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Kapitel 1
Palzkis Trauma

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Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Eigentlich begann alles verblüffend verheißungsvoll. Ich hatte gut geschlafen, meine Frau Stefanie zauberte ein ansprechendes, wenn auch vegetarisches Frühstück. Die außerordentlich pubertierende Melanie kam nicht mit abstrusen Forderungen, die Frauen für gewöhnlich erst Jahre später entwickelten, und der zehnjährige Paul war brav wie ein Lämmchen, ohne dass ich dafür einen Grund erkennen konnte. Ich fuhr bei bestem Wetter, es war weder windig noch zu kalt oder zu warm, zur Dienststelle der Kriminalpolizei Schifferstadt in den Waldspitzweg. Da zu Hause alles glatt lief, kam ich dort ausnahmsweise pünktlich zum Dienstbeginn an. Die Kollegin in der Zentrale schaute spaßeshalber auf die Uhr und grinste, als ich mich auf den Weg zu Juttas Büro machte. Ich konnte den Kaffee schon riechen, den ich in Kürze zu diesem perfekten Tagesbeginn genießen würde. Alles in allem: Ich erlebte eine friedliche Idylle und fühlte mich rundum wohl. Das Leben hatte auch seine guten Seiten.

»Was machst du hier, Reiner? Und so früh?« Meine Kollegin Jutta Wagner war ebenso überrascht wie Gerhard Steinbeißer, der in der Besprechungsecke lümmelte und ein Sportmagazin für Marathonläufer betrachtete.

»Arbeiten? Atmen? Das Leben genießen?« Ich ließ mich durch Juttas Fragen nicht verwirren.

»Aber, du hast doch …«

»Lust auf einen Kaffee«, ergänzte ich und fläzte mich neben Gerhard an den Besprechungstisch. »Entschuldigt bitte, dass ich so früh auftauche, falls ich euren Tagesplan durcheinandergebracht habe.«

»Wurde der Termin kurzfristig verlegt?«, fragte Gerhard vorsichtig, während er das Magazin auf den Tisch legte. Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

Noch immer bemerkte ich nicht, dass etwas faul war. »Ich weiß nichts von einem Termin«, entgegnete ich. »In meinem Kalender steht nichts Wichtiges. Erst nächste Woche darf ich wegen Paul mal wieder zum Lehrergespräch.« Mindestens zweimal im Monat hatte ich solche unerfreulichen Gespräche, die Stefanie stets an mich abdrückte.

»Du hast vor ein paar Tagen die schriftliche Anweisung bekommen«, beharrte Jutta weiter. »Ich habe sie dir selbst auf deinen Schreibtisch gelegt.«

Ich lachte kurz auf. »Du weißt genau, wie selten ich in meinem Büro bin. Und wenn ich mal dort bin, habe ich sicherlich keine Zeit, mich durch Stöße von Anweisungen aller Art zu wühlen.« Nachdem ich meine Tasse gefüllt hatte, schaute ich Jutta an: »Wichtige Dinge sagst du mir immer persönlich.«

»Habe ich auch«, konterte sie und seufzte. »Gestern kurz vor Feierabend zum letzten Mal.«

»Dann kann es nichts von Belang sein, sonst könnte ich mich erinnern. Hat unser Chef Geburtstag?«

»Mein Geburtstag ist erst in zwei Monaten!«

Wir erschraken alle drei. Ich erkannte die autoritär tiefe Stimme sofort. Im Türrahmen stand der Dienststellenleiter Klaus P. Diefenbach, der aufgrund seiner Initialen von uns nur KPD genannt wurde.

Während Gerhard möglichst unauffällig das Sportmagazin unter dem Tisch verschwinden ließ, zog Jutta ihr Genick ein und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

Ich wollte gerade einen lockeren Spruch zur Begrüßung anbringen, da fiel mir die Kleidung meines Chefs auf. Die maßgeschneiderte Uniform war nicht das Auffällige, auch nicht die Vielzahl der Orden und Anstecker an seiner Jacke. Es war die Krawatte. »Haben Sie eine Wette verloren?«, fragte ich KPD, ohne weiter darüber nachzudenken.

»Eine Wette?«, antwortete er irritiert mit einer Gegenfrage.

»Freiwillig haben Sie diese ulkige Krawatte sicherlich nicht angezogen.« Ich grinste breit. Generell trug KPD nur konservative Krawatten, die seine Wichtigkeit unterstreichen sollten. Heute hatte er ein grasgrünes Stück umgebunden, auf dem diverses Gemüse abgedruckt war: Blumenkohl, Radieschen und Kopfsalat kannte ich, der Rest interessierte mich nicht. »Sieht ziemlich geschmacklos aus«, ergänzte ich und bereute es sofort.

Adrenalin in Höchstdosis schoss KPD in den Kopf. Gleich würde sein krebsrotes Gesicht aufplatzen wie in einem billigen Comic. Sein Blutdruck dürfte jedes Messgerät überfordern.

In dem Moment, als KPD mit einem Schreianfall loslegen wollte, klingelte Juttas Telefon. Aus unerfindlichen Gründen lenkte uns das Klingeln von der angespannten Situation ab. Wir blickten zu Jutta, die zögerlich den Hörer abnahm.

»Wagner. Ja bitte? Herr Diefenbach? Ja, der ist bei mir, einen kleinen Augenblick bitte.« Sie reichte den Hörer an KPD weiter, der im Reflex annahm.

Seine Körperhaltung änderte sich. Von einer Sekunde auf die andere stand er stramm vor dem Schreibtisch. »Jawoll!«, schrie er unterwürfig in den Hörer. »Ich bin schon unterwegs mit meinem Untergebenen.« Er beendete das Gespräch und gab Jutta den Hörer zurück, den diese angeekelt mit zwei Fingern auf den Tisch legte. Sie holte aus der Schreibtischschublade ein Päckchen Desinfektionstücher und reinigte den von KPD mit einem Spucknebel kontaminierten Hörer.

»Wir müssen los«, bellte er in meine Richtung. »Genauer gesagt, hätten wir vor einer halben Stunde losfahren müssen. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.« Er drohte mir mit dem Finger. »Wenn das der Fall sein sollte, sind Sie die längste Zeit an dieser Dienststelle gewesen, Palzki.« Er musterte mich von oben herab. »Hatte ich nicht angeordnet, dass Sie heute in akzeptablem Zustand zum Dienst erscheinen sollen? Warum haben Sie keine Uniform an?«

»Die wurde beim letzten Einsatz beschädigt und wird gerade ausgebessert«, nuschelte ich. Um Ausreden war ich meist nicht verlegen.

KPD warf mir einen verächtlichen Blick zu. »Dann kommen Sie eben so mit. Halten Sie aber immer ein paar Meter Abstand zu mir, es muss ja nicht jeder wissen, dass Sie mein Untergebener sind.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Ich verstehe sowieso nicht, warum ich ausgerechnet Sie mitnehmen muss.«

»Ich kann gerne hierbleiben, Herr Diefenbach. Mir geht es heute sowieso nicht besonders gut. Wenn Sie etwas Schriftliches brauchen, schreibe ich Ihnen gerne ein paar Zeilen.« Hoffnungsvoll schaute ich meinen Chef an.

»Das kommt nicht in die Tüte«, polterte KPD. »Wenn ich ohne Sie auftauche, heißt es bestimmt, ich habe meinen Laden nicht im Griff. Kommen Sie, Palzki, kommen Sie endlich.«

Er drehte sich um und verließ das Büro. Jutta und Gerhard feixten um die Wette.

»Wo geht es hin?«, fragte ich die beiden misstrauisch.

»Lass dich überraschen, Reiner«, antwortete Jutta und fiel in Gerhards Lachen ein.

Nicht einmal den Kaffee konnte ich trinken. KPD stiefelte schnellen Schrittes durch das Gebäude zum Hinterausgang. Die Sache war eindeutig: Ich musste eine Fahrt in KPDs Dienstwagen überstehen. Die Fahrkünste meines Chefs waren außerordentlich zweifelhaft bis mehr als unbefriedigend. Die Wahrscheinlichkeit, eine Fahrt mit ihm unbeschadet zu überstehen, tendierte gegen null.

Ich irrte mich. KPD ging an seinem Wagen vorbei und steuerte auf eine Stretch-Limousine zu, die mitten auf dem Hof hinter unserer Dienststelle parkte. Verblüfft registrierte ich die Aufschrift an der hinteren Tür sowie am Heckfenster: »Hier fährt Klaus P. Diefenbach, der gute Dienststellenleiter der Schifferstadter Kriminalinspektion.«

Pure Angst überkam mich. Wenn KPD dieses Ungetüm fuhr, würde man aufgrund der vielen Unfälle Katastrophenalarm im Kreisgebiet ausrufen müssen. Meine panische Reaktion erwies sich als unbegründet. Ein livrierter Chauffeur stieg aus und kam meinem Chef entgegen, der in der Nähe des Hecks stehengeblieben war. Der Chauffeur öffnete die hinterste Tür der Stretch-Limousine und gab KPD mit einer geschmeidigen Geste zu verstehen, dass er einsteigen könne. Ich beobachtete die Szene kopfschüttelnd. KPD war in meinen Augen schon immer ein eitler Spinner, der übertriebenen Wert auf Etikette legte. Mit dieser Aktion übertraf er alles bisher Dagewesene. Um mir die Peinlichkeit einer vom Chauffeur aufgehaltenen Tür zu ersparen, öffnete ich auf gleicher Höhe des Wagens die Tür auf der anderen Seite. Ich musste zweimal hinschauen, bis ich den exorbitant großen Innenraum überblicken konnte. Luxus, wohin mein Auge traf. Stand neben dem 75-Zoll-Fernseher tatsächlich eine Badewanne? Mehr Zeit, darüber nachzudenken, hatte ich nicht: KPD fuhr mich böse an.

»Was wollen Sie, Palzki? Warum haben Sie die Tür geöffnet?« Die Beinfreiheit vor dem Einzelsessel meines Chefs war gigantisch.

»Einsteigen?«, fragte ich naiv. »Oder darf ich nun doch zu Hause bleiben?«

KPD zog eine Schnute. »Natürlich kommen Sie mit, Palzki. Ihr Platz ist vorne. Beeilen Sie sich jetzt endlich.«

Froh, nicht neben meinem Chef sitzen und gezwungenen Small Talk führen zu müssen, ging ich nach vorne und stieg auf der Beifahrerseite ein. Hier war es nicht ganz so komfortabel wie hinten, an Platz mangelte es dennoch nicht. »Tach, mein Name ist Reiner Palzki.«

Der Chauffeur sagte mir seinen Namen, der so kompliziert klang, dass ich ihn sofort wieder aus meinem Kurzzeitgedächtnis strich.

Ein Motorengeräusch war nicht zu hören. Lautlos rollten wir über die Straße. Die Inneneinrichtung ließ mir keine Ruhe. »Sagen Sie mal, Herr, äh, habe ich da hinten wirklich eine Badewanne gesehen? Ist das nicht zu schwer?«

Der Fahrer grinste spitzbübisch. »Gewichtsmäßig ist der Wagen bis 7,5 Tonnen zugelassen«, erklärte er mir. »Bis zu einem Dutzend Fahrgäste kann ich befördern. Oft sind es ziemliche Schwergewichte, die deutlich mehr wiegen als die statistischen 75 Kilogramm.« Er blickte kurz zu mir rüber. »Die Badewanne ist leer, außerdem gehört sie nicht zur Ausstattung der Limousine. Ich renoviere zu Hause zurzeit mein Bad. Da habe ich die Gelegenheit genutzt, vorhin am Baumarkt vorbeizufahren und die Wanne zu kaufen. Nachher kommt die natürlich wieder raus.«

»Dann hoffen wir mal, dass mein Chef unterwegs nicht baden möchte.«

Der Chauffeur schmunzelte. »Es sind ja nur ein paar Kilometer.«

»Wo geht’s eigentlich hin?«

»Mutterstadt«, antwortete der Fahrer.

»Für die kurze Strecke diesen Aufwand?« Mutterstadt lag nur wenige Kilometer nördlich von Schifferstadt. Mehr als die Hälfte der Strecke hatten wir bereits hinter uns.

Er hob die Schultern kurz hoch. »Das kann mir egal sein. Herr Diefenbach hat mich und den Wagen für einen halben Tag gebucht inklusive aller Kilometer. Während der Wartezeit kann ich mir den Fernseher anmachen. So leicht wie heute verdiene ich selten mein Geld.«

Ich zog meine Schlussfolgerungen. »Wir fahren nach Mutterstadt, und später fahren Sie uns wieder zurück?«

Er nickte. »So wurde es vertraglich vereinbart.«

»Und wo geht’s genau hin?«

»Hat Ihnen das Herr Diefenbach nicht gesagt? Wir sind gleich da.«

Kurz darauf fuhren wir durch das Zentrum von Mutterstadt. Ohne zu rangieren konnte der Chauffeur an der großen Kreuzung im Ortszentrum nach Westen in Richtung Dannstadt auf die Neustadter Straße abbiegen. Ich hatte keine Ahnung, wohin die kurze Reise gehen könnte. Keine Minute später ließen wir die letzten Häuser des Orts hinter uns. »Fahren Sie nicht zu weit? Hier endet Mutterstadt.«

»Nur die Bebauung, Herr Palzki. Wie gesagt, wir sind gleich am Ziel.«

Mir kam die Sache inzwischen spanisch vor. Links und rechts von uns gab es nur Felder. Die Vorderpfalz wurde gerne der Gemüsegarten Deutschlands genannt, was aufgrund der nicht enden wollenden Äcker und Felder nachvollziehbar war. Dabei wusste ich nicht einmal, ob es einen Unterschied zwischen Feld und Acker gab. Ein Gemüsegarten entsprach sowieso nicht meiner Interessenslage. Die Landstraße führte über die A61. Auf der anderen Seite der Brücke begann Dannstadt-Schauernheim.

Unvermittelt bog der Chauffeur rechts ab auf ein Firmengelände mit übergroßen Hallen. Erst als ich das Firmenschild entziffern konnte, wusste ich, wo wir waren: im Pfalzmarkt. Ich kannte zwar ein paar Eckdaten des Unternehmens, das als Genossenschaft jedes Jahr unendlich viel Obst und Gemüse produzierte, doch vor Ort gewesen war ich noch nie. Als Schifferstadter kam man ohne Grund eigentlich nur sehr selten bis nie auf den Gedanken, die Landstraße zwischen Dannstadt und Mutterstadt zu befahren.

Der Wagen hielt auf dem gut gefüllten Firmenparkplatz. »Wir sind am Ziel«, sagte der Chauffeur. In dem Moment polterte KPDs Stimme aus dem Lautsprecher.

»Bitte parken Sie etwas prominenter direkt am Zufahrtsweg. An der Stelle, wo wir im Moment halten, können uns die Gäste nicht sehen.«

Während ich darüber nachdachte, welche Gäste er meinte und warum diese den Wagen sehen sollten, antwortete der Fahrer: »An den Zufahrtswegen gilt überall striktes Halteverbot.«

»Das ist für mich irrelevant«, plusterte sich KPD stimmlich auf. »Ich als VIP habe selbstredend eine Ausnahmegenehmigung. Fahren Sie direkt vor bis zum Eingang.«

Der Chauffeur seufzte und folgte der Aufforderung. Nachdem er die Lautsprecheranlage abgeschaltet hatte, meinte er mit einem Seitenblick zu mir: »Auch wenn der heutige Auftrag für mich leicht verdientes Geld ist, Herr Diefenbach ist einer meiner bisher schwierigsten Kunden. Nein, ich muss mich verbessern, er ist definitiv der schwierigste Kunde.«

»Ich weiß«, bestätigte ich seine treffende Einschätzung. »Steigt hier ein Fest?« Längst waren mir die vielen anderen Wagen aufgefallen und jede Menge Personen, die in festlicher Garderobe in Richtung eines der Hallenkomplexe liefen.

»Der Neubau wird heute eingeweiht. Wussten Sie das nicht?«

Ich hatte keine Ahnung. Was ich wusste, war, dass sich der Pfalzmarkt Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus der Fusion von mehreren Vorläufergesellschaften gebildet hatte. Einer dieser Vorläufer befand sich früher in Schifferstadt schräg gegenüber dem Hauptbahnhof. Von meiner Grundschulzeit sind mir glücklicherweise nicht viele Erinnerungen geblieben, doch an den Wandertag zur Versteigerungshalle des Großmarkts konnte ich mich erinnern. Wir Knirpse saßen auf einer steilen Tribüne und schauten fasziniert auf die Versteigerungsuhr, die rückwärtslief. Wer beim höchsten Preis einen Knopf drückte, dem gehörte die Ware.

Der Chauffeur fluchte. »Ich werde direkt neben der Hallenwand parken, dort stört der Wagen hoffentlich nicht zu sehr. Macht es Ihnen etwas aus, über die Fahrerseite auszusteigen?«

Angesicht der blockierten Beifahrertür blieb mir nichts anderes übrig. Die körperliche Anstrengung hielt sich in Grenzen. Währenddessen befreite der Chauffeur KPD, der abwartete, bis ihm die Tür geöffnet wurde.

»Da ist ja das neue Prunkstück«, sagte er in Richtung Hallenwand, die an dieser Stelle wie eine gewöhnliche Hallenwand aussah. Dann blickte er mich scharf an. »Palzki, Sie bleiben, wie vereinbart, stets einige Schritte hinter mir. Falls Ihre Anwesenheit benötigt wird, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Und versuchen Sie, mich nicht allzu sehr zu blamieren. Am besten reden Sie nur das Allernötigste.« KPD stiefelte in Richtung Eingang.

»Darf ich bitte Ihre Einladung sehen?«, fragte eine junge Frau am Eingang.

KPD stutzte für einen Moment. »Ja kennen Sie mich denn nicht, junges Fräulein? Ich bin doch der gute Dienststellenleiter der Schifferstadter Kriminalpolizei.«

»Nein«, entgegnete das Fräulein und deutete auf eine dicke Liste in ihrer Hand. »Schließlich kann ich nicht alle der vielen Gäste persönlich kennen. Ich bin nur eine Auszubildende. Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, damit ich nachschauen kann, ob Sie reindürfen.«

KPD plusterte sich gefährlich auf. Da seine nächste Reaktion absehbar war, mischte ich mich deeskalierend ein. »Das ist Klaus P. Diefenbach, und ich bin sein Mitarbeiter Reiner Palzki.«

Die Auszubildende vertiefte sich in die Liste, und KPD verbesserte: »Untergebener. Palzki ist mein Untergebener.«

Mit einem Gesichtsausdruck, der ihren Frust deutlich zur Kenntnis brachte, nickte sie. »Sie dürfen rein. Die Eröffnungsansprachen beginnen erst in einer guten halben Stunde, da wir ein paar kleine Verzögerungen im Ablaufplan hatten. Der Weg zur Getränkebar ist ausgeschildert.«

KPD fand es überflüssig, sich zu bedanken. Er wischte sich eine Fussel vom Unterarm und stolzierte derart betont affig in die Halle, dass seine Orden wie ein verstimmtes Glockenspiel klimperten. Um ja nicht mit meinem Chef in Verbindung gebracht zu werden, hielt ich mich wie befohlen im Hintergrund. Alle paar Meter wurde KPD von jemandem begrüßt. Je nach Wichtigkeit der Person nickte er nur kurz oder wechselte ein paar Worte. Ich selbst war sehr darauf gespannt, wer meinem Chef nahegelegt hatte, mich zu dieser Feier mitzunehmen. Ich grübelte, welche Kontakte ich in der Vergangenheit zur Obst- und Gemüseszene hatte, doch mir fiel nichts Brauchbares ein. Ich fühlte mich an diesem Ort sehr fremd, zumal es überall streng nach den unterschiedlichsten vegetarischen Produkten roch. An manchen Stellen waren kleinere Getränkeausgaben installiert. Aufgrund der frühen Uhrzeit organisierte ich mir eine gut gekühlte Cola Zero.

»Das Buffet und die Grillecke werden direkt nach den Ansprachen eröffnet«, sagte mir die männliche Bedienung, als sie mir die Cola reichte. »Kleine Snacks gibt’s jetzt schon nebenan.«

Grillecke, dieses Wort weckte schlagartig meine Lebensgeister, bis mir einfiel, dass es sich in den letzten Jahren immer öfter eingebürgert hatte, zünftige Grillpartys durch das Braten von Gemüse abzuwerten. Dennoch, fand ich, wäre es der Hammer, wenn irgendwo auf dem Gelände das Currymobil der Gebrüder Schmidt stehen würde. Seit ein paar Jahren hatte meine geliebte Currysau aus Speyer einen mobilen Cateringservice. Jäh wurde ich aus meiner paradiesischen Traumkulisse gerissen.

»Palzki, kommen Sie mal zu mir.« KPD, der bei einem Mann mittleren Alters stand, winkte mich zu sich. »Das ist mein Untergebener Palzki«, sagte KPD. Ich gab seinem Gegenüber die Hand.

»Herzlich willkommen, mein Name ist Hans-Jörg Friedrich. Ich bin einer der beiden Vorstände des Pfalzmarkts.« Er sah zu KPD. »Warum haben Sie nicht Ihre Frau Gemahlin mitgebracht, Herr Diefenbach?«

Auf diese Frage war mein Chef nicht vorbereitet. »Weil, äh, ja«, stotterte er herum, bis er den verlorenen Faden wiedergefunden hatte. »Weil, sie ist unpässlich. Ja, leider unpässlich. Deswegen habe ich Palzki dabei.«

Friedrich nickte uns beiden freundlich zu. »Dann wünsche ich Ihnen bei uns einen schönen und informativen Vormittag. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl.«

Nachdem das Vorstandsmitglied wenige Meter weiter vom nächsten Gast in Beschlag genommen wurde, raunte mir KPD zu: »Ich habe eigentlich erwartet, dass ich etwas wichtiger wahrgenommen werde. Es ist schließlich brüskierend genug, dass ich nachher keine Rede vor allen Besuchern halten darf. Schauen wir mal, wo wir seinen Kollegen finden.«

Um KPDs Meckereien aus dem Weg zu gehen, vergrößerte ich erneut den Abstand zwischen uns. Das nächste Erlebnis entschädigte mich für die Demütigungen meines Chefs. Ein mir unbekannter Mann im Anzug lief an KPD vorbei und grüßte kurz. »Guten Tag.« Dies wäre nicht weiter von Belang gewesen, doch diese Person kam auch mir entgegen. Da wir uns nicht kannten, nickte er mir nur freundlich zu. In diesem Moment konnte ich sein Namensschild entziffern: »Reinhard Oerther, Vorstand«.

Meine Schadenfreude war unübersehbar, als ich KPDs finstere Mimik erblickte. Ich sah schon im Geiste, wie er heute Mittag bei seinem Hausarzt vorsprach und um eine Klinikpackung Antidepressiva bat. Diese Situation galt es auszuweiten. »Na, Herr Diefenbach, Sie sehen so gekränkt aus. Ist Ihnen nicht gut? Hat Sie Herr Oerther genau wie sein Kollege auflaufen lassen? Vielleicht gibt es tatsächlich noch die eine oder andere heute eingeladene Person, die wichtiger ist als Sie?«

»Ausgeschlossen«, schoss KPD zurück. »Ich als Zen­tralverantwortlicher für die Sicherheit in der Bevölkerung stehe stets an erster Stelle. Wahrscheinlich hat er nur nicht richtig hingeschaut und mich mit einem einfachen Gast verwechselt. Alles andere ist völlig ausgeschlossen. Ich hole mir jetzt ein Glas Sekt, dann gehen wir in die Halle, wo die Reden gehalten werden. Hoffentlich hat man mir in der ersten Reihe einen Platz reserviert.«

Ich versuchte weiter, in KPDs Ego-Wunde zu stochern. »Wer von den beiden Vorständen hat Ihnen eigentlich befohlen, dass ich mitkommen soll?«

KPD antwortete mürrisch: »Das weiß ich doch nicht, außerdem lasse ich mir von niemandem etwas befehlen. Ich bin der Chef. Die Bitte kam zwei Tage nach der schriftlichen Einladung per E-Mail vom Pfalzmarkt. Kann sein, dass sich jemand einen Spaß erlaubt hat, um mich zu ärgern.« Er drohte mir mit einem Finger. »Wenn ich erfahre, dass Sie dahinterstecken, dann können Sie etwas erleben.«

»Warum sollte ich?«, antwortete ich erbost. »Ich habe Ihnen selbst vorgeschlagen, in meinem Büro zu bleiben.«

»Herr Palzki?«

Ich drehte mich um, KPD tat es mir nach.

»Sie sind es tatsächlich«, sagte die mir fremde Person. »Ich wusste gar nicht, dass Sie auf der Gästeliste stehen. In den letzten Jahren habe ich viel Positives über Sie gehört. Meine Mutter hat übrigens sämtliche Kriminalromane von Dietmar Becker gelesen. Die sollen richtig gut sein, meinte sie.«

Ich rollte mit den Augen. Warum wurde ich ständig an diesen unsäglichen Regionalkrimiautor erinnert? Seit fast 15 Jahren schrieb er sogenannte Krimis, die bei den Lesern geteilte Meinungen hervorriefen: Den einen gefielen sie nicht, die anderen fanden sie furchtbar. Dennoch fanden sich regelmäßig jede Menge hartnäckige Leser, die die inzwischen auf 20 Fälle angewachsene Reihe liebten. Mir selbst konnte der Erfolg Beckers egal sein, wenn er mich nicht ständig bei den Recherchen zu seinen Büchern bei meinen polizeilichen Ermittlungen stören würde. Außerdem hatte er den ermittelnden Kommissar auf meinen Namen umbenannt, nachdem ich ihm versehentlich bei einem Einsatz das Leben gerettet hatte.

»Übrigens«, sprach er weiter, »mein Name ist Christian Deyerling, ich bin der Aufsichtsratsvorsitzende des Pfalzmarkts.«

KPD stand unbeachtet mit offenem Mund daneben und schluckte und schluckte. Schließlich mischte er sich ein. »Guten Tag, Herr Aufsichtsratsvorsitzender, ich …«

»Ach, Herr Diefenbach«, unterbrach Deyerling. »Hat Herr Palzki seinen Chef mitgebracht?«

Während sich das Gesicht meines Chefs pfalzmarktkonform in eine Tomate verwandelte, wandte sich der Aufsichtsratsvorsitzende wieder mir zu. »Ich wusste zwar nicht, dass Sie hier sind, Herr Palzki, aber ich weiß, dass Dietmar Becker auf der Gästeliste steht. Er hat angekündigt, einen seiner Krimis bei uns im Pfalzmarkt spielen zu lassen. Meine Mutter freut sich schon sehr auf das Ergebnis. Daher gehe ich davon aus, dass Herr Becker und Sie gemeinsam vor Ort sind, um den Plot des Krimis zu besprechen, oder?«

Ich nickte und musste dabei höllisch aufpassen, nicht vor Lachen laut herauszuplatzen. Körperbeherrschung war das Gebot der Stunde. »Ihr Neubau ist wirklich riesig«, lobte ich ihn, weil mir nichts Besseres einfiel. »Und alles so neu«, ergänzte ich überflüssigerweise.

Deyerling strahlte. »Vor allem haben wir mit dem Neubau die Kühlkapazitäten deutlich ausgeweitet. Unsere Produktpalette mit 140 verschiedenen Gemüse- und Obstsorten wie Radieschen, Bundzwiebeln, Karotten, Salat, Feldsalat, Blumenkohl, Kohlrabi, Äpfeln oder Zwetschgen …«

»So viel verschiedenes Gemüse gibt es?«, unterbrach ich erstaunt.

»Äh, darf ich …«

KPDs Einmischungsversuch wurde völlig ignoriert. Deyerling nickte mir eifrig zu. »Während jeder Freilandsaison ernten unsere 180 aktiven Erzeugerbetriebe auf einer Anbaufläche, die von hier bis an die französische Grenze reicht, etwa 250.000 Tonnen knackfrisches Obst und Gemüse.«

Auch wenn mich die Superlative des Aufsichtsratsvorsitzenden nicht die Bohne interessierten, war ich dennoch über die gigantischen Mengen erstaunt. So viel Gemüse, das konnte mich gut und gerne gleich mehrfach traumatisieren. Ein Glück, dass meine Frau Stefanie das nicht mitbekam. Sie würde nicht aufhören, bis sie alle 140 Sorten Gemüse zu Hause gekocht und probiert hatte, was ich bei meiner Gemüseallergie garantiert nicht überleben würde.

»Kann man die neuen Hallen besichtigen?« KPD versuchte weiterhin hartnäckig, wahrgenommen zu werden. Er machte gerade die Erfahrung seines Lebens. Inzwischen hatte ich bemerkt, dass Christian Deyerling meinen Chef bewusst auflaufen ließ. Wenigstens einer, der wusste, was sich gehörte, und vor KPD nicht den Duckmäuser spielte.

»Ja, Sie können sich einer der Führungen anschließen, die alle paar Minuten vorne am Haupteingang beginnen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er sofort wieder Augenkontakt zu mir auf. »Wir haben unsere Kühlkapazitäten mit dem Neubau von 23.000 Kubikmeter deutlich aufgestockt. Damit können wir in Zukunft viel flexibler im Markt reagieren. Das Geschäft mit Obst und Gemüse war schon immer knallhart.«

»Ich weiß«, sagte ich, weil ich zu diesem Thema kürzlich einen Artikel in der RHEINPFALZ gelesen hatte. »Der Einzelhandel bestimmt den Markt, habe ich gelesen.«

»Zum Teil stimmt das schon«, bestätigte Deyerling. »Wenige große Abnehmer zeichnen für den größten Teil der Warennachfrage verantwortlich. Das ist für uns aber kein Problem. Mit unserem neuen Workflow werden wir zukünftig einen noch smarteren Ablauf haben, sozusagen das modernste Gemüsehandling Europas. Die Anlieferer bringen die Ware direkt in einen gekühlten Raum. Das ist ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal, auch wenn alles sehr komplex ist.«

»Da möchte ich nicht mit Ihnen tauschen«, sagte ich ehrlich. »Bei uns ist es einfacher, wir brauchen zur Verbrecherjagd keine Kühlkapazitäten.«

Wir lachten beide über meinen Witz. Deyerling schaute auf die Uhr. »Ich muss leider rüber, weil gleich die Eröffnungszeremonie beginnt. Wir sind sowieso etwas spät dran, weil vorhin ein unbekannter Erzeuger ohne vorherige Absprache seinen beladenen Hänger vor eine der Hallen gestellt hat, was eigentlich nicht zulässig ist.« Er rollte mit den Augen. »Außerdem versperrt der Hänger einen der Fluchtwege. Ich möchte schließlich keinen Ärger mit Ihrem Chef bekommen. Der ist mir sowieso ein bisschen zu penetrant.«

»Um solche Kleinigkeiten wie Fluchtwege kümmert sich KPD nicht«, sagte ich.

»KPD, wer ist KPD?«, fragte Deyerling verwirrt.

Ich zögerte nicht, meinem neuen Freund die Wahrheit zu sagen. »Das ist Diefenbachs Spitzname, wegen seiner Initialen. Das weiß er aber nicht.«

»Von mir erfährt er nichts«, sagte Deyerling verschwörerisch und lächelte. »Ich hoffe, wir sehen uns nachher noch mal.«

Mein Chef hatte längst aufgegeben und war verschwunden. Ich folgte den anderen Gästen in eine riesige bestuhlte Halle. Seitlich kämpfte ich mich vor bis zur Bühne und scannte die erste Reihe ab. Dann die zweite. Alle Stühle waren besetzt, keiner von KPD. Mir ging es so gut wie lange nicht mehr. Dabei merkte ich, dass meine Cola leer war. Trotz der frühen Uhrzeit würde ich mir jetzt zur Feier des Tages ein Bier gönnen. Und zwar explizit kein alkoholfreies. In der angrenzenden Halle hatte ich den Bierstand einer hiesigen Brauerei bereits im Visier, als ich erneut angesprochen wurde.

Das letzte Mahl

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