinem zukünftigen Leben nie mehr wieder Enzianschnaps trinken würde. Trotz einiger Besäufnisse verließ er die Bundeswehr mit durchweg positiven Erinnerungen. Außer einer, die ihn schwer drückte, die mit seinem Zugführer zu tun hatte, mit dem er auch in der Karateeinheit trainierte.

Weil sich die Heimatfahrt sehr umständlich gestaltete, lohnte sie nur bei angesammeltem Sonderurlaub. Den gab es für besondere Leistung, zum Beispiel für den errungenen schwarzen Gürtel, oder für Wochenenddienst. In der Regel verbrachte Alwin die Wochenenden in Mittenwald. Bei der Bundeswehr lernt man außer Chaos und Inkompetenz auch die unmöglichsten Typen kennen. Wer gedient hat, kennt die Palette an jungen Männern, die Deutschland zu bieten hat und weiß, wie seltsam Menschen sein können. Eigenschaften wie dumm, gescheit, unfähig, genial, primitiv, kultiviert, sportlich, behindert, oberflächlich und einfühlsam, gingen in allen Bevölkerungsschichten quer durcheinander.

An einem trostlosen Samstagabend, sie waren fast alleine in der Kaserne, betrank sich Alwin zusammen mit seinem Zugführer, einem Feldwebel. Wie es dazu kam, konnte er später nicht mehr nachvollziehen. Sein getrübtes Erinnerungsvermögen wusste noch, dass sie auf des Feldwebels Bude zu viel getrunken und sich dann ausgezogen hatten. Besonders angeekelt erinnerte er sich daran, wie sie sich gegenseitig ausgiebig mit ihren Geschlechtsteilen beschäftigten. Das muss ein 175er sein, dämmert es dem verkaterten Alwin erst am Sonntagabend, womit er den § 175 StGB meinte. Damals gab es noch diesen Paragraphen, der Sex zwischen Männern bestrafte. „Der Mann ist schwul und dürfte es hier nicht sein.“ Alwin hielt zwar seine Klappe, aber den Feldwebel auf Distanz. Diese alkoholbedingte Entgleisung überschattete seine sonst ungetrübte Bundeswehrzeit und nahm ihm jegliche Lust sich nochmals zu betrinken.


Anfang Dezember, nach fast fünfzehn Monaten Wehrpflicht endlich wieder in der Heimat, fand Alwin sein Elternhaus im Umbruch. Sein Opa Robert, dem das Haus eigentlich gehörte, befand sich frisch in Rente und veränderte das Haus nach schon lange ausgedachten Umbauplänen. Robert war der Vater von Alwins Vater Rolf, der schon in jungen Jahren geheiratet hatte. Seine Oma hatte Alwin nie kennengelernt, sie starb schon vor seiner Geburt an einer Embolie. Mutter Claudias Eltern kannte Alwin auch nicht, denn sie war eine Waise. Ihre Eltern wurden in den letzten Kriegswochen beim Pflügen auf dem Feld von einem Tiefflieger erschossen. Claudia musste ihre unfröhliche Kindheit bei einer Tante verbringen. Zum Zeitpunkt des Umbaus war Alwins ein Jahr jüngere Schwester Inge schon einem kanadischen Soldaten in dessen Heimat gefolgt, ihre Hochzeit stand kurz bevor.

Das Haus stammte aus der Kaiserzeit. Es hatte einer jüdischen Familie gehört, die es 1936 verkaufte und auch alles was nicht niet- und nagelfest war, um an Geld für die Auswanderung zu kommen. Wohin sie ausgewandert war, wusste niemand mehr. Auf jeden Fall kam Opas Vater damals sehr günstig zu einem Haus, dessen Obergeschoss er sogar vermieten konnte. Bislang lebte Opa Robert im Obergeschoss. Doch nun, wenn auch als noch sehr rüstiger Rentner, zog es ihn in das Erdgeschoss, um sich in Zukunft die steile Treppe zu ersparen. Demzufolge musste die unten wohnende Familie seines Sohnes nach oben ziehen. Am liebsten wäre ihm, wenn sein Enkel unten wohnen bliebe. Innerhalb der Familie verstanden sich Robert und Alwin am besten. Robert war seit dem Krieg, den er unbeschadet überstanden hatte, bei der Stadt in wechselnden Positionen beschäftigt. Vom Bauhof wechselte er ins Wasserwerk, von dort in das Liegenschaftsamt, zuletzt war er im Tiefbauamt beschäftigt. Von jeher bastelte und baute er gerne in seiner Freizeit, hielt sich im Feld einige Hühner und pflegte einen halben Hektar Reben.

Vater Rolf ging in seinem Beruf auf und hielt sich gerne aus allem heraus. Er war Prokurist in einem großen Industriebetrieb, der den Stadtrand verunzierte. Rolf ging früh aus dem Haus, kam spät zurück und hätte sich am Wochenende am liebsten in Opas Reben verkrochen, um vor der Unausgeglichenheit seiner Frau sicher zu sein.

Mutter Claudia, die im Landratsamt arbeitete, durfte getrost als nervöses Element bezeichnet werden und regte sich schnell auf. Sie wurde von Selbstzweifeln geplagt, haderte oft mit dem Amt und der Welt, machte aus Nichtigkeiten ein Drama und mit Vorliebe führte sie den Männern ihre Unzulänglichkeiten vor. Als einziges Mitglied der Familie Reuter hatte Claudia Abitur, aber sich für einen minder gebildeten Bürokraten entschieden, der ihr harmlos erschien. Rein optisch hatte Rolf es gut getroffen. Mit dem Aussehen seiner Frau konnte er zufrieden sein, aber ihre endlosen Bedenken gegen alles machten ihm das Leben sauer. Wenn sie allerdings von ihrem Mann oder Sohn etwas wollte, konnte sie sehr sympathisch lächeln und mit schmeichelnden Worten das Begehrte erlangen. Sie verfügte also auch über angenehme Seiten. Nachdem Tochter Inge das Land verlassen hatte, fühlte sich die Mutter von drei unterbelichteten Männern umzingelt.

Mit Opa lebte sie von Anfang an auf Konfrontation. Er hatte so seine Vorlieben. Sein Vater hieß Rüdiger Reuter, er selber hieß Robert Reuter, sein Sohn Rolf Reuter und sein Enkel sollte, um die Initialen RR auch weiterhin zu sichern, Rainer Reuter heißen. Da stellte sich die Mutter erstmals quer, sie wollte einen Alwin und keinen, „was für ein bescheuerter Name“, Rainer haben. Noch auf dem Standesamt wollte Rolf den Willen seines Vaters durchsetzen, bekam aber augenblicklich die unangenehme Seite seiner Frau zu spüren. Dadurch wurde das RR-Muster, welches eine lange Tradition werden sollte, unterbrochen. In der Folge zeigte sich, dass Claudia vor allem deshalb einen Mann brauchte, damit er ihr Unangenehmes vom Leibe hielt, für sie alles Mögliche erledigte, und, wenn sie schlecht drauf war, sie sich an ihm abreagieren konnte.

Zu allem kam noch, wie der Zufall es wollte, die besondere Situation, dass der Opa 1922, der Vater 1944 und der Enkel 1966 geboren waren. Nun wäre es natürlich nett, deutete der Opa an, wenn Alwin 1988 ebenfalls Vater werden könnte. „Ich soll mit zweiundzwanzig schon Vater werden?“ rief Alwin erstaunt aus. „Du hättest meine volle Unterstützung“, meinte Opa gönnerisch. Während Opa Robert auf einem Heimaturlaub von der Russlandfront seine Liebste geheiratet und sie auch gleich geschwängert hatte, schwängerte Sohn Rolf seine Liebste unabsichtlich bei einem Techtelmechtel. Eine frühe Vaterschaft wollte Alwin vermeiden, er spürte weder Verpflichtung noch Verlangen, 1988 Vater zu werden. Und er besaß das Unbeugsame seiner Mutter, im Gegensatz zu ihr aber gute Nerven.

Der Opa zog also innerhalb seines Hauses von oben nach unten. Weil die obere Wohnung um zwei Räume kleiner war, durfte Alwin unten in seinem alten Kinderzimmer bleiben. Essen sollte er aber oben bei seinen Eltern. Der Umzug war kaum vollzogen, da vermisste Claudia ihr Bügelzimmer im Erdgeschoss, welches Robert aber für die Badezimmererweiterung benötigte. Zuerst ging er an die Renovierung des oberen Badezimmers, riss Badewanne, Waschbecken und Toilette heraus, klopfte die alten Fliesen von den Wänden und glättete mit Zement zwei Tage lang die Flächen. Was er auch alles gut konnte. Er pausierte aber gerne. Morgens fuhr er mit dem Fahrrad zuerst zu seinen Hühnern und ließ sie aus dem Stall. Sie mussten die Nacht in der gemauerten Hütte verbringen, damit sie der Fuchs nicht holte. Manchmal verschwand Opa in seinen Reben, oder erledigte dies und das. Die Renovierung verlief schleppend, Rentner verfügen über viel Zeit. Als das obere Bad, sogar zur vollsten Zufriedenheit aller, wieder einsatzfähig war, begann er die Zimmer zu renovieren. Am Montag räumte er eins aus, am Freitag war alles gestrichen und tapeziert, am Samstag räumte die Familie das Zimmer gemeinsam wieder ein. Das wochenlange Provisorium, der permanente Staub und Dreck, brachte Claudia zur Verzweiflung. Als es an die Küche ging, stand sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Doch Robert strich die Küche, während ihrer Abwesenheit, an einem Tag durch.

Danach machte Opa in seiner Wohnung weiter. Die Hausfrau dachte tatsächlich nun von Staub befreit zu sein, doch der zog nach oben, Mutters Geschimpfe und Gezeter nahmen kein Ende. Als Letztes widmete sich Robert dem schwierigsten Fall, nämlich seinem Badezimmer. Im Haushalt geschehen doppelt so viele tödliche Unfälle wie im Straßenverkehr. Zum Beispiel fallen viele alte Leute aus der Badewanne oder stolpern über den Rand des Duschbeckens, brechen sich dabei die Knochen oder schlagen sich den Schädel ein. Um dieses in fortgeschrittenem Alter zu vermeiden, wollte Opa zur Badewanne noch eine ebenerdige Dusche, für die aber der Platz fehlte. Unter nicht enden wollendem mütterlichen Protest wurde das Bügelzimmer ausgeräumt. Die ganze Situation war äußerst unerquicklich, weil Claudias Bügel-, Näh- und Hauswirtschaftszimmer nach dem Umbau nur noch ein Kämmerlein sein würde. Erst als Opa sie anschrie: „Mach, dass du Tarantel aus meiner Wohnung kommst, ich will dich hier nicht mehr sehen, richte dich gefälligst oben ein“, herrschte Schweigen. Eisiges Schweigen.

Nun hätten Alwins Eltern auch in eine andere Wohnung ziehen können. Doch dazu waren sie zu geizig, denn bei Opa wohnten sie günstig. Sie brauchten ihr Geld für teure Urlaube und ein repräsentatives Auto. Wobei Rolf mit dem Rad zur Arbeit fuhr, Claudia aber immer mit einem dicken Mercedes zum Amt.

Opa riss sein Bad heraus, was natürlich wieder Staub und Dreck machte und entfernte die Wand zum Bügelzimmer. Claudia schüttete ihren im Obergeschoss zusammen gefegten Kehricht, der angeblich Roberts Staub war, ihm täglich vor die Tür seines frisch renovierten Wohnzimmers. Rolf erinnerte seine Frau daran, dass Opa der Hausbesitzer sei und sie eine Renovierung dulden müsse. Damit war er bei Claudia unten durch und wurde von ihr geschmäht.

Als Alwin von der Bundeswehr kam, war nichts mehr wie zuvor und das Verhältnis zwischen Robert, Rolf und Claudia völlig zerrüttet. Der Opa war gerade am Mauern, an Weihnachten wollte er fertig sein. Weil Alwin ihm beim Erstellen der neuen Trennwand half, war er oben nicht mehr erwünscht, die Mutter kurz vor dem Überschnappen. Er ging ihr aus dem Weg und blieb im Erdgeschoss. Während Opa die neuen Rohre hinter einer zusätzlichen Mauer verschwinden ließ, besuchte Alwin frühere Kumpels. Spät abends war er zurück und Opa hatte sogar schon die Flächen geglättet. Noch später kam Alwins Vater nach Hause. Kurz darauf klopfte es an Opas Küchentür, Rolf trat ein, mit einem völlig verstörten Gesicht und einem Briefbogen in der Hand, den er schweigend vor Opa auf den Tisch legte. Opa hob ihn hoch und las laut vor.

Ich halte es mit euch nicht mehr aus, ihr geht mir total auf den Eierstock, ich gehe dorthin wo es ruhiger ist. Claudia

Auch Alwin las den Satz, es war die Schrift seiner Mutter. Die drei sahen sich ratlos und betreten an.

„Und du hast nichts mitbekommen“, fragte Rolf seinen Vater. Der schüttelte entgeistert sein graues Haupt.

„Hat sie etwas mitgenommen?“ fragte Alwin seinen Vater.

„Ich habe noch gar nicht nachgesehen.“

Alwin ging nach oben, Vater und Opa folgten. Im Flur fehlte Mamas warme Jacke, das Sportzeug lag aber noch im Flurschrank. Im Schlafzimmer jedoch fehlte ziemlich viel Wäsche, stellte Rolf fest. Auch der Schmuck war weg, Ausweise und sonstige Papiere waren nicht zu finden. Es fehlte auch eine Reisetasche.

„Hat sie das alles in eine Tasche bekommen?“ fragte ihr Ehemann ungläubig.

„Sie scheint tatsächlich verschwunden zu sein“, stellte Opa fest.

„Was dich ja freuen wird“, knurrte sein Sohn.

Alwin drehte mehrmals seinen Kopf hin und her. „Man haut doch als erwachsener Mensch nicht so einfach ab. Mama hat doch eine Arbeitsstelle. Und wo soll sie überhaupt hin?“

„Vielleicht hat sie sich einen angelacht“, wagte der Opa zu sagen.

Rolf sah seinen Vater böse an. „Ich kann mir das alles nicht vorstellen, irgendwie ist das nicht logisch. Ich gehe morgen zur Polizei und erstatte Vermisstenanzeige.“

Auch Alwin fand die Sache mehr als seltsam.

„Ich habe in meinem Leben schon zu viel erlebt, um mich noch zu wundern“, kommentierte Robert.

Rolf ging am nächsten Morgen mit dem Brief seiner Frau und Alwin zur Polizei und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Der Beamte hielt ihnen das Blatt vor die Nase. Das sei die freie Entscheidung seiner Frau gewesen, meinte der Polizist. Und auch nichts Ungewöhnliches. Sie hätte sich keiner Straftat schuldig gemacht. Er wolle auch gar nicht wissen was vorgefallen sei, weshalb Frau Reuter das Weite gesucht habe.

„Und warum steht in der Gasse noch ihr Mercedes?“ fragte Rolf verzweifelt.


Alwins Suche nach Erfüllung

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