Читать книгу Die Zwei und ihr Gestirn - Hans Sterneder - Страница 4

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In der holzgetäfelten, mit unzähligen Jagdtrophäen geschmückten Halle des Schlosses Abbodsford, im nordöstlichen Teil der schottischen Grafschaft Argyll, waren die Familienmitglieder des Geschlechts der Viscounts O’Neill nach altem Volksbrauch um den im behäbigen Kamin brennenden Julbock versammelt und warteten auf das Ertönen der Weihnachtsglocke und das Wunder des Lichterbaumes.

Dicht am Feuer, in das Spiel der Flammen versunken, saß der alte Lord Josuah O’Neill, der als Peer von England durch viele Jahrzehnte im Oberhaus zu London die Interessen Schottlands verfochten hatte und dem man trotz der schneeweißen Haare weder in der straffen Haltung seiner großen und schlanken Gestalt noch im Blick seine siebzig Jahre ansah. Ihm gegenüber, an der anderen Seite des Kamins, ruhte im mächtigen Stuhl seine Gemahlin Elisabeth, eine geborene Gräfin von Schönborn, die ihm einst in jungen Jahren aus ihrer norddeutschen Heimat als treue Lebensgefährtin in seine raue Bergwelt gefolgt war und außer der hohen Kultur ihres Geschlechtes auch den anheimelnden Brauch des Lichterbaumes mit über das Wasser genommen hatte. Zwischen den greisen Schwiegereltern saß vorgebeugt die ebenso stolze wie schöne Lady Bryda, eine Tochter der mächtigen Grafen von Warwick, welche durch viele Jahrhunderte hindurch mit mutigem Schwert den Glanz der eng­lischen Königskrone gewahrt –, und vor seiner Mutter lag auf dem großen Eisbärenfell, überaus zart und bleich, ihr einziges Kind, der zwölfjährige Clarence, unverwandt ins Feuer starrend. Zwischen den beiden Damen saß der einzige Freund des Hauses, Sir Thomas Doo, ein Mann um die Fünfzig, dessen geistvolles Gesicht auf den ersten Blick vermuten ließ, dass er den Wissenschaften hingegeben sei. Er lebte seit vielen Jahren als Junggeselle auf seinem stattlichen Landsitz, kaum eine halbe Stunde von Abbordsford entfernt.

Was ihn einst bewogen, die abgeschiedene Stille des Landes gegen das lärmende Leben der Großstadt einzutauschen, war auch den O’Neills unbekannt, doch nahm man an, dass es der vielseitigen und eifrig betriebenen Studien halber, zu deren emsigsten jenes der Botanik zu gehören schien, geschehen war. Auch musste er von diesen Wundern der Natur tiefere und geheimere Kenntnisse haben als sonst ein Sterblicher, denn er kam manchmal auf die göttliche Harmonie in der Schöpfung zu sprechen, mit welcher der Mensch sein Leben in Einklang zu bringen hätte, und rollte dabei großartige Bilder eines seltsam geheimnisvollen Zusammenhanges alles Seienden auf. Auch hatte er mehrmals schon in Stunden höchster Gefahr auf geradezu wunderbare Weise geholfen.

So groß nun die Verehrung und Freundschaft der ­O’Neills für Thomas Doo war, so tief war die Liebe des kleinen Clarence für seinen Onkel. Und dies war nur zu begreiflich, denn der Gelehrte, um den immer etwas wie ein Geheimnis lag, hatte den Knaben von klein an viel auf seinen Streifzügen durch Wald und Wiesen mitgenommen und ihm bei diesen Gängen, die fast immer mit dem Sammeln irgendwelcher Pflanzen verbunden waren, derartige Kenntnisse vermittelt, wie sie sonst diesem Alter nicht eigen sind. Für dieses innige Einfühlen in die Natur waren alle Grundbedingungen gegeben, denn er hatte neben einer ungemein empfänglichen Seele einen weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Hang zur Träumerei und eine Hingabe, die man beinahe pantheis­tisch bezeichnen musste.

So war es selbstverständlich, dass den stillen, beinah scheuen Knaben niemand so gut kannte wie Thomas Doo. Und es konnte auch nicht verwunderlich sein, dass an dem seelisch überzarten Jungen, seit er vor drei Jahren ins Gymnasium nach Glasgow gekommen war, ununterbrochen leises Heimweh nagte und ihm derart zusetzte, dass es dem Rektor des Instituts Besorgnis einflößte und er dem Vater mehrmals Mitteilung machte. Der Viscount jedoch war eine viel zu sachliche Pflichtnatur, als dass er diesen Nachrichten ein schwereres Gewicht zugemessen hätte.

Und da umgekehrt Clarence viel zu verschlossen, ja geradezu keuschen Gemütes war, hielt er seine Not ängstlich vor allen verborgen und kämpfte tapfer, wenn auch vergeb­lich gegen das Leid, das tückisch an seinem Lebenskern zehrte.

Thomas Doo jedoch, der das Bedenkliche des Zustandes genau wusste, hatte seinem Freunde schon im Sommer die ernstesten Vorstellungen gemacht. Wie sehr er damit recht gehabt, war dem Viscount heute Nachmittag klar geworden, als er seinen Jungen abholte und mit ihm durch das dichte Schneetreiben fuhr.

Clarence war ihm nun selber so gebrechlich erschienen, das schmale Gesicht mit den tief in den Höhlen liegenden braunen Augen so schmächtig und bleich, dass ihn, als der Knabe fortwährend leise vor sich hin hüstelte, plötzlich aufsteigende Angst überfallen und er sein Kind mit einer Leidenschaft an seine Brust gepresst, als müsse er ihn gegen eine unsichtbare Gefahr schützen.

So schnell die Pferde in dem wilden Schneegestöber nur vorwärts konnten, war der Schlitten durch die Landschaft geflogen. Doch je mehr sich das Herz des Vaters gesorgt, umso befreiter war mit jedem Hufschlag, jedem vorbeischießenden Baum jenes des Sohnes geworden, und während sich in der Brust des Lords das Gebet der Vaterliebe formte, jauchzte und jubelte in der seines Kindes der selige Sang der Heimatlust.

Beinah heftig hatte der Viscount den Jungen aus dem Schlitten gehoben und ihn eilends über die Treppe ins Schloss getragen.

Erst als Clarence in der traulichen Wärme sichtlich aufzublühen begann, war Sir John ruhiger geworden.

Und nun war es längst Abend; das Unwetter, das von den wilden Hängen des Grampiangebirges talwärts gefegt, hatte gegen Einbruch der Nacht mit einem Schlage aufgehört und war von einem derart wütenden Sturm abgelöst worden, dass die Fenster des ganzen Schlosses ununterbrochen bebten und das Glas der Scheiben knisterte.

Stumm saßen die Fünf um den Kamin, dessen Flammen in ruhlosem Ungestüm ihr streitfrohes Kampfspiel trieben. Immer wieder wurde ihr Ohr von dem Toben des Orkans gefangen, der von einer Wildheit war, wie es selbst die sturmvertrauten Bezirke Schottlands kaum kannten.

Tief versunken blickte Clarence unverwandt in das wilde Züngeln der Flammen, seine lebhafte Seele aber war draußen beim Sturm und wurde auf den Schwingen ihrer Phantasie in wilde Wirbel gerissen.

Die Augen Sir Thomas Doos ruhten forschend auf dem Kinde.

Plötzlich kam es im Flüsterton von dessen Lippen: „Die Windgeister ...“

Und halb noch in der anderen Welt, sich an Sir Thomas Doo wendend: „... Hörst du es, Onkel! ... Hörst du die Geis­ter der Lüfte?“

Der legte die Hand auf jene des Knaben und umschloss sie mit festem Druck.

Die Andern sahen in besorgter Aufmerksamkeit auf den Versonnenen.

„Ich höre es, Clarence“, entgegnete der Angesprochene.

„Ach, es ist ja nur der Sturm, mein Kind!“, fiel fast gleichzeitig die junge Mutter mit ein.

Über Clarences Gesicht ging ein feines Lächeln; entschieden schüttelte er den Kopf, der wieder seinen tiefen, altklugen Ausdruck hatte.

„Nein, es ist nicht so! Der Sturm ist nicht tot! ... Er ist nicht tot.“ Die letzten Worte erstarben fast; im Gesicht aber wechselte der Ausdruck so jäh, als erwache er erst jetzt zur Wirklichkeit.

Seine Gestalt sank noch mehr im großen Lehnstuhl zusammen, als wollte er sich und die Worte, die ihm entglitten, darin verbergen.

Wieder war es totenstill in der großen Halle.

Nur die Feuerzungen im Kamin lohten weiter, blutigrot, so dass die blanken Stahlrüstungen an den Wänden wild aufglänzten, wie wenn sie von heißen Kämpfen träumten. Dazu dröhnte und brüllte der Sturm, als wolle er die Mauern des alten Schlosses einrammen.

„Jetzt ertönen bei uns die Choräle von den Kirchtürmen“, sprach die Greisin, und Sir Thomas Doo erkannte an der etwas hastigen Art, in der sie dies tat, dass sie es hauptsächlich sagte, um Clarence aus dem Banne der für ihn so gefährlichen Bilder zu reißen.

Die Worte verfehlten auch nicht ihre Absicht. Lebhaft wandte der Knabe den Kopf nach der Großmutter, in seine Augen kam warmer, freudiger Glanz.

Und sie erzählte dem Enkel mit all der breiten, sorgfältigen Liebe eines viele Jahre der Heimat entrückten Menschen von den lieblichen Weihnachtssitten ihres Volkes, bis mitten hinein in die fröhlichen Bilder das jauchzende Rufen eines silberhellen Glöckchens erklang.

Und so laut der Sturm auch um die Mauern tobte, sieghaft war diese kleine Glocke, die wie ein Himmelsbote durch die Räume und Herzen jubelte und in ihnen jene freudvolle Weihe erweckte, wie sie so glückselig nur in dieser einzigen Stunde des Jahres aufblüht.

*

Die Bescherung war vorüber.

Nach alter Haussitte war auch das Gesinde zur Weih­nachtsfeier beigezogen worden und hatte, nachdem der letzte Ton des Chorals verklungen war, den die Greisin auf dem Harmonium gespielt, aus den Händen Sir Johns und seiner Gemahlin die Geschenke empfangen.

Doch so viel Freude auch um die stattliche, bis an die hohe Decke hinaufreichende Tanne flutete, der ergreifends­te Augenblick war der gewesen, in dem Clarence mit plötzlich rot werdenden Wangen die kleine schöne Isabel des Gärtners Young heimlich hinter den Lichterbaum geführt und ihr ein goldenes Ringlein mit himmelblauem Stein an den Finger gesteckt hatte.

Strahlend vor Freude war das liebliche Geschöpf in der kindlichen Unbefangenheit seiner acht Jahre zu den Eltern gelaufen, ihnen das köstliche Geschenk seines Gespielen zeigend. So erquickend es gewesen, die Glückseligkeit des Kindes zu schauen, weit rührender noch war es, die keusche Scham zu sehen, mit der Clarence sich hinter dem Baum verborgen, bis Thomas Doo auf seine feine Art ihn aus derselben gelöst.

Nun waren sie wieder allein und standen in stiller Versunkenheit um den duftenden Baum.

Da begann Sir Thomas Doo in diese andächtige Stille hinein zu reden:

„So haben wir nun wieder Weihnacht gefeiert, das Fest des Lichtes und der Freude, das wie kein anderes das Fest der Liebe ist!

Und wir denken in unserer Ergriffenheit daran, dass an diesem Tage vor zweitausend Jahren der große Liebende zu Bethlehem geboren wurde, der sein leuchtendes Königreich auf Erden aufrichten wollte. Und es erfüllt uns große Rührung, und unsere Gedanken sind heute bei ihm, so wie sie all die traulich heimliche Zeit vorher bei denen waren, die uns lieb und nahe sind.

Doch keinem fast ist es mehr bewusst, dass dies Fest die Feier des eigenen Ichs, der Einkehr in die eigene Seele ist!

‚Christ ist geboren!‘, jubelt es durch die Welt, und die Gedanken gehen weit in die Ferne – wissen jedoch den großen, geheimen Sinn dessen nicht mehr, was sie meinen! Wissen nicht mehr, welch tiefes Menschheitsmysterium, welch großes Symbol in diesem seligen Rufe liegt!

Lange, ehe Christen dieses Fest feierten, haben unsere heidnischen Vorfahren diesen Tag bejubelt und mit leuchtenden Feuerbränden begangen.

‚Wintersonnenwende ist da!‘, hallte es freudig durch das Schweigen der eisigen Wälder.

‚Das Licht ist wiedergeboren!‘, jauchzten sie, ‚das Licht, das aus der Dunkelheit ins Helle, das aus dem Tod ins Leben führt!‘

Und sie lobpriesen den Tag und hielten tiefe Einkehr in sich, denn er war ihnen Sinnbild ihres eigenen Seins!

Denn so wie einmal im Jahr der Tag kommt, raunten die Druiden, wo die Sonne wieder aufersteht, wo sie die Bande des winterlichen Todes durchbricht und die Natur ins Helle, ins Leben führt, so kommt auch über dich einmal die Stunde, Bruder, wo deine Seele, der Sonne gleich, sich aus den Finsternissen der Erdgebundenheit befreit, und dir die Wahrheit der Dinge und des Lebens weist!

Und du verstehst dann erst die Wahrheit unseres Freudenrufes und hörst die heimliche Mahnung aus ihm: ‚Gebäre auch du das Licht in dir, o Mensch!‘

Seit Jahrtausenden blüht auf den Ruinen des germanischen Glaubens die Wunderblume des Christentums, doch die Menschen wissen nimmer, dass Christus für uns ganz dasselbe ist wie die Sonne für die Natur: unser Licht, das uns aus der Finsternis des geistigen Todes in die Helle des geistigen Lebens führt.

Wohl feiern sie freudig am heutigen Tage seine Geburt im Stalle zu Bethlehem, doch längst ist ihnen entschwunden, dass Christus so lange für sie ungeboren ist, als sie ihn nicht bewusst in ihrer eigenen Brust gebären, als sie ihre unsterbliche Seele nicht aus den Banden des Stoffwahnes befreien und mit dem strahlenden Lichte seiner Lehre durchgießen!

Wir erkennen nun mit einem Male, dass Weihnacht nicht allein ein Fest ist, sondern ein Geschehen werden soll!

Wir sollen Weihnacht in unserer eigenen Brust begehen, das Mysterium der Geburt Christi in uns selbst vollziehen!

Wir wissen nun, dass der Stall von Bethlehem jeder Mensch selber ist, so lange er von der Finsternis der Erdensucht befangen, nur seinen Trieben, Begierden und Leidenschaften lebt – in Wahrheit einem Stalle vergleichbar: der Herberge seiner niederen tierhaften Kräfte. Und dass wir mit dem Augenblicke erst wirklich Weihnacht feiern, wo wir den Sinn des Lebens erkennend, den Geistmenschen in uns aus den Fesseln des niederen Erdenmenschen befreien und so die Sonne der wahren Offenbarung, Christus, in uns aufgehen lassen.

Und nun verstehen wir auch den erhabenen Sinn des Lichterbaumes, der unsere Herzen mit so viel Freude erfüllt und doch auch immer mit einem unerklärlichen Gefühl andächtiger Ergriffenheit, dass wir vor etwas stehen, das uns im Tiefinnersten verwandt ist. Wir sehen in dem waldduftenden Baum unseren höheren Menschen, und in seinen Lichtern Christus. Das Ganze ist eine hehre Mahnung, dass wir in uns Christus gebären sollen, und ein Sinnbild, wie rein und strahlend das Wesen eines Menschen ist, der im Sternenglanz der wahren Erkenntnis lebt.“

Thomas Doo schwieg. Die Augen der Lauschenden aber hingen weiter an der überirdischen Schönheit des strahlenden Lichterbaumes, und ihre Seelen waren verschmolzen mit seinem Geiste.

So standen sie lange Zeit, tief bewegt von der feierlichen Predigt des Baumes, der ihnen heute zum ersten Mal sein beseligendes Geheimnis offenbart hatte.

Und mit einem Male vereinten sich ihre Hände und bildeten eine Kette. Und es war wie ein Gelöbnis, einander zu helfen. Krampfhaft zuckend lag Clarences Hand in jener des Onkels.

Lange saßen sie hernach noch in ernstem Gespräch beim dampfenden Punsch um den hell flackernden Julblock.

Draußen war der Sturm, der den ganzen Abend wie ein großer Mahner um das Schloss gefegt, still geworden.

In später Stunde verabschiedete sich Sir Thomas Doo.

Hell klingelte sein Schlitten durch die heilige Nacht.

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