Читать книгу Odysseus. Was Homer nicht erzählte - Heinz-Joachim Simon - Страница 5

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1.

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,

welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,

vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat

und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,

Seine Seele zu retten und seiner Freunde

Zurückkunft …

Odyssee, 1.5

WER SICH HIER ANMASST, DIE ODYSSEE NEU ZU ERZÄHLEN.

Mein Name ist Kriton aus Smyrna. Mein Herr sagt von mir, dass ich ein Lügner, Taugenichts und Faulpelz bin. Wenn er schlechter Laune ist, sagt er schlimmeres, womit ich aber euch verschonen will.

Seit zwanzig Jahren bin ich Leibsklave im Haus des Homer, den einige für den größten Geschichtenerzähler aller Zeiten halten, andere nennen ihn einen göttlichen Sänger und wieder andere halten ihn für einen großartigen Lügner. Na ja, sind wir das nicht alle?

Ich gestehe also frank und frei, dass ich es mit der Wahrheit so genau nehme wie mein Herr, nur dass ich meine Geschichte nicht in so fein komponierten Liedern zu erzählen vermag. Bei mir geht es saftiger zu, menschlicher allemal. Bei mir riecht ihr den Schweiß der Helden und, beim Zeus, bei mir sind sie keine Marmorstatuen, sondern aus Fleisch und Blut, so fehlbar und voller Irrtümer wie wir alle. Was würde Odysseus lachen, wenn er wüsste, was sich mein Herr über ihn zusammenfabuliert hat. Zugegeben, die Geschichte von der Ilias hat Homer ganz schön bekannt gemacht. Jeder kleine König, der was auf sich hält, will meinen Herrn an seinem Hof haben, damit er ihm mit seiner schönen Stimme vorträgt, wie es damals vor Troja war, obwohl dies kein Mensch so genau wissen kann. Aber so wie er es erzählt, ist es schon eine sehr schöne Geschichte. Aber ihr solltet keinen Kupferbarren darauf wetten, dass es sich genau so abgespielt hat. Der Raub der schönen Helena und die zehn Jahre vor Troja sind seinem genialen Kopf entsprungen. Aber alle Welt glaubt die Geschichte. Doch wenn man sich umhört, hört man auch viel anderes.

Ich selbst war fünf Jahre lang Sklave auf Ithaka, das genau so karg und öde ist wie dieses verstaubte Chios, wo ich es nun auch schon viel zu lange Jahre aushalten muss. Nun denkt nicht, dass ich mich über mein Dasein beklagen will. Es hätte schlimmer kommen können. Im Grunde kann ich mich über meinen Herrn nicht beklagen, denn schließlich stecken ihm die Könige allerhand zu, wovon ich auch gehörig profitiere, denn ihm fehlt die rechte Übersicht über seine Einnahmen, was ich an den Sängern und anderem fahrenden Volk schon oft beobachtet habe.

Also die Ilias war ein Volltreffer, die ihm Ruhm und Brot brachte, und da hat er ein zweites Mal zu den Würfeln gegriffen und, siehe da, auch die Geschichte von der Odyssee wurde begeistert aufgenommen. Wenn auch sie sich nicht durch sehr große Wahrheitstreue auszeichnet und noch mehr Unwahrheiten enthält als ein Igel Flöhe hat. Ich gehe davon aus, dass man euch die Abenteuer des Odysseus bereits vorgetragen hat. Natürlich sind sie herrlich, die Verse göttlich. Aber glaubt ihr wirklich, dass mein guter Herr mit den Göttern auf Du und Du ist? Im Grunde redet er sich dauernd mit Zeus, Athene, Poseidon und all den anderen Hallodris heraus. Sie sind schuld an allem, was Odysseus erlebte. Du lieber Olymp, was sich mein guter Alter da alles zusammenfantasiert hat.

Ich habe zu den Göttern so meine eigenen Gedanken. Von wegen, dass die uns gemacht haben. Nein, ich werde den Verdacht nicht los, dass wir sie uns so gemacht haben, um uns die Welt und unser Schicksal erklären zu können und um einen Sündenbock zu haben, auf den wir alles schieben können. Vor allem dann, wenn wir nicht so ganz hasenreine Geschichten machen, also betrügen, stehlen oder brandschatzen. (So etwas darf man natürlich nicht laut sagen.)

Warum ich so genau weiß, dass an seiner Odyssee so manches dem Wahrheitsgehalt über die Heldentaten des Herakles gleichkommt?

Ich war fünf Jahre auf Ithaka. Deswegen weiß ich Bescheid, was dort so erzählt wird, und das hört sich ganz anders an als das, was mein Herr zusammenfabulierte. Viel hat mir auch Eumaios erzählt, und der wusste es von seinem Vater und dieser wiederum von seinem Vater und so weiter. Hört also meine Version, und wenn sie euch nicht gefällt, dann kann ich nur sagen, dass ich nicht Homer bin, aber zumindest anführen, dass sie genau so wahr oder unwahr ist. Natürlich werde ich keinen Eid auf den Wahrheitsgehalt im Tempel ablegen, schon gar nicht im Tempel der Athene und selbst vor Apollon nicht, der, wie man weiß, viel Verständnis für eine gute Geschichte hat.

Natürlich bin ich nicht ein Genie wie mein Herr, vom Singen einmal ganz abgesehen. Eines muss man Homer lassen, sein Gesang ist so schön, dass man einen Gott wie Apollon zu hören glaubt. Wenn er eine Strophe vorträgt, dann bin ich so beseelt, als hätte ich unvermischten Wein getrunken. Er ist nun einmal der erste Sänger der Achaier, um ein Wort zu gebrauchen, das er für uns Griechen benutzt. Und nobel und gutherzig ist er auch, jedenfalls meistens. Höchstens nach einer durchzechten Nacht und einem Mordskater benutzt er manchmal den Stock. Doch so richtig zornig habe ich ihn nur erlebt, als er mich auf seiner Lieblingssklavin erwischte, der holdseligen vollbrüstigen Alkmene, dabei habe ich mich nur für ihn aufgeopfert. Zugegeben, kein großes Opfer. Aber mit seinen über sechzig Sommern beglückt er die Schöne nicht mehr so oft wie sie es braucht, und dann springe ich eben ein. Also, ganz ehrlich: Homer ist schon in Ordnung und fast so edel wie sein Hektor und die ganze Bande, die er sich aus den Fingern gesaugt hat.

Er hat mich auf dem Markt zu Ephesos gekauft, hauptsächlich deswegen, weil ich ein angenehmes Gesicht habe und kräftige Muskeln und ein tadelloses Gebiss, und als er feststellte, dass ich über ein gutes Gedächtnis verfüge, hat er mich zum Leibsklaven gemacht. Meine Hauptaufgabe besteht darin, für ihn Geschichten zu sammeln, die man sich in den Tavernen am Hafen erzählt. Eine Menge fantastischer Berichte habe ich bereits für ihn zusammengetragen. Nun denkt nicht, dass meine Würfel immer die Höchstzahl bringen. Nein, es ist eine arge Plackerei, sich all den Unsinn anzuhören, den einem die besoffenen Seeleute erzählen. Den Unsinn habe ich an meinen Herrn weitergegeben und, wenn die Ausbeute nicht so groß war, einiges hinzugetan, und daraus hat er die Odyssee zusammen–komponiert. Deswegen wimmelt es auch so von Zyklopen, Göttern und Sirenen und anderen Zauberwesen, und sie machen einen Blödsinn, dass sich die Balken im Megaron biegen.

Oder habt ihr schon einmal einäugige Riesen gesehen oder Sirenen gehört oder glaubt ihr, dass eine schöne Frau, reich sogar, zwanzig Jahre auf den Mann wartet, der kein Sterbenswörtchen von sich hören lässt, während sich vor ihrem Schlafzimmer die schönsten Jünglinge Hellas’ drängeln?

Mit der Ilias war es nicht anders. Troja wegen einer läufigen Hündin zu belagern, ist wirklich so glaubhaft wie die Argonautenfahrt. Troja versperrte den Achaiern den Handelsweg nach Kolchis und verlangte Wegegeld, und das ärgerte die Achaier gewaltig, und außerdem wollte man Beute machen. Wenn es die blöde Kuh Helena tatsächlich gegeben hat, dann war sie allenfalls ein Vorwand. Immer wenn euch jemand mit Ehre und Ruhm kommt, dann seid auf der Hut. Meistens verbirgt sich dahinter nur Eigennutz, Gier und Geilheit.

Doch damit wir uns richtig verstehen, trotz meiner Skepsis hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes der Ilias und der Odyssee bin ich auf den Alten stolz, und ein wenig von seinem Ruhm fällt auch auf mich ab, wenn ich sage: Jawohl, ich bin der Leibsklave des großen Homer.

Liebe Freunde einer guten Geschichte, ihr seid zu mir gekommen, damit ich euch von den Irrfahrten des Odysseus erzähle, wie ich sie gehört habe. Nun, eurem Wunsch will ich gern nachkommen. Jeden Abend, wenn mich Homer in Ruhe lässt, werde ich euch von den unsterblichen Taten des Vielklugen berichten.

Doch nun Öl bei die Fische, werdet ihr sagen. Gut, ich will euch nicht weiter auf die Folter spannen und euch die Geschichte erzählen, die ich in Ithaka und in den Tavernen von Chios und Smyrna und selbst bei den Persern gehört habe. So wie ich es erzähle, hat es Homer nicht erzählt. Meine Geschichten sind zugegebenermaßen auch nicht so fein gesponnen, sondern handeln von Rotz und Wasser, Dreck und Schmerz und Mord. Ich hoffe, dass ihr mir zugestehen werdet, dass sie voll Leben dampfen. Wenn ihr Erbauliches über Götter hören wollt, dann haltet euch an Homers Verse. Die Götter kommen in meiner Geschichte nicht allzu oft vor. Klar, ganz kommt man ohne sie nicht aus, da geht es mir wie jedem, der sich über des Geschickes Mächte wundert. Beim Zeus, irgendjemand muss uns doch wie kleine Bauklötze hin und her schieben? Aber seien wir mal ehrlich: Ist euch Apollon je leibhaftig erschienen? Aber vielleicht glaubtet ihr in einem Hain einmal seine Lyra zu hören, vielleicht nach einem guten Mahl mit süßem Wein aus Samos, sanft dahindämmernd unter dem Schatten eines Ölbaums? Nun ja, so sehen auch meine Begegnungen mit den Göttern aus.

Natürlich fängt meine Geschichte auch in Troja an. Deswegen gilt nach wie vor das Sprichwort: Troja ist an allem schuld. Doch nun zu unserem Helden Odysseus. Ihr wollt wissen, wie er wirklich aussah? Ein Apollon war er jedenfalls nicht. Kurzbeinig, breitschultrig und mit rötlichem Haar und kurzem Vollbart. Schöne Augen soll er gehabt haben, eine griechische Nase und … ein herrliches Lachen. Oh ja, von ihm lässt sich das homerische Gelächter ableiten. Er hinkte zudem, da er von einem Eber an der Hüfte verletzt worden war. Man kann ihn je nach Einstellung beredsam oder einen Prahlhans nennen. Auf jeden Fall hatte er einen beweglichen Geist, und die Bezeichnung listenreich ist sicher nicht übertrieben. Nun wisst ihr, dass der Vielkluge das krasse Gegenteil von Achilleus war, den man meiner Meinung nach total überschätzt. Ich halte ihn für einen tumben Sturkopf, Totschläger und Langweiler. Doch nun zu meiner Geschichte.

Also, was Homer verschwiegen hat: Paris war nicht zuerst bei Menelaos in Sparta, sondern besuchte Odysseus auf Ithaka. Tja, da staunt ihr. Ich habe es von Eumaios erfahren und der von seinem Vater und der wiederum … ihr wisst schon. Odysseus war gerade König geworden, nachdem sein Vater Laertes zu seinen Gunsten abgedankt hatte, weil er es leid war, sich mit den ungebärdigen Ithakesiern herumzuschlagen. Natürlich nahm Odysseus den Sohn des Königs Priamos gastlich auf, schließlich ist das bei uns Griechen ein Gebot der Götter. Und Paris, dieser Schlingel, bedankte sich damit, noch bevor er die Helena klaute – wenn sie ihm nicht sogar freiwillig folgte – indem er den heiligen Speer der Athene aus Ithaka entführte.

Man hatte für den Gast ein großes Fest gegeben, und viel Wein war geflossen. Penelope, die nicht so eine taube, frigide und langweilige Träne war, wie Homer sie darstellte, sondern ein saftiges Weib, machte dem Paris schöne Augen. Der trojanische Lümmel sah tatsächlich so aus, als hätte er dreimal „Hier“ gerufen, als Zeus die Schönheit verteilte. Bei Klugheit und Mut muss er hingegen weggehört haben. Jedenfalls war es eine tolle Feier, und alle haben dem Wein vielleicht zu wenig Wasser beigemischt, und Dyonisos hatte an dem Besäufnis seine helle Freude, und in der Nacht ist es dann passiert.

Am nächsten Tag hat man sich erst einmal gewundert, dass sich der geehrte Gast auf kretisch verabschiedet hat. Dass dies den Speer der Athene mit einschloss, hat man erst am Mittag bemerkt, als der vielkluge Odysseus mal wieder seiner Lieblingsgöttin opfern wollte. Da gab es natürlich ein großes Wehklagen. Mit dem Speer hatte es so seine Bewandtnis. Es ist die Waffe der Athene. Jeder weiß doch, dass sich Athene niemals ohne Speer zeigt. Diesen Totmacher hatte Hephaistos eigentlich für Poseidon geschmiedet, doch Zeus gefiel das Ding auch und so hat er es sich unter den Nagel gerissen, denn schließlich war er der Göttervater. Doch als er das Spielzeug leid war, schenkte er es seiner Lieblingstochter Athene. Ist doch bekannt, dass es mit Zeus und Athene eine besondere Bewandtnis hat, schließlich hat sie der Gottvater aus seinem eigenen Kopf geboren. Na, lassen wir das. Jedenfalls hat Poseidon dann Ansprüche auf den Speer angemeldet. Immerhin ist er der Bruder des Zeus. Gegen Zeus konnte er nichts machen, aber Athene gönnte er die Waffe nicht. Es gab eine sehr unfeine Kabbelei. Poseidon ließ die Meere aufwühlen, Athene Feuersäulen aufsteigen, und Zeus wurde es dann zu bunt und hat den Totmacher vom Olymp auf die Erde geschleudert. Warum der Speer ausgerechnet auf dem staubigen Ithaka landete, weiß kein Mensch. Jedenfalls hat einer der Altvorderen des Laertes das Ding plötzlich aus einem Rosenbusch gezogen und es dem Standbild der Athene im Tempel in die Hand gegeben und daraus sein Königtum abgeleitet. Seitdem haben die Könige von Ithaka ein besonderes Verhältnis zu Athene, was Homer auch immer wieder besingt, und darauf verwies auch Odysseus, denn schließlich hat Athene den Speer nicht zurück verlangt. Das Ding verstaubte also im Tempel, und Paris dachte sich wohl: Die Waffe kann ich gut gebrauchen, wer weiß, was auf mich noch zukommt. Kurz, Paris war da und weg und der Speer mit ihm, und kurze Zeit später hörte Odysseus, dass auch Helena weg war, die dumme Kuh.

Nun hatte Odysseus ein Problem. Ohne die heilige Waffe war sein Königtum zumindest fragwürdig. Jeder im Volk fragte sich mit Recht: Was haben wir da für einen König, wenn er nicht mal auf den Speer der Athene aufpassen kann? Es drohte also Ärger.

Also, mit acht Schiffen nach Sparta, dem Paris hinterher. Alle jungen Leute waren froh, dass endlich etwas passierte, und so zog Odysseus mit sechshundert Kämpfern los. Also segelte er flugs dem Paris nach, was natürlich einen gehörigen Krach mit Penelope auslöste, die gerade von Telemachos entbunden worden war, und, wie man weiß, sind die Frauen nach dem Gebären ein wenig schwierig. Er war heilfroh, ihr Keifen nicht mehr ertragen zu müssen. Als Ehemann war Odysseus, wie wir noch sehen werden, eine krasse Fehlbesetzung.

Doch Odysseus kam zu spät. Menelaos greinte ihm etwas vom Verlust seines Weibes vor, sprach von Schmach und verletzter Ehre. Die Spartaner waren schon damals nicht besonders hell im Kopf, und so ging es gemeinsam weiter nach Mykene zu Agamemnon, der schon lange einen Grund suchte, den Großkönig, also Basileus, spielen zu können und der von einer Schande für ganz Griechenland sprach. Er rief also alle Völker der Achaier zusammen und redete und redete, unter anderem von verletzter Gastfreundschaft und vor allem von Beute, und weil es den Fürsten auf ihren Inseln überall sehr langweilig war, sagten alle zu. Odysseus vor allem, weil er wusste, dass er ohne den verdammten Speer ohnehin nicht zurückkommen brauchte.

Mit tausend Schiffen fuhren die Achaier gen Troja. Dass Odysseus ein kleiner Zaunkönig war, sieht man daran, dass er nur acht Schiffe zusammenbrachte, Achilleus dagegen einhundert. Nun glaubt nur nicht, dass die Söhne von Ithaka wegen des heiligen Speeres mit Odysseus losgezogen waren. Nein, die nahmen den Raub der Helena und den Speer zum Anlass, ein bisschen Spaß zu haben. Ganz ehrlich: Es ging ums Beutemachen und um Brandschatzen, Huren und Schänden und all das, was so der Zeitvertreib vornehmer junger Herren ist. Ihr merkt schon, dass nichts Göttliches, sondern allzu Menschliches in meiner Geschichte vorkommt. Sie fängt auch nicht so vornehm und erhaben an wie:

Singe den Zorn, oh Göttin, des Peleiaden Achilleus,

Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Ais sendete …

Nein, meine Geschichte fängt damit an, dass die Achaier ziemlich mutlos im Kriegsrat zusammensaßen und soffen und furzten und nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Und ihr könnt sicher sein, dass am Ende meines Berichtes vom Olymp her das Gelächter des Odysseus dröhnt. Aber nun muss ich für heute Schluss machen, Homer ruft nach mir. Dabei war ich gerade so schön im Schwung …

2.

RATLOSE HELDEN VOR TROJA.

Alte Männer können höchst ungeduldig sein. Mein Herr wollte nur, dass ich ihm den steifen Nacken massiere. Dabei musste ich mir wieder einmal anhören, dass früher alles besser war, und warum und wieso die jetzigen Jüngelchen nichts taugen und keinen Charakter, Anstand und Mut besäßen und deswegen unsere Zukunft verspielen würden. So sind sie nun mal, die alten Herrschaften. Also, was ich jetzt erzähle, stimmt im großen und ganzen noch mit dem überein, was mein guter Homer sich zusammengereimt hat. Ich werde euch allerdings mal genauer aufdröseln, wie das mit dem trojanischen Pferd ablief.

Es regnete junge Hunde vor Troja, wie man so sagt. Der Sturm trieb die Wellen des Skamanders gegen die Schiffe, und diese ächzten, als wären sie alte Weiber mit ihren Kiepen auf dem Rücken. Die Helden saßen im Königszelt des Agamemnon zusammen. Menelaos, Aias, Diomedes, Nestor und Neoptolemos, der Sohn des Achilleus, und natürlich Odysseus, der Vielkluge. Was ich nun erzähle, erklingt nicht so erhaben wie die Ilias, aber deswegen ist es nicht weniger wahr als Homers Verse. Womit alles gesagt ist. Ihr versteht, was ich meine?

Sie saßen nun schon seit dem Morgen zusammen und starrten in das Feuer auf dem Dreifuß und waren genau so ratlos wie im ersten Licht der rosenfingrigen Eos und schütteten einen Becher nach dem anderen in sich hinein, und Agamemnon pupste und sagte zum wiederholten Mal: „So geht es nicht weiter, Männer!“

Das wussten die anderen auch, und es löste nur zustimmendes Kopfnicken aus, und Agamemnon sah sie an, als hätten sie dies zu verantworten und er wäre außen vor. Doch sie kannten dies schon an ihm und nahmen es hin wie den Sturm draußen, der die Zeltplane kräftig knattern ließ.

„Wir haben gekämpft und gelitten, und was hat es gebracht?“ klagte der eisenherzige Aias, der zwar nicht den Ruf hatte, besonders schlau zu sein, dafür aber wegen seiner Kühnheit und seines fröhlichen Darauflosschlagens sehr beliebt war. So ist das nun einmal. Man liebt nicht die Schlauen und schon gar nicht die Weisheit, sondern die tumben Totschläger. Was er dann von sich gab, war auch keine Neuigkeit, verursachte aber allgemeines Hinterkopfkraulen.

„Die Mannschaften sind kurz vor dem Meutern. Gestehen wir es uns ein. Troja ist nicht zu erobern!“

Dies hatten sich alle zwar heimlich auch schon eingestanden, aber dass er, der Hekatomben von Trojanern in den Hades geschickt hatte, sich nun offen dazu bekannte, war bedenklich genug.

Nur der heldenmütige Diomedes wollte noch nicht die Segel streichen, nicht, weil er nicht auch zu gleichen Erkenntnis gekommen war, sondern weil er seinem Ruhm gerecht werden wollte, hatte er doch beim Kampf mit Hektor zumindest ein Unentschieden herausgeholt.

„Noch ein letzter Angriff!“ rief er mit herausforderndem Blick. „Ein letzter Versuch noch. Ich will nicht zu Hause bekennen müssen, dass hier Tausende von uns umsonst gestorben sind. Stellt euch einmal vor, was kommende Generationen von uns sagen werden. Sie lagen vor Troja und mussten wie getretene Hunde wieder abziehen? Das Gelächter möchte ich nicht hören.“

Er redete, wie er reden musste, und für sein einfaches Gemüt liebten ihn ja auch die Mannschaften. Aber besonders klug oder logisch war es nun wirklich nicht, denn sie hatten ja schon zigmal versucht, Troja zu erstürmen. Der weise Nestor schüttelte sein weiß umrahmtes Haupt.

„Wir haben es mit Achilleus nicht geschafft! Woher nimmst du die Zuversicht, dass wir es jetzt schaffen? So viele der Edlen sind gestorben. Nein, meine Fürsten, gestehen wir es uns ein: Es war keine gute Idee hierher zu kommen. Die Götter wollen nicht, dass wir Troja bezwingen.“

So sprach der weise Alte und schüttelte abermals sein weiß umrahmtes Haupt. Die Helden grunzten und schütteten noch mehr heißen Wein aus dem Mischkrug in ihre goldenen Becher, und ihre Augen wurden immer glasiger.

„Dann soll ich ohne Helena nach Sparta zurück–kehren?“ jammerte Menelaos. „Die Schande ertrage ich nicht!“

„Willst du vor Troja sterben?“ fragte Odysseus mit süffisantem Lächeln.

„Lieber das, als ohne Aphrodites Ebenbild zurückzukommen.“

Er redete also so dümmlich daher, wie er immer redete, und alle zuckten mit den Achseln, und Odysseus verdrehte die Augen.

„Wer redet denn vom Sterben? Das bringt nur Unglück“, brummte Neoptolemos, der Jüngste in der Runde. Er gab sich stets Mühe so zu reden wie sein Alter und wollte nun dem Diomedes nicht nachstehen.

„Ja. Wir sollten es noch einmal versuchen. Gleich jetzt. Das Wetter ist lausig genug. Die Trojaner hocken sicher am Herdfeuer und wärmen sich die Hände, und die Wachen auf den Mauern können keinen Speerwurf weit sehen.“

Odysseus seufzte über so viel Unvernunft.

„Wir haben schon so manches Mal bei schlechtem Wetter vergeblich angegriffen und dabei gute Männer verloren. Es wurde genug gestorben“, wandte er ein und dachte sich sein Teil, dachte, was für Esel sind doch die Herrscher der Welt, der eine will sterben, weil er nicht auf die Liebesnächte mit einer blöden Gans verzichten will, der andere hat nichts als seinen Ruhm im Kopf und der Dritte will seinen Vater übertreffen, und Agamemnon fällt nichts ein, will weiterhin nur den Basileus spielen. Aber auch er, der Listenreiche, hatte gute Gründe nicht heimzusegeln, denn ohne den Speer der Athene brauchte er erst gar nicht Ithaka betreten. Ohne den angerosteten Spieß konnte er keinen Anspruch auf den Königsthron erheben. Das Volk verlangte, dass der Speer im Athene–Tempel vor sich hin zu rosten hatte. Er konnte sich also auch nicht mit eingezogenem Schwanz davonmachen.

„Vielkluger Odysseus, erkläre dich“, drängte Nestor. „Dir ist doch noch immer etwas eingefallen.“

„Nichts ist ihm in letzter Zeit eingefallen, nichts was uns weiterbrachte“, murrte Menelaos. „Was ist denn von einem aus Ithaka auch schon groß zu erwarten. Mit Schlaumeiereien erobern wir Troja nicht!“

„Letztendlich entscheidet das Schwert. Darin liegt die ganze Wahrheit“, unterstützte ihn Aias, der sich über Odysseus’ flinke Zunge oft genug geärgert hatte. Deswegen schlug er sich nun auf Menelaos’ Seite.

„Wir können uns ja wieder mal blutige Köpfe an den Mauern holen. Nur zu, opfern wir noch einmal unsere heldenmütigen Söhne!“ erwiderte Odysseus ironisch.

„Wir sollten uns auf den rechten Wehrturm vor der Zitadelle des Priamos konzentrieren, der sieht bereits ganz schön ramponiert aus. Vielleicht gelingt es uns dort, bei einem massiven Angriff den Durchbruch zu erzwingen. Alle Kräfte auf den rechten Wehrturm“, schlug Neoptolemos vor.

„Unsere Männer stehen dicht vor einer Meuterei. Noch ein Blutbad und sie werden sich gegen uns wenden!“ mahnte Odysseus und nahm aus der goldenen Schale auf dem Dreifuß neben ihm ein paar Nüsse und Rosinen und warf sie sich in den Mund.

„So geht das nicht weiter“, wiederholte Agamemnon.

„Wenn wir nur wüssten, wie es um die Trojaner steht“, dachte Odysseus laut, sprach mehr zu sich selbst, als dass er seine Mitfürsten meinte, denn er sagte sich mit Recht, dass nicht nur sie, die Griechen, den Krieg langsam satt hatten, sondern dass die Trojaner ähnliches denken mochten, denn sie konnten sich ja nicht einmal durch Raub und Plünderungen aus dem Umfeld der Stadt ernähren.

„Und wenn wir das wissen, was dann?“ fragte Nestor sanft, hoffte, dass nun Athene oder eine andere Gottheit Odysseus die rettende Idee gebracht hatte.

„Dann könnte man sich schon etwas ausdenken“, antwortete der Listenreiche vage, denn was dann zu tun sei, wusste er auch noch nicht. Allerdings war ihm die menschliche Schwäche vertraut, dass man die Welt gern so sehen wollte, wie es den eigenen Wünschen entsprach.

Ein Sklave kam herein, und hinter ihm drängten sich Agamemnons herrliche Stuten ins Zelt, prächtige Tiere, die einen Stammbaum hatten, der bis auf die Pferde des Apollon zurückreichte. Sie hatten einst Hektor gehört, und Achilleus hatte sie diesem abgenommen, und nach dessen Tod machte Agamemnon Besitzrechte geltend, was ihm Neoptolemos immer noch übel nahm und beinahe zu einem Streit geführt hätte, wie der zwischen Agamemnon und Achilleus um die vielhübsche Sklavin Briseis.

„Deine Schönen wollen sich von dir verabschieden, ehe sie sich zur Ruhe begeben“, sagte der Pferdeknecht.

Agamemnon erhob sich und tätschelte die Hälse der Tiere und gab ihnen von den Nüssen, und diese schnaubten dankbar und drückten ihre Nüstern in seine Hände.

„Die Trojaner lieben doch Pferde mehr als alles andere auf der Welt, mehr noch als die fürchterlichen und pferdeverliebten Hethiter“, sagte Odysseus nachdenklich.

„Ja. Und weiter?“ fragte Nestor. In seinen Augen glimmte Hoffnung auf. Als einziger unter den Fürsten wusste er die Klugheit des Listenreichen zu schätzen.

„Was bestimmtes schwebt mir noch nicht vor. Aber wenn man eine Sache zu sehr liebt, dann ist es meist auch eine Schwäche, seien es nun Weiber, Gold, Ruhm oder … Pferde.“

Menelaos verzog das Gesicht, und auch Agamemnon war über diese Bemerkung nicht besonders glücklich, und die anderen empfanden sie auch nicht gerade als taktvoll.

„Ja. Die Trojaner sind pferdeverrückt“, stimmte Nestor zu. „Nicht umsonst sprach man immer vom rossebändigenden Hektor.“

„Was soll das nun mit dem Gequatsche über Pferde?“ fragte Aias ratlos und starrte die anderen an, und auch diese zuckten mit den Achseln.

„Er spielt mal wieder den Schlaumeier“, brummte Menelaos.

„An was denkst du? Ich merke doch, dass sich bei dir eine Idee Bahn bricht“, drängte Nestor.

„Abwarten. Es muss irgendetwas mit Pferden zu tun haben“, erwiderte Odysseus. „Aber erst einmal muss ich wissen, wie es in der Stadt steht. Dann wird mir schon etwas einfallen.“

„Mückenschiss!“ brummte Aias.

Menelaos warf Odysseus einen Blick zu, der ähnliches besagte.

„Außer klug daher reden können die Könige von Ithaka nichts. Die Insel hat wahrlich bessere Fürsten verdient.“

„Dich vielleicht?“ höhnte Odysseus.

„Wir Atriden haben göttliches Blut in uns“, erwiderte Menelaos und warf sich in die Brust. Sein Hochmut und Stolz hatte schon zu manchem Zwist geführt. Er akzeptierte eigentlich nur seinen Bruder Agamemnon, alle anderen Fürsten hielt er für Bauern, was bei Odysseus nicht ohne Hintergrund war. Er, Odysseus, war der einzige unter ihnen, der seinen Acker zu pflügen verstand, der die Sichel kraftvoll zu schwingen wusste und selbst als Tischler keine schlechte Figur abgab. Als König von Ithaka blieb einem schließlich nichts anderes übrig, als dem Land mit eigenen Händen das Brot abzuringen.

„Also, was soll nun das ganze Gerede, Odysseus?“ fragte Agamemnon, nachdem er die herrlichen Stuten hinausgeschickt und sich wieder gesetzt hatte.

„Ich werde mich nach Troja hineinschleichen.“

„Na schön, und dann? Wenn du überhaupt wieder herauskommst“, fragte Neoptolemos.

„Werden wir die Stadt knacken!“

„Knacken?“ fragte Agamemnon ratlos und zupfte seinen schönen, reich bestickten Mantel zurecht und machte sein Basileusgesicht, zeigte also jene Blasiertheit und jenen Hochmut, der ihn manchmal unerträglich machten, den er aber als König für angemessen hielt.

„Ich will wissen, wie sehr sie sich den Frieden erhoffen.“

„Gehen wir mal davon aus, die wollen den Frieden genau so wie unsere Mannschaften. Was dann?“ drängte Diomedes, der Odysseus trotz ihres unterschiedlichen Gemütes schätzte, dessen Schwertkunst rühmte, obwohl der Listenreiche nicht viel davon hermachte und dies nicht für wesentlich ansah, sondern seinem Kopf vertraute, worin er sich natürlich sehr von den anderen Helden unterschied.

„Odysseus, der Spinner!“ murrte Menelaos. „Ich bin dafür, dass wir noch einmal alle Kräfte auf den Turm vor der Zitadelle konzentrieren.“

„Wer ist dagegen?“ fragte Agamemnon und sah herrisch in die Runde, und sein Gesichtsausdruck sagte, dass niemand dagegen sein solle.

Alle schauten zu Odysseus.

„Ja. Macht nur! Ich bin auch dafür.“

„Warum denn das so plötzlich?“ fragte Aias höhnisch.

„Während ihr euch an den Mauern die Köpfe einrennt und sich die Trojaner darum kümmern, dass ihr nicht in die Stadt kommt, werde ich mich unbemerkt hineinschleichen können.“

„Du willst es also tatsächlich wagen?“ fragte Nestor, und alle merkten auf, denn es war schon klar, dass dies einem Besuch in der Höhle des Löwen gleichkam.

„Ja. Nur so erfahre ich die Stimmung unter den Trojanern.“

„Die Ithakesier sind nur als Spione zu gebrauchen. Ein feiner Held bist du!“ spottete Menelaos.

„Komm! Lass ihn nur machen“, beruhigte Agamemnon den Bruder. Dumm war der Basileus nicht. Er kalkulierte durchaus ein, dass auch dieses erneute Anrennen ergebnislos sein könnte, und dann war vielleicht die Klugheit des Odysseus gefragt.

„Auf jeden Fall kann es nicht schaden, wenn wir über die Stimmung in Troja Bescheid wissen“, beschied er dem Bruder und winkte energisch mit dem Königsstab, an dessen Ende das Antlitz des Zeus glänzte.

Sie tranken noch einen Schluck auf die unsterblichen Götter und schütteten den Rest des Weines ins Feuer, so dass die Funken aufsprühten, und nickten sich zu und verließen das Königszelt. Nur die beiden Brüder blieben missmutig zurück.

Es stürmte immer noch. Der Regen prasselte ihnen ins Gesicht. Odysseus wollte sich gleich zum Lager der Ithakesier aufmachen, das am anderen Ende der Palisadenmauer lag, jedoch Nestor hielt ihn zurück.

„Auf ein Wort, edler Odysseus. Du hast doch sicher bereits einen Plan?“ fragte er neugierig mit der Hartnäckigkeit alter Männer.

„Nein. Wirklich nicht. Doch nun geh in dein Zelt. In deinem Alter ist es nicht gut sich zu erkälten, weisester aller Griechen.“

Nestor schüttelte den Kopf. Das weiße Haar klebte an seinem Schädel wie eine Kappe. Die Regentropfen liefen ihm über das Gesicht, den Tränen gleich.

„Sprich“, wiederholte er.

„Ich weiß nur, dass wir uns morgen vor dem Wehrturm, so beschädigt er auch aussehen mag, wieder die Köpfe einrennen. Mit dem Schwert ist Troja nicht zu erobern. Das klügste wäre, wir würden abziehen. Von meinen sechshundert Männern sind bereits hundert gefallen, und ich werde mich in Ithaka deswegen zu verantworten haben. Wenn mir Paris nicht den Speer der Athene gestohlen hätte, wäre ich gar nicht Agamemnons Aufruf gefolgt. Aber so blieb mir gar nichts anderes übrig als mitzuziehen, dem Atriden Gefolgschaft zu leisten, dem es ja auch nicht um die liebestolle Helena geht, sondern darum, den Großkönig aller Achaier zu spielen und natürlich um Gold und das Durchfahrtsrecht nach Kolchis.“

„Wir haben alle unsere Gründe, die nichts mit Helena zu tun haben“, gab ihm Nestor recht und wischte sich das nasse Gesicht ab. „Nicht wegen der läufigen Hündin kamen wir an das Ufer des Skamanders, sondern um uns vom Wegezoll zu befreien und um uns Trojas Schätze anzueignen. Ich habe den Eindruck, die Götter mögen unsere Gründe nicht. Aber schließlich haben sie uns so geschaffen, wie wir sind. Deswegen können sie sich eigentlich nicht über uns beschweren.“

„Nein, Nestor. Sie haben in uns nicht nur die Gier angelegt, sondern auch einen Kopf mitgegeben, der nicht nur zum Prassen und Saufen da ist.“

Nestor kicherte. „Odysseus, dein Kopf verleitet dich manchmal zu dem Glauben, dass du wie ein Gott denken kannst.“

„Sind wir den Göttern nicht verdammt ähnlich?“ erwiderte der Vielkluge zynisch, und Nestor hob warnend den Finger und wandte sich seinem Zelt zu.

„Empedokles, begleite den weisen Nestor zu seinem Zelt und komm dann nach“, forderte Odysseus seinen Freund und Leibdiener auf, der vor dem Zelt des Königs gewartet hatte und entsprechend nass und missgelaunt war.

Odysseus stolperte weiter, die langen Zeltreihen entlang zu dem kleinen Lager hin, wo die Ithakesier innerhalb der Befestigung ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Es war bereits Mitternacht. Der Mond glühte verschwommen hinter dunklen Wolken. Der Wind trieb ihm den Regen ins Gesicht. Er hatte das Lager fast erreicht, als hinter einem Zelt sechs Männer hervortraten, was um diese Nachtzeit ungewöhnlich genug war. Noch ungewöhnlicher war es, dass sie ihm hier im Lager der Griechen mit Schwertern entgegentraten. Ihre Gesichter versteckten sie hinter schweren Mänteln, und Odysseus war klar, dass sie ihm nicht nur Hand schütteln und eine gute Nacht wünschen wollten.

Nun ging er niemals ohne sein Schwert aus dem Zelt, eine breitzüngige Waffe aus uralter Zeit, die schon sein Vater und dessen Vater gute Dienste geleistet hatte, und er zog sie und rief den Männern zu:

„Was soll das? Ich bin Odysseus, Fürst von Ithaka.“

„Dann haben wir den Richtigen!“ brüllte einer der Männer, ein Bulle von einem Kerl, der durch den Mantel noch größer wirkte, als er ohnehin schon war.

Odysseus stellte sich an die gegenüberliegende Zeltwand, um den Rücken frei zu haben und schickte ein Stoßgebet zu Athene, seiner Schutzpatronin. Schon nach den ersten Schlägen merkte er, dass die Männer keine versierten Schwertkämpfer waren, schon gar nicht so gewandt waren wie Diomedes, Neoptolemos und Aias. Es gelang ihm ohne Mühe, den ersten Ansturm abzuwehren, und so ging es eine Weile hin und her. Ausfall und Parade und wieder Ausfall, und zwei der Meuchler erwischte Odysseus sofort an der Schulter, aber auf die Dauer hätte er gegen die Übermacht vielleicht doch Schwierigkeiten bekommen, was nicht heißen soll, dass sie ihn besiegt hätten, aber ohne Verletzung wäre er wohl kaum davongekommen. Plötzlich tauchte hinter den Meuchlern ein Kugelblitz auf und streckte brüllend einen Mann nieder, und Odysseus wusste, dass sein guter Empedokles, sein Leibdiener, Sklave und Freund ihm zu Hilfe gekommen war. Die drei anderen Meuchler nahmen auch sofort Abstand von ihrem Vorhaben, den Fürst von Ithaka zum Hades zu schicken, nahmen also ihre Beine in die Hand und verschwanden im dichten Regen. Drei Verletzte jammerten am Boden und Empedokles zog ihnen den Mantel vom Gesicht.

„Skythen!“ sagte er verächtlich. „Gedungenes Mordgesindel!“

Er wollte sie nun dorthin schicken, wo sie Odysseus hatten hinschicken wollen, aber dieser hielt ihn auf.

„Halt! Nicht so voreilig. Wer hat euch geschickt?“ schrie er sie an und da ihnen Empedokles sein Schwert vors Gesicht hielt, entschieden sie sich auch sofort zum Reden.

„Man hat uns ein halbes Talent Gold versprochen, wenn wir dich …“ stotterte der Größere von den beiden.

„Wer?“

„Wir kennen den Mann nicht. Aber nach seiner Aussprache muss es jemand von deiner Insel gewesen sein.“

Odysseus sah Empedokles an und dieser starrte genau so erstaunt zurück.

„Der Mann lügt!“ brummte Empedokles, und Odysseus deutete mit der Linken zur Kehle.

„Mach es kurz mit ihnen.“

Empedokles ließ sich nicht lange bitten und beendete das Erdendasein der Mordbuben. Sie warfen die Leichen in den Skamander, der bereits so viele Tote aufgenommen hatte.

„Glaubst du wirklich, dass einer von unseren Leuten dir ans Leben wollte, Herr?“ fragte Empedokles, als sie sich ihrem Zelt zuwandten.

„Nein! Das war sicher ein Täuschungsmanöver. Jemand hat unsere Mundart nachgeahmt.“

Sie wollten gerade das Zelt betreten. Empedokles schlug die Plane zurück, als Odysseus einen Laut hörte, den er zur Genüge kannte. Ein Pfeil riss neben ihm ein Loch in die Zelthaut.

„Wirf dich hin!“ brüllte Odysseus Empedokles zu und warf sich gleichfalls auf den Boden. Ein zweiter Pfeil kam herüber. In der Dunkelheit und hinter der Regenwand konnte Odysseus nun einen Schemen zwischen den Zelten des gegenüberliegenden Lagers ausmachen. Wieder kam ein Pfeil und zerriss die Zeltwand hinter ihnen.

„Er schießt sich langsam ein“, zischte Odysseus und robbte sich langsam vorwärts zum Lager des Aias hinüber und sprang auf und rannte schreiend auf den Schützen zu. Nun hätte ihn dieser leicht abschießen können, aber dazu reichte der Mut des Bogenschützen nicht, denn schließlich kam der vielgerühmte Odysseus auf ihn zu. Der Schemen löste sich in der Regenwand zwischen den Zeltreihen auf. Odysseus fand nur einen thrakischen Bogen, was nicht viel aussagte. Im Heer der Griechen gab es viele Thraker, Skythen und einige Bergvölker aus Makedonien, die sich dem Kriegszug der Achaier angeschlossen hatten.

„Da gibt es jemanden, der dich überhaupt nicht mag!“ stellte Empedokles grinsend fest, als Odysseus ihm den Bogen überreichte. „Zwei Attentatsversuche zeugen von einer heftigen Leidenschaft.“

Sie betraten das Königszelt des Listenreichen, das aber längst nicht so prächtig war wie das des Agamemnon, sondern sich von den Mannschaftszelten nur durch seine Größe unterschied. Die Diener hatten auf ihren Herrn gewartet. Auf dem Dreifuß schwelte ein Feuer. Odysseus zog seinen Chiton aus und warf das Kleid den Dienern zu und ließ sich von ihnen abtrocknen.

„Ruf die Edlen zusammen!“ sagte Odysseus zu seinem Freund, als sie bei einem guten Becher warmen Weins zusammensaßen.

„Was? Jetzt noch?“ fragte dieser erstaunt, während er sich den Oberkörper von den Dienern abrubbeln ließ. Empedokles war wahrlich kein schöner Anblick. Er war nicht viel älter als Odysseus, vielleicht dreißig Lenze, aber er hatte bereits einen mächtigen Bauch, aber auch gewaltige Schultern und Muskeln wie ein Herkules und ein fleischiges Schweinchengesicht. Sein Kopf war bereits kahl. Gemütliche braune Augen blitzten über einer breiten Nase, weswegen er auch oft unterschätzt wurde. Schon sein Vater war Leibsklave des Laertes gewesen, und Empedokles diente Odysseus mit der gleichen, fast hündischen Ergebenheit. Sie kannten sich seit Kindertagen, und Odysseus liebte ihn wie einen Bruder, zumal er nicht nur stark und von zupackender Natur war, sondern auch höchst gewitzt und von nicht zu überbietender Anhänglichkeit. Die Bezeichnung ‚Kugelblitz’ traf es, denn er bewegte sich trotz seiner Körperfülle sehr gewandt und schnell.

„Ja. Ich will morgen nach Troja hinein und muss ordnen, was während meiner Abwesenheit zu geschehen hat.“

Empedokles starrte ihn an, als hätte Odysseus gerade den Zeus gelästert, auf jeden Fall etwas gesagt, dass so unsinnig war, als würde man den nächsten Aufgang der Sonne infrage stellen.

„Du forderst die Götter heraus!“ rief er entrüstet.

„Lass die Götter aus dem Spiel, die haben genug mit sich selbst zu tun. Hol die Edlen!“

Doch so leicht war Empedokles nicht abzuspeisen, zumal er seine eigene Meinung über die Klugheit der Fürsten hatte, was auch seinen eigenen Herrn mit einschloss, wenn er diesem auch zugestand, dass er von allen, die sich Edle, Fürsten oder König nannten, der Gewitzteste war. Im Übrigen maß er alle und alles an den einfachen Regeln des gesunden Menschen–verstandes und hielt die Herren für das wahre Leben für schlecht ausgebildet, was sicher in dem einen oder anderen Fall zutraf und mit großen Namen wie Achilleus belegt werden konnte.

„Ich komme auf jeden Fall mit!“ trumpfte er auf. „Ohne mich bist du in Troja verloren.“

„Du bleibst hier. Zwei Männer fallen zu sehr auf. Außerdem siehst du für einen Trojaner zu wohlgenährt aus.“

Die Anspielung auf seine Leibesfülle beeindruckte Empedokles wenig, zumal sie seiner Anschauung nach nur ein sichtbarer Beweis dafür war, dass er es mit seinem Herrn gut getroffen hatte, also für diesen Ehre einlegte. Ihn beeindruckten auch nicht Odysseus’ Weigerung, ihn nicht mitzunehmen, geschweige denn die Argumente, denn er dachte nicht daran, Odysseus allein in dieses Abenteuer ziehen zu lassen.

„Kommt gar nicht infrage. Wir gehen zusammen nach Troja. Schließlich habe ich deinem Vater versprochen, auf dich aufzupassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Trojaner über deinen Besuch besonders erfreut sein werden, und da ist es allemal besser, du hast jemanden an deiner Seite, der dich vor irgendwelchen Dummheiten bewahrt.“

Odysseus zuckte mit den Achseln, wusste er doch, wie stur Empedokles sein konnte. Das kommt dabei heraus, wenn man sich den Diener, Sklaven gar, zum Freund nimmt. Der Unterschied zwischen Herr und Knecht war bei diesen beiden längst aufgehoben, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Frechheit schulterzuckend hinzunehmen, was Empedokles mit einem Grinsen quittierte.

Odysseus hatte gerade einen neuen Chiton übergezogen, als sie alle hereinkamen, diese Edlen von Ithaka, die sich auch Fürsten nannten und sich wie Könige vorkamen und nur ein paar stadiengroße Olivenhaine ihr Eigen nannten, gleichwohl in Odysseus nur den Ersten unter Gleichen sahen. Eurylochos, Eurybates, Perimedes, Polites, Anthipos, Achaemenides, Elpenor und Philotas sowie Odysseus’ jüngerer Bruder Miron drängten herein und setzten sich stöhnend auf die Schemel und blickten ihn missmutig an. Wer wird schon gern nach Mitternacht zum Obersten zitiert, wenn man obendrein ein paar Stunden zuvor ein paar gute Becher Wein getrunken hat? Odysseus ließ sich dadurch nicht beeindrucken und wies auf den Mischkrug und forderte sie auf, sich selbst einzuschenken. Sie sahen dies wohl als eine versöhnliche Geste und folgten der Aufforderung, und Odysseus erzählte, was der Rat beschlossen hatte.

„Sie wollen es noch einmal versuchen, noch einmal alle Kräfte auf den Turm vor der Zitadelle werfen und dann schauen, was sie erreicht haben. Sie werden nichts erreichen. Aber die Alternative ist, dass wir abziehen. Sie haben also Angst sich gehörig zu blamieren und zuhause verhöhnt zu werden.

„Aber du glaubst, dass es nichts bringt?“ fragte Eurylochos unwillig, der sich zu den ältesten Freunden zählte und sich darauf gehörig etwas einbildete und damit ihm, dem Listenreichen, oft genug auf die Nerven ging.

„Richtig. Mit Gewalt ist Troja nicht zu nehmen.“

„Na, freiwillig werden die uns wohl kaum die Tore öffnen“, spottete Philotas, der Cousin des Odysseus, speergewandt auch er, aber ständig in Opposition und beleidigt, wenn der Vielkluge nicht auf ihn einging.

„Wir werden also für nichts und wieder nichts Tote zu beklagen haben“, stellte Perimedes resignierend fest.

„So hat es der Kriegsrat beschlossen“, bekräftigte Odysseus.

„Glaubt denn jemand von denen, dass es klappen kann?“ fragte Philotas erregt.

„Nein. In Wirklichkeit glaubt keiner so recht daran“, gab Odysseus zu. „Sie machen alle mit, weil man nicht der erste sein will, der sich mit eingezogenem Schwanz davonmacht.“

„Du hast doch hoffentlich dagegen gestimmt?“ fragte Philotas herausfordernd.

„Nein. Ich habe dafür gestimmt.“

Alle sahen nun hoch und machten Gesichter, die entweder Neugier oder Verständnislosigkeit oder Empörung verrieten.

„Da habt ihr es!“ keuchte Philotas. „Odysseus ist wieder einmal dagegen und doch dafür. Welches Süpplein kochst du diesmal?“

„Hast du nicht immer gefordert, man dürfe den Menelaos nicht im Stich lassen?“ erwiderte Odysseus kühl. „Wir machen also mit. Aber ihr schließt euch den Mannschaften des weisen Nestor an. Er hat von allen den meisten Verstand und wird nicht ungestüm und selbstmörderisch die Mauern berennen.“

„Was heißt das? Wirst du denn nicht dabei sein?“ fragte Philotas misstrauisch. Er machte dabei ein Gesicht, als habe er gerade auf einen Pflaumenkern gebissen. Das Verhältnis zwischen Odysseus und Philotas war von der komplizierten Art. Er gehörte zum Königshaus der Laerten. Odysseus’ Vater hatte sich mit seinem Bruder eigentlich immer ganz gut verstanden, doch zwischen Philotas und Odysseus war schon seit den Kindertagen eine gewisse Rivalität, die durch die Verwandtschaftsbande nur mühsam im Zaum gehalten wurde. Er neidete Odysseus sein Königtum, verhielt sich zwar nicht offen feindselig, jedoch vermochte er seine Eifersucht nur schwer zu verbergen. Philotas sah besser aus als Odysseus, hatte die Gestalt eines Apollon und wurde wegen seiner Schönheit, seiner edlen Gesten und seines heldenhaften Auftritts vom Volk geliebt. Er war ein hervorragender Darsteller eines Königs, und viele Ithakesier hätten ihn ganz gern als König gesehen, jedenfalls lieber als den wie ein Bauer ackernden Odysseus. Als Laertes, Odysseus’ Vater, abdankte, hatte es einen Moment lang so ausgesehen, als wollten sich die guten Ithakesier diesen so herrlich anzuschauenden Jüngling zum König wählen; im letzten Augenblick entschieden sie sich dann doch für den Sohn des Laertes. Aber viel hätte nicht gefehlt, denn das Volk liebt nun einmal den schönen Schein und ist empfänglich für große Gesten und Schönredner.

„Ich werde mich in die Stadt schleichen“, bekannte Odysseus, und Philotas wieherte wie ein Pferd.

„Das ist ja mal wieder eine Idee!“ höhnte er. „Auf so einen Blödsinn kommt nur der vielgerühmte Odysseus!“

„Bruder, du begibst dich in eine tödliche Gefahr“, sorgte sich Miron, der seinen Bruder nicht nur bewunderte, sondern ihm sehr zugetan war, hatte sich dieser doch in seiner Kindheit um ihn gekümmert und war ihm Mutter und Vater gewesen, da die Frau des Laertes im Kindbett gestorben war. Er war gerade mal siebzehn Sommer alt, und Laertes hatte Odysseus den Schwur abgenommen, dass er auf den Jungen achtgeben würde, und dieser hatte dafür gesorgt, dass der Bruder dem Schlachtgetümmel fernblieb. Trotzdem verargte er dies Odysseus nicht, denn der Vielkluge war ihm wie eine Eiche, in deren Schatten er sich behütet fühlte. Miron war nicht von der heftigen, geschweige denn von kriegerischer Art. Auf keinen Fall war er zum Anführer und Krieger geeignet, aber dies braucht ja auch kein Nachteil zu sein.

„Ja. Es ist nicht ungefährlich“, gab Odysseus zu. „Aber ich muss wissen, wie es um die Trojaner steht. Auch sie haben tausende guter Kämpfer verloren. Viele Frauen beweinen ihre Ehemänner, Söhne, Brüder. Seit langem schon müssen sie sich die Nahrung einteilen. Das mauerbewehrte Troja werden wir nicht bezwingen, wenn man uns nicht freiwillig die Tore öffnet.“

Nun war es heraus. Die Gefährten sahen Odysseus an, als habe ihm ein Gott die Sinne durcheinandergebracht, und bis auf Philotas zeigten sie nun auch Besorgnis, denn wer hat schon gern einen Anführer, der seine sieben Sinne nicht beisammen hat.

„Und du glaubst, dass man dir die Tore öffnen wird?“ kreischte Philotas und schlug sich lachend auf die Schenkel.

„Nein. Aber ich weiß, dass sie genau so sehnsüchtig den Frieden wünschen wie unsere Mannschaften. So werden wir ihnen das bieten, was sie sich so sehnlich wünschen.“

„Nun hört euch das Gerede an!“ stöhnte Philotas.

„Und was wäre das?“ fragte Miron eifrig.

„Frieden und Freude über den Sieg.“

„Er ist verrückt. Ich sage euch, er hat den Verstand verloren“, kreischte Philotas.

„Nun sag doch, was du vorhast. Deine Worte sind uns dunkel“, forderte Eurylochos.

Aber Odysseus ging nicht darauf ein, konnte schon deswegen nicht darauf eingehen, weil er selbst noch nicht so genau wusste, wie dies anzustellen war. Doch der Listenreiche wusste, dass jeder Mensch anfällig für Torheiten ist, wenn diese seine Sehnsucht stillten. Das Ziel war ihm schon klar, nur der Weg dorthin noch nicht.

„Philotas, du übernimmst während meiner Abwesenheit den Oberbefehl. Riskiere nichts. Reihe unsere Mannschaften bei den Kriegern des Nestor ein. Ich werde morgen Nacht zurück sein und dann wissen, ob noch irgendeine Möglichkeit besteht, in die Stadt hineinzukommen.“

„Spinner!“ brummte Philotas, aber nun doch ganz zufrieden über die Aussicht, an Odysseus’ Stelle den Stellvertreter abgeben zu können. „Ich werde unsere Männer schon davor bewahren, sich blutige Köpfe zu holen“, versprach er eifrig. „Solltest du nicht zurückkommen, werde ich unsere Männer nach Ithaka einschiffen.“

„Du hoffst, dass Odysseus nicht zurückkommt?“ warf Eurylochos dem Philotas vor. „Ich kenne dich. Du lauerst schon lange darauf, dich zum König von Ithaka aufzuschwingen. Deine Hoffnungen werden sich nicht erfüllen.“

„Das ist doch Unfug. Niemand kann mir vorwerfen, dass ich es an Respekt dem König gegenüber fehlen lasse“, wehrte sich Philotas verlegen.

„Lassen wir das!“ schlichtete Odysseus den sich anbahnenden Streit, noch ehe er sich zum Brand ausweiten konnte und erzählte von den tückischen Attentaten. Bestürzte Gesichter waren die Folge.

„Der Auftraggeber sprach wie einer von Ithaka?“ frage Eurylochos entsetzt.

„Bestimmt eine Lüge!“ schnaubte Philotas.

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es einer von uns war“, stimmte Odysseus wider besseren Wissens zu, denn schließlich durfte dies nicht sein, durfte nicht mitten im Krieg einer von den eigenen Leuten dem König ans Leben wollen.

„Wie soll ein Skythe auch die Dialekte der Achaier so genau kennen? Niemand von unserer Insel ist eines solchen Verbrechens fähig.“

„Niemand!“ bestätigte Philotas.

„Dein Leben ist uns heilig“, ergänzte der junge Elpenor.

„Du stehst nicht besonders gut mit Menelaos“, warf Eurylochos nachdenklich ein. „Kann der dir die Skythen auf den Hals geschickt haben?“

„Er versteht sich auch nicht gut mit Aias“, setzte Perimedes lachend hinzu.

„Und Agamemnon murrt auch dauernd über den Besserwisser Odysseus“, kicherte Achaemenides.

„Viele Freunde hast du wirklich nicht“, warf Philotas Odysseus vor. „Das kommt davon, wenn man immer klüger als andere sein will.“

„Klugheit und Besonnenheit war im Kriegsrat der Achaier noch nie gefragt. Wir sehen ja, wohin wir mit ihren Ratschlüssen gekommen sind“, mischte sich Empedokles ein, was ihm von Seiten der Edlen einen bösen Blick eintrug, denn schließlich war er kein Fürst, nicht einmal ein freier Mann, sondern ein ganz gewöhnlicher Sklave, dem man den Schemel an den Kopf zu werfen pflegt, wenn dieser sich vorwitzig benimmt.

„Das Gesinde schweigt, wenn Edle miteinander Rat halten!“ schnauzte Philotas, warf den Kopf zurück und streckte das Kinn vor, eine eitle Gebärde, die er dem Agamemnon abgesehen hatte.

Als bis auf Miron und Empedokles alle gegangen waren, warnte Miron erneut den Bruder: „Muss das wirklich sein, Odysseus? Jeder im Heer der Achaier rühmt deine Klugheit, aber nimmst du dir diesmal nicht zu viel vor? Ich habe Angst um dich. Was wird aus uns, was wird aus Ithaka, wenn dir etwas passiert? Philotas bekam vorhin schon gierige Augen, als du ihn zu deinem Stellvertreter ernanntest.“

„Athene wird mich beschützen!“ erwiderte der Listenreiche und umarmte den Bruder, tätschelte liebevoll seine Wangen.

„Es geht mir nicht nur darum, wie es um die Troer steht“, bekannte er nun. „Ich will wissen, wo man den Speer der Athene aufbewahrt. Sollten wir die Stadt erstürmen können, will ich wissen, wo er ist und schnell in meine Gewalt bringen, ehe sich ein anderer das Heiligtum sichert und dann vielleicht Ansprüche anmeldet. Menelaos würde sich nur zu gern unsere Insel einverleiben. Mit seinem Gold, mit seinem Heer und mit dem Speer der Athene würde er sofort eine Anhängerschaft finden, wissen wir doch, wie unbeständig und empfänglich für Gold unser Volk ist.“

„Trotzdem. Ich mache mir Sorgen“, erwiderte der Bruder, und Odysseus klopfte ihm tüchtig auf den Rücken und schickte ihn mit beruhigenden Worten in sein Zelt zurück. Odysseus sorgte sich nicht über die möglichen Gefahren, sondern höchstens darüber, dass er den Speer in der fremden Stadt nicht gleich finden würde und sein Wagemut ins Leere stieß.

Am nächsten Morgen, das Heer der Achaier marschierte bereits den weißen Mauern Trojas entgegen, machte er sich, in Lumpen gekleidet, auf den Weg. Lumpen, die ihn wie einen Bettler aussehen ließen und nicht an den Helden erinnerten, und Empedokles sah nicht viel besser aus. Sie hielten sich gebückt und demütig, und niemand beachtete sie, als sie aus dem Lager schlichen und die Stadt in weitem Bogen umgingen, bis sie auf der dem Meer abgewandten Seite Trojas anlangten, die bisher von den Achaiern nicht berannt worden war, weil sumpfiges Gelände ein Heranführen der Mannschaften unmöglich machte.

Sie hörten in der Ferne bereits den Schlachtenlärm, als sie am Fuß der schroffen Felsen ankamen, auf dem die Mauern des nie bezwungenen Troja emporragten. Über ihnen, auf den Zinnen, waren keine Männer zu sehen, denn man hatte alle Mannschaften dorthin beordert, wo die Achaier ihre Angriffswellen vortrugen. Hier hatte man es nicht für nötig erachtet, die Wälle zu besetzen, denn Sumpf, Felsen und Mauern waren Wächter genug.

Empedokles warf ein Seil hoch, an dem er eine Eisenstange befestigt hatte, die sich oben in den Zinnen verhakte, und Odysseus machte sich als erster an den Aufstieg. Armbreite um Armbreite hangelte er sich hoch und erreichte schließlich das schwindelerregende Ende der mächtigen Mauern und kroch über die Brüstung auf den Wehrgang. Er vergewisserte sich schnell, dass ihn niemand beobachtet hatte und winkte Empedokles es ihm nachzutun. Dieser brauchte, bedingt durch seine Leibesfülle, etwas länger, bis er schließlich schwer atmend neben Odysseus stand.

„Und nun?“ keuchte er mit vorwurfsvoller Miene. „Wo geht es hier zum Hades?“

„Du wolltest ja unbedingt mitkommen!“ wies ihn Odysseus lachend zurecht. „Also rede nicht so einen Schwachsinn. Das bringt Unglück!“

Ein paar Steinwürfe entfernt ragten die noch mächtigeren Mauern des Zitadelle des Priamos auf.

„Wir müssen erst einmal hinunter in die Vorstadt. Von dort kommen wir in Priamos’ Zwingburg hinein.“

„Du bist verrückt, Odysseus! Ich bin verrückt! Wir beide sind total verrückt“, knurrte Empedokles.

„Weil es verrückt ist, wird uns auch niemand entdecken. Nun komm schon, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Sie rannten den Wehrgang entlang. Der Schlachtenlärm dröhnte nun noch lauter herüber. Es hörte sich nicht nach Siegesschreien an, und Odysseus hoffte, dass nicht zu viele von den Seinen starben. Sie liefen bis zu einer Treppe, die hinunter in die Vorstadt führte. Vorsichtig, die Straßen nach bewaffneten Kriegern absuchend, stiegen sie hinunter. Die Straße, die zur Zitadelle führte, war menschenleer, was nicht erstaunte, denn alles, was einen Speer werfen konnte, war auf den Mauern, um die Achaier abzuwehren. Vor der Zitadelle lagen die riesigen Stallungen für die vielgerühmten Pferde und die Fresken auf den Wänden zeigten die rossebändigenden Troer in edlem Stolz: Hektor und Paris auf ihren Streitwagen. Sie liefen durch das mächtige Tor der Festung in einen Hof hinein, der von prächtig bemalten Palästen umsäumt war. In schönem Rot gehalten und mit Szenen bemalt, die den Göttern huldigten, zeugten sie vom Reichtum und der Macht Trojas.

Odysseus wandte sich einem figurenreich geschmückten Gebäude mit schwarz bemalten Säulen zu, dem Tempel der Athene, wie ihr Abbild am Giebel verriet. Als sie das Vestibül betraten, wurden sie von vier in Eisen gekleideten Männern aufgehalten, deren Rüstungen kostbar mit silbernen Spangen geschmückt waren.

„Wer seid ihr? Was habt ihr hier zu suchen?“ herrschte sie der baumlange Anführer an.

Schon umringten sie die Krieger mit gezückten Schwertern. Nun verwünschte Odysseus, dass er nicht unter seinen Lumpen einen bronzenen Harnisch angezogen hatte und auch kein Schwert trug, sondern nur ein langes Messer dabei hatte, das gegen die Schwerter der Troer eine wenig Schrecken verbreitende Waffe abgab. Empedokles wollte nun seinerseits sein Messer ziehen, doch Odysseus zischte ihm zu, dass er die Beine in die Hand nehmen solle. Dieser verstand erst nicht und sah ihn wie eine störrische Ziege an, und der Listenreiche zwang ihn mit einem Fluch, dem Befehl Folge zu leisten. Empedokles machte einen Hechtsprung an den Männern vorbei und jagte dem Ausgang der Zitadelle zu. Zwei Troer nahmen die Verfolgung auf. Die beiden anderen Krieger streckten Odysseus ihre funkelnden Schwerter entgegen. Oh, Athene, nun hilf deinem Knecht, schickte Odysseus als Gebet zum Himmel.

3.

Wie man sich Todfeinde schafft.

Die Verse meines alten Herrn sind wie funkelnde Sterne. Man spricht sie andächtig nach und wünscht sich ein Achilleus zu sein oder ein Odysseus. Was ich zu berichten habe, kommt dagegen ein bisschen derb daher. Aber so wahr ich Kriton heiße, ich erzähle nur das, was man sich in den Tavernen und Spelunken in den Häfen des großen Meeres vom heimlichen Besuch des Odysseus in Troja zuraunt. Ihr werdet schon noch zugeben, dass sich dies viel realistischer anhört als die Gesänge meines Herrn. Von mir hört ihr von keinem Götterrat, nicht von Athene oder gar Zeus und von Nektar und Ambrosia. Wer auf die Götter nicht verzichten kann, wird es Athene zuschreiben, wie er, Odysseus, sich aus der brenzligen Situation befreite. Ich werde dies niemand verwehren. Ist doch auch ganz erbauend sich vorzustellen, dass sich eine Göttin um Odysseus kümmert. Und bei meinem Herrn klingt es auch so, als hätte er selbst beim Götterrat neben Zeus gesessen. Also, ich war ja bei ihm, als er sich dies alles schwitzend unter einem Olivenbaum ausdachte und habe ihm einige Becher guten Wein bringen müssen, und er hat gestöhnt und auf seiner Lyra geklimpert und dabei deklamiert, dass ich heiße Ohren bekam. Dagegen bin ich nur ein Stammler, aber dafür hört sich meine Geschichte viel saftiger an. Lehnt euch also zurück und hört, wie es unserem Helden erging. Er war also in höchster Not, und was dann passierte, hätte Homer in schöne Zeilen gekleidet:

Dem herrlichen Dulder, dem listenreichen Held

harrte gewaltiges Unglück, wenn nicht die Schaumgeborene

eingeschritten hätte …

Odysseus starrte auf die Schwerter der eisengekleideten Männer und suchte fieberhaft nach einem Ausweg, wie er Gefangenschaft, Kerker, Hunger und Spott verhindern konnte, hoffte also nicht auf das Eingreifen der Athene, sondern auf einen Einfall, doch dieser ließ auf sich warten und … wurde nicht benötigt.

Hinter den Männern trat ein herrlich anzusehendes Weib aus dem Tempel, lockend das schulterlange Blondhaar, mit Augen, die wie Smaragde glänzten. Die Frau blieb stehen und sagte: „Ach.“ Erst einmal nichts anderes als „Ach.“ Ein feines Lächeln spielte um ihre Lippen. Dann warf sie den Kopf zurück und herrschte die Männer an, wie es nur Königinnen tun können, die es von Kindesbeinen gewohnt sind, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen.

„Was verwehrt ihr dem armen Mann den Zutritt zum Tempel der Athene? Ich kenne ihn als guten Menschen, der der Göttin ergeben ist. Lasst von ihm ab und geht auf die Mauern und bekämpft den Feind, statt hier herumzulungern! Der rostige Speer, den einst Paris, mein Gemahl, nach Troja brachte, wird schon niemand stehlen. Was wartet ihr noch! Verschwindet!“

Und das taten sie dann auch, und Odysseus starrte gebannt auf ihre hohe Gestalt und ihre Schönheit, die ihm ja nicht unbekannt war, hatte er sie doch bei ihrer Vermählung mit Menelaos kennengelernt. Ja, es war Helena, die von Aphrodite die Schönheit als Mitgift bekam und die man mit Fug und Recht die schönste Frau des Erdkreises nannte, die unzählige Sänger zum Stammeln brachte, die wütende Krieger mit einem Lächeln zähmte, ihre Lenden schwellen ließ und einen König dazu brachte, sich wie ein Kretin aufzuführen, die ja auch einen trojanischen Prinzen derart außer Fassung brachte, dass er Sitte und Anstand vergaß und zum Dieb wurde und es auf sich nahm, den Achaiern einen Grund zu liefern, seine Heimatstadt zu belagern.

Auch Odysseus konnte sich nicht satt sehen an ihrer Gestalt, und sie, die Unvergleichliche, betrachtete ihn wie ein seltenes Tier, das possierlich anzusehen war.

„Was tust du hier, Odysseus?“ fragte sie, und in ihren Augen las er, dass sie beeindruckt davon war, dass er, der Feind der Trojaner, mitten in der Zitadelle des Priamos auftauchte und dabei sein unverschämtes Lachen zeigte.

„Ich wollte wissen, ob du noch immer so schön bist wie zu der Zeit, als ich dir in Sparta vorgestellt wurde und Menelaos dein schönes Hinterteil tätschelte.“

„Rede keinen Unsinn, Odysseus. Ich weiß, dass man dich den Listenreichen nennt und einen gewaltigen Redner und Lügner, aber du bist nicht wie Menelaos oder mein armer Paris, die sich für eine Liebe ins Unglück stürzen. Was hast du hier zu suchen? Ein Wort von mir und man legt dich in Ketten und lässt dich in den dunklen Kellern der Zitadelle verfaulen!“

„Schönste aller Frauen, ich wollte wirklich wissen, wie du dich hier in Troja fühlst, jetzt, wo Paris nicht mehr ist. Vielleicht bereust du, ihm gefolgt zu sein und sehnst dich nach den herrlichen Gefilden Spartas.“

„Ich habe eine neue Liebe gefunden. Auch er ist ein Prinz und von herrlicher Gestalt. Er betet mich an und tut alles, was ich wünsche.“

„Ach wie langweilig. Seit wann mögen schöne Frauen Männer, die ihnen in allen Dingen zu Willen sind, die sie umspringen und Männchen machen? Warum gibst du dich immer wieder mit Kerlen ab, die deiner nicht wert sind?“

„Ich liebe Deiphobos“, erwiderte sie mit hochrotem Kopf und stampfte mit ihrem zierlichen Fuß auf.

Odysseus, obwohl nicht von so schöner Gestalt wie Paris, konnte gleichwohl mit seinem frechen Lachen und seiner Unverschämtheit die Frauen beeindrucken, und so setzte er ein, was er hatte, zeigte die Unverfrorenheit, die so manches Frauenherz bezwungen hatte. Er beugte sich zu ihr, und sein Gesicht war ihrem ganz nah, und sein Blick flog über die herrlichen schlanken Glieder, die unter dem zarten Linnen lockend und verheißend zu sehen waren, und strich ihr über die Wange.

„Du bist wirklich das Ebenbild der Aphrodite. Schade, dass du eine Kanaille bist!“

Sie zuckte zurück und stotterte: „Was soll das? Warum beleidigst du mich? Weißt du nicht, dass ein Ruf von mir deinen Tod bedeuten kann?“

„Dann will ich vorher wenigstens genießen, was Aphrodite erschaffen hat“, erwiderte der Listenreiche, beugte sich zu ihr und küsste sie, und sie stöhnte auf, und ihre Fäuste trommelten gegen seine Brust, doch Odysseus’ Arme hielten sie wie eiserne Klammern. Er presste sie an sich und überwand den zugepressten Mund, und seine Zunge berührte die ihre, seine Männlichkeit drückte gegen ihren Schoß, und sie ergab sich ihm, längst gelangweilt von der Ergebenheit ihrer anderen Männer, bezwungen von der Unverfrorenheit des Listenreichen, und küsste zurück.

„Komm, du Unverschämter“, keuchte sie und zog ihn zu einem prächtigen Palast neben dem Tempel und scheuchte dort die Dienerinnen fort, indem sie vorgab, einen als Bettler verkleideten Priester der Athene getroffen zu haben, der ihr die Zukunft Trojas weissagen solle. Natürlich glaubte das keine der Dienerinnen. Aber sie war eine strenge und launische Herrin, die sehr wohl Backpfeifen zu verteilen verstand, und man folgte ihr. Helena führte den Listenreichen auf eine Terrasse, von der man einen herrlichen Blick über Troja hatte, und zu den Mauern, wo in der Ferne Rauch aufstieg und Kriegsgeschrei herübertönte. Sie wies auf eine Liege, legte sich zu ihm und reichte ihm einen Pokal mit Wein aus Kolchis.

„Trink, du Unverschämter“, flüsterte sie, und er strich ihr über das blonde Haar und presste sich an sie und kostete den Nektar ihrer Lippen, was sie lustvoll aufstöhnen ließ. Schon schob er das Kleid zur Seite und versenkte sich in ihren Busen, säugte an ihren Brüsten wie ein Dürstender, und ihre Hand legte sich auf seinen Schoß. Er schlug ihr Kleid hoch und drang in sie ein, und sie schrie schon bald ihre Lust über die Dächer von Troja. Sie waren wie ein läufiges Hundepärchen, und die Gefahr, in der sie sich befanden, vergrößerte noch ihre Lust, und sie empfing seinen Samen.

„Du bist nicht nur mit dem Kopf ein Gewaltiger!“ flüsterte sie, nachdem die erste Leidenschaft gestillt war, und sie tranken von dem Wein und sahen sich über den Rand ihrer Becher lüstern an.

„Und deine Leidenschaft ist so groß wie das Versprechen deiner Gestalt“, erwiderte er grinsend. „Schade, dass Aphrodite uns Männer mit so einem Miststück narrt.“

„Schon wieder eine Beleidigung“, schmollte sie. „Ich habe dir gegeben, was sich alle Männer erhoffen, und du behandelst mich wie eine Kneipendirne.“

„Das hast du doch zur Abwechslung ganz gern“, erwiderte er, und ihre unvergleichlichen Augen umflorten sich. Er drückte ihre Brüste, und sie stöhnte, beugte sich vor, tastete nach seiner Männlichkeit, kniete vor ihm und bediente ihn mit dem Mund, als wäre sie wirklich eine Dirne in einer syrischen Kaschemme. Noch einmal bestieg er sie und gab ihr jene Heftigkeit, die sie an Menelaos, Paris und Deiphobos wohl vermisste, die aus lauter Ehrfurcht und Bewunderung dahinschmolzen und sie wie eine Göttin behandelten, dabei war sie nur ein Weib von heftigem Temperament, denn Aphrodite hatte ihr nicht nur ihr Aussehen gegeben, sondern auch die Leidenschaft zum Liebesakt. Sie mochte es zugegebenermaßen gern einmal recht derb, und Odysseus hatte schon lange kein Weib wie sie besessen, und die Erinnerung an sein Weib Penelope reichte nicht aus ihn zurückzuhalten. Er war eben ein Kerl und ein Krieger zumal, und sie war die schönste Frau des Erdkreises. Er tobte also wie ein Dionysos auf ihrem Körper, und sie fand auch, dass sie auf ihre Kosten kam, und so verbrachten sie ein paar vergnügliche Stunden.

„Nun sag, genug der Ausreden. Warum bist du nach Troja gekommen? Warum suchst du nicht den Ruhm vor den Mauern?“ fragte sie neugierig und nun gesättigt vom Liebesakt.

„Der Tempel neben deinem Palast ist doch der Tempel der Athene?“

„Bist du zum Anbeten der Göttin hierher gekommen?“ fragte sie ungläubig.

„Nein. In dem Tempel hat dein Lotterbube doch den Speer verwahrt, den er mir gestohlen hat?“

„Ach, ich verstehe!“ sagte sie und ihr Gesicht bekam einen lauernden Ausdruck. „Nun verstehe ich. Ja, der Speer wurde dem Standbild der Athene in die Hand gegeben. Doch wenn du ihn jetzt stehlen willst, dann werde ich das verhindern. Der Speer gehört nun Troja und war das Geschenk meines Paris an die Stadt. Nur deswegen beruhigte sich das Volk, als er mich hierher brachte.“

„Lassen wir den Speer einstweilen im Tempel“, heuchelte Odysseus nachgiebig. „Wie steht es denn mit der Stimmung in Troja? Habt ihr nicht langsam den Krieg satt?“

„Es herrscht schlimme Not“, gab Helena zu. „Das Volk hat nicht mehr zu essen und kocht bereits Ledergürtel auf. Jeden Tag fährt der Totenwagen durch die Straßen.“

„Man sehnt sich also nach Frieden?“

„Nichts wünscht man mehr, und man flucht meiner, und wenn ich nicht Deiphobos geheiratet hätte, würde man mich steinigen oder zumindest aus dem Tor hinausjagen. Schon um mich zu schützen, musste ich Deiphobos heiraten.“

„Armes Mädchen“, brummte Odysseus und tätschelte ihre Wange. „Hast du schon einmal daran gedacht zu Menelaos zurückzukehren?“

„Bloß das nicht!“ fauchte sie. „Er ist ein ungehobelter Klotz, ungebildet, grob und … so langweilig.“

„Ich hatte das Gefühl, dass dir das Ungehobeltsein gerade recht ist.“

„Manchmal mag man Hirsebrei, aber doch nicht jeden Tag. Der gute Menelaos bekam zwar einen hoch, wenn er mich nur sah, aber bevor er in meine Grotte eintauchen konnte, war sein Springbrunnen meist schon aktiv, und ich hatte nicht viel von ihm. Er liebt mich einfach zu sehr.“

„Und bei Paris war das anders?“ fragte Odysseus grinsend.

„Oh ja. Er war versiert in der Liebe. Was für ein göttlicher Körper. Deine Lanze ist dagegen recht klein ausgefallen“, sagte sie errötend und strich sich das Brusttuch glatt.

„Dann hat es sich für dich also gelohnt ihm zu folgen?“ fragte Odysseus unbeeindruckt über diesen Vergleich.

„Anfangs schon. Aber du weißt ja, wie das ist, selbst die schönste Statue wird nach einiger Zeit zur Gewohnheit. Und dann starb er ja auch … Deiphobos kniet zwar vor mir, aber sehr aktiv ist er gerade nicht. Meinst du, du hättest mich wie eine Kneipenmagd nehmen können, wenn ich ein erfülltes Liebesleben hätte?“

„Man bekommt nicht immer von den Göttern, was man sich wünscht“, erwiderte Odysseus. „Und ich finde, sie waren zu dir reichlich großzügig.“

Jetzt, wo er seine Lust gestillt hatte und wusste, was er wissen wollte, war er mit seinen Gedanken nur noch damit beschäftigt, wie es seinem guten Empedokles ergangen sein mochte.

„Der hohe Mittag ist bereits vorbei. Ich muss langsam sehen, wie ich wieder aus der Stadt komme.“

„Tja, dann sieh mal zu, ob du überhaupt hinauskommst“, sagte sie spitz und enttäuscht darüber, dass er nicht die Frage stellte, die noch jeder sie gefragt hatte, ob sie nicht mitkommen wolle, ob er, Odysseus, sie nicht für immer sein Weib nennen wolle, um mit ihr tagtäglich die Lust zu pflegen.

Aber Odysseus hatte keinen Augenblick daran gedacht, sich dieses Weib, so herrlich es war, aufzuhalsen, zum einen, weil er nicht ständig aufpassen wollte, ob sie nicht einen anderen zur Lust verführte, zum anderen, weil er sich kaum vorstellen konnte, dass Menelaos dies hinnehmen würde, wenn er nun, von Liebe stammelnd, ausgerechnet mit Helena zurückkam.

„Pass auf dich auf, Helena“, sagte er lahm und erhob sich und zog seine Lumpen zurecht.

„Ich könnte jetzt schreien und um Hilfe rufen, und man würde dich in Ketten legen!“ drohte sie, unzufrieden darüber, dass er ihre Lust genossen hatte und dennoch nicht beeindruckt war, wie sie es sonst von den Männern kannte.

„Das wäre eine Möglichkeit“, gab Odysseus zu. „Aber ich würde dann sagen, dass ich nach Troja kam, weil du wolltest, dass ich dich zurück zu Menelaos bringe.“

„Du Scheißkerl!“ fluchte sie und sprang auf.

„Wir sind uns beide ebenbürtig“, erwiderte Odysseus mit dem für ihn so typischen Grinsen. „Soll ich deinem Mann, ich meine Menelaos, etwas ausrichten?“

„Sag ihm, dass ich sofort zur Spindel gegriffen habe, nachdem ich den listenreichen Odysseus traf.“

„Das ist alles?“ fragte Odysseus ratlos.

„Das ist genug“, sagte sie kalt. „Er wird dann wissen, dass ich in meinem Fleiß nicht nachgelassen habe.“

„Ob ihn das interessiert? Aber, nun gut. Ich werde es ihm ausrichten, fleißige Helena!“

Odysseus verbeugte sich ironisch und machte einen Kratzfuß, was sie mit finsterem Blick hinnahm, und er eilte unbehindert dem Ausgang zu.

Der Schlachtenlärm hatte nicht nachgelassen. Auf dem Hof begegnete er nur ein paar alten Männern und Frauen, die ihn zwar scheel ansahen, aber nicht aufhielten. Er lief aus der Zitadelle in die Vorstadt hinunter, eilte durch die leeren Straßen und stieg wieder die Treppe zum Wehrgang hoch, wo ihn Empedokles bereits erwartete.

„Endlich. Ich habe schon Blut und Wasser geschwitzt, dass man dich in den Kerker geworfen hat“, empfing er seinen Herrn vorwurfsvoll.

„Ich habe mir Sorgen gemacht, dass man dich erwischt hat.“

„Ach, doch nicht diese Eisenträger. Die waren viel zu langsam, um mich einzuholen. Ich habe sie bereits in der Vorstadt abgeschüttelt.“

„Na, dann komm. Nichts wie weg hier.“

Sie hangelten sich wieder vom Wehrsteg hinunter auf den felsigen Grund und liefen durch das sumpfige Feld und tauschten dabei ihre Erfahrungen aus.

„Es steht schlimm um die Menschen in Troja“, erzählte Empedokles. „Ich habe mit einigen Weibern am Brunnen in der Vorstadt gesprochen. Wasser haben sie zwar reichlich, aber nichts zu beißen. Die Menschen sterben wie die Fliegen. Das Volk würde nur zu gern die Helena ausliefern und Frieden schließen, aber die Söhne des Priamos und die Adelsclique lassen dies nicht zu. In der Zitadelle hat man wohl immer noch genug zu beißen. Doch das Volk leidet Qualen.“

„Es ist bald vorbei. Helena wird schon bald wieder in den Armen ihres Menelaos liegen. Sie wird ihn schnell besänftigen und niemand wird fragen, warum wegen der heißen Hündin so viele gestorben sind.“

„Du spricht so vertraut von ihr, als hättest du sie …“

„Ja. Habe ich“, erwiderte Odysseus lachend und erzählte von der Begegnung.

„Ist sie tatsächlich immer noch so …?“

„Schön? Ja. Sie ist das unwiderstehlichste Stück Weib, das je geschaffen wurde, und außerdem mag sie es. Eine Zimperliese ist sie nicht.“

„Lass das nur nicht Menelaos hören!“ mahnte Empedokles.

„Ich habe auch nicht vor, das auf dem Marktplatz hinauszuposaunen.“

Als sie am Lager der Griechen ankamen, strömten die Krieger gerade von den Mauern zurück. Natürlich hatten sie nichts erreicht. Viele Männer waren umsonst gestorben. Die Anführer saßen bereits mit mutlosen Gesichtern um Agamemnon, als Odysseus das Zelt betrat.

„Es ist so gekommen, wie du es vorausgesagt hast“, empfing ihn der weise Nestor.

„Wie viele sind gestorben?“

„Achthundert werden es bestimmt sein. Von deinen Leuten nur zwanzig, wie mir Philotas erzählte.“

„Zwanzig Leute wegen nichts und wieder nichts!“ murrte Odysseus.

„Was jammerst du wegen zwanzig Leuten? Ich habe zweihundert verloren“, klagte Menelaos.

„Es war alles vergebens“, stellte Agamemnon betrübt fest.

„Zweimal war ich oben auf den Mauern. Zweimal musste ich der Übermacht weichen“, klagte Diomedes.

„Ich habe sicher hundert von ihnen in den Hades geschickt, aber sie haben uns trotzdem zurückgetrieben. Das muss man ihnen lassen, die Troer sind gewaltige Kämpfer“, gab Aias stöhnend zu.

Die Anführer der Achaier sahen nun so gar nicht heldenhaft aus. Müde und abgekämpft schauten sie drein. Sie hatten nun die letzte Karte ausgespielt. Es blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als nach Hause zu segeln, um sich dort das Hohngelächter der ganzen Welt anzuhören.

„Ich habe es euch vorausgesagt!“ brummte Odysseus.

„Ja. Ist ja gut, Listenreicher. Aber was hast du denn nun erreicht?“ fragte Agamemnon. Auf seinen Wink wurden die Mischkrüge neu gefüllt.

„Er hat sicher in seinem Zelt selig geschlafen, während wir uns vor den Mauern abmühten“, klagte Aias.

„Es ist ja auch unmöglich, in die Stadt hineinzukommen“, stand Diomedes Odysseus bei.

„Ich war in Troja“, erwiderte Odysseus mit stillem Triumph.

„Du warst in der Stadt?“ staunte Neoptolemos.

„Ja. Sogar in der Zitadelle des Priamos.“

„Und? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“ brummte Menelaos.

„Es steht schlecht um das Volk in Troja. Es hungert. Es wünscht sich ein Ende der Kämpfe. Nur die Söhne des Priamos und die Edlen wollen natürlich nicht klein beigeben. Keiner von ihnen hat Lust, unser Sklave zu werden. Deswegen werden sie niemals klein beigeben.“

„Na schön. Du warst in Troja, und das Volk hat den Krieg satt und die Edlen wollen weitermachen, und, was haben wir davon?“ fragte Menelaos sarkastisch.

Ein Diener lugte ins Zelt, und hinter ihm drängten sich wieder die beiden weißen Stuten herein. Wie gewöhnlich verwöhnte Agamemnon sie mit Äpfeln und Nüssen und tätschelte die Hälse der herrlichen Tiere.

„Nun geht, meine Kinder“, sagte er herzlich und strich ihnen über das Maul, und die Tiere wieherten und nun – in diesem Augenblick – fielen Odysseus die Stallungen vor der Zitadelle ein, die herrlichen Fresken an den Wänden mit den galoppierenden Pferden. Er wusste jetzt, wie sie nach Troja hineinkommen würden. Vielleicht war es ein Gott, der ihm dies eingab, vielleicht hatte auch das Wiehern der Pferde den Gedanken ausgelöst.

Als der Diener die Tiere wieder hinausgeführt hatte, stand Odysseus auf und legte Agamemnon den Arm um die Schulter, was diesen, etwas irritiert über die Vertraulichkeit des Zwergkönigs Odysseus, ärgerlich das Gesicht verziehen ließ.

„Ich weiß nun, wie man uns die Tore öffnen wird. Die Liebe zu den Pferden wird ihnen zum Verhängnis werden.“

„Ha?“ machte Menelaos und starrte den Fürst von Ithaka blöd an.

Agamemnon bekam den Mund nicht zu, und auch die anderen sahen Odysseus an, als habe dieser gerade seine eigene Unsterblichkeit verkündet.

„Nun ist er durchgeknallt!“ winkte Aias ab.

„Hört zu! Wir werden so schnell wie möglich abziehen und ihnen ein Geschenk zurücklassen.“

„Ein Geschenk? Dafür, dass sie uns widerstanden haben?“ murrte Aias.

„Was soll der Unsinn, Fürst von Ithaka?“ mahnte Agamemnon.

„Wir werden ihnen ein Pferd überlassen. Ein hölzernes Pferd, in dem sich fünfzig unserer besten Kämpfer verstecken werden. Wir brechen unser Lager ab. Das Hauptheer besteigt die Schiffe und wartet vor der Insel Tenedos, dass die Troer das Pferd in die Stadt holen. Wir werden ein Schild anbringen: Zur Feier ihrer Heimkehr haben die siegreichen Achaier der Athene dieses Geschenk als Zeichen ihrer Dankbarkeit gewidmet.“

„Ein hölzernes Pferd?“ murmelte Nestor nachdenklich, dessen beweglicher Geist durchaus die List begriff.

„Lasst mich nur machen. Mit dem Architekten Epeios von Mykonos werde ich ein Pferd bauen, das innen hohl ist und fünfzig Krieger aufnehmen kann.“

„Und was sollen die Ärmsten in dem Bauch des Pferdes machen? Sie werden entdeckt und auf das erbärmlichste abgeschlachtet werden. Was für ein dummer, armseliger Plan!“ rief Menelaos verächtlich.

„Nicht so voreilig! Die Troer werden denken, dass wir geflüchtet sind, dass wir eingesehen haben, dass Troja nicht zu erobern ist. Der Krieg ist vorbei. Die Troer lieben, von den Weibern einmal abgesehen, nichts mehr als Pferde. Sie werden das Pferd, das wir mit großen Rädern versehen, in die Stadt holen als Zeichen ihres Sieges, als Symbol ihres Ruhms, die Achaier abgewehrt zu haben. Und wenn das Pferd in der Stadt ist, werden wir des Nachts, wenn sie ihren Sieg feiern, aus dem Pferd springen und die Tore für unsere Mannschaften öffnen, die mittlerweile wieder zurückgekommen sind. Troja wird unser sein.“

„Beim Zeus, so eine verrückte Idee kann sich nur Odysseus ausdenken“, staunte Diomedes.

„Und das wird klappen?“ fragte Neoptolemos immer noch skeptisch.

„Es wird klappen, weil sie sich nichts sehnlicher wünschen als Frieden. Ihre Sehnsucht nach Frieden, ihre Leidenschaft für Pferde wird ihnen zum Verhängnis werden“, bestätigte Odysseus.

„Was meinst du, weisester der Achaier?“ wandte sich Agamemnon an Nestor.

„Es könnte klappen“, sagte dieser, sich nachdenklich den Bart streichend. „In der Tat ein bemerkenswerter Plan. Wenn er gelingt, wird sich unser Ruhm über die ganze Welt ergießen. Noch in tausend Jahren wird man von der Eroberung Trojas durch die Achaier erzählen.“

„Besonders ehrenvoll ist es ja nicht!“ goss Neoptolemos Wasser in den Wein. „Mein Vater hätte es abgelehnt, auf so hintertriebene Weise Troja zu erobern. Das ist billiger Ruhm.“

„Dein Vater ist tot“, wehrte Diomedes ab. „Seine Tapferkeit und seine Schwertkunst haben ihm nichts genützt. Tapfer waren wir alle und stehen doch mit leeren Händen da.“

„Tapfer waren auch die Troer!“ mischte sich Nestor ein, der nun Angst hatte, dass Odysseus’ Plan aus lauter Eifersucht wieder zerredet wurde. „Oh ja, sie haben ehrenvoll gekämpft. Sie sind uns ebenbürtig. Aber nur in einem nicht: Sie haben keinen Odysseus, und das wird den Unterschied ausmachen. Also, ehe wir nun unverrichteter Dinge abziehen und uns zum Gespött des ganzen Erdkreises machen, bin ich dafür, dass wir es versuchen.“

„Also, ich halte den Plan auch für bedenkenswert“, sagte Agamemnon schnell, der sich bereits ausmalte, wie er ruhmbedeckt und mit dem Gold Trojas nach Mykene zurückkehrte.

Sie palaverten noch endlos, wie es bei den Achaiern üblich ist, über das Für und Wider. Nach etlichen Schalen Wein waren schließlich alle dafür. Selbst Neoptolemos gab seinen Widerstand auf, als Diomedes ihn daran erinnerte, dass Achilleus’ Familie die List nicht ganz so fremd war, denn schließlich hatte Achilleus’ Mutter Thetis den Helden in Frauengewänder gesteckt, weil sie verhindern wollte, dass er zwar ein ruhmreiches, aber nur kurzes Leben hatte. Selbst Menelaos gab widerwillig zu, dass man es ja versuchen könne. Um ihn gnädig zu stimmen, sagte Odysseus, dass er Helena getroffen habe und er ihm, dem Menelaos, ausrichten solle, dass sie nach der Begegnung mit ihm gleich zur Spindel gegriffen habe. Was der Listenreiche trotz aller Klugheit nicht wissen konnte, dass dies der übliche Spruch des Menelaos war, den dieser seiner Gattin nach schnellem Liebesspiel mit einem Klaps auf den Hintern zurief: ‚Nun geh endlich wieder an die Spindel, meine hast du genug bedient!’

Er, Menelaos, wusste also in diesem Augenblick, dass Odysseus die Gunst seiner Frau genossen hatte. Menelaos machte einen Schritt zurück, wurde kreidebleich, und seine Hand tastete nach dem Schwert. Aber er unterließ es, das Eisen zu ziehen. Er wollte sich nicht vor den Gefährten der Schandeaussetzen, dass er schon wieder und diesmal von dem armseligen kleinen König von Ithaka zum Hahnrei gemacht worden war, denn er hielt ja an der Legende fest, dass seine Frau von Paris entführt und auf keinen Fall freiwillig mit dem Schlawiner getürmt war. Er schluckte also seinen Groll hinunter, sein hassverzerrtes Gesicht wurde ruhiger, und Odysseus wunderte sich, dass ihm Menelaos solch fürchterliche Blicke zuwarf, schließlich hatte er nur freundliche Grüße entrichtet, die ihm harmlos genug erschienen, denn was war denn dabei, dass eine Frau eifrig zur Spindel griff. Bei seiner Klugheit hätte er eigentlich darauf kommen müssen, dass Helena nun nicht gerade im Ruf stand, eine besonders eifrige Hausfrau und Spinnerin zu sein, sondern ihr Ruf wegen anderer Eigenschaften begründet war. Aber nun hatte er einen Todfeind und wusste dies nicht einmal, und dies sollte ihm nicht nur in dieser Nacht, sondern viele Jahre Ärger bereiten.

Als Agamemnon die Ratssitzung aufhob und Odysseus sich zu seinem Lager aufmachte, drängte sich Menelaos zu ihm.

„Du glaubst wirklich, dass dein Plan klappen könnte?“ heuchelte er besorgt und schritt wacker neben ihm aus, tat so, als sei dies ein Gespräch, das nur dem Ziel diente, sich der Siegeschancen zu versichern.

„Es wird klappen“, erwiderte Odysseus bestimmt.

„Du glaubst, du bist sehr klug, unwiderstehlich klug!“ höhnte Menelaos.

„Was soll das? Zumindest fällt mir immer etwas ein!“

„Ja. Das tut es. Aber diesmal war es das Falsche!“ brüllte Menelaos und zog das Schwert und holte zum tödlichen Schlag aus.

4.

MIT TROJA VERBRENNT DAS GLÜCK DER ACHAIER.

Das hätte der Kluge doch wissen müssen: Schlimmer als die Feindschaft eines Mannes ist der Hass einer Frau, und er hatte ja genug getan, um ihren Stolz zu verletzen. Man stößt die Frau nicht zurück, um die sich die ganze Welt balgt, die Achaier und Trojaner dazu brachte, sich wie tollwütige Hunde ineinander zu verbeißen. Und nun hatte sie dafür gesorgt, dass dem Odysseus ein Feind erwuchs, wie er ihn noch nie gehabt hatte. Und von Menelaos’ Standpunkt aus war dies auch ganz verständlich: Denn welcher Mann gesteht sich gern ein, dass die Holde mit jedem das Lager besteigt, der ihr einen Gruß schickt oder kurz die Hand schüttelt.

Menelaos, das Schwert in der hoch erhobenen Hand, machte einen Schritt nach vorn und war sich sicher, dem feixenden Widersacher den Kopf spalten zu können. Doch ein Nagel am Boden verhinderte dies, durchdrang die Ledersohle der Sandale, und der König von Sparta schrie und tanzte wie ein Berggeist. Das ganze Lager lief zusammen, und selbst Agamemnon stürzte aus dem Zelt und beobachtete kopfschüttelnd das seltsame Gebaren des Bruders. Endlich hatte Menelaos den Nagel entfernt. Wütend schleuderte er ihn Odysseus zu, der sich bückte und den Nagel aufhob, denn er sah in ihm ein Eingreifen der Götter.

„Ein Nagel aus der Schmiede des Hephaistion. Dein Bruder sollte das Terrain sorgfältiger sondieren, ehe er sich zu irgendwelchen Unüberlegtheiten verleiten lässt!“ rief er und warf den wundersamen Nagel nun wiederum Agamemnon zu, der ihn auffing und dem immer noch stöhnenden Bruder tröstend den Rücken tätschelte.

Die Eroberung Trojas konnte also über die Bühne gehen, denn in Anbetracht der vielen Zuschauer und des gestrengen Bruders, der Odysseus’ Plan ausdrücklich gebilligt hatte, wagte Menelaos einstweilen keine weiteren feindlichen Angriffe. Es geschah alles, wie der Listenreiche es vorgeschlagen hatte. Die Mauer und das Lager vor den Schiffen wurden in Brand gesteckt und die Schiffe zogen scheinbar ab. Ein hölzernes Pferd blieb zurück.

Dann hockten sie im Bauch des Pferdes und hörten es draußen lärmen und wussten nicht, dass sie schon einige Gefahren hinter sich hatten. Kassandra hatte gewarnt und Laokoon seine berühmte Warnung ausgestoßen:

„Ich fürchte die Danaer, selbst wenn sie Geschenke bringen.“

Es war stickig in dem hölzernen Bauch. Es roch nach Schweiß und Harz und Knoblauch. Mit der Zeit vermischte sich dies mit dem Gestank schlechter Fürze. Ihm, Odysseus, König von Ithaka, Ratgeber der Könige und Urheber des verwegenen Plans, knurrten die Därme, nicht vor Angst, sondern weil er am Vorabend zu viel Hammelfleisch gegessen und sich vor dem Einstieg in das Pferd nicht entleert hatte. Also nicht aus Angst musste er nun sein Hinterteil kräftig zusammenkneifen.

Es hockten fünfzig Helden in dem hölzernen Pferd und keiner der vielbesungenen Helden fehlte, also weder Neoptolemos, Aias, Diomedes noch Menelaos. Die Besten der Besten warteten darauf, dass es Zeit wurde, aus dem Bauch des Pferdes zu kriechen und die Tore zu öffnen, um nach Herzenslust zu brandschatzen, zu vergewaltigen und zu plündern. Doch vorher geschah noch Merkwürdigeres. Nein, ich meine nicht die Seeschlangen, die den Laokoon und seine beiden Söhne würgten, aber was nach zu viel Samoswein auch noch genüsslich kolportiert wird: Menelaos meinte die Stimme der Helena zu hören. Diomedes glaubte ebenfalls sein trautes Weib zu vernehmen, und auch Alkinoos ging es nicht anders. Ihre Weiber sprachen von Liebe und Sehnsucht nach ihrer Männlichkeit und über andere saftige Verlockungen. Alkinoos drehte schier durch und wollte darauf antworten, dass er für alle kleinen und großen Schweinereien bereit sei, und Odysseus musste ihm den Mund zuhalten und gab ihm einen Schlag hinter das Ohr, und der Gute träumte nun das, was er geglaubt hatte zu hören.

Und dann bewegte sich das Pferd. Wie Odysseus gehofft hatte, zogen die Troer das Pferd vom Strand in die Stadt und umtanzten das vermeintliche Weihegeschenk, und schon bald befand sich die ganze Stadt im Taumel. Man feierte das Ende des Krieges, feierte den Sieg und die Götter und die Sicherheit und hoffte, dass der Wohlstand zurückkehrte, dass man auch zukünftig hohen Wegzoll von Schiffen nehmen konnte, die nach Kolchis wollten.

Trotz mancher Warnungen hatten die Oberwasser, die endlich das erfüllt sehen wollten, was sie sich so lange schon erhofft hatten. Und da man ohnehin pferdeverrückt war, zog man das hölzerne Pferd, dieses Ding aus dem Kopf des Odysseus, in den Hof der Zitadelle, gegenüber dem großen Marstall, wo einst Hunderte von Pferden gestanden hatten, die man jedoch im Laufe des Krieges, bis auf die Zugpferde für die Streitwagen, aufgegessen hatte. Aber nun glaubte man an das hölzerne Pferd, sah in ihm ein Symbol des Sieges und ein Garant dafür, dass sich der Marstall bald wieder mit herrlichen Stuten, Hengsten und Fohlen füllen würde.

Es war keine weihevolle Feier, sondern ein bacchantisches Siegesfest, ein Besäufnis der Dionysosklasse. Man zog mit Blumen auf dem Haupt durch die Straßen. Alle Häuser wurden zu Tavernen, und nicht wenige paarten sich schamlos auf den Treppen der Tempel. Selbst im großen Megaron des Palastes schwand nach Mitternacht jede Zucht, und der alte Priamos verzog sich kopfschüttelnd in sein Schlafgemach, jedoch wollte er nach den entbehrungsreichen Jahren den Ausschweifungen nicht Einhalt gebieten.

Die Achaier im Pferd verfluchten die Vergnügungssucht der Troer, denn diese wollte kein Ende nehmen. Erst als die rosenfingrige Eos ein zartes Licht an den Horizont schickte, sank Ruhe auf die Stadt herab, und nun, nach anfänglichem Zögern und nach Odysseus’ „Hopp, Männer, hopp!“, sprangen sie aus dem Bauch des Pferdes, musterten vorsichtig die Umgebung und bewegten sich lautlos zum Haupttor hin. Überall in den Gassen lagen Betrunkene. Hin und wieder sah jemand hoch, aber begriff nicht, was hier drohte. Dann waren sie am Tor und hoben den hölzernen Riegel hoch. Knarrend öffneten sich die mit Bronze beschlagenen Flügel, und Odysseus schwenkte eine Fackel, und dann kam es im Laufschritt aus dem Dunkel vom Meer, eisenbewehrt, das Heer der Achaier. Wie eine Sturmflut drang es in die Stadt ein, warf Fackeln in die Häuser und Paläste und jagte weiter zur Zitadelle hin und in den großen Hof hinein. Schon hastete man durch den Palast des Priamos. Auch hier wurde gefackelt. Schreie gellten durch den Palast. Der Hass entlud sich im gemeinen Töten. Es starben die Männer, die noch immer so betrunken waren, dass sie ihr Sterben nicht begriffen. Es starben auch alte Männer und Frauen und selbst Säuglinge, die eine zu lange Zeit brauchen würden, um den Griechen nützlich zu sein. Knöcheltief watete man in Blut.

Odysseus sah Kassandra, die Tochter des Priamos, auf den Mauern der Zitadelle wie wahnsinnig herumlaufen und sich das lange rote Haar raufen. Erfreut befahl Odysseus dem treuen Empedokles sie einzufangen. Eine Königstochter war immer ein Gewinn. Er sah seine Männer Gold und Geschmeide zusammentragen, wie er es vorher noch nie gesehen hatte. Als Eos die Dämmerung des Morgens vertrieben hatte, brannte Troja bereits lichterloh. Aber das Sterben nahm immer noch kein Ende. Im Megaron der Zitadelle hatten sich die letzten trojanischen Helden verschanzt und traten zu ihrem letzten Gefecht an, küssten einander und umklammerten noch einmal das schwere Eisen. Schon bald starben sie in der mit Gold und Silber reich geschmückten Halle unter den Porphyrsäulen. Troja ging unter.

Odysseus lief zum Tempel der Athene und in die leere Halle hinein, kümmerte sich also um den Beweis seines Königtums, kletterte auf den Altar zu dem riesigen Standbild hoch und nahm der Statue der Athene den heiligen Speer aus dem marmornen Arm.

„Deswegen geschah doch die ganze Übung!“ sprach er zu dem Standbild. „Du gehörst zu mir, nach Ithaka!“ Damit glaubte er genug gesagt zu haben, und Athene schien dies auch gelten zu lassen. Jetzt war in seinem Besitz, weswegen er dem Agamemnon gefolgt war. Er wollte sich nun dem Ausgang zuwenden, da gewahrte er hinter der Säule eine Bewegung. Er hob, einen Angriff befürchtend, den mächtigen Speer mit der Spitze aus schwarzem Eisen, die Hephaistion selbst, so hieß die Legende, geschmiedet hatte.

„Komm hervor, Trojaner und stelle dich dem Urteil der Götter!“ donnerte Odysseus.

Er war verständlicherweise, da seine List so trefflich gelungen war, in heroischer Stimmung. Aber völlig nutzlos. Aus dem Schatten trat eine Frau. Da war sie wieder, die Schönste der Schönen, das Abbild der Aphrodite.

„Ich wusste, dass du hierher kommen würdest. Beschütze mich, Listenreicher!“ forderte sie mit zitternder Stimme, vergaß ganz, dass sie ihm mit dem Gruß an Menelaos übel mitgespielt hatte.

„Was machst du hier? Menelaos sucht dich wie ein Rüde die Hündin.“

„Das ist es ja, was mir Angst macht. Kannst du mich nicht ins Lager der Griechen führen, wo ich mich Agamemnon zu Füßen werfen werde? Er soll entscheiden, was mit mir zu geschehen hat. Seinem Urteil unterwerfe ich mich. Wer weiß, was mir Menelaos alles antut. Sicher denkt er, dass ich freiwillig mit Paris gegangen bin.“

Sie kam näher und tat demütig und Schutz heischend und blickte ihn mit den grünen, tränenumflorten Augen an, und Odysseus wusste ja nicht, was ihm die Falsche bereits angetan hatte und vergaß seine Vorsicht und Klugheit, wie es so geschieht, wenn Weiber unterhalb der Gürtellinie des Mannes etwas auslösen. Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust und schluchzte.

„Ich armes Weib. Was muss ich wegen meiner Schönheit alles aushalten. Er wird mit mir grob umgehen, wenn er mich nicht gar töten wird, nachdem er mich genommen hat.“

Und ganz sicher hätte sich nun auch hier im Tempel, unter den strengen Augen der Athene, das wiederholt, was sie ihm schon einmal gegeben hatte. Doch die keusche Göttin Athene hatte dagegen einiges einzuwenden. Jedenfalls stürmten sechs Troer in das Heiligtum, an der Spitze der große Aeneas, einer der letzten Heldenkrieger des Priamos. In den Händen hielten sie breite, blutige Schwerter. Ihre wilden Mienen ließen ahnen, in welcher Verzweiflung sie sich befanden.

„Helena, du hier? Keine Sorge, wir befreien dich von diesem grobschlächtigen Krieger!“ rief Aeneas in schönem Edelmut und kam mit rußgeschwärztem Gesicht näher. Seine bronzene Rüstung war dunkel vom Blut erschlagener Griechen.

„Du wagst es, Hand an die Gemahlin eines trojanischen Prinzen zu legen?“ donnerte Aeneas. Seine Stimme hallte in der mächtigen Halle des Tempels der Athene, als spräche hier die Göttin selbst.

Und Helena wechselte flugs das Lager, dachte wohl, dass der Listenreiche gegen sechs Troer kaum gewinnen konnte.

„Es ist Odysseus. Es ist der, der Unheil über Troja brachte. Seine feige List bezwang das göttliche Troja, nicht die Macht des Agamemnon, die Wildheit des Menelaos, der Mut des Diomedes oder der Hass des Aias. Der, den man den Klügsten nennt, der die menschlichen Schwächen zu seinem Vorteil nutzt, ist der Schuldige, der Troja brennen lässt. Töte ihn, und dein Volk wird es dir ewig danken!“

Sie verriet ihn also, obwohl vor kurzem noch bereit ihm Wonnen der Wollust zu schenken. Sie war schon eine Schlampe von besonderem Format.

„Dann soll er sterben!“ bekräftige Aeneas eifrig und natürlich ganz beeindruckt davon, was der Dank beinhalten mochte. „Sein Tod bringt mir ewigen Ruhm. Odysseus bezwang Troja mit unheldischer List, aber ich bezwang Odysseus! Das wird mir bleiben. Männer geht zurück, damit ich ihn für seinen Frevel richte.“

„Ich ehre dich, Held der Troer“, bekannte Odysseus, das Schwert mit der Linken ziehend, denn die Rechte trug schwer am heiligen Speer. „Ich hörte von deinem Mut, deiner edlen Gesinnung. Mögen die Götter entscheiden, wem sie den Sieg schenken wollen.“

Den siebenhäutigen Schild schwingend, das breite Schwert in der Hand, stürmte Aeneas auf Odysseus zu. Dieser warf den heiligen Speer mit großer Kraft, und er durchbohrte die bronzene Haut, die siebenhäutigen Lederschichten und verletzte Aeneas’ Arm, und dieser ließ schreiend den Schild fallen und sank auf die Knie.

Nun griffen seine Gefährten ein, umringten Odysseus und schlugen auf ihn ein. Mühelos wehrte Odysseus anfangs ihre Schläge ab, Funken sprühten von den Klingen unter dem marmornen Haupt der Athene, und diese ergötzte sich wohl an dem mannhaften Kampf. Doch sicher wäre Odysseus in dem heldenhaften Ringen unterlegen, denn Aeneas zog den Speer aus dem Arm und warf ihn zu Boden und griff selbst in den Kampf ein. Die Überzahl erschöpfte den großen Achaier. Hatte die Göttin Mitleid mit dem herrlichen Held, dem Bezwinger Trojas?

Menelaos betrat mit seinen Spartanern den Tempel, erfasste sofort die Situation, sah Odysseus, den Verfluchten, mit den Trojanern kämpfen, sah sein Weib, wie sie dahinter als Trophäe bereitstand, als Preis des Siegers. Sein Grimm brach wild hervor.

„Halt! Aeneas, ergib dich! Füge dich drein in die Gefangenschaft. Lass mich dein Vorhaben vollenden, den Hundesohn Odysseus richten, denn er hat sich vergangen an allem, was mir heilig ist!“

„Oh, Menelaos, endlich! Endlich, geliebter Mann, befreist du mich!“ rief Helena, wechselte erneut das Lager, stürmte auf Menelaos zu, und nicht von ungefähr verrutschte dabei ihr Oberkleid und ließ ihre Brüste aufblitzen.

Der König von Sparta vergaß seinen Groll, vergaß ihren Verrat oder was immer er darüber sich vorgemacht hatte und erlag ihr aufs neue, brummte nur und schubste sie sanft seinen Männern in die Arme.

„Warum zürnst du mir?“ wunderte sich Odysseus. „Was habe ich dir getan? Habe ich nicht dafür gesorgt, dass Troja unser ist und du dein Weib zurück bekommst?“

„Nur durch List und Tücke wurde Troja überwunden!“ rief Menelaos voller Hass. „Darin liegt keine edle Tat. Aber du glaubst in deinem Hochmut, dass dir dein schändlicher Rat das Recht gibt, dir alles zu nehmen und selbst die Frau des Königs von Sparta in dein Bett zu zerren!“

„Er wollte mich gegen meinen Willen seiner Lust unterwerfen!“ kreischte Helena.

Dieser Vorwurf brachte Menelaos um den Rest seines kärglichen Verstandes und er stürmte mit dem Schwert in der Hand auf Odysseus zu. Nun kreuzten die beiden Achaier ihre Schwerter, wieder flogen Funken, wieder war es ein heldenmäßiges Ringen. Doch wäre Menelaos unter Odysseus mächtigen Schlägen sicher zu Fall gekommen, wenn Aeneas die Unaufmerksamkeit der Spartaner nicht genutzt hätte. Mit einem Schrei stürmte er voran, mächtige Streiche austeilend, durchbrach er mit seinen Männern die Kette der Spartaner und verschwand im Rauch auf dem Hof der Zitadelle.

„Da hast du es!“ warf Odysseus dem Menelaos vor. „Den sehen wir nicht mehr wieder.“

„Mag er davonkommen!“ brüllte Menelaos. „Aber du wirst mir nicht davonkommen!“

Wieder drang er auf Odysseus ein, und Menelaos wäre wohl seiner eigenen Torheit zum Opfer gefallen, denn seine Faust war niemals am Pflug richtig gestählt worden. Doch Agamemnon betrat den Tempel und donnerte sein „Halt!“. Angetan mit der Krone des Priamos und dessen purpurfarbenem und goldbesticktem Mantel hob er Gehorsam heischend den Arm. „Welche Schande bringt ihr über unseren Sieg? Wie Kretins benehmt ihr euch vor dem Antlitz der Athene. Obwohl vom gleichen Stamm, macht ihr es den Barbaren nach.“

„Er muss sterben!“ keuchte Menelaos, uneinsichtig darüber, dass ihn nur das Eintreten des Bruders vor Odysseus’ tödlichem Streich bewahrt hatte. „Er hat sich an meinem Weib vergangen.“

„Helena, komm her!“ forderte der Anführer der Achaier mit gerunzelter Stirn und gebieterischem Winken. Bruder hin oder her. Er kannte, anders als Menelaos, die Läufigkeit dieses Weibes, ihren wankelmütigen, eitlen Charakter, ihr Ausgeliefertsein an die Lust des Schoßes, und war nicht bereit den Listenreichen zu verurteilen, schon gar nicht, wo dieser unsterblichen Ruhm erworben und ihn, Agamemnon, zum Reichsten und Mächtigsten der Achaier gemacht hatte.

„Hat dir Odysseus etwas angetan?“ fragte er drohend und schüttelte kräftig die Schultern des Weibes, und ihre grünen Augen flogen hin und her, und sie bedachte wohl, dass ein Eingeständnis nicht nur Schande für Odysseus, sondern ihre eigene Schande bedeuten würde und schüttelte zaghaft den Kopf.

„Oh nein. Nein. Er wollte wohl, aber er tat es nicht. Ich war wohl zu spröde.“

„Na siehst du, Bruder. Du zeigst dich undankbar gegen den Listenreichen. Ihm verdankst du, dass du dein geraubtes Weib wieder in die Arme schließen kannst.“

„Die Spindel … sie hat mir doch ausrichten lassen …“ stammelte der Gewaltigste der Spartaner verstört wie ein Sklave, der den Herrn und die Götter nicht begriff.

„Aber Menelaos, geliebter Gatte und König“, half ihm die Schöne auf die Sprünge, lehnte ihren Kopf an seine Schulter und strich ihm den Bart. „Das sagte ich doch nur, weil es das Intimste zwischen uns ist und ich dir sagen wollte, dass Odysseus tatsächlich mit mir gesprochen hat und ich guter Dinge bin und auf dich warte.“

So bog sie es um, und es geschah, wie es immer geschieht, wenn einer etwas glauben, seine Sehnsüchte erfüllt sehen will, und er glaubte also ihren Worten, wollte sie glauben und senkte das Schwert.

„Da habe ich wohl etwas falsch verstanden“, brummte er verlegen und steckte sein Eisen weg, und Odysseus tat es ihm nach, und Agamemnon nahm ihre beiden Hände und legte sie zusammen.

„Vertragt euch, ihr Ungebärdigen!“ schalt er sie wie verzogene Jungen.

Unter dem zwingenden Blick des Königs nickten beide. Doch ihre Blicke verrieten, dass sie nie Freunde werden würden, dass etwas zurückblieb, was nicht heilen konnte, sondern schwären würde, wenn es jetzt auch einstweilen zurückgestellt wurde.

„Kümmert euch lieber um eure Männer, dass sie mit dem Töten aufhören und wir genug Sklaven in die Heimat zurückbringen. Sackt lieber die Schätze ein, ehe diese in den Flammen des brennenden Troja verschwinden.“

Odysseus nahm den heiligen Speer auf, den Aeneas beiseite geschleudert hatte, nickte dem König zu und lief hinaus. Draußen traf er auf Empedokles, der mit einigen Ithakesiern Truhen mit Geschmeide und Gold schleppte.

„Hast du Kassandra in unser Lager bringen lassen?“ fragte der Listenreiche nach einem zufriedenen Blick auf die Truhen.

Empedokles schüttelte schuldbewusst den Kopf. „Die hat mir vorhin Agamemnon abgenommen. Eine Königstochter wäre genau das richtige für den mächtigsten König Griechenlands. Du kannst ja bei ihm Einspruch einlegen. Ich habe mir das verkniffen. Er schien von ihr sehr angetan zu sein, und ich fürchtete seinen Zorn. Wer bin ich, dass ich dem König der Achaier etwas abschlagen kann?“

„Lassen wir das. Sie hat Troja kein Glück gebracht und wird ihm auch kein Glück bringen. Hast du den Aeneas gesehen?“

„Aeneas wer?“

„Ein trojanischer Prinz. Ich habe vorhin mit ihm gekämpft, aber der Blödmann Menelaos ist mir dazwischengekommen.“

„Das muss der gewesen sein, der vorhin dort hinten die Mauern hoch ist, zu der Stelle, von der wir uns nach Troja hinein–schleichen konnten.“

Odysseus ahnte nun, wie Aeneas entkommen wollte. Durch die Sümpfe würde er versuchen, den Skamander zu erreichen, wo sicher ein Boot auf ihn wartete. Er jagte zur Treppe, zum Wehrgang hoch und stieß dort auf einen altern zitternden Mann mit zwei Weibern. Oh ja, er erkannte ihn. Vor ihm stand, elend und abgerissen und mit verrußtem Gesicht, Priamos, einst der Herr der herrlichsten Stadt der Welt und blickte ihm furchtsam entgegen. Doch Odysseus verbeugte sich vor ihm.

„So elend bist du nun geworden, edler Priamos. Durch die Liebeslust eines Weibes und die Geilheit deines Sohnes.“

„Wer bist du, Achaier? Warum dauert dich mein Schicksal, erlebe ich euch doch als gnadenlose Mordgesellen. Schrecklich handelt ihr in meiner Stadt. Das schöne Troja vergeht in den Flammen, die herrlichen Mauern bersten, die Schreie meiner Menschen durchschütteln mein Herz. Oh ja, schrecklich bestrafen uns die Götter für die Lust an einem Weib.“

„Ich bin Odysseus. Ich bin es, dem du dein Unglück verdankst. Mir entsprang die Idee mit dem Pferd, und es dauert mich, wenn ich die vielen Toten sehe. Aber es sollte wohl so sein. Ich war nur das Werkzeug. Aber der Fall Trojas wird meinen Namen unsterblich machen, denn ruhmvoll ist es, einen großen Feind zu besiegen.“

Er bekannte sich also, denn noch war er stolz auf das, was sein Einfall ermöglichte, noch war er voller Brunst über den Sieg, woran zu erkennen ist, dass er noch nicht die Weisheit des Alters erreicht hatte. Gewiss, er war klug, doch er sah noch nicht das Maß und die Mitte als richtigen Weg. Es muss dem Menschen eine Zeit gegeben sein, in der er lernt, sich zu bezwingen, seine Leidenschaft und seine Gier zu zähmen. Nicht die Jugend, der Überschwang, das Dräuen der Säfte veredelt den Menschen, sondern die Erfahrung und die Einsicht, dass alles, was wir uns erträumen, nichtig ist. So wie jedes Handwerk zu erlernen seiner Zeit bedarf, so bedarf das Denken der Übung und der Zeit, aber die sollten ihm ja die Götter in reichem Maße zuteilen.

„Du also bist es. Oh ja, ich habe von dir gehört. Ich bin also dein Gefangener, und du wirst mich als Sklave zum Gespött und zu deinem Vergnügen halten und mich in der Halle beim Gastmahl ausstellen und rufen: ‚Seht her, das ist Priamos, der König von Troja, den meine List in meine Gewalt brachte! Elend ist er nun und gedemütigt und durch meines Kopfes Geburt nun ein Sklave.’ Welche Schande tun mir die Götter an.“

Odysseus sah auf die brennende Stadt hinunter, auf das Rauben und Vergewaltigen, auf die tausendfachen Gräuel, und in diesem Augenblick, als würde ein riesiger Schleier weggezogen, sah er die Auswirkungen seiner List. Seine Brunst, sein Siegesrausch verflog. Er sah, dass nichts Großes, nichts Würdiges daran war, zu brennen und zu morden und in trunkenem Rausch, sei es von Blut oder Wein, die Weiber zu schänden. Er stöhnte und fragte:

„Wo ist Aeneas?“

„Willst du auch ihn töten, Unersättlicher?“ fragte der alte Mann. Hinter ihm, die beiden Frauen, hoben klagend die Arme zum Himmel.

„Nein. Ich habe mit ihm bereits die Schwerter gekreuzt. Ich will dir nicht den letzten Helden nehmen. Ich werde dich auch nicht als meinen Sklaven wegführen. Ich nehme mir als Belohnung das Vorrecht, dass ich den König von Troja entkommen lasse. –Ich bringe dich hinaus aus der Stadt, und dann geh zum Skamander, wo sicher Aeneas bald eintreffen wird, und gehe über das Meer in ein anderes Land und baue dir ein neues Königreich auf, ein neues Troja, vielleicht größer und mächtiger als diese Stadt. Kommt mit!“

Und er führte den Alten und die beiden Frauen zu einem Tor und wehrte die Fragen ab, wen er hinwegführte und ließ ihn durch ein kleines Tor, zum Skamander hin, ins Freie treten.

„Geh, Priamos. Sicher wird noch so mancher aus deinem Volk zum Skamander geflüchtet sein. Geh und führe es zu einem neuen Troja.“

„Du handelst edel an mir, nachdem du fürchterlich an uns gehandelt hast. Aber ich nehme deine Gabe an. Aber verzeihen kann ich dir nicht. Deine Tat, deine List wird auch im Götterrat nicht ohne Folgen bleiben. Man bewundert den Listigen, aber man liebt ihn nicht.“

„Rede nicht von den Göttern. Was weißt du denn von ihrer Gunst? Geh und rette dich und bestell dem Aeneas, dass ich verhindern könnte, dass er entkommt. Aber es bringt keine Ehre, wenn man einen, der bereits am Boden ist, auch noch tritt. Troja ist durch mich gefallen, und das ist mir Ruhm genug. Der Tod des Aeneas würde ihn nicht mehren.“

Nun erschien hinter ihm Neoptolemos, der Sohn des Achilleus, angetan mit silbernem Rüstzeug und schön anzusehen in seiner Jugend und königlichem Stolz.

„Ist das nicht Priamos, dessen Sohn Paris meinen herrlichen Vater, den Besten der Achaier, durch feigen Pfeilschuss meuchelte?“

„Er ist der Sohn des herrlichen Helden. Ein alter Mann, vom Unglück gebrochen und dem Tode nah. Lassen wir ihn ziehen.“

„Niemals!“ donnerte Neoptolemos und warf mit hassverzerrtem Gesicht die eisenschwere Lanze und traf den Rücken des Heldenkönigs, und dieser stürzte zu Boden, und die Weiber schrien auf in entsetzlicher Qual.

„Was hat du getan, du Schändlicher!“ rief Odysseus und beugte sich über den sterbenden König.

„Listenreicher, ist es das, was du …“ flüsterte er und starb, ohne den Satz zu beenden.

„Nein. Das ist es nicht. Nein. Niemals!“ antwortete der Vielkluge, wusste er doch, was Priamos ihm hatte sagen wollen.

„Ich habe den Vater, den Besten der Besten, gerächt!“ donnerte Neoptolemos unbeeindruckt, und Odysseus dachte: Das nicht. Das habe ich nicht gewollt. So etwas nicht.

„Sieh zu, dass du nicht eines Tages aus Rache getötet wirst!“, grollte Odysseus. „Du hast einen Alten getötet und Sitte und Anstand missachtet. Gilt nicht das Gebot, die Alten zu achten?“

„Er war ein alter Mann, zu nichts mehr nütze!“

„Auch du, wenn die Götter dir verzeihen, wirst als alter Mann enden. Möge dir dann niemand ins Gesicht schleudern: Du bist zu nichts mehr nütze. Mich bestürzen Hochmut und Eitelkeit und Dummheit – deine unbedachten Worte in jugendlichem Wahn. Mich dauert dieser herrliche Alte.“

Odysseus wandte sich ab ging zurück zur Zitadelle und kümmerte sich mit Empedokles darum, die Reichtümer Trojas einzusammeln. Drei Tage dauerte die Plünderung der gewaltigen Stadt, die nicht mehr gewaltig aussah, sondern nur aus einem Skelett von ausgebrannten Häusern und Palästen bestand. Noch einmal tagte der Kriegsrat um Agamemnon, diesmal in dem geschändeten und vom Feuer verwüsteten Palast des Priamos, der trotz der verrußten Wände immer noch einen schwachen Abglanz der einstigen Herrlichkeit zeigte.

„Es ist also vollbracht“, verkündete Agamemnon, der sich wieder einmal am eigenen Ruhm berauschte. „Die Götter haben mir Troja in die Hand gegeben.“

„Vor allem haben sie Odysseus die richtige Eingebung gegeben“, setzte Diomedes hinzu, der sich vor Agamemnons langatmigen Reden fürchtete und sich darüber ärgerte, dass Agamemnon sich die Einnahme Trojas selbst zuschrieb.

„Ohne seine List wären wir wie getretene Hunde nach Griechenland zurückgekehrt. Es sollte also jeder von uns einen kleinen Teil der Beute als Dank für ihn abzweigen.“

So sprach der gerechte Held, aber die Anwesenden murrten und fanden, dass Diomedes nicht gerade seinen besten Tag hatte. Menelaos winkte heftig ab.

„Ach was, letztendlich waren es unsere Schwerter, die das herrliche Troja bezwangen. Gut, durch den Einfall mit dem hölzernen Pferd kamen wir in die Stadt, aber dann haben doch die Schwerter und unser Mut entschieden! Wir haben heftig kämpfen müssen. An die tausend unserer Männer sind gefallen. Nein, ich sehe keinen Grund, von meiner Beute etwas abzugeben. Odysseus wird ja selbst genug zusammengerafft haben.“

So stritten sie noch eine Weile heftig über den Vorschlag des Diomedes. Auch Agamemnon war bereit, dem Listenreichen ein Quäntchen seines Goldes zu geben, aber Aias und Neoptolemos schlugen sich auf Menelaos’ Seite, und Odysseus war es leid, sie wie Krämer ängstlich ihre Beute verteidigen zu sehen und winkte ab.

„Behaltet, was ihr habt. Ich werde selbst mit reich beladenen Schiffen heimwärts ziehen. Also, macht nicht so ängstliche Gesichter.“

„Gut. Hier zeigt sich der Geist, der die Achaier auszeichnet“, lobte Agamemnon erleichtert. „Morgen werden wir noch einmal den Göttern opfern und die Toten verbrennen und die heiligen Lieder singen und danach diese Stätte verlassen, die wir mit so viel Blut gedüngt haben. Ich weiß, alle brennen darauf, heimwärts zu ziehen, um in der heimischen Burg am Herdfeuer den Frieden zu genießen und … den Ruhm. Unsterblich sind von nun an unsere Namen. Unsere Weiber erwarten uns mit heißer Inbrunst, und groß ist unsere Lust auf das eheliche Lager.“

So sprach Agamemnon und Diomedes verdrehte die Augen, und Odysseus kämpfte gegen seine Blähungen. Aber man ertrug mannhaft die Rede des großen Agamemnon, des Basileus. Gut, dass keiner wusste, was sie zuhause erwartete.

Es brannten noch einmal die Scheiterhaufen. Es dröhnten die heiligen Lieder, es wurden Hekatomben von Stieren, Hammeln und Ziegen dem Zeus, Poseidon, Athene und Apollon geopfert. Agamemnon achtete darauf, dass keiner vergessen wurde. Dann tafelte man ein letztes Mal am Ufer des Meeres. Am Strand war eine lange Tischreihe aufgestellt. Hinter ihnen glühten die Altäre. Sänger traten auf und priesen die Taten des Achilleus, des Aias und Diomedes. Auch Odysseus wurde gelobt, aber seine Taten wurden nur verhalten bejubelt. Die Schwertkunst gilt allemal mehr als das, was ein findiger Geist zum Sieg beiträgt. Viel Wein wurde getrunken, während die Mannschaften bereits dabei waren, die Segel zu flicken, die Schiffsrümpfe von Muscheln zu befreien und mit Pech zu bestreichen. So ist es nun einmal zu allen Zeiten, dass den Fürsten das Bessere zufällt, während das gemeine Volk sich damit begnügen muss, ihrem Leben zuzujubeln.

Noch in dieser Nacht, nach dem schier endlosen Festmahl, sollte Odysseus in das Gesicht der Nemesis sehen. Leicht betrunken, doch blendender Laune war er zu seinem Lager zurückgekehrt. Viele Zelte waren schon abgebaut, aber sein Königszelt stand noch. Ehe er es betreten konnte, trat ihm Empedokles mit tränenden Augen entgegen.

„Herr, es ist etwas fürchterliches passiert. Miron … dein Bruder ist tot – und der heilige Speer ist fort.“

Mit einem Fluch stieß Odysseus Empedokles zur Seite und stürmte in sein Zelt. Er hatte den Speer mit einem purpurnen Tuch umwickelt auf den kleinen Altar der Athene gelegt. Miron hatte er die Aufgabe zugeteilt, das Symbol seines Königtums zu bewachen. Doch der Speer war fort. Das purpurne Tuch lag wie ein Scheuertuch auf der Erde und daneben lag der Bruder. Auf seiner Brust leuchtete das Feuermal des Todes. Odysseus beugte sich über ihn, und in seinem Kopf dröhnte die Stimme des Laertes, des Vaters, auf den Jüngsten achtzugeben. Schluchzend strich Odysseus über die Locken des Bruders, drückte das kalte Antlitz an sich, küsste die weißen Lippen und die gebrochenen Augen.

„Bruder, wer tat dir das an?“ schrie er wild.

„Wir wissen es nicht“, gestand Empedokles. „Ich kam vorhin hierher, um dir das Lager zu bereiten und fand ihn so.“

„Er hat doch niemandem je etwas getan! Er doch nicht. Ich bin der Verderber Trojas. Ich bin es, wenn überhaupt jemand eine Strafe verdient. Doch nicht er. Nicht Miron, der Verse liebte, der den Göttern Achtung entgegenbrachte, der sein Leben erst vor sich hatte. Warum nur? Wer war es?“

Empedokles zog die Schultern hoch: „Ich weiß es nicht. Trojaner? Versprengte Trojaner, die sich an dir rächen wollten und um die Heiligkeit des Speers und die Wichtigkeit für deine königlichen Ansprüche wussten?“

„Treibe die Gefangenen zusammen. Wir werden sie befragen. Und wenn nur einer Schuld an diesem Verbrechen hat, werden sie alle sterben. Rufe mir die Edlen, die Fürsten Ithakas, zusammen. Achaemenides, Eurylochos, Eurybates, Philotas, Perimedes und Elpenor. Sie sollen mit mir beratschlagen, was nun zu tun ist und an dem Strafgericht teilnehmen.“

„Du bist nicht bei Sinnen. Du willst alle Gefangenen töten?“

„Ich werde der Rachegott sein, wenn sie schuldig sind. Werde die Medusa sein, wenn sie mir den Bruder getötet haben. Ich liebte ihn wie keinen anderen Menschen auf der Welt. Er trug kein Schwert. Der Stoß kam von hinten. Geh, hole die Fürsten! Wir werden beraten.“

Empedokles lief kopfschüttelnd hinaus. Odysseus hob den Bruder hoch und legte ihn auf den Altar der Athene und bedeckte ihn mit dem purpurnen Tuch, das einst die Lanze umhüllt hatte. Verzweifelt betete er zur Göttin und fragte:

„Warum?“

Schon bald traten sie ein, die Edlen von Ithaka. Ihre Gesichter waren angespannt und voller Trauer. Empedokles hatte ihnen bereits von dem Unglück berichtet. Bestürzt sahen sie auf den Altar. Mit kraftloser Gebärde wies Odysseus auf den Toten.

„Warum? Wer hat es getan? Wenn es einer von den Gefangenen war, werden wir ein Totengericht halten.“

Dann merkte er auf, starrte die Edlen an.

„Was ist? Wo ist Philotas?“

„Ich habe ihn nicht angetroffen“, stammelte Empedokles. „Der Ankerplatz seines Schiffes ist leer.“

„Unmöglich. Wir segeln doch erst morgen.“

„Aber er ist fort“, bestätigte Eurylochos, der dem Odysseus der liebste war. „Ich habe ihn vor Stunden vor seinem Schiff getroffen. Er trug den heiligen Speer. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er mir, dass du ihn als Schutzherr der Waffe bestimmt hast, denn schließlich sei er ein Mitglied deiner Familie. Doch nun fällt mir ein, dass sein Gewand Flecken aufwies, blutige Flecken, die ich dem Kampf in der Stadt zuschrieb.“

„Philotas hat Miron getötet und ist mit dem Speer der Athene getürmt?“ fragte Odysseus, wollte es immer noch nicht glauben.

Er rannte aus dem Zelt, stürmte am Meer entlang zu dem Uferplatz, an dem Philotas’ Schiff gelegen hatte. Die Gefährten stolperten hinter ihm her, erreichten mit ihm den Ankerplatz. Odysseus taumelte ins Wasser, in dem sich das silberne Licht des Mondes spiegelte, und nun musste er es sich eingestehen. Ihm war der Bruder genommen und der heilige Speer gestohlen worden, nicht von Trojanern, nicht von einem neidischen Fürsten, sondern vom eigenen Blut, vom Sohn des Bruders des Laertes, und dieser würde nun nach Ithaka zurückkehren und sich auf den Speer berufen und zum König aufschwingen.

Schluchzend sank Odysseus auf die Knie und das Meer umspülte seine Schenkel. Seine Tränen fielen in das Wasser vor Troja. Kurz nur gönnten ihm die Götter den Triumph, Trojas Bezwinger zu sein.

5.

WIE DIE ACHAIER ZU IHREM SCHLECHTEN RUF KAMEN.

Ich höre meinen Herrn schon wieder schreien: Kriton, ich brauche einen Wickel. Kriton, ich brauche dies und das. So geht das schon seit zwei Tagen. Ich muss Kamille suchen, ihm einen Sud machen und feuchte Tücher auf Nacken und Rücken legen. Angeblich hilft ihm das gegen seine Verspannungen. Er ist jedenfalls fest davon überzeugt. Man darf seinen Herrn nicht zu sehr verwöhnen. Ich lasse ihn stets ein wenig zappeln. Mein Gehör ist schließlich auch nicht mehr das beste.

Zurück zum Odysseus. Er hockte also dort im Meer und greinte und beklagte sein Schicksal. Gerade hatte er für den größten Sieg der Weltgeschichte gesorgt und nun war er vielleicht sogar sein Königtum los. Das muss man erst einmal. verkraften. Wie gesagt: Ohne die heilige Lanze läuft auf Ithaka gar nichts, und Philotas konnte nun mit dem rostigen Ding seinen Anspruch auf die Königswürde der Volksversammlung vortragen. Wenn er dazu noch ein bisschen Gold opferte, außerdem seine Verbindungen spielen ließ, waren seine Chancen nicht schlecht. Schließlich hatte er eine angenehme Figur und einen leutseligen Charakter. Ein großer Geistesriese brauchte man nicht zu sein, um König zu werden. Im Gegenteil. Es schadet nur. Wer will schon dauernd von seinem Weib vorgehalten bekommen: Ach, wenn du nur so klug wärst wie unser König.

Das war also die Situation. Odysseus hatte zwar genug Gold in Troja erbeutet, aber sein Königsamt würde er los sein, wenn er dem Philotas nicht den Speer abjagte. Doch was ihm nun erst einmal dazwischen kam, war die Tatsache, dass die Achaier das Maul nie voll genug bekamen. Schon von alters her gilt das Sprichwort: Achaier kommen als Händler oder als Räuber. Beides ist kein großer Unterschied.

„Ja doch, Herr, ich komme schon.“

Da seht ihr, Homer gibt einfach keine Ruhe. Ich werde nachher weitererzählen.

Odysseus kniete also im Meer und stieß einige Flüche aus, die selbst im Hades nicht gut angekommen wären und schwor dem Philotas den Tod. Nicht nur wegen des toten Bruders, sondern wegen des Raubes der Waffe und der möglichen Usurpation. Die Gefährten Achaemenides, Eurylochos, Eurybates, Perimedes, Polites und Elpenor umringten ihn, tätschelten seinen Rücken. Empedokles half ihm aus dem Wasser.

„Komm, Odysseus. Du hast schon ganz andere Dinge wieder ins Lot gebracht“, tröstete er den Listenreichen, und dieser ermannte sich.

„Gut. Wir segeln morgen im ersten Licht der Rosenfingrigen gen Ithaka.“ Klar, dass er es nun eilig hatte, möglichst noch vor Philotas auf der Insel einzutreffen.

„Er wird nicht König werden“, stimmten die Freunde kopfnickend zu.

„Niemals!“ bekräftigte Odysseus und stapfte ans Ufer, und sie machten sich auf den Weg zum Lager, um die letzten Zelte abzubrechen und um noch einige Kisten mit Gold, Pokalen, Vasen, silbernen Tellern auf die Schiffe zu schleppen.

Als sie bei den Zelten ankamen, wurde Odysseus vom kleinen Aias aufgehalten.

„He, Odysseus. Die Götter scheinen dir wegen Troja nicht gerade wohlgesinnt zu sein. Wie ich eben hörte, hat sich Philotas wohl mit deinen Schätzen verabschiedet.“

Die Schadenfreude leuchtete aus dem breiten Gesicht des Schlachterprobten. Nun muss man wissen, dass es einst noch einen anderen Aias gegeben hatte, den man zur Unterscheidung den ‚großen Aias’ nannte und der als zweiter Herakles gerühmt wurde. Der Klotz war wahnsinnig geworden, als die Volksversammlung der Griechen Odysseus die Rüstung des von Paris gemordeten Achilleus zusprach. Aus Solidarität mit seinem Namensvetter und weil sie sich wie Blutsbrüder verstanden, war der kleine Aias alles anderes als ein Freund des Odysseus. Hierin lag der Grund, warum sie im Rat ständig aneinander gerieten. Aias war selten der gleichen Meinung wie Odysseus.

„Zugegeben, im Moment habe ich ein kleines Problem. Aber die Göttin wird schon dafür sorgen, dass dies bald gelöst wird.“

Was man denkt und was man sagt, sind oft zweierlei Dinge. Natürlich hätte er antworten können, was geht dich das an, und im Übrigen, riech an meinem Hintern! Aber er konnte gerade jetzt keinen Streit gebrauchen und so verwies er darauf, dass ihm Athene schon helfen würde. Natürlich würde er sich darauf nicht verlassen.

„Mit dem Speer der Athene wird Philotas die Göttin auf seiner Seite haben“, erwiderte Aias hämisch lachend.

„Du weißt davon?“ fragte Odysseus bass erstaunt.

„Ja. Ich habe kurz bevor das Schiff ablegte, mit ihm gesprochen.“

„Was hat er dir denn erzählt?“

„Dass deine Tage als König gezählt sind und er nun nach Thrakien zu den Kikonen will, um mit dem Gold, das er hier erbeutet hat, Schiffe mit Mannschaften zu rekrutieren, die ihm helfen sollen, auf Ithaka sein Recht einzufordern.“

„Recht? Er hat weniger Recht auf mein Königtum als ein Schweinehirt!“

„Tja, da ist Philotas nun mal anderer Meinung, und die Frage ist, wie die Volksversammlung entscheiden wird, wenn er eher als du in Ithaka auftaucht und genug Männer hinter sich hat, vom Gold einmal abgesehen. Sieht schlecht für dich aus, Listenreicher, und deine Klugheit wird dir so wenig nützen wie die Rüstung des Achilleus. Das kommt davon, wenn man sich zu große Sandalen anzieht.“

„Die verdammte Rüstung geht dir nicht aus dem Kopf? Aber nicht du standest zur Wahl, sondern der große Aias. Aber die Volksversammlung entschied sich nun einmal zu meinen Gunsten.“

„Weil du sie besoffen geredet hast. Der große Aias, den ich wie einen Bruder liebte, hat mir, seinem besten Freund, das Wehrgehänge des Achilleus versprochen, aber durch dein Gequassel sind wir leer ausgegangen. Doch in Ithaka wird das Gold die Volksversammlung überreden. So ist das doch immer, wenn das Volk zu entscheiden hat. Wer am meisten verspricht, kriegt den Königsreif.“

Odysseus grunzte dazu und stapfte zu seinem Zelt. Nicht, weil er den Aias nicht gern zurechtgestoßen hätte, sondern weil ihm die Worte fehlten, was selten genug vorkam. Im Grunde gab er dem kleinen Aias recht. Es war eine Plage mit dem Volk. Dauernd musste man ihm schön tun und Annehmlichkeiten versprechen. Manchmal war er, Odysseus, der gleichen Meinung wie Agamemnon, dass man das Volk abschaffen sollte, wenn sich dies machen ließe. Aber was tat man dann ohne Volk? Wer sorgte für die Pracht der Paläste? Wer baute die zyklopischen Mauern? Wer säte und ackerte und versorgte die Paläste mit Öl?

Es blieb ihm also nichts anderes übrig als zu versuchen, dem Philotas doch noch zuvorzukommen und durch Redekunst, Versprechungen – die man nicht unbedingt einzuhalten brauchte –, durch Schmeicheleien und hier und da ein wenig Gold, vollendete Tatsachen zu schaffen. Er befahl also den Gefährten die letzten Zelte abzubrechen und die Beute endlich zu verladen.

„Noch im Morgengrauen folgen wir dem Nordwestwind. Ich werde mich nun von Agamemnon verabschieden, und das war es dann. Troja ist nun Vergangenheit“, ließ er die Gefährten wissen.

Er suchte noch einmal den großen Basileus auf, der auch gerade dabei war, seine Siebensachen – und davon hatte er reichlich – zu verpacken und auf seine Schiffe bringen zu lassen.

„Ach, da bist du ja!“ sagte er unwillig über die Störung und weil Odysseus nun gewahr wurde, wie viele erbeutete Pokale, Kandelaber, Teller, Mischkrüge, Dreifüße und Vasen in den Kisten verstaut wurden.

„Ich habe schon von deinem Pech gehört“, brummte er und richtete sich auf und setzte sich auf eine Kiste mit goldenen Mischpokalen und hieß den Listenreichen sich ihm gegenüber auf einen schönen Hocker aus dem Königspalast des Priamos zu setzen.

„Ich muss Philotas schnellstens nach.“

„Du hast selbst schuld, dass du nun in solchen Schwierigkeiten bist. Bei uns in Mykene lassen wir erst gar nicht zu, dass irgendwelche Verwandten als Usurpatoren auftreten können. Ich habe die Söhne meines Onkels kurz nach der Thronbesteigung zum Hades geschickt. Außer meiner Frau traue ich niemandem.“ Er machte eine Kreisbewegung zum Hals hin und grinste gemein.

„Tja, solch treffliche Sitten haben sich bei uns auf Ithaka leider nicht eingebürgert“, bedauerte Odysseus, der sich aber sicher war, dass sich auf Ithaka niemals solche Sitten einführen ließen. Schließlich war man auf Ithaka nicht ganz so barbarisch wie in Mykene.

„Ein Fehler! Das gehört zur Regierungskunst. Im Grunde will doch jeder König sein. Gründe dafür findet man immer. Wenn dann einer kommt und Gold und Macht hinter sich weiß und dem Volk schöntun kann, wird er es auf seine Seite ziehen, und du kannst dann vergeblich auf eine jahrhundertelange Reihe von Ahnen pochen. Es wird dir gar nichts nützen! Du musst dem Volk also etwas geben, damit du ihm alles nehmen kannst. So läuft das seit Anbeginn der Welt.“

„Tja, es ist eine böse Zeit“, wiegelte Odysseus ab, um die Worte des Basileus abzumildern. „Alle Werte sind zum Teufel gegangen. Seit die Dorer bei uns eingebrochen sind, wird es Mode, das Volk mitreden zu lassen.“

„Stimmt. Das Regieren wird immer schwieriger. Die Menschen haben keinen Respekt mehr vor Herkunft, Tradition und nicht einmal vor den Göttern. Die neumodischen Ideen bringen die ganze Welt durcheinander. Wir sind vielleicht die letzte Generation von Königen, die von Gnaden der Götter herrschen. Zukünftig werden Könige vielleicht durch die Gnade des Volkes herrschen und noch mehr nach deren Pfeife tanzen müssen. Es gibt sogar Stimmen, …“ Er machte eine Pause und senkte seine Stimme: „… die die Meinung vertreten, dass man keine Könige mehr braucht, sondern alles vom Volk bestimmt werden soll.“

„Beim Zeus, tatsächlich?“ entsetzte sich Odysseus. „Du meinst, es könnte eine Zeit kommen, wo wir nicht mehr gebraucht werden?“ fragte er irritiert.

Daran sieht man, dass Odysseus vom alten Schlag war. Trotz aller Klugheit, der Gewandtheit seines Geistes, vermochte er sich nicht vorzustellen, dass jeder Krethi und Plethi an den Regierungsgeschäften teilnehmen konnte. Er hielt sich wie all die Fürsten von Troja für einen von den Göttern eingesetzten Heldenkönig, einen Heros, zugehörig einer Elite von Halbgöttern, und war in dem Glauben, dass es immer so bleiben würde. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sich der Wind drehte.

„Nicht so bald!“ wiegelte Agamemnon ab und zog sein goldbesticktes Gewand zurecht. „Noch haben wir den Daumen drauf. Aber wie das in der Zukunft aussehen wird, wissen allein die Götter. Wie unsere Weisen sagen, geht es ja auch im Olymp heftig zur Sache, und dauernd motzt jemand gegen die Entscheidungen und den Willen des Zeus.“

„Nun, er treibt es ja auch ganz schön. Dauernd ist er in irgendwelche Weibergeschichten verwickelt“, erwiderte Odysseus mit zustimmendem Lachen. Deswegen konnte man dem alten Herrn nun wirklich nicht böse sein.

„Da ist er uns sehr ähnlich“, stimmte auch Agamemnon lachend zu. „Du bist ja auch kein Kostverächter. Nun, Helena verarge ich dir nicht, schließlich ist sie der beste Bissen auf Erden.“

„Du hast es doch von ihr gehört. Da war nichts“, widersprach Odysseus schnell. Immerhin sprach er mit dem Bruder des Menelaos.

„Ich kenne doch meine Schwägerin. Selbst mir hat sie schon schöne Augen gemacht. Es blieb ihr ja auch gar nichts anderes übrig, als so zu reden. Ich habe so getan, als wenn ich ihren Schwindeleien glaubte, weil ich keinen Ärger wollte. Und Brüderchen war froh, dass er einen Grund hatte, ihr zu glauben, und das war das Beste daran. Er wird ihr künftig hoffentlich mit einer Vielzahl von Kindern die Liebesglut austreiben.“

„Ja. Damit dürfte er voll und ganz beschäftigt sein“, gab Odysseus lachend zu. „Dann lebe wohl, Basileus, König von Mykene, Anführer der Achaier. Mögest du in Frieden die Früchte unseres Sieges genießen können.“

Sie umarmten sich beide und klopften sich tüchtig den Rücken. Sie waren zwar nie Freunde gewesen, aber nun, wo der Abschied nahte, stellten sie fest, dass sie doch vieles miteinander verband. Vielleicht kam sie die Ahnung an, dass in nächster Zeit nicht alles glatt laufen würde. Es war gut, dass sie nicht ihr Schicksal kannten, wobei Agamemnon das kürze Ende des Schicksalsfadens abbekam und ihm noch schlimmerer Verrat drohte als dem Odysseus. Denn gibt es schlimmeres als der Verrat des eigenen Weibes?

Als die rosenfingrige Eos sich über das Wasser tastete, brachen sie mit dem Morgenwind auf. Zwölf Schiffe mit schwarzen Segeln nahm Kurs Nordwest, und das Wetter war ihnen hold. Nach einigen Tagen sichteten sie die Küstenlinie von Thrakien, das Land, in dem in Urzeiten die Zentauren, die menschen–köpfigen Pferde beheimatet waren und das als Land der herrlichen Rosse galt. Es gab keine besseren Pferde für die Streitwagen der Helden. Auch Agamemnons berühmte Stuten waren thrakischer Herkunft.

So kamen sie nach Ismaros, der königlichen Stadt der Kikonen, und Odysseus ließ auf seinen Schiffen den weißen Wimpel der Händler aufziehen, um so anzuzeigen, dass man in friedlicher Absicht käme. Gleichwohl befahl er den Männern sich zu wappnen und zog den Brustpanzer des Achilleus an, auf dessen Mitte das fürchterliche Haupt der Gorgonen prunkte und legte die silbernen Beinschienen an. Auf seinem Kopf prunkte der prächtige Helm mit dem roten Rossschweif und den Wangenklappen aus Eisen. Sie fuhren in den Hafen ein, und Empedokles stieß Odysseus an.

„Siehst du dort das Schiff mit dem Dreizack des Poseidon am Bug?“

„Das Schiff des Philotas. Er ist also hier!“ erwiderte Odysseus zufrieden.

„Sollen wir gleich die Stadt stürmen? Sie haben unserem Wimpel vertraut und keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ich sehe jedenfalls keine Krieger am Kai.“

„Nein. Verhandeln wir erst einmal. Aber sag Eurylochos, dass sich alle zum Kampf bereithalten sollen.“

Am Ufer hatte sich eine Delegation versammelt. Odysseus nickte Achaemenides, Polites, Eurybates und Perimedes zu, und sie sammelten sich um den in dunkles Eisen gewandeten Odysseus, der in dem Waffenkleid des Achilleus stark, unüberwindlich und furchterregend aussah. Als die Schiffe am Kai vertaut waren, sprang Odysseus mit seinen Männern an Land und ging auf die Gruppe der Kikonen zu. Ein junger Mann trat vor, der Sohn des Königs, wie sie gleich erfuhren, begleitet von alten Männern, die dem Rat angehörten. Odysseus verbeugte sich höflich und stellte sich vor, und der junge blässliche Mann im blauen, silbern bestickten Mantel verzog erschrocken das Gesicht.

„Odysseus? Du bist tatsächlich Odysseus, der Bezwinger Trojas? Sei willkommen. Du bist nicht der erste Held, der unser Land besucht. Wenn du in friedlicher Absicht kommst, gewähren wir dir von Herzen Gastfreundschaft. Ich bin Tereus, der Sohn des Chiron, der weise über Ismaros herrscht und dem ich nachfolgen werden.“

„Ja. Wir kommen in friedlicher Absicht. Ein ehrlicher Handel zu beiderseitigem Nutzen steht uns im Sinn. Doch diesmal gilt unser Trachten nicht den berühmten Pferden, sondern jenem Schiff dort und seinem Besitzer. Er ist ein Verräter an meinem Königtum und ein Dieb. Ich bin bereit viel Gold für ihn zu geben, so dass eure Stadt reich wird, und die Götter werden es euch obendrein danken. Denn es ist weise, sich nicht mit einem Dieb gemein zu machen.“

Das Gesicht des jungen Prinzen verfinsterte sich. Auch die Weisen hinter ihm machten Gesichter, als hätten sie auf Pflaumenkerne gebissen.

„Uns geht euer Streit nichts an. Philotas hat im Tempel des Poseidon geopfert und reiche Geschenke übergeben. Wir haben ihm Gastfreundschaft gewährt. Wie es Brauch und heilige Pflicht ist, steht er nun unter dem Schutz unserer Götter. Wir können ihn dir nicht überantworten.“

„Ich weiß, dass er bei euch Schiffe und Mannschaften rekrutieren will, um auf Ithaka mit großer Macht auftreten zu können. Ich kann dies nicht zulassen. Ihr müsst euch entscheiden, ob ihr den rechtmäßigen König von Ithaka unterstützen wollt oder den Verräter Philotas, einen Mörder und Dieb“, erwiderte Odysseus ungeduldig.

„Edler Odysseus. Wir kennen deinen Ruhm und achten dich“, mischte sich einer der Alten ein, offensichtlich der Vorsteher des Königsrates, unschwer an der dicken Halskette mit dem Poseidonkopf zu erkennen. „Wir wollen keine Feindschaft mit dir. Aber Philotas hat mit uns im Tempel geopfert, und wir haben mit ihm das Brot der Gastfreundschaft gegessen. Er steht nun unter dem Schutz des Poseidon, und wir sind es ihm schuldig für ihn einzutreten. Es ist wie es ist: Philotas können wir dir nicht ausliefern, ohne Schande auf uns zu laden. Nimm Wasser und Proviant auf und segle weiter. Tragt euren Streit in eurem Land aus. Wisse, dass in den Straßen hinter dem Hafen kampferprobte Männer auf ein Zeichen warten, solltest du nicht aufhören, deine unziemlichen Forderungen zu verfolgen.“

Dies ergrimmte den Listenreichen. Zwar verstand er, dass die Kikonen die Gastfreundschaft nicht verletzen konnten, schließlich war diese auch den Achaiern heilig, aber zumindest hätten sie sich zu einem Gericht entschließen können, das die Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche klärt. Aber er merkte schon, dass mit den Kikonen nicht zu reden war. Er nickte also Achaemenides zu, und die Gefährten zogen die Schwerter und umringten die Gruppe und warfen sie zu Boden und schleppten sie auf die Schiffe. Auf ein Zeichen Odysseus’ gingen alle Mannschaften von Bord und stürmten mit ihm in die Gassen hinein. Ihnen voran Odysseus in der herrlichen Rüstung des Achilleus, in dem Waffenkleid, das einst Hephaistion, so will es die Überlieferung, auf Wunsch der silberfüßigen Thetis geschmiedet hatte.

Schon bald trafen sie auf Kikonen, die zwar gute Reiter waren, was ihnen jedoch im Straßenkampf nicht viel nützte. Es kam zu einem heftigen Kampf, der für die Kikonen sofort verlustreich war, denn diese waren nicht so kampferprobt, so todesvertraut, so mörderisch gesinnt wie die Achaier, die so lange vor Troja das Morden gelernt hatten. Zudem waren ihre Schwerter aus Bronze und nicht aus dem todesbissigen Eisen, und so rasten die Ithaker wie Schnitter durch ihre Reihen, und schon bald flüchteten diese zum Königspalast hin, und Ismaros erlitt das gleiche Schicksal wie Troja. Die Häuser und Paläste gingen in Flammen auf.

Blutbespritzt betrat der gewaltige Kämpfer den Palast des Königs. Im Megaron, der marmornen Königshalle, fand er den König, umringt von den letzten Getreuen. Odysseus verbeugte sich, ehrte das Alter und den Rang des Königs, doch beklagte er das Urteil seines Sohnes.

„Warum bringst du Unglück über dein Volk? Warum schickst du mir deinen Sohn, dem die Weisheit abgeht? Wir wollten nur Philotas und seine Männer, um über sie Gericht zu halten. Aber eure Weigerung zwang uns, dem Frieden abzuschwören und deiner Stadt Gewalt anzutun. Wenn du willst, dass ich meinen herrlichen Kämpfern, erprobt vor Troja, Einhalt gebiete, dann liefere mir den Verräter aus! Andernfalls wird das Morden nicht aufhören, und die Stadt wird in Schutt und Asche versinken.“

Chiron seufzte, und mit tränenerstickter Stimme antwortete er mühsam: „Die Ehre, das heilige Gastrecht, ließ meinen Sohn so urteilen. Wir Kikonen halten uns an die Gesetze, die uns die Götter gaben. Ihren Fluch fürchten wir, wenn wir dagegen verstoßen.“

„Sagten dir die Götter auch, dass du einem Unwürdigen, einem Mörder und Dieb, Gastfreundschaft zu gewähren hast? Heißt es nicht auch, dass man prüfen soll, wen man in seinem Haus aufnimmt?“

„Euer Streit geht uns nichts an“, keuchte Chiron.

„Hörst du nicht draußen den Schlachtenlärm, riechst du nicht den Rauch? Draußen verbrennt dein Königtum, wenn du dich weiter zu einem Verräter und Mörder bekennst. Der Streit geht dich also etwas an.“

„Selbst wenn ich das heilige Gastrecht brechen würde, könnte ich dir nicht helfen“, jammerte Chiron, rang die Hände und verkroch sich immer mehr in seinem zu großen Königsmantel, war nur noch ein verzweifelter alter Mann.

„Warum nicht? Wo versteckt sich die Ratte?“

„Er ist, als er den Kampfeslärm hörte, zu den Nachbarvölkern geflohen, um Hilfe zu holen.“

Das war nun keine gute Nachricht. Die Kikonen waren keine Krieger, sondern bekannt als gewiefte Händler und Pferdezüchter, doch ihre Nachbarn, die Thraker, galten als zähe, unerbittliche Kämpfer, die nicht so leicht zu besiegen sein würden, zumal er, Odysseus, nur fünfhundert Mann hatte und die Thraker zahlreich wie Heuschrecken waren.

„Dann hast du dir dein Schicksal selbst zuzuschreiben. Da du zu alt zum Kämpfen bist, werde ich dich hier in den Trümmern deiner Stadt zurücklassen und deinen Sohn, deine jungen Männer und Weiber als Sklaven hinwegführen.“

Odysseus war sich bewusst, dass es klüger gewesen wäre, sofort die Anker zu lichten, aber seine Männer waren nun kräftig dabei zu plündern, zu brandschatzen und die Schätze der Handelsstadt einzusammeln. Dies war hier leichter, da ihnen keine wehrhaften Trojaner entgegentraten, und der Wein tat ein Übriges. Es wurde gefeiert und vergewaltigt, wie es in allen Kriegen passiert, und man freute sich über das Glück, noch einmal, ohne mit anderen Achaiern teilen zu müssen, nach Herzenslust seine Gier befriedigen zu können.

Odysseus sah all dem mit grimmiger Miene zu, aber wenn er seine Leute bei Laune halten wollte, musste er gute Miene zum bösen Spiel machen. Zwar ermahnte er Eurylochos und die anderen Edlen, doch den Männern die Gefahr vor Augen zu halten, aber dies war in den Wind gesprochen, denn die Ithakesier hatten endlich, nach den entbehrungsreichen Jahren vor Troja, die Gelegenheit sich richtig auszutoben. So blieb Odysseus nichts anderes übrig als abzuwarten, bis die Männer des Treibens müde waren. Er kümmerte sich also darum, dass wenigstens einige von ihnen sich zur Wache einteilen ließen, organisierte die Verpflegung der Gefangenen und beschäftigte sich damit, dass bei der Verteilung der Beute kein Streit aufkam. Doch die Wut stand in sein Gesicht geschrieben, und Eurylochos hoffte, seine schlechte Laune dadurch zu vertreiben, indem er ihm die jungen Prinzessinnen zuführte. Zitternd standen die Mädchen vor ihm, und sie dauerten ihn, und er brummte:

„Was soll ich mit den Küken? Sie reizen meine Lenden nicht.“

„Recht hast du, Odysseus“, pflichtete ihm Empedokles bei. „Du, der du die Helena genossen hast, wirst kaum an diesen unerfahrenen Dingern Freude haben.“

„Aber wenigstens auf dem Sklavenmarkt würden sie einen hübschen Batzen Gold bringen. Es gibt genug lüsterne Greise, die es nach jungen Dingern verlangt“, wandte Eurylochos ein.

„Nein. Schicke sie in die Frauengemächer zurück. Wir lassen sie dem König der Kikonen. Er hat Trost nötig, da wir seinen Sohn mitnehmen. Odysseus soll man nicht nachsagen, dass er halbe Kinder in sein Bett zerrt oder auf dem Markt verhökert.“

„Seit wann bist du so empfindlich?“ murrte Eurylochos, fügte sich aber dem Listenreichen.

Odysseus hatte gerade im Schlafgemach des Königs Quartier bezogen, um ein wenig dem Orpheus zu huldigen, als Eurylochos mit einer rothaarigen Schönen zurückkam, deren Chiton aus feinem Tuch nur unvollkommen ihren herrlichen Leib verhüllte. So hoffte er den Grimm des Allgewaltigen zu besänftigen, denn groß war dessen Verärgerung über die Unvernunft der Männer, und die Edlen befürchteten, dass sich schon bald sein Zorn entladen würde.

„Das ist das Weib des Tereus. Wenn dich das rote Haar nicht schreckt, kann sie dir ein guter Zeitvertreib sein und dich auf andere Gedanken bringen.“

Die fremdartige Schönheit – ihr rotes Haar schreckte Odysseus keineswegs ab, und so winkte er sie heran, und Eurylochos verschwand grinsend und verkündete den anderen Fürsten, dass der König einstweilen anderes zu tun habe, als sich über seine Männer zu ärgern.

„Wie heißt du, meine Schöne?“ brummte der Listenreiche und zog das Weib des Tereus auf sein Lager, und dieses zeigte keinen großen Widerstand.

„Artemisia, furchterregender Odysseus“, hauchte sie, und ihr Blick wurde auch nicht ängstlich, als Odysseus ihr Brusttuch zur Seite schlug. Im Gegenteil, sie war höchst bereit, dem Helden des trojanischen Krieges, dessen Ruhm die ganze Welt besang, zu Willen zu sein.

„Was für ein Name“, brummte Odysseus, während er an ihrem Busen saugte. „Ich werde dich Artemis nennen, wie die Göttin, obwohl du eher einer rundlichen Ausgabe der Aphrodite ähnelst.“

„Was willst du mir antun?“ hauchte das Weib und streckte ihm doch eifrig die Brüste entgegen und tastete zwischen seinen Beinen nach einer anderen Waffe, und so geschah es, und Odysseus vergaß für ein paar Stunden den Ärger über seine Männer.

Als sich am nächsten Morgen die rosenfingrige Eos über die geschändete Stadt tastete, fragte sie mit kehliger, liebessatter Stimme: „Nimmst du mich mit nach Ithaka, großer Held?“

Nachdem sie sich bisher mit einem Grünschnabel hatte begnügen müssen, wusste sie nun zu schätzen, was es heißt, mit einem Mann Liebe zu machen, der von der Helena gelernt hatte.

„Wir werden sehen“, versprach er vage und kraulte sich verlegen den Nacken. Natürlich hatte er nicht vor, sich mit einer Frau zu belasten, die sich so bereitwillig vom Bett des Ehemannes auf das Lager eines Fremden ziehen ließ. Doch wie es bei Männern nun einmal üblich ist, wollte er sich nicht mit einem Streit belasten, zumal ihm nur zu sehr bewusst war, dass es hier bei den Kikonen gehörig falsch lief und er andere Sorgen hatte und nun schleunigst seine Männer zur Besinnung bringen musste.

Er rief nach Empedokles, der wie immer ganz in der Nähe vor seiner Tür geschlafen hatte. Mit einem anzüglichen Blick auf die sich rekelnde nackte Artemis sagte er grinsend:

„Ihre Schreie waren gewaltiger als der Kampfruf der Kikonen! Du scheinst eine gewaltige Schlacht hinter dir zu haben.“

„Rede nicht töricht daher. Hole die Edlen! Wir müssen unsere Männer sammeln. Spätestens morgen segeln wir weiter.“

Doch dieser Befehl kam zu spät. Noch ehe die Edlen eintrafen, stürzte Perimedes in sein Gemach.

„Thrakische Reiter sind vor der Stadt gesehen worden! Ein Heerwurm zieht heran. Vor dem Hafen versperren Schiffe den Ausgang. Wir sitzen in der Falle!“

„Ich habe es befürchtet!“ rief Odysseus und griff zur Rüstung.

„Die Edlen sollen die Männer auf die Mauern treiben. Vielleicht kapieren sie jetzt, dass es um ihr Leben geht.“

„Viel verspreche ich mir nicht von den Befestigungen. Sie sind an vielen Stellen verfallen. Die Thraker werden sie mühelos überwinden. Die Menschen von Ismaros haben nicht viel auf ihre Wehrhaftigkeit gegeben.“

Ohne an die Rothaarige noch einen Blick zu verschwenden, lief Odysseus hinaus und scheuchte mit den Edlen die Mannschaften aus ihrem trunkenen Schlaf. Nur mühsam gelang es ihm die Krieger in Position zu bringen. Er erkannte sofort, dass er nicht genug Mannschaften hatte, um die Stadt lange halten zu können. Und dann kamen sie schon auf ihren kleinen Pferden heran, grell bemalt und in goldverzierten Rüstungen. Wie Perimedes befürchtet hatte, waren die Mauern kein großes Hindernis, und schon bald waren die Thraker in die Stadt eingebrochen, und es begann ein verlustreicher Straßenkampf. Viele Ithakesier starben. Bis zum Hafen drängten sie den Feind zurück. Odysseus raste wie Ares in göttlichem Zorn und tötete viele Thraker. Überall, wo er erschien, wo die prunkende Rüstung und der rote Helmbusch des Achilleus sich zeigte, wich man ängstlich zurück. Dann sah er Philotas.

Mit einem Schrei, der so fürchterlich klang wie das Donnergrollen des Zeus, stürmte er auf den Mörder seines Bruders zu. Dieser wich in das zweite Glied zurück, und Odysseus mähte die Thraker nieder, die sich ihm entgegenstellten. Blutig war seine Rüstung, blutig sein Schild und blutig sein Antlitz. Und doch entzog sich ihm Philotas, wagte nicht den Kampf mit dem Schwerterprobten. Nun war er, Odysseus, umringt von Feinden, weil er sich in seinem Zorn zu weit von den eigenen Reihen entfernt hatte. Wie einen gestellten Eber umringten sie ihn, und doch vermochten sie nicht ihn zu erlegen. Ein Sprung, ein gewaltiger Schwerthieb, der die Kehle des feindlichen Anführers teilte, brachte ihn aus der schlimmsten Gefahr. Den Tod unablässig austeilend, gelang es ihm unter den höhnischen Rufen des Philotas wieder die eigenen Mannschaften zu erreichen.

„Was machst du nur, Odysseus“, mahnte ihn Eurylochos. „Bring dich doch nicht unnötig in Gefahr! Was wird aus uns ohne dich in Feindesland.“

Bis zum Abend währte der Kampf. Als die Dunkelheit herabsank, ebbte, wie es Sitte war, der Kampf ab. Auf beiden Seiten versorgte man die Verwundeten und schichtete die Toten zu einem Scheiterhaufen aufeinander.

„Wie viel Mann haben wir verloren?“ fragte Odysseus den kummervoll dreinblickenden Eurybates.

„Hundert Mann. Und dazu haben wir noch einmal fünfzig Schwerverletzte.“

„Schafft die Verletzten auf die Schiffe, wählt unter den Sklaven die Kräftigsten aus, damit sie unsere Gefährten an den Rudern ersetzen.“

„Was nützt es, Odysseus?“ seufzte Eurylochos. „Die Ausfahrt ist versperrt. Morgen werden wir alle sterben .“

„Es sieht böse aus“, stimmte Odysseus zu und marterte sein Gehirn, wie sie dieser Gefahr entkommen konnten.

Seine Männer stimmten um den brennenden Scheiterhaufen traurige Lieder an. Sie wussten nun, in welcher Gefahr sie sich befanden. Groß war der Sieg über Troja gewesen, herrlich die Beute in der Stadt Ismaros, aber nun stand es schlimm um ihr Schicksal.

„Hilft nichts. Lasst uns doch verhandeln“, schlug der bedächtige Perimedes vor.

„Was soll das bringen? Ihr Sieg ist nur noch eine Frage der Zeit. Sie werden darauf nicht eingehen“, wehrte Eurylochos ab.

„Odysseus ist der beste Redner der Achaier“, gab Empedokles zu bedenken.

„Schaden kann es jedenfalls nicht“, gab Odysseus zu.

So schickte er einen der Gefangenen mit einem Verhandlungs–angebot zu der anderen Seite hinüber, und bald traf man sich unter der Poseidonsäule vor der Mole. Odysseus hatte Eurylochos und Perimedes mitgenommen, und die Thraker kamen unter ihrem Anführer, einem breitschultrigen Riesen mit langem Haar, mit Philotas und Chiron, dem alten König der Kikonen.

„Du magst ein Held vor Troja gewesen sein. Aber hier werden wir dich wie eine Mücke zerquetschen!“ prahlte der Anführer, der sich Praxos nannte und eine zweischneidige Axt im Gürtel trug.

„Du wirst unsterblichen Ruhm erwerben, wenn du den Bezwinger Trojas tötest“, hetzte Philotas.

Odysseus tat, als wäre dies das Geschwätz eines unreifen Knaben. „Bedenke, dass wir viele Gefangene haben sowie den Königssohn. Wir sind bereit alle freizugeben, sie und … die Schätze, die wir bei euch erbeutet haben.“

„Das ist kein Geschäft“, erwiderte Praxos grinsend. „Die Gefangenen und die Schätze werden ohnehin morgen in unserer Gewalt sein. Wir sind zu viele für euch Achaier.“

„Du bist erledigt, Odysseus! Begreife es endlich“, kreischte Philotas. „Ich werde König auf Ithaka sein. Du wirst hier am Ende der Welt verrecken. Niemand wird erfahren, dass der große Odysseus, der Bezwinger Trojas, hier in Thrakien elend an einer Mole starb.“

„Warum hasst du mich so, Philotas?“ wandte sich Odysseus nun doch an den Mörder des Bruders. Nicht, weil er ihn für würdig hielt, sondern weil er verhindern wollte, dass dieser Praxos’ Unnachgiebigkeit bestärkte. „Wir sind Verwandte, du bist ein Laertes, Mitglied der Familie.“

„Weil du kein guter König bist! Niemals hättest du dir den Speer stehlen lassen dürfen. Schon dein Vater wurde vom Volk bedrängt abzutreten, schon mit dem war man unzufrieden. Aber du bist ein noch schlechterer König. Mich will das Volk von Ithaka. Ich bin auch ein Laertiade und jünger und von besserer Gestalt mit gefälligerem Wesen. Mich liebt das Volk!“

„Das werden wir sehen. Eines Tages werde ich dir die Rechnung präsentieren.“

Er tat so, als würden ihm die Worte des Philotas nicht viel ausmachen. Krampfhaft überlegte er, was er dem Praxos noch anbieten konnte, aber ihm fiel nichts ein, was diesen von seiner Siegeszuversicht abbringen konnte.

„Willst du, dass ich nachher deinen Sohn töte?“ wandte er sich an den alten König.

„Lade nicht diese Untat auf dich“, jammerte der Alte und knetete ängstlich die Hände. „Bruder, sollten wir nicht doch …?“ wandte er sich an Praxos.

„Nein!“ erwiderte dieser barsch. „Ich bin schon lange der Meinung, dass ich mich als dein Nachfolger besser eignen würde. Dein Sohn ist zu weich. Er kann nicht einmal sein Weib bändigen.“

„Wenn du kämpfen willst, dann soll es wohl so sein“, sagte Odysseus. „Aber viele deiner Männer werden sterben, Praxos, zu viele. Dein Volk wird es dir verargen, denn meine Männer sind die besten Krieger Hellas’, erprobt vor Troja. Viele Weiber und Kinder werden um ihren Mann oder Vater weinen. Du bringst den Kikonen Unglück.“

„Wer hätte gedacht, dass der Mann, der die Rüstung des Achilleus trägt, greint wie ein Kind. Du wirst morgen sterben, denn hier in Ismaros hilft dir keine List mehr“, versprach er siegessicher und winkte seinen Leuten zu.

Die Verhandlung war beendet. Philotas lachte meckernd dazu.

Bedrückt ging Odysseus mit den Gefährten zur Mole. Die Männer dort erkannten bereits an ihren Gesichtern das Ergebnis der Verhandlung.

„Was machen wir jetzt?“ fragte Eurymachos.

Odysseus wusste keine Antwort und zuckte mit den Schultern. Oh Athene, betete er, man rühmt mich meiner Klugheit und doch will mir nicht einfallen, wie ich uns aus dieser Falle führe. Er betete ja nicht oft, aber in dieser Situation fiel dem Listenreichen, dem König von Ithaka, auch nichts besseres ein als jedem Bettler und Bauern. Und natürlich erschien kein Gott, und auch Athene ließ sich nicht blicken. Du wirst sterben, hatte Praxos gesagt, und er sah vor seinem geistigen Auge das höhnische Grinsen des Philotas.

„So sei es denn!“ rief er seinen Männern zu. „Wir werden noch einmal ein Gefecht liefern, dass den Kämpfen von Troja gleichkommt, und so viele Feinde wie möglich in den Hades schicken.“

Aber das tröstete nicht. Das tröstete gar nicht.

„Du bist erledigt!“ hatte Philotas gerufen. „Du wirst hier am Ende der Welt verrecken!“

Odysseus. Was Homer nicht erzählte

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