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Erstes Kapitel

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1

Was Georg Pilgramer, der Enkel jenes Eroberers und Gründers, ohne den Unfall wahrscheinlich unterlassen hätte: Fremdes, nicht für ihn Bestimmtes zu lesen. Daß er es doch getan hatte, war aus Langeweile geschehen, als Folge einer ungeduldig ertragenen Genesung. Übrigens hatten weder Schelsky noch Lisa, schon gar nicht Koblenz oder sonst jemand, der dabei war, vor dem morschen Geländer im Treppenhaus gewarnt. Schelsky später: Pilgramer habe gerade Vortrag gehalten, die hundertjährigen Drechseleien an den Treppengeländern gelobt, da habe sich die Güte des Holzes als brüchig erwiesen. In Wahrheit hatte Pilgramer nicht über das Geländer gesprochen, sondern über die erhoffte Berufung in den Baustab der Semperoper. Städteplaner Schelsky glaubte jedoch nicht an den Wert der Semperoper. Er suchte Architekten für das Städtebauinstitut zu gewinnen und entwickelte Pläne für Satellitenstädte. Auch verlegte Schelsky künftige menschliche Behausungen in die Tangwälder der Meere, pries die Kühnheit der Architekten von morgen und gab sich überhaupt optimistisch. Lisa behauptete später, Pilgramer habe ihm geantwortet, Schelsky könne ja keine Stunde Autofahrt ohne Gleichgewichtsstörungen ertragen, also auch in keiner fliegenden Stadt wohnen. Etwa bei diesem Punkt des Gespräches hatte sich Pilgramer mit dem Rücken an das Geländer gelehnt, ein Zeichen von Weltfremdheit.

Später fügte sich alles zu einer Kette zusammen: der Unfall, die erzwungene Ruhe und Unruhe, Zwang, sich zu entscheiden, das Bewußtsein, die Hälfte des Lebens ohne wirkliches Ereignis gelebt zu haben. Was Wunder, daß der Enkel Rat in den Dokumenten seiner Familie suchte, den Briefen und Hinterlassenschaften des Großvaters, eines berühmten Mannes, des Vaters, eines eher berüchtigten Akteurs - alles geriet dem Enkel zur Analyse, riß ihn genaugenommen in eine Karriere, die er nicht wollte und die auch rasch endete, weil er sie nicht gewollt hatte.

«Geh diesem Rattenfänger nicht ins Netz.» Koblenz.

Aber der hatte eigentlich keinen Grund Schelsky einen Rattenfänger zu nennen, suchte er doch selbst Pilgramer einzufangen. Den Wunschtraum des Architekten Pilgramer taten jedenfalls beide mit der gleichen Geste ab, Hirngespinste.

«Eine Kirche bauen, ein Schloß, profan oder sakral; jedenfalls groß wie Michelangelo, wie Eosander», dabei blieb Pilgramer, freilich nicht ohne Ironie.

Ab jetzt interessierte sich Lisa, eilige Journalistin, die ein paar Zeilen für den Lokalteil brauchte, mehr für den Mann als für den Denkmalschützer Pilgramer.

«Warum reißen sich alle Leute um Sie, Herr Stadtarchitekt?»

«Weil ich der Größte bin, ich erkläre es Ihnen morgen Abend, wenn ich Sie abhole.»

«Wenn Sie was? Ich hab mich wohl verhört.»

Und Schelsky: «Was heißt Stadtarchitekt? Kleiner Anfänger.»

Es war nichts weiter als eine Frotzelei gewesen und der Anlaß einfach zu belanglos, drei Architekten zufällig auf einem Bau, nein, in einem alten Haus, das wiederhergestellt; werden sollte, und eine Journalistin, die zwanzig Zeilen für den Lokalteil suchte.

Auch über das Wetter konnten sich Lisa, Schelsky, Koblenz , und Pilgramer später nicht einig werden. Nach Pilgramer soll es ein heiterer Tag gewesen sein. Vorfrühlingshaftes Wetter habe die Kinder auf den Spielplatz von Monbijou gelockt. Das Bad sei noch nicht geöffnet gewesen, an den Böschungen des Spreeufers Angler, in langsamer Fahrt Schubschiffe oder bloß Zillen in Richtung Weidendammer Brücke.

Journalistin Lisa glaubte nicht, daß dieser Spreearm überhaupt befahren wurde. Pilgramer schlug vor, seine Behauptung nachzuprüfen. Die vier Schachspieler auf dem Platz Monbijou erwähnte Pilgramer ausdrücklich, das heißt, zwei Schachspieler rücken die Figuren, während die beiden anderen die Schlacht leiten, Feldherren ähnlich auf sicheren Hügeln das Offensivrisiko tragend.

Koblenz, kurz vor dem Sturz Pilgramers: «Risiko? Aber jede Menge. So was kann ich dir bieten.»

Der Sturz durch das Geländer auf die untere Treppe des Hauses in der Oranienburger Straße sah zuerst nicht schlimm aus. Pilgramer hatte sogar wieder auf den Beinen gestanden, noch ehe einer bei ihm war. Dann schwoll der Knöchel rasch an. Schelsky und auch Pilgramer hielten das für eine Verstauchung. Koblenz brachte ihn in die Unfallklinik. Schelsky fuhr mit, er fragte, ob Pilgramer Schmerzen habe. Pilgramer hatte Schmerzen, und er tat etwas Vernünftiges, er schnitt den Schuh auf; anders hätte er den Fuß nicht mehr aus dem Leder gebracht.

Nach der Operation, das Bein im Galgen, war ihm klar geworden, daß ihm eine Bedenkzeit eingeräumt wurde. In Ruhe konnte er sich entscheiden: Semperoper, Institut oder Koblenz. Das letztere Angebot schied er sofort aus, ihm fehlten Grundlagen im Industriebau. (Koblenz war im Begriff, nach Theerberg zu gehen, um ein Kraftwerk zu errichten.) Ihm fehlten aber auch Grundlagen im Städtebau, das heißt in Theorie und Planung. Freilich war es das alte Lied bei ihm, er hätte jede Arbeit angenommen, erfüllte sie nur die eine Bedingung, seine Neugier zu reizen.

Auch als er nach Hause geschickt wurde, wenig später, konnte er sich nicht entscheiden. So mochte Schelsky schon recht haben mit der Behauptung, Pilgramer sei ihm kurz nach der Operation sonderbar vorgekommen, launisch, empfindlich, in einer Krise steckend. Mit Familie habe sich Pilgramer umgeben, mit Schatten, mit dem alten Pilgramer, einem Greis, noch immer unheimlich lebendig, mit Fred Pilgramer, tot zwar, aber noch gegenwärtig.

Lisa hatte einen guten Grund, den kranken Pilgramer zu besuchen, sozusagen halbamtlich, mit Blumen immerhin und enormen Frisörkosten.

«Machen Sie das nicht gern, diesen Denkmalschutz?»

«Ich verrate Ihnen was, Lisa, ich mach alles bis zu einem gewissen Grad gern, und solange ich es gern mache, bin ich auch gut.»

«Dann sind Sie oberflächlich?»

«Nein, ich bin mit Familie geschlagen. Es ist gar nicht so einfach zu erklären. Mein Großvater war mal ein großer Architekt, mein Vater war auch so was Ähnliches. Bürgertum und stink fein und ziemlich reich. Dagegen machen Sie mal was.»

«Der alte Herr, der mich hereingelassen hat?»

«Ja genau, der Senior, ach was, die Hauptfigur, der König auf dem Schachbrett, aber der auf der Verliererseite. Dann ist noch eine Tante aus jenen glorreichen Tagen da, eine Lady Hamilton, und ein Bild von Lovis Corinth, ein Haufen Zeitungsausschnitte, eine unmögliche Villa, die Herr Hubalek gebaut hat, zu dem ich über meine Mutter in Beziehung stehe. Er war ihr erster Mann, ehe mein Vater sie heiratete, und er war Chef oder Büroleiter bei meinem Großvater, und natürlich ist er auch Architekt und ewig im Exil. Nun soll noch einer kommen und sagen die Zeit vergeht.»

Bei dem Stichwort Zeit stand Lisa auf, aber sie versprach, den Kranken wieder zu besuchen, und Pilgramer ließ sich ihre Telefonnummer aufschreiben.

Lisa, zur Rechtfertigung: «Sie müssen mir ja noch ein paar Informationen geben.»

Um also darauf zurückzukommen, ohne den Unfall hätte Pilgramer kaum gelesen, was nicht für ihn bestimmt war, den ersten Brief des alten Herrn an den Anarchisten und Architekten Hubalek zum Beispiel. (Es handelte sich um die Antwort auf einen angeblichen Glückwunsch zum 85. Geburtstag des alten Herrn, aber Hubaleks Brief ließ sich nicht finden. Das brachte Georg auf den Gedanken, der Brief existiere nicht, sei fingiert um der Antwort willen. Warum dieses Theater? Und weshalb erst jetzt, lange nach dem Geburtstag?) Während der Untätigkeit fiel dem jungen Pilgramer einfach in die Hände, was der alte Herr gesammelt, Briefe, Notizen, Zeitungsausschnitte, zunächst nicht überschaubar für Pilgramer. Fiel es ihm wirklich in die Hände, oder spielte ihm der alte Herr seine Archivreste zu?

Der alte Herr behandelte den Kranken schonend, mit hinterhältiger Milde, als habe er nur auf den Augenblick gewartet, da dem Enkel Zeit eingeräumt worden war, nachzudenken. Vielleicht so: Eine Masse Fremder, die mit Pilgramer gar nichts zu tun hatten, wollten ihm plötzlich Ratschläge erteilen.

Der alte Herr brachte dem Kranken einen Teller Suppe ins Zimmer, legte ihm Löffel und Brot zurecht, betonte die eigene Mäßigkeit. Nie habe er gierig geschlungen oder sich gemästet, sauren Unstrutwein habe er vorzugsweise getrunken; ein Stück Brot, eine Schnitte Schinken und ein Apfel, das habe ihm meist genügt. So bewahre man sich ein langes Leben, dabei werde man nicht krank. Man stürze auch nicht auf der eigenen Baustelle, wenn man sie schon betrat, was gar nicht nötig.

Der Enkel schluckte alles, die Suppe und die Hinweise auf gesunde Lebensführung.

Der alte Herr trug eine knapp sitzende Hose, bei Jugendmode gekauft, leichte Stoffschuhe und einen Pullover.

«Hat sich eigentlich Herr Hubalek mal gemeldet?»

«Vor längerer Zeit», der alte Herr wollte sich nicht recht erinnern, schützte sein biblisches Alter vor, «kann man noch schreiben mit solchen Händen?»

Aber die Hände des alten Herrn zitterten nicht, der Brief an Hubalek, mochte er nun abgeschickt worden sein oder nicht, zeigte ruhige schnell geschriebene Buchstaben, und der Text zeugte von einem klar und sicher arbeitenden Geist.

«Soll ich nachhelfen», der junge Pilgramer beschloß, den alten Herrn zu stellen, und zitierte aus dem Brief neben dem Teller Suppe: «Ihren Glückwunsch zu meinem Fünfundachtzigsten hat mir Lab», Spitzname Georgs, nur in der Familie gebraucht, «mahnend auf den Tisch gelegt. Obgleich ich Ihren Brief von damals nicht beantwortet habe, aus Vergeßlichkeit», als ob der alte Herr vergeßlich gewesen wäre, «aus anderen Gründen, über die ich mich nicht näher auslassen will, danke ich Ihnen für die Aufmerksamkeit. Mir fällt eine Stelle bei Swift ein, wo dem Reisenden die ganz Alten vorgeführt werden, die nicht sterben können. Töricht ist es, die zu loben, die intensiv, aber kurz gelebt haben; ich ziehe es vor, intensiv und lange zu leben, aus dem einen Grunde, weil das Leben nicht wiederholbar ist. Fred ist gestorben, mein herrlicher Sohn, mit neunundfünfzig, Sie erinnern sich, er war ein Desperado und ein Spieler, ein konsequenter, also erfolgloser Spieler!»

Ironisch blickte der Enkel den alten Herrn an. Der saß still, den Römerkopf etwas gesenkt, auf den hageren Wangen die Bartspitzen, wie Kristallsplitter, der starke weiße Schnurrbart. Noch gaben die Zähne der unteren Gesichtspartie genügend Festigkeit. Das Haar trug der Senior dicht am Kopf gestutzt und nach vorn gekämmt.

«Das soll ich geschrieben haben?»

«Wer sonst?» Georg Pilgramer begann sich zu ärgern. «Das ist ja noch nicht alles. Ich zitiere: Gemalt hat Fred und sogar vier Bilder in der Akademie ausgestellt, als die Herren den entzückenden Einfall hatten, ihre dilettierenden Mitglieder öffentlich bloßzustellen. Die bekannten Schacheröffnungen hat Fred um eine Finesse bereichert, die heute unter der pompösen Bezeichnung Skandinavisch-Pilgramer in jedem Lehrbuch über Schachtheorie steht, sofern es mehr als drei Bände umfaßt. Ein Ärzteorchester hat Fred geleitet, Söldner war er, Militärjurist, Lehrer für Handelsrecht, Bauunternehmer und zuletzt wohl auch Architekt. Für die Fehler wie für die Vorzüge meines Sohnes bin ich nie blind gewesen, er besaß die Intelligenz und Rücksichtslosigkeit eines Straßenräubers.»

Hier korrigierte der alte Herr: «Dein Vater besaß nur eine sehr mäßige Intelligenz. Das war aber nicht der Grund, weshalb er scheiterte, Dumme oder Beschränkte sind zum Erfolg geboren. Es waren die Zeiten, Dein Vater mußte sich zu oft umstellen. Du kennst diese Zeiten nicht, du kennst auch die davorliegende Zeit nicht, die trügerische Ruhe des Kaiserreiches. Unter einem Zero wiegt man sich immer in Sicherheit, die dann von dem darauffolgenden Nero beendet wird. Eine Null hat entweder zu bleiben oder gar nicht erst zu kommen; ich weiß, die Römer bezogen diese Bemerkung auf Papst Sixtus, der alles andere als eine Null war, aber du siehst, auch umgekehrt wird daraus eine Art Wahrheit. - Nein, ich vermisse die leichtblütige Faulheit Freds, seine Fähigkeit, uns zu unterhalten oder in Atem zu halten. Daß er kalt war wie eine Kobra und ebenso gefährlich, steht auf einem anderen Blatt. Er hat jedenfalls glauben machen können, wer weiß wie nützlich zu sein; mit dieser Eigenschaft kann man bis heute überall Ministerpräsident werden. Mit dem gesunden Menschenverstand ist es ja im ganzen genommen nicht weit her.»

Der alte Herr war katholisch, nicht frömmelnd, er ging zwar in die Kirche, gab vor, an Stellvertretung und Sakramente zu glauben, beichtete sogar, vertraute auch der Macht uralter Tradition, aber sein Katholizismus war auf die Form gerichtet und weniger auf den Mythos.

«Du hast dieses leichte Blut geerbt», schloß der alte Herr, «auch wenn du es nicht wahrhaben willst.»

Pilgramer stutzte, vielleicht hatte der alte Herr recht, und er fand es erstaunlich, daß sein Großvater so stark in der Erinnerung an den Sohn lebte, dem er doch ein zwiespältiges Zeugnis ausstellte. Vielleicht sollte er, der Enkel, der Empfänger all dieser Botschaften sein.

«Leichtes Blut ist vielleicht untertrieben», sagte der Enkel, der die Bemerkungen seines Großvaters mindestens für nachdenkenswert hielt. Hubalek, der angebliche Empfänger dieser Nachrichten, saß in Edinburgh, atmete schottische Luft, und Georg wußte, daß der alte Herr die Flucht Hubaleks nie gutgeheißen hatte. Hubalek hätte bleiben sollen, nicht aus Räson, sondern aus Neugier, wie viel ein Mensch ertragen kann, darin wenigstens stimmte der Enkel mit dem Großvater überein.

Hubalek war auf vielfache Weise mit der Familie verbunden, und so durfte der alte Herr wohl schreiben, Hubalek würde Elfie nicht wiedererkennen, würde auf der Straße an ihr vorbeigehen, ohne sie zu grüßen. Dick, alt und sehr moralisch sei sie geworden. Um so schlimmer, daß sie alle drei in dieser Neubauwohnung leben mußten, die sie dem tragischen Umstand verdankten, daß sich Frau Hubalek, damals schon Frau Pilgramer, in Mahlsdorf erhängt hatte.

Mehr schrieb der alte Herr nicht dazu, nichts Bedauerndes, nichts Freundliches, er stellte einfach fest.

«Nenn es anders als leichtes Blut», nahm der alte Herr den Faden wieder auf, «aber dann frage dich zuerst, was die Leute an dir finden, weshalb sie kommen, um dich zu sich herüberzuziehen. Was hast du bisher gebaut? Nichts. Wenigstens nichts von Bedeutung. Da ist Schelsky, vom Wahn der Aktion befangen», der alte Herr las ziemlich aufmerksam, was die jüngere Germanistik an Faust entdeckte. «Koblenz, vielleicht etwas mehr als ein Dramatiker, braucht dich. Solange ich dich kenne, bist du der Mittelpunkt deines Freundeskreises gewesen, einfach wegen deines Erbes, um nichts eigentlich. Du taugst zum Anführer einer Bande Mitläufer, genau wie dein Vater.

Pilgramer bewegte das Gipsbein, nicht gerade entzückt davon, so unverblümt die Wahrheit gesagt zu bekommen. Er lenkte zurück ins Sachliche, übrigens wirklich neugierig auf die Antwort des Großvaters.

«Was würdest du an meiner Stelle tun, zu Koblenz gehen oder zu Schelsky?»

«Architektur ist eine verflucht langlebige Sache», sagte der alte Herr vorsichtig, «wenn dem Architekten längst fremd geworden ist, was er erdacht und gebaut hat, so stehen die Zeugen seiner begrenzten Einsicht noch immer. Übrigens, die Frage, wer denn nun das siebentorige Theben erbaut hat, ist absolut rhetorisch. Bau ist immer. Gewerkeleistung, und der Name bezeichnet einfach die Epoche oder den, der über die Mittel disponieren konnte, der König, der Präsident, der Führer, das Volk - hier ist mir sogar eine absteigende Reihe geglückt. Diese ganze Dialektik ist mir zu dürftig, und daß sich deine Generation aufgerufen fühlt, die Frage zu beantworten, die ein Theatermann aufgeworfen hat, um einer·effektvollen Antwort willen, ist noch trauriger.

Hier wollte Pilgramer eingreifen, er glaubte es sich schuldig zu sein, endlich einzugreifen. Der alte Herr fuhr jedoch fort zu reden.

«Städtebau, doch Wohnungsbau, oder? Wir haben damals die Mansarde geschaffen, den Hinterhof, ach was, die Reihe von Hinterhöfen. Wir haben das Menschenvieh kreuz und quer gestapelt, ein Termitenstaat sozusagen», er lachte jedoch nicht, «und dann kam Hubalek mit den Bauhäuslern, den Tollhäuslern. Alle, die nach staatlicher Regulierung schrien, haben ja nun die Quittung bekommen. Man kann endlich sehen, was staatliches Bauen kostet und wie das Produkt aussieht, nicht besser, nicht schöner. Jemand hat zwei Kühe, die Regierung erschießt die eine, läßt die andere melken und vergießt die Milch, eine Hemingway zugeschriebene Bosheit.»

Pilgramer wäre nicht der Sproß dieser Familie gewesen; hätte er jetzt nicht gelacht, innerlich zugestimmt, die gedrechselte Sentenz über die schlichte Wahrheit gestellt.

«Ich habe alle Torheiten miterlebt, die eine Regierung machen kann, richtiger, die sie nicht unterlassen kann.»

Was in dem alten Herrn vorging, hätte Pilgramer gern gewußt, einem einst erfolgreichen, jetzt längst vergessenen Architekten, dem es vergönnt gewesen, eine Epoche mitzugestalten.

«Als ich hier ankam, schrie alles nach Wohnungen, Wohnungen sind ja immer knapp, wir haben gebaut auf Teufel komm raus, den alten Osten, alles freie Terrain bebaut. Die neue Epoche zog herauf. Als der Kaiser gegangen war, begann die Ideologisierung des Bauens, Sozialprogramme kamen, es hatte schon seinen Grund, weshalb ich nicht mehr gebaut habe nach 1925 oder nur wenig. Dann diese babylonische Glasur, der Moskauer Zuckerbäckerstil mit der preußischen Komponente zu kleinen Fenstern, was angeblich klassizistisch sein sollte. Darüber ging der Bauhäusler Hubalek zugrunde. Es ist in der Tat leichter, eine Serie Raumschiffe zu bauen, als ein Land mit Wohnungen zu versorgen, das halte ich prinzipiell für unlösbar. Zweifellos werden wir eher außerirdische Kolonien besitzen. Das ist nicht etwa ein Witz, sondern meine wohlbegründete Meinung. Jedenfalls ist vollbracht, was wir damals nur eingeleitet haben, es wird nicht mehr gebaut, sondern montiert. In solch einem Haus wohnen wir jetzt, in einer Konstruktion von Hygienekäfigen für Menschenaffen, die Bauhauskathedrale des Sozialismus ist eine Brutstätte für Neurosen. Das ist der Endpunkt dieser Entwicklung.»

«Jetzt bin ich, genauso schlau wie vorher», erklärte der Enkel.

«Ich bin damals in der Industrie was geworden», sagte der alte Herr, sich erhebend, «das heißt nicht, du sollst es ebenso machen. Es fragt sich, was du überhaupt willst. Ich habe den Eindruck, du hast gar kein Ziel. Ich hatte eins, ich wollte reich werden, schnell reich werden. Das ist für dich wohl zu gering.»

Pilgramer hob die Schultern. Er warf noch einen Blick auf den Brief und bot an: «Soll ich dir den Schluß vorlesen?»

Der alte Herr nickte gutmütig, und der Enkel las: «Sie haben mir empfohlen, mich über die Beschwernisse des Alters hinwegzusetzen, indem ich aufschreibe, was mir in einem halben Jahrhundert widerfahren ist. Zuerst hat mir der Gedanke zugesagt, obwohl ich nicht die geringste Langeweile verspüre. Weiter darüber nachdenkend bin ich aber zu dem Schluß gekommen, es lohnt nicht, Rückschau auf ein lächerliches Spektakel zu halten. Wir, die Erbauer von einst, die betrogenen Betrüger, können wohl nichts mehr mitteilen. Es ist schon so, wenn die abtretende Generation rein gar nichts mehr zu sagen hat, schreibt sie Memoiren. Sollte ich mich doch aufraffen, dann nicht um Lebenserfahrung weiterzureichen, sondern aus einem edleren Grund: um meinen Enkel zu ärgern, dessen Perspektivbewußtsein mir auf die Nerven geht.»

Hier folgte Pilgramer nicht mehr, er regte sich auf, überschüttete den alten Herrn mit Vorwürfen. Der verteidigte sich damit, er sei ein einsamer alter Mann geworden, der sich sehr unterscheide von dem kräftigen jungen Kerl von einst.

«Kannst du dir das vorstellen? Berlin um die Jahrhundertwende? Wenn man zum Frankfurter Tor reinkommt, gelaufen natürlich, was sind wir früher gelaufen, rechts das alte Biesdorfer Schloß, Entbindungsanstalt für kaiserliche Kurtisanen, heute vom Sirenengesang der Fabrikmädels erfüllt, kannst du dir das noch vorstellen, eine Stadt in der Frühsonne, im Gespinst der Verheißung?»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», erwiderte Pilgramer erschöpft.

2

Lab will sich einmischen, er hat ein Recht darauf. Über seinem Schreibtisch hängt ein Bild des alten Pilgramer aus der Zeit, die in dem Brief heraufbeschworen werden soll, nicht für Hubalek, sondern für Lab, ein Bild von Lovis Corinth, auf Veranlassung Hubaleks gemalt, wenige Jahre also vor dem Tode des berühmten Malers. Das Bild hatte einen beträchtlichen Wert. Lab sieht schon die Zeitungen. Lisa könnte die Meldung geschrieben haben, eigener Bericht, unbekanntes Bild Corinths entdeckt, aber Lab denkt nicht daran, das Bild preiszugeben, er will es nicht verkaufen, abgesehen davon, daß ihm das Bild gar nicht gehört, sondern dem Großvater.

Das Bild, Berlin vom Osten aus gesehen, zu früher Stunde, schattenlos, zart grau, eine lange mild gezackte Linie, die sich im Dunst verliert, jedenfalls eine große Stadt, eine reiche Stadt, eine Metropole wie London, Paris, Wien, Rom, in Berlin, sachta, isset schön, sachta. Im Hinterland, in Alt-, Mittel- und Neumark, in der Prignitz und in Pommern und weiter gegriffen, in Schlesien und Ostpreußen macht Berlin von sich reden. Zwar sehen die berühmten alten Städte auf Berlin herab, die Zentrale eines Militärstaates mit einer Provinz als, Verpflegungsdepot nach Fontane, zwar verließen noch gestern die Leute das Land Preußen, wenn sie konnten, mit einem Fluch und einem Steinwurf, kaum hundert Jahre ist das her, und was sind hundert Jahre für eine Stadt? Berlin, ein Kaff, ohne Kultur, ohne Ausstrahlung, ohne Wirtschaftsleben. Es hielt sich kein Lessing, kein Voltaire. Schlüter, Schinkel und Eosander zusammen ergaben noch keinen Michelangelo, nicht mal einen Knobelsdorff, weshalb also strebt das Volk nach Berlin?

Lab sieht, im Vordergrund des unbekannten Bildes von Lovis Corinth steht Pilgramer, Labs Großvater, trägt einen schwarzen Schlapphut, einen Kalabreser, ein Cape aus schwarzem weichem Stoff. Gepäck hat ihm der Maler Corinth nicht gegeben, ausgenommen eine Tasche aus grauem Zeug. Unter dem Hut ist wenig vom Gesicht zu erkennen, wenig, aber genug, knöchern Nase und Kinn, die Wangen sind eingefallen, die Haut gelbbraun. So hat ihn Corinth gesehen, nicht als blutenden, nackten Samson, sondern als harmlos unpolitischen Wanderer.

Lab denkt, auf der Höhe der «Märkischen Wachsschmelze» hat sich Pilgramer vielleicht gesetzt, ein gefällter Baum mag dort gelegen haben, eine dünne schwarze Zigarre hat Pilgramer seinem Etui entnommen, angezündet, und rauchend mag er geträumt haben. Dort liegt die Stadt, das Ziel, liegen Reichtum und Glück. Der Baumeister und Architekt, so wird er sich später nennen, Wilhelm Pilgramer aus Logau, gerade zwanzig, ledig, flüssig durch eine kleine vorweggenommene Erbschaft, will sich in Berlin niederlassen, um Karriere zu machen. Er will ein Schlüter oder ein Schinkel werden. Es wird alles ganz anders kommen. Die Augen Pilgramers haben die Stadt vielleicht wachsen sehen, über die mild zarte Silhouette hinaus, eine Traumstadt, die seinen, Pilgramers, Stempel trägt. Es kam anders, aber doch so ähnlich, zuletzt wehten die schwarzen Banner des Untergangs über Pilgramers Werk, vergessen ist, was immerhin unter Mühen errichtet, so schlecht es gewesen.

Von Wahrnehmbarem ging der Maler Lovis Corinth aus, beauftragt von dem Architekten Hubalek, ein Bild des alten Pilgramer zu malen, eines das bleiben sollte.

In Bildern besteht der Schatz unseres Glücks, in den leuchtenden Bildern des Scheins. Weshalb hat der Schein solche Macht über uns? Weil ihm Zweideutiges·anhaftet, weil der Zauber der Verführung zum Träumen vom Schein ausgeht. Wir existieren stärker in der Ferne zur Wirklichkeit als in dieser selbst, und wir sehen die Welt stets im Bild der Welt, unser Handeln ist durchherrscht von Bildern, notiert Lab.

Und mischt sich ein. 1902 sah der alte Herr Pilgramer so aus, wie ihn der Maler Lovis Corinth gesehen haben will? Pilgramer nahm das Bild an, wahrscheinlich gefiel ihm das Zwielichtige darin. Es entsprach seiner Neigung, sich zu verkleiden, hier spielte er den kalabresischen Briganten. Auf die Rückseite des Bildes schrieb er: P., aus Italien kommend.

Aus Italien kam Pilgramer nicht unmittelbar, weiß Lab. Zumindest war er vorher in Logau, beriet mit seinem Vater, was er tun sollte. Palazzi bauen wollte er, statt dessen baute er Wohnungen, wurde Bauherr, Bauleiter, Mieter, Vermieter, alles gegen seinen Willen. Gefragt war die Mietskaserne, nicht das Palais.

Lab, den Faden weiterspinnend, sieht, wie Pilgramer die Zigarre fortwirft, sich erhebt und in die Stadt hineingeht. Die Straße steigt leicht an,- der Lichtenberg ist noch so gut wie unbebaut -, senkt sich wieder ab. Pilgramer geht an Baustellen vorbei, die ihn unberührt lassen. Fuhrwerke rollen auf der breiten Straße, Pilgramer hätte auch von Westen oder Süden in die Stadt einziehen können, überall würde sich ihm ein ähnliches Bild geboten haben. Was weiter? Straßburger. Lab kennt den alten Straßburger nicht mehr, aber draußen in Mahlsdorf in der Villa, eine der Sünden Hubaleks, liegt ein Schriftwechsel zwischen dem alten Pilgramer und Straßburger, vergilbt und vergessen, nicht von Lab vergessen. Straßburger schreibt, Pilgramer möge bedenken, was er ihm verdanke, bittet um Hilfe, und Pilgramer antwortet förmlich: Bezug nehmend auf Ihr Schreiben vom, und er könne wenig tun, kämpfe selber mit Schwierigkeiten ... In einem anderen Brief an den Emigranten Hubalek: Sehe ich mich gezwungen, aufgrund Ihrer Handlungsweise die Beziehungen zwischen uns zu lösen ...

Pilgramer mag bis zum Alexanderplatz gekommen sein, denkt Lab, vielleicht wird er sich den Rest des Weges geschenkt haben, erkennend, daß die Straße, die er seit Stunden gegangen ist, ohne Unterbrechung ins Zentrum führt, eine wichtige Ausfallstraße, die wichtigste in Richtung Osten. Er nimmt eine Pferdedroschke oder ein Mietauto, falls es das 1902 schon gab, wahrscheinlich die Pferdedroschke. Der Kutscher mustert den Mann, der aussieht wie einer der wandernden Italiener mit ihren Gipsifigüri, den kleinen Statuetten aus Alabastergips, schönes und schlechtes Wetter anzeigend, weißer Kitsch. Die Kutsche rollt über den Alexanderplatz, die Königstraße, rollt über die Schloßbrücke, vorbei am Neptunbrunnen, damals direkt vor dem Schloß, schwenkt ein in die Friedrichstraße. Damit hätte Pilgramer gesehen, was Berlin an Architektur zu bieten hat, abgesehen von dem Rest Linden und dem Pariser Platz. Pilgramer ist auf den bevorstehenden Antrittsbesuch bei Straßburger eingestellt. Er entlohnt den Kutscher und steht vor dem Haus in der Oranienburger Straße, das ist Stadtkern, Alexanderplatz ist nicht weit, Monbijou. Neu sind die Häuser nicht, niedrig sind sie auch.

Es ist das gleiche Haus, in dem sich Lab vor ein paar Tagen den Knöchel brach, einen komplizierten Bruch zog er sich zu, er kann nicht gehen, nicht Auto fahren, nicht arbeiten, liegt zu Hause, das heißt, er liegt nicht mehr, er sitzt an seinem Arbeitstisch und blättert in einem Album. Ein Foto aus jenen Jahren findet sich, würde Lab keins gefunden haben, hätte er es sich gedacht, Straßburger in einem der Zimmer, Pilgramer am Tisch sitzend, und eine ältere Frau. Regale ziehen sich längs der Wände hin, vollgestopft mit Büchern, Papierrollen, Bauplänen wahrscheinlich. Wo an den Wänden ein freier Platz ist, hängt ein Ölbild oder ein Stich, gerahmt, bunt durcheinander, ein Porträt von Liebermann, daneben eine Aquatinta nach Canaletto. In der Mitte des Raumes, an das hohe schmale Fenster gerückt, der Schreibtisch, eine lange Holzplatte, auf zwei Böcke gelegt, dient als Ablage für Zeichnungen, der Fußboden Parkett.

Lab denkt, es wird so gewesen sein, Pilgramer läutet, die Frau auf dem Bild, eine Schlampe mit wabbligem Busen, steht in der Tür, fragt wer Pilgramer sei, was er wünsche. Pilgramer wird gesagt haben, wer er ist, und in das Zimmer geführt worden sein, in dem später die Aufnahme gemacht wurde.

Komm Se man, sagt das Weib, Se wer’n schon erwartet. Sie schlurft voran durch winklige, kurze Korridore, gefolgt von dem schüchternen jungen Pilgramer, stößt eine Tür auf, schiebt den Gast hinein. Det issa, Herr Rat.

Is jut. Straßburger wird das Zimmer beherrscht haben, Straßburger, vielleicht fünfzig, vielleicht älter, trägt eine schwarze Hose, über dem Bauch offen, schwarze Lackschuhe, als wolle er zu einem Ball, aber er trägt keinen Frack, sondern nur ein Hemd und darüber eine kurze Hausjacke aus dunkelgrünem Samt. Straßburgers Augen hinter dem zitternden Pincenez an langer dünner Schnur sind wässrig, die Lider zucken vor Übermüdung. Lidsäcke hängen unter den Augen, schlaff sind die Wangen von Krankheit oder Genuß, blau geädert die Hände, gealtert, Sklerose verratend.

Er habe Pilgramer früher erwartet, sagt Straßburger, mit raschem Blick die Gestalt vor sich erfassend, das Aufgeblasene, Lächerliche, das also ist Pilgramer, Maurer gelernt im väterlichen Betrieb, solider Betrieb, Handwerk, Gewerbeschule hinter sich, in München studiert. So etwa, an Kindern und Enkeln soll sich erfüllen, was einem selber versagt blieb. Und ganz zum Schluß ermöglichte der Alte dem Sohn ein Jahr Italien, etwas verspätete Italomanie, Italien ist längst vorbei, aber Logau ist schließlich Provinz. Da kommt alles ein halbes oder ein ganzes Jahrhundert später an.

Der Vater Pilgramers, sagt Straßburger, habe geschrieben, den ehemaligen Kollegen um Hilfe für den Sohn ersucht. Wo hat er den Brief? Straßburger sucht auf dem Tisch herum, findet den Brief nicht, gibt das Suchen auf und lächelt, da sei Pilgramer, was hat er vor?

Pilgramer, verwundert vielleicht über das Rastlose, die Hast, wie er meint, verärgert über den gleichgültigen Empfang, er kommt von einer Bildungsreise immerhin, hätte gegebenenfalls viel zu erzählen, wenn er nur gefragt würde, nimmt den Hut herunter. Was Straßburger rate? Wo und wie beginnen?

Straßburger wird nicht sofort geantwortet haben angesichts dieser Einfalt, er hat ja nicht auf Pilgramer gewartet, er hat ihn erwartet, vielleicht auch gehofft, er käme nicht, aber da steht er und fragt direkt, was er tun soll. Straßburger nötigt also den jungen Menschen, Cape und Tasche abzulegen, sich zu setzen, zwei Stühle sind da, unbequeme Stühle, die auffordern sich kurz zu fassen.

Ob Pilgramer Phantasie habe, fragt Straßburger rasch, ob er sich vorstellen könne, wie es aussähe, wenn täglich zweitausend Menschen kämen, täglich, ein dauernder, ununterbrochener Zuzug aus den Provinzen. Da säßen sie auf ihren Körben und Kisten, mit Sack und Pack gekommen, das letzte Geld für die Fahrkarte ausgegeben, auf irgendein vages Versprechen hin gekommen, einem Schlepper in die Hände gefallen. Gott wisse, wo diese Menschen alle bleiben. Eine Ware, eine ausgebreitete Haut, auf der Parasiten nisteten. Jetzt zum Beispiel stecke man in der Baukrise, allgemein in der Krise, im Grunde genommen stecke man überhaupt in einer ausweglosen Lage. Diese Leute würden das Faß einmal zum Überlaufen bringen, Rekruten für die Bebelpartei. Wenn man ihnen helfen und sich selbst helfen wolle, müsse man schnell billige Wohnungen bauen. Selbst die Bürokratie sehe in diesem Fall durch die Finger. Das etwa die Richtung, in der sich ein junger Mann zu entwickeln habe, solle etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt werden.

Lab denkt, Pilgramer wird den Rat beobachtet haben, in dessen Gestalt etwas Bewegung gekommen ist, Teilnahme, und dann mag Pilgramer seine Tasche geöffnet haben, mag die Früchte seines Italienaufenthalts ausgebreitet haben, mit spitzer Feder ausgeführte Zeichnungen berühmter Bauwerke, nach der Natur angefertigt oder nach Stichen kopiert. Kuppelhallen, Säulen, Arkaden, Höfe, Springbrunnen, nicht zu vergessen die Zypressen. Schön wird Straßburger geantwortet haben, sehr schön, nicht ohne Ironie über die Gutgläubigkeit und Unwissenheit; Palazzi solle er ja aber nicht bauen, woher die Mäzene nehmen? Man gebe uns Mäzene, wolle man Vergile haben. Das sei von Martial. Pilgramer hat sicherlich viel gelernt, wenig Brauchbares, wie man überhaupt wenig Brauchbares außerhalb der Praxis lernen kann. Aber Straßburger schlug vielleicht vor: Jetzt frühstücken Sie mit mir.

Beim Frühstück, bei weichen Eiern und weichen Semmeln, Mokka, Sahne, Konfitüre, Honig - gegessen wurde wahrscheinlich in der Küche, jenem dunklen, zum Lichtschacht liegenden Raum, das schlampige Weib mag sie bedient oder mit am Tisch gesessen haben -, hat sich das Gespräch den praktischen Fragen zugewendet.

Ob Pilgramer liquide, flüssig sei. Pilgramer erwähnt die kleine Erbschaft, will die Summe nicht nennen im Beisein der Dienstbotin, erwähnt allenfalls, daß er sich mit dieser Summe über Wasser zu halten gedenke, bis die Aufträge hereinkämen, da hoffe er auf die Unterstützung Straßburgers.

Reden Sie ruhig, sagt der, in dieser Küche wurden schon andere Maleschen gemacht.

Pilgramer also nennt die Summe, sie erscheint ihm jetzt klein, aber Straßburger läßt weder Zustimmung noch Ablehnung hören. Erst nach einer langen Pause, nachdenkend, erklärt er, er wisse was Pilgramer denke, da komme er und bringe eine Masse ungereimter Vorstellungen mit, als Architekt wolle er sich niederlassen, mit den paar Mark hoffe er reich und berühmt zu werden, und weiter denke er, nach ein paar Jahrzehnten würden sich die Mühen und die Entbehrungen gelohnt haben. So könne es sein, so müsse es aber nicht sein, und in den meisten Fällen gehe es böse aus, ende mit Katzenjammer und Schlimmerem. Was er glaube, wie viel Leute herkämen? Pilgramer müsse sich anders etablieren, er müsse Grundbesitzer werden, schwer arbeiten werde er müssen, aber im Ganzen sei es ein sicherer Weg zum Erfolg. Die große Hausse wäre zwar vorbei, aber es reiche schon noch für Pilgramer und seinesgleichen. Er, Straßburger, werde sich umtun, als alter Freund des Herrn Vater, Grundstücke suchen, es irgendwie deichseln, statt all der Palazzi hatte Pilgramer Wolkenkratzer in Amerika zeichnen sollen, da läge die Zukunft. Straßburger könne beispielsweise selbst jetzt in der Krise gar nicht alle Aufträge vergeben, die ihm von der Industrie zugespielt würden, ganz einfach, es fehle an Fachleuten. Pilgramer müsse also Bauunternehmer werden, auch wenn ihm dieser Weg nicht gefalle.

Sachverständig mag das schlampige Weib genickt haben, und Pilgramer wundert sich über Straßburger, über die offene Sprache im Beisein der Aufwartung.

Fürs Erste sehen Sie sich ein bißchen in Berlin um, sagt Straßburger, während ich für Sie denke. In Berlin wird man schneller heimisch, als einem lieb ist.

Wat Sie nich saren, meint das Weib.

Straßburger wird erläutert haben, ohne sich stören zu lassen, da wäre der nationale Laden, sollte ihn wundern, wenn Pilgramer darauf nicht hereinfalle, auf den Heldenkaiser und seine kriegerischen Ambitionen, dann käme der liberale Laden, die Trödelbude, schließlich der rote Laden, das erwähnte Pulverfaß.

Sie, Herr Rat, kenn unsern Laden doch jarnich.

Er glaube nicht an das demokratische Schwänzchen, nicht nur gegen Demokraten würden nur Soldaten helfen, mehr noch gegen Sozialdemokraten, würde man ihnen nicht endlich das Wasser abgraben.

Wat glooben Sie überhaupt?

Und dann sprunghaft, beinahe wird Pilgramer die Art schon vertraut gewesen sein, wo er wohne? Nirgendwo? Er könne einstweilen hier wohnen, da habe ihn Straßburger immer parat, und Frau Hoffmann könne sich um ihn kümmern, das andere finde er reichlich in der nahen Friedrichstraße.

3

Pilgramer, ohne Verbände, bloß noch mit einem Stock als Gehhilfe, in der Oranienburger. Ohne Lisa, mit Schelsky und Kant, einem Stukkateur, suchte nach Wertvollem, er baute die Kamera auf und machte eine Reihe von Aufnahmen. Über der Fassade lag der blasse Schein einer verschleierten Sonne, richtiges Licht für Fotoaufnahmen also. Denkmalpfleger, Architekten, Stukkateure suchten den Stuck zu retten. An der alten bröckligen Fassade hingen breite Flatschen herab; Rosetten, Girlanden, Schnörkel lösten sich unter den Fenstern. Schelsky, zurzeit ebenfalls noch denkmalpflegender Architekt, bemerkte, die Sanierung, die Wiederherstellung, würden eine Masse Geld kosten, und Pilgramer verkniff sich eine gepfefferte Antwort. Er nahm weiter Maß, machte weiter Aufnahmen, um sie später auszuwerten, mit alten Entwürfen zu vergleichen, beflügelt von dem Ehrgeiz, Stilechtes zu bauen. Aber Schelsky hielt ihm entgegen, von Stil sei keine Spur zu entdecken.

Ein Geometer werkelte mit seinen Gehilfen herum, hieß sie die Meßlatte bald hier, bald dort versetzen. Pilgramer sagte, jetzt werde hier ein Zeitalter vermessen, hier ungefähr mochte die Kutsche gehalten haben, jetzt Einbahnstraße, noch weiter eingeschränkt durch die Straßenbahn. Schelsky antwortete, er verstehe ihn nicht. Dann wiederholte er, daß er zum Jahresende ausscheide, in das Institut wechsele, er lade alle ein, ihm zu folgen, eine vernünftige, zukunftssichere Aufgabe zu übernehmen. Pilgramer würde sich besser für das Institut entscheiden, anstatt auf die Semperoper zu warten.

«Das fragt sich noch», sagte Pilgramer, ging durch den Torbogen, dessen Decke sich in der Mitte senkte. Kant sagte mißvergnügt, hier müßten erst mal neue Träger eingezogen werden, er könne es nicht verantworten, die Leute innen arbeiten zu lassen. Kant war kein Architekt, sondern Denkmalschützer, er selbst behauptete, Maler und Anstreicher zu sein. Er hielt auch wenig von dem Aufwand für das alte Zeug, wünschte auch ein Schloß oder eine Kirche zu restaurieren mit vielen kniffligen Arbeiten.

Es roch nach Schimmel, Feuchtigkeit. Geländer, Türen, alles Holz, dunkel vom Alter, war einmal durch die Hände von Kunsttischlern gegangen. An den Treppenwänden Mäander, freilich in stark verblichenen Farben, die bunten Glasscheiben ließen das Sonnenlicht nur gebrochen herein.

Lab, das Kürzel, das der alte Herr Pilgramer aus der lange Laban geformt hatte, skizzierte die Mäander auf Millimeterpapier, er fertigte lockere Aufrisse der Fenster an und beging das alte Haus wie eine Baustelle. Auf seinem Tisch zu Hause häuften sich die Unterlagen, Skizzen, Nachentwürfe. Dann betrat er, gefolgt von Schelsky und Kant, eine der schon geräumten Wohnungen im ersten Stock, eine lange Flucht mittelgroßer Zimmer, schwer stuckverziert die Decken, seit vielen Jahrzehnten immer nur abgewaschen, neu geweißt, die Türfüllungen und Zargen gebeizt, oft lackiert, die Türen hoch, schmal, verschnörkelt.

«In diesem Zimmer hat mein Großvater von 1902 an gelebt», sagt er zu Schelsky, verschweigend, daß noch ein anderer hier gelebt hatte, Straßburger.

Lab trat an das Fenster, entriegelte einen Flügel und öffnete ihn. Die Fenster gingen bis auf den Fußboden herunter, hatten aber keinen Balkon, sondern nur halbhohe geschmiedete Eisengitter. Nicht geschmiedet, meinte Kant, eben nicht. Die Blattornamente waren einzeln hergestellt und mit dem Eisen vernietet worden. Pfuscharbeit, wie sie damals aufgekommen, von Kunstschmiedearbeit keine Spur. Mit einer Stange tastete Kant die Decken ab. Merkwürdigerweise löste sich bloß der jüngere Putz, der alte Stuck blieb hängen.

Über die langen, schmalen Korridore betraten sie die dunkle Küche zum Lichthof, immerhin konnte der Raum etwas belüftet werden. Nach den Plänen sollten alle Hinterhäuser verschwinden, auf diese Weise wurden die Häuser in einer neu geschaffenen lockeren Anlage wieder bewohnbar. Kant ging allein weiter. Schelsky blieb, und Pilgramer setzte sich auf einen vergessenen Stuhl.

In dieser Wohnung also hatte der alte Herr gelebt, nicht sehr lange zwar, aber hier war etwas aus ihm geworden, mithilfe Straßburgers, der ihn in die Karten preußischer Baubürokratie blicken ließ, ihn in die Kunst einführte, Gesetze zu umgehen. Hier zeichnete der alte Herr Entwürfe, entwarf Fassaden, kaufte Grundstücke, formulierte Anträge. Vielleicht schreckte er im letzten Augenblick vor dem Wagnis zurück, und vielleicht hatte Straßburger höhnisch gesagt, wenn Sie Angst haben, junger Baumeister, dann scheren Sie sich zurück nach Logau. Und der alte Herr unterschrieb, was ihm vorgelegt wurde, gründete einen Baubetrieb in Mahlsdorf, dort, wo Hubalek später seine Jugendstilsünde beging.

Sicherlich hatte Straßburger auch diese Gründung mit einer Bemerkung gekrönt, eingetragen sind Sie hier nicht, eingetragen bleiben Sie mal ruhig in Schlesien, wer weiß, wozu es gut ist.

Es war gut, erst Jahrzehnte später zeigte sich, wie gut. Vorerst war ein Schild über die Einfahrt gekommen, Baugeschäft Pilgramer junior, Bureau Oranienburger Straße. Etwas Material hatte der alte Herr vielleicht auf Lager genommen.

Was mach ich mit einem Baugeschäft, Herr Rat?

Ja, was machen Sie mit Ihrem Baugeschäft, vorläufig machen Sie gar nichts mit Ihrem Baugeschäft.

Der Enkel setzte sich aus vielen Teilen ein Bild zusammen, sich bewußt, daß es so oder so, aber daß es auch anders gewesen sein konnte, einer der richtigen Gründer ist der alte Herr wohl nicht gewesen, dazu war es zu spät, aber um die Jahrhundertwende wurde der Osten noch stark bebaut, und daran hatte Pilgramer seinen Anteil. Der Enkel hat den Auftrag, eines der Häuser wiederherzustellen, das schon stand, als der alte Herr gerade ankam. Straßburger lenkte ihn klug. Jedenfalls hat der Maler Lovis Corinth den Pilgramer dieser Periode für sich entdeckt, die Eitelkeit des alten Herrn, und wie gesagt, der akzeptierte das Bild so, weil er anders war.

Lab, in der Wohnung, die dem alten Herrn einmal als Bureau diente, denkt jetzt an eine Fortsetzung des Gespräches mit dem alten Herrn. Er sieht den Großvater und fragt ihn, ob er das Haus erkenne, das alte Haus in der Oranienburger, Straßburger habe dort gewohnt, der alte Herr müsse sich doch gut daran erinnern können, falls er wolle.

Er erinnere sich gar nicht, antwortet der Großvater, und Straßburger habe seines Wissens in Friedrichshagen gewohnt, in einem riesigen Haus mit vielen Zimmern. Ein Schuldgefühl habe er nicht, fährt er fort, man habe wohl nichts machen können gegen die Zeitläufe, und Straßburger sei längst tot.

Lab redet. Wie das gewesen sei mit den Anfängen, den Grundstücken, dem Baugeschäft, weshalb der alte Herr seinen Idealen untreu geworden wäre? Jetzt kichert der alte Herr. Lab redet noch mehr. Wieso sich der alte Herr vor die Karre anderer spannen ließ, will er wissen. Viele alte Bauwerke würden jetzt restauriert werden, der Stadt solle ein Stück Geschichte zurückgegeben werden. Pilgramer winkt ab, soll zugrunde gehen, soll es doch, was sich nicht mehr erhalten kann, eine Stadt sei kein Museum.

Lab: Von Museum sei keine Rede, in die restaurierten Häuser werde neues Leben einziehen, die Wohnungen darin würden nach modernen Gesichtspunkten angelegt, mit sanitären Einrichtungen, an alles werde gedacht. Es kommt Lab auf die Wirkung an, die seine Rede auslöst.

Pilgramer senior nimmt ein gezeichnetes Blatt, dreht und wendet es und fragt, ob sie das alte Haus ganz einreißen wollten und neu wiedererrichten und was das für einen Sinn habe? Ausgeplündert sei er worden, poltert der alte Herr los, jawohl, von diesem Baujuden, Regierungsbaurat, Kommerzienrat, Schieber, Couponschneider. Daß alles anders gekommen sei, wäre wahrhaftig nicht diesem Straßburger zu danken, sondern Fred, dem Sohn, und Kamerad Schmiteinsky. So tief habe er, der Senior, damals in diesen schmierigen Bauunternehmungen gesteckt, Bau und Bauskandal hätten immer zusammengehört, nicht aus noch ein gewußt habe er. Hier winkt der alte Herr ab.

Lab, an die Familienlegende anknüpfend, zitiert, was er als Kind oft gehört, solche Legenden entstehen durch Wiederholung, vererben sich, einmal zu Wahrheiten umgeformt, Sie machen vorläufig gar nichts mit ihrem Baugeschäft.

Jetzt lacht Pilgramer, bequemt sich zu einer kurzen Rede, im Frühherbst also wären sie mit einer Kutsche in Richtung Westen gefahren. Alt wäre die Kutsche gewesen, trotz des Spritzleders, einer Art Lederkasten, hätten sie erbärmlich gefroren, sie hätten die Pferdebahn nehmen können, aber Straßburger habe Droschken bevorzugt.

Lab denkt, ein Spuk, ein Unsinn, es ist die Leere dieses Zimmers und der Druck, sich doch mal entscheiden zu müssen, aber das Spiel mit Gedanken und Erscheinungen lockt.

Was halten Sie von Berlin, hat eventuell Straßburger gefragt, eine naheliegende Frage, und anstelle Pilgramers antwortet Lab, nichts halte er von Berlin, alles sei abscheulich, krude die Leute, ungebildet, die ganze Stadt wirke auf ihn wie ein Albtraum, wie ein Steinbruch, es wimmle von Militär, jeder Schutzmann komme sich vor wie ein General und habe dem Bürger gegenüber auch die Macht eines Generals, dessen Soldaten eine feindliche Stadt besetzt hielten. Sonderbar wäre nur, daß man sich trotzdem nach ein paar Monaten hier wie zu Hause fühle.

Straßburger nickt, die Stadt wäre nie anders gewesen, hier habe man nie gewohnt, hier sei man verwaltet worden. Wenige Jahrzehnte zurück habe es noch mehr Soldaten, Dienstboten und Huren gegeben als Bürger, sein Urgroßvater sei noch Schutzjude gewesen. Dieses Verhältnis habe den Charakter des Berliners, falls es so etwas je gegeben habe wie den Berliner, geprägt. Dummheit, Rohheit, Angst, vielleicht ändere sich das jetzt, wo die unteren Schichten ein eigenes Bewußtsein entwickelt hätten.

Wahrscheinlich, denkt Lab, ist die Kutsche durch das Brandenburger Tor gerollt, nicht durch die Mitte, sondern durch die Seitenpassage. Dann ist es weiter durch parkähnliche Straßen entlanggegangen. In einer Villa hat ihnen ein Diener die Mäntel abgenommen, sie in ein Zimmer geführt. Lab kann das nicht wissen, er hat nur einen Anhaltspunkt für diesen Vorgang, einen vergilbten Vertrag, von einer Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft ist die Rede, deren Teilhaber der alte Herr wurde, Teilhaber auf Grund eines ausgetüftelten Modus. Könnte Lab den alten Herrn zu einer Äußerung bewegen, würde Pilgramer vielleicht sagen, man habe ihn nicht am Geschäft beteiligen wollen, damals, wäre nicht die Lage seiner Grundstücke gewesen, von Straßburger, dem Herrn Baurat vorsorglich mit Blick auf den Bebauungsplan für ihn, Pilgramer, erworben. Jetzt saß die Bande Teilhaber in der Klemme, mußte ihn, Pilgramer, ganz einfach aufnehmen, mußte ihm die Bauaufsicht übertragen, gegen ein anständiges Honorar, mußte ihm weiter ein Vorkaufsrecht einräumen.

Lab kann sich schon vorstellen, daß es zu einem mächtigen Krach gekommen war, Straßburger schließlich entschied. Der war Beamter, hielt die Fäden in der Hand, und er entwickelte vielleicht den Rahmen, in dieser Größenordnung sei noch nie gebaut worden. Die Herren Teilhaber lächelten ratlos, zupften die verblichenen Bärte, das werde ein teures Unternehmen. Straßburger: Die Herren mögen bedenken, daß der junge Mann, ein tüchtiger und fleißiger junger Mann, ein Pfand in der Hand hielt, seine Grundstücke. Man hätte sich nicht mit Ihnen einlassen sollen, Straßburger!

Auf der Rückfahrt, erklärt Pilgramer dem nachdenkenden Lab, wäre dann die Rechnung zwischen ihm und Straßburger beglichen worden. Straßburger hätte gesagt, ein schönes Stück Geld habe ich Ihnen verdient, Ihre Zukunft habe ich soeben teuer verkauft, eine feine Rendite werden Sie mal einheimsen, dann haben Sie den alten Straßburger längst vergessen.

Lab ging ans Fenster. Pilgramer hat damals an den Regierungsbaurat gezahlt, zwanzig, dreiundzwanzig Prozent, für ihn, war es eine kalte Dusche, er zog aus, die Periode in diesem Zimmer endete rasch. Lab fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl, er suchte jetzt Entschuldigungen für den alten Herrn. Ein Sumpf, das ist leicht gesagt. Die Verhältnisse, es waren nur die Verhältnisse. Lab verriegelte das Fenster und verließ das Gebäude.

4

Holz meldete sich, und Zebosinski gab ihr ein Zeichen durch das Fenster des Korrektorzimmers. Lisa konnte sich nicht denken, was der Chef vom Dienst von ihr wollte, jetzt, wo die letzte Seite im Schiff stand. Nichts Gutes ahnend, ging sie nach oben zu Holz ins Zimmer. Der dokterte noch an der Seite herum. Böse sagte Lisa, es gehe auf zwölf, aber Holz ließ sich nicht stören, auch wenn die Zeit noch so sehr drängte, nach der Devise, laß dir Zeit, es ist eilig. Holz hatte einen dunklen Schnurrbart zu rötlich schimmernder Glatze, blühend roten Lippen und gesunden weißen Zähnen.

«Du hast wohl kein Zuhause», sagte Lisa patzig.

«Reg dich nicht auf», sagte Holz. «Bist doch Mutterns Beste.»

Die Lampe warf einen runden Fleck auf die Umbruchseite.

Lisa beschloß keinen Krach anzufangen. Ein Krach würde nur bedeuten, daß ihr Holz einen langen Sermon hielt. Holz konnte übrigens auch anordnen, solange er Chef vom Dienst war. Sie nahm ihm die Seite weg. «Ist sonst noch was?»

«Ja, der Denkmalpfleger sitzt nebenan und sieht dein Feuilleton durch, korrekter Mensch, wie es scheint»

Sie täuschte Vergeßlichkeit vor. «Denkmalschützer? Keine Ahnung.» Dann, als dämmere es: «Ach ja, die Häuser in der Oranienburger. Der hatte doch einen Unfall, das Geländer brach, war schon doll, kann ich dir sagen. Ist der wieder gesund? Er hat die Sachen noch mal sehen wollen? Korrekt? Ich weiß nicht, pingelig.»

«Laß ihn nicht zu lange warten», sagte Holz «ich muß weg.»

Sie versprach es. Das paßte ja fein, daß Pilgramer hier war, Holz weg mußte und die Nummer im Sterben lag.

«Hast du noch was», fragte Holz, die allgemeine Frage, bevor man sich verdrückte, wenn nichts vorlag.

«Nach Hause will ich», sagte Lisa, «ich muß morgen früh raus, den Jungen zum Kindergarten bringen. Haben wir wieder um acht Sitzung? Ihr müßt doch spinnen.»

Sie brachte die Korrektur an die Maschine, quittierte das Gemaule des Setzers mit einem Schulterzucken und verschwand erst mal in die Damentoilette. Ihr Gesicht sah grau und abgespannt aus, das rötliche Haar war fettig und nicht locker, wie sie es sich wünschte. Morgen früh mußte sie als Erstes, noch vor der Sitzung, unbedingt zum Frisör. Mit dem Kamm strich sie das Haar glatt und verknotete es hinten. Dann ließ sie kaltes Wasser über das Gesicht laufen, trocknete es ab, rieb es mit Reinigungsöl ein und spülte kalt nach. Sie fühlte, wie sich die Haut straffte. Den Rest erledigte sie mit schwarzen und roten Stiften.

Der Metteur war schon gegangen, die Seite lag fertig da, Lisa wischte ihren Namen darunter, sich ganz auf den Setzer verlassend oder auf Zebosinski. Der kam heraus, als er sie in der Gasse entdeckte.

«Ich muß noch mal rauf, warte nicht auf mich. Ich hab noch was bei Holz zu tun.»

Zebosinski, zu dem sie eine lockere Beziehung unterhielt, für die sie keinen Begriff wußte (das ist doch nichts, der ist ja auch viel zu jung aber ganz nett), hielt sie am Arm fest.

Sie mochte solche Berührung nicht und machte sich energisch los: «Was fällt dir denn ein?»

«Holz ist gegangen.»

Sie fauchte: «Ich hab nicht gesagt, daß ich was mit Holz zu tun habe, sondern bei Holz. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig, das wollen wir mal klarstellen.»

Sie ärgerte sich auch über sich selbst.

«Gott, bist du dumm, wenn man was will, bricht man doch keinen Streit vom Zaune.»

Im Fahrstuhl holte sie tief Luft. Was kann einen viel beschäftigten Architekten dazu bringen, mitten in der Nacht zwanzig Zeilen zu lesen, die überdies schon besprochen worden sind. Korrektheit? Na schön, aber das hätte bis morgen Zeit gehabt. Mal sehen, vielleicht entspinnt sich doch mal was Vernünftiges.

Tasche schlenkernd betrat sie das Zimmer. Pilgramer saß auf dem Schreibtisch, einen Zeichenblock auf den Knien, und strichelte darauf herum.

«Entschuldigen Sie», sagte Lisa, «ich hatte unten noch mit dem Umbruch zu tun. Haben Sie alles gelesen?»

Er sprang vom Tisch, reichte ihr die Hand. «Alles in Ordnung.»

An der Rückwand des Zimmers lief eine Holzleiste entlang. Hier spießten die Redakteure abgelesene Seiten auf. Jetzt steckte Pilgramer seine Karikaturen an, eine von Holz, eine von Schelsky, von Koblenz, natürlich auch eine von ihr. Sie lobte alles.

«Also, Herr Stadtarchitekt, ich bin hundemüde. Gehen wir?»

Er nickte und ging ihr voran aus dem Zimmer. Den Fuß zog er unsicher nach. Sie erkundigte sich, ob der Bruch ganz ausgeheilt wäre, und er sagte unbestimmt, ja, krank geschrieben sei er aber noch.

Die Straßen unten waren still, ein paar Autos parkten vor der Redaktion, über den Häusern stand blasser Lichtschein. Sonst war die Nacht dunkel und träge. Während Pilgramer die Wagentür aufschloß, fragte er, wohin er sie bringen solle.

«Für mich lohnt es kaum noch, zu Bett zu gehen, ich muß ganz früh raus, eine Knochenmühle.» Sie stieg ein, fingerte Zigaretten heraus und rauchte.

Er fuhr los. Über die Straße spannte sich die Eisenbahnbrücke, von der eine endlose Leuchtschrift Nachrichten ausstrahlte. Sie waren Stunden alt und überholt. Sie gingen in eine Kneipe, bestellten Weinbrand und Kaffee. Ihre Knie berührten seine, da sie sich an einem der kleinen runden Tische gegenübersaßen. Er wußte nicht, wohin mit den langen Beinen, und streckte sie seitlich aus.

«Wie groß sind Sie eigentlich», fragte Lisa,

«Wie Napoleon.»

«Der war doch wohl klein?»

Er nickte.

Sie fand, er sähe seinem Großvater ähnlich, mit dem länglichen Gesicht, dem dichten, schon ergrauten Haar. Was sie reizte, war die lebhafte, unbekümmerte Art, mit der er sich gab, sie bewunderte alle Leute, die leichter mit dem Leben fertig wurden als sie. Wahrscheinlich war er unpünktlich und unzuverlässig.

Pilgramer sagte: «Ist Ihre Arbeit das Richtige für Sie?»

«Ach wo», sagte sie, «welche Arbeit ist das Richtige für eine Frau? Wir müssen immer gut sein, immer besser als die Männer.»

«Daran ist was Wahres», sagte er, «dazu seh ich aber keine Alternative. Verlangt man den Frauen weniger ab, legen sie das sofort gegen die Männer aus,»

Aus Erfahrung wußte sie, daß ihr dieses Gespräch, einmal begonnen, jeden Charme nehmen würde. Zänkisch würde sie sich die paar Minuten vermiesen, gäbe sie jetzt nicht klein bei. «Na ja, ich bin eine ganz gute Journalistin», erklärte sie verwegen, weil er diese Behauptung nicht nachprüfen konnte.

Das Gespräch lief nun leer, drehte sich eine Zeit lang um belanglose Sachen, es war zu spät, um umzukehren, und zu früh, sich dem anderen zu öffnen. Man hatte sich dreimal gesehen und oberflächlich geredet. Da war es gut, daß der Wirt Feierabend gebot. Pilgramer zahlte und sie gingen.

«Riskieren Sie es zu fahren, wenn Sie getrunken haben?»

«Ich habe den Weinbrand nicht angerührt», sagte er.

Sie mußte sich zufriedengeben, ließ sich nach Hause bringen, verabschiedete sich verdrossen, um eine Hoffnung betrogen, stieg in ihre Wohnung hinauf und beschloß zu baden. Beim Duschen verflog ihre Müdigkeit, und sie bereute, Pilgramer weggeschickt zu haben. Der saß jetzt in seinem Zimmer und hörte Radio, oder er war woandershin gefahren. Sie hockte sich in den Sessel, zog das Telefon heran, zögerte aber, Pilgramer anzurufen. Falls der Anruf schiefging, würde sie eine schlimme Nacht haben. Auch solche geringfügigen Mißerfolge ertrug sie nur schwer. Angestrengt lauschte sie auf das Rufzeichen, entschlossen, einfach aufzulegen, sollte sich der alte Herr melden. Aber Lab meldete sich. Sie brachte es doch nicht schlankweg fertig, ihn zu bitten, zu ihr zu kommen, Händchen halten zwei Uhr nachts, nachdem sie ihn mit dem Schwindel verabschiedet hatte, sie sei elend müde.

«Ich bin hungrig», sagte sie, «und ich hab nichts im Hause, wie finden Sie das?»

«Hungrig auf was», fragte er.

Sie schwieg.

«Schließen Sie unten auf», bat er.

Als sie aufgelegt hatte, schlug ihr Herz laut und unregelmäßig, ihr natürlicher Zustand sozusagen. Sie tat irgendwas, blätterte in einem Buch, ging schnell nach unten und schloß die Tür auf. Noch auf der Treppe hörte sie ein Auto, sie dachte, er wird doch hoffentlich so viel Anstand haben und die Chaise eine Straße weiter parken.

Sie gingen zusammen nach oben. Er fragte, ob sie nun essen wolle, was sie auf den Gedanken brachte, er sei vielleicht doch fischig. Bei den meisten Männern konnte man ja vor Verlangen vergehen, ohne daß die was merkten. Dafür stellten sie Forderungen, wenn einem nicht danach zumute war. Vielleicht war der Lange hier anders, dafür sprach allerdings nicht mehr als ihre Einbildungskraft. Sie schauerte in dem Morgenrock, er bemerkte es und sah sie aufmerksam an.

Während er sich auszog und sie wartend neben ihm stand, verglich sie Lab mit Zebo und den anderen, mit denen sie geschlafen hatte. Es gehörte zur Rolle der Emanzipierten, sich den Partner zu wählen. Lisa wußte, daß sie zum guten Teil markierte. Man ging so leicht auseinander, wie man zusammenkam, durch eine Reihe von Zufällen, und der Partnerwechsel an sich war reizvoll. Lisa hielt sich für eine moderne Frau mit Kind, die sich ihr Leben einrichtete. Ob sie überhaupt mit einem zusammenleben konnte und nicht einem Traum nachhing, bezweifelte sie stark. Nervös, überreizt und sensibel, kam sie auch selten zur Liebeserfüllung. Von allen Zuständen fürchtete sie jedoch den des Alleinseins am meisten.

Er küßte sie, und Lisa fühlte etwas wie Eifersucht auf die andere, die es geben mußte, mit der er zusammenlebte und Kinder hatte. Sie dachte sich in diese Verhältnisse intensiv hinein, obwohl sie wußte, wo er lebte und mit wem.

Sie tat nichts, ließ sich leicht zur Couch ziehen, streifte auf sein Verlangen den Morgenrock ab und legte sich hin. «Wenn ich dich nicht angerufen hätte, wärst du auch gekommen?»

«Wahrscheinlich, aber nicht heute.»

Sie fühlte sich unter Wert behandelt - wahrscheinlich, aber nicht heute - hieß doch, ich wäre nicht gleich mit dir ins Bett gestiegen, aber da du es offenbar nötig hast, also bitte. Sie kannte ihn immerhin ein paar Wochen, drängte sich an ihn und vertagte das Gerede.

Dieses Später war nach einer Viertelstunde.

«Weißt du was? Ich müßte doch eigentlich müde sein, ich bin es aber nicht, ich bin einfach satt, glücklich, aufgekratzt.»

Sie hätte jetzt gern mit ihm über alles Mögliche geredet. Über seine komische Familie, über ihr Kind, ihre Mutter, doch sie verschob die Fragen auf eine bessere Zeit. Sie legte sich in seinen Arm, sah nach unten zu seinen Füßen und stellte fest, daß seine Beine fünf Meter lang sein mußten.

«Nie was von Perspektive gehört?»

«Nein», sagte sie, «doch. - Hast du Schuft deinen klapprigen Rolls Royce wenigstens nicht vor meiner Tür abgestellt?»

«Wegen der Leute?»

«Du», sagte sie ernst, «eines hab ich gelernt in den paar dreißig Jahren meines Lebens, die traurige Masse ernst zu nehmen, die legen einen ganz schnell und so gründlich rein, wie man sich's nicht träumen läßt. Diese Art Ächtung kenne ich, sie hat mir für immer Respekt vor den Müllers und Krauses beigebracht.»

Er schüttelte den Kopf.

«Doch», sagte sie.

«Meinetwegen, vor deinem Haus ist jedenfalls Parkverbot.»

«Außer dir hat das noch keiner gemerkt.» Sie lachte lautlos.

«Bist du geschieden, mehrmals geschieden, wie viel Kinder hast du?»

Sie fragte sich, ob es ihr recht sei, daß er keine Vergangenheit hatte. Das konnte ja auch bedeuten, daß er sich stets vorgesehen, alle mit allen betrogen hatte.

«Fast so schlimm wie eine saubere Kaderakte», bemerkte sie.

«Hör mal», sagte er unvermittelt, «was würdest du denn an meiner Stelle tun, warten auf die Semperoper, die vielleicht nie mehr aufgebaut wird, zu Schelsky gehen und Städte auf dem Meeresgrund ausdenken oder in den Wolken; zu Koblenz? Ich habe einfach keinen vernünftigen Einfall.» Er seufzte. «Ewig geht es so nicht weiter.»

«Darüber sprechen wir mal, wenn ich wieder einigermaßen denken kann.»

Er zog die Decke herauf und deckte sie zu.

«Ich muß unbedingt um halb sechs raus, vergiß es nicht.»

«Ich weck dich schon», sagte er.

5

Der alte Herr deutete auf seinen mit Schreibarbeit überladenen Tisch, ließ sich in dem alten bequemen Sessel nieder und bat den frühen Gast mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen. Das tat Koblenz, während sich der junge Pilgramer ins Unvermeidliche schickte, in die Küche ging, Weißbrotscheiben röstete und Kaffee kochte.

Im Arbeitszimmer des Seniors konnte man sich kaum drehen. Beide Längsseiten waren mit Regalen vollgestellt, in denen sich Schriftkram, Ordner, Rollen, Bücher türmten. Selbst auf dem Fußboden stapelten sich Bücher. Und der Schreibtisch des alten Herrn nahm ein Drittel des Zimmers ein. Obgleich es nicht gemütlich aussah, fühlte man sich in diesem Zimmer wohl, dank einer genialen, großzügigen Unordnung.

«Ein bißchen eng, nicht?»

«Daran leidet diese ganze Gesellschaft, daß alles ein bißchen zu eng ausfällt», entgegnete der alte Herr, bückte sich und holte aus der Tiefe eines Schreibtischfaches einen Band mit uralten vergilbten Fotos. «Die Artikel Ihres Vaters habe ich seinerzeit mit Vergnügen gelesen», fuhr er fort, «leider sind mir die Bände verbrannt, in denen ich die Zeitschrift sammelte. Ihr Vater war Bankier?»

Der alte Herr warf einen Blick auf das Parteiabzeichen der Einheitspartei am Rock des Doktors, hüstelte unecht und schlug das Album auf.

«Sehen Sie, was ich hier habe, es wird Sie interessieren. Das war im Frühjahr 1904. Auf der heutigen Karl-Marx-Allee. Sie müssen wissen, daß ich ein ziemlich großes Areal im alten Osten erworben hatte. Wir bauten damals in einem Konsortium, das heißt, ich war Teilhaber unter vielen. Allerdings gelang es mir doch, mich so zu setzen, daß ich nicht übers Ohr gehauen werden konnte. Ich bin damals so etwas wie der Oberbauleiter für alle Häuser gewesen, ein junger Mann mit wenig Erfahrung, einen interessanten Vertrag hatte ich auch. Mit meinem Gesamtvermögen hatte ich persönlich zu haften. Manchmal reichte mein Gehalt nicht aus, um alle laufenden Verpflichtungen abzudecken. Zwei Jahre lang habe ich in dieser Baracke gelebt, gearbeitet, geschlafen und gegessen, manchmal auch gehungert.» Er fischte das Foto heraus und zeigte es dem Doktor. «Im Winter stand ich alle zwei Stunden auf, um zu heizen. Einmal fand mich der Polier halb erfroren. Ich hätte Straßburger umbringen können und diese Bande Kommerzienräte, aber ich habe die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Trotzdem war ich schließlich pleite, ich mußte etwas tun.»

«Was haben Sie getan», forschte Koblenz gespannt.

«Ich habe geheiratet, mein Herr», sagte der alte Herr übel gelaunt, «das war damals manchmal der einzige Ausweg, falls man nicht die Kugel in den Kopf vorzog.»

Koblenz blätterte in dem Album, da war ein Foto mit einer Wagenreihe vor der Baugrube, offenbar vor Beginn der Tiefbauarbeiten aufgenommen, überschwere Belgier vor die Wagen geschirrt. Es gab noch keine Bagger und hätte es sie gegeben, würde man sie nicht eingesetzt haben, Menschenkraft war billiger.

«Bei tiefer Grube mußten die Kutscher mitunter sechs Gäule einspannen», erläuterte der alte Herr, «aber die Häuser lagen günstig, an der ersten Bahnlinie nämlich, zwischen Potsdamer Platz und Stralau. Da hatte Straßburger seine Hände im Spiel gehabt. Bauspekulation. Straßburger kannte als Regierungsbaurat natürlich alle Vorhaben, er wußte, wo Bahnen entlanggeführt werden sollten, und nutzte seine Stellung aus, um zu spekulieren, kaufte Grundstücke oder ließ sie durch Strohmänner erwerben. Erwischt wurde er nie, der alte Fuchs. Schön war es nicht, was wir bauten; klein, lichtlos, Einzimmerwohnungen mit Küche, ohne Diele oder Korridor, Kochstuben, Toiletten auf den Treppen, aber Wasserleitungen bis in die Wohnungen hinein. Fortschritt also, Ausdruck eines neuen Gefühls, sozialerer Denkweise - alles Quatsch.» Er beugte sich vor, sah Koblenz an: «Die sozialere Denkweise kam ganz zum Schluß. Vorn, die Fassaden der Häuser, die waren gut, billig, hohl, Bau für den Massenbedarf ist immer hohl, die Zeitgenossen dürfen es nur nicht merken, und die Wohnungen in den Vorderhäusern waren den wohlhabenderen Schichten vorbehalten, Ärzten, Anwälten, die Allee blühte ja dann auch auf.»

Ein ulkiges Bild fand der Doktor, da war ein Brettergerüst aufgeschlagen, eine Art Bühne, geschmückt mit allerhand Grün, ein paar Reihen Leute, Zimmerleute in den schwarzen Samtanzügen, die Maurer in Weiß, andere Männer in Bratenrock und Zylinder, auch ein paar Uniformierte. Seltsam der alte Herr in seinem Kalabreser und einem Cape.

«Baubeginn», erklärte der alte Herr, «so was müssen Sie gesehen haben, die Gewerke in ihren Trachten, die Reimsprüche auf gutes Gelingen, und hinterher der Tanz, nur Männer, junge natürlich und Musik. Es wurde auch gesoffen, aber alles ging doch nach den strengen Regeln des altehrwürdigen Handwerks zu. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten Handwerker ja vom Lande kamen, na, die Traditionen verloren sich auch bald. Dieses Feiern vor Baubeginn war ganz gut, man lernte sich kennen, Betriebsklima sagt man heute ja wohl, morgen beginnt die schwere Arbeit, das strenge Bauregime, die Leute bekamen ja noch Lohnabzüge für jedes Vergehen, das hatte ich genau gestaffelt, ich habe uns manche Mark dadurch hereingeholt, Herr Doktor. Es kamen auch Tage, wo die tiefe Baugrube zum See wurde, wo jeder Handschlag eine Anstrengung bedeutete, wo die Rampen zu gefährlichen Rutschpartien für Mensch und Tier wurden. Gearbeitet mußte aber werden; und drei Kubikmeter Erde, von Hand bewegt, sind nicht viel, wie Sie sicherlich wissen. Hin und wieder kam nur ein Wagen mit einem Kubikmeter aus der aufgeweichten Grube, und das mit Ach und Krach.»

Dann fand Koblenz eine Menge Bilder von dem alten Herrn, ihm wurde manches klar. Hier formte sich die neue Generation Unternehmer, die harten Burschen, nicht die Unternehmer des rohen Kapitalismus mit verschwommenen patriarchalischen Vorstellungen, sondern die Leute, die den Kampf mit den Gewerkschaften aufnahmen, die ihn sogar suchten, die zäh um jeden Bruchteil eines Pfennigs zu kämpfen verstanden.

Der alte Herr war damals ein junger Bauleiter, die großen bäuerlichen Hände des ehemaligen Maurers, schon nicht mehr grob, waren kraftvoll, sensibel, hatten immer die dünne Brasil zwischen den Fingern. Bartkoteletten in dem braungelben hageren Gesicht, Haar stieß hinten auf den weißen umgelegten Kragen, lang aufgeschossen die Figur. Ein junger, energievoller Kerl, bereit, jede Strapaze auf sich zu nehmen, sich mit Gott und der Welt wegen eines Bankkontos zu schlagen.

Koblenz hätte diesem Bild gern zugestimmt, wäre nicht die Frage nach dem Wofür unbeantwortet geblieben. Es ging doch wohl um Profit. Dieser Straßburger und das Konsortium werden wahrscheinlich heilfroh gewesen sein, einen jungen Kerl gefunden zu haben, der ihnen die Kohlen aus dem Feuer holte, mehr Unternehmer als Architekt, der hoffte, ja worauf? Ein Ingenieur, ein Antibürger?

«Eine Frage hätte ich aber doch», sagte Koblenz, das Album zurückreichend.

«Ich wollte durch Arbeit frei werden», sagte der alte Herr, die Frage vorwegnehmend, «was glauben Sie, wie oft ich schon nach dem Warum gefragt wurde. Mir graute davor, nach Logau zurück zu müssen. Es ging mir wie so vielen damals, ich fühlte mich in dieser trostlosen Stadt mit ihrem großmäuligen Volk und seinem rohen, ätzenden Witz, in dieser Skepsis und Resignation wie zu Hause. Ich war ein Berliner geworden. Alle Städte haben eine Ausstrahlung, Berlin hatte keine, Berlin war Strich, bestenfalls. In streng abgeschlossenen Vierteln wohnten die besitzenden Klassen, aber mir war klar, daß sich diese Struktur nicht erhalten lassen würde. In diese vornehmen Viertel schoben sich jetzt unsere neuen Straßenzüge. Wissen Sie, Berlin glich einem öffentlichen Haus, in das gehen konnte, wer Lust hatte. Drinnen empfing einen schaler Dunst, erwartete einen die Freundschaft von Zuhältern, Dirnen, Junkern und Soldaten, Studenten und Dienstboten. Hier war immer Karneval, Berlin war so leicht zu erobern, daß sich die Eroberung gar nicht lohnte. Man blieb einfach kleben, Berlin machte frech und bequem. Ich kannte doch manche Stadt, aber keine, in der man so leicht Anschluß fand. Man durfte sich die Gesellschaft, in die man geraten war, allerdings nicht näher ansehen. Hier wollte ich nicht mehr weg.»

«Würden Sie Ihrem Enkel raten, nach Theerberg zu gehen», fragte Koblenz.

«Wem kann man schon raten», sagte der alte Herr, «ich kann Ihnen meine Meinung sagen. Lab kommt nach seinem Vater, aber ihm fehlt, was mein Sohn in hohem Maße besaß, Angriffslust. Lab wurde alles zu leicht gemacht. Sie wissen wohl, wovon ich rede. Die Baustellen dürften heute genauso chaotisch sein wie zu meiner Zeit, da kann Lab sich kaum behaupten. Darauf ist er nicht vorbereitet.»

Koblenz schüttelte den Kopf. «Waren Sie vorbereitet?»

«Nein, mit einem wichtigen Unterschied, ich kämpfte, um zu überleben, Lab kann immer zurück, gut bezahlte und leichte Arbeit ist ihm sicher. Verstehen Sie, er gehört zu einer Schicht, die nie dem Wind ausgesetzt worden ist. Fachlich könnte er wohl mitkommen. Soweit ich das noch beurteilen kann, hat er einen sicheren Blick für Architektur. Seine Arbeit kann er auch organisieren»

«Das würde mir erst mal genügen, ich habe Leute mit weniger guten Voraussetzungen auf verantwortungsvollen Stellen»

«Ich sagte seine Arbeit, nicht die anderer Leute, Herr Doktor. - Mein Enkel muß das selbst entscheiden.»

Und Lab entschied, als sie um den Schreibtisch des alten Herrn saßen, Kaffee tranken und Toastbrot mit Butter aßen, als die Frage gestellt wurde, wie seine Antwort denn nun ausfalle. Koblenz war sich bewußt, daß er einem bloßen Gefühl folgte, wenn er den jungen Pilgramer nach Theerberg holte, wenn er ihm mehr zutraute als dem Durchschnitt.

«Wie weit seid ihr denn», fragte der junge Pilgramer, «läuft die erste Turbine schon?» «Wir reisen in diesen Tagen an. Es geht los», sagte Koblenz. «Die Semperoper wird schon seit Jahren wiederaufgebaut, das Institut läuft dir nicht weg, zehn Jahre Praxis auf einer Baustelle, und du hast sicheren Grund unter den Füßen.»

«Das eben ist das Verrückte, nie kann man machen, was man will. Da wird jemand Zootechniker mit der Vorstellung, er werde einmal Elefanten in Afrika vermehren oder Löwen in der Kalahari. Zuletzt züchtet er Schweinen eine neue Rippe an oder erfindet Rinder mit zwei Eutern», Lab.

«Nicht übel», bemerkte Koblenz.

«Also gut, ich versuch es», sagte der junge Pilgramer, «aber nicht Hals über Kopf. Ich muß mich hier erst freimachen.»

«Über Termine können wir immer noch reden», sagte der hartnäckige Doktor erleichtert.

Der alte Herr Pilgramer lächelte skeptisch.

Das Erbe

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