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Alfred Lehmann, gelernter Maurer

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Erzählung und Reflexion

Es war ein regnerischer Dienstagmorgen, als Alfred Lehmann aus dem Fenster seiner Dachwohnung auf die Straße blickte und den Berufsverkehr mit den Autos, Bussen, Motorrädern, Fahrrädern und Fußgängern verfolgte. Er hatte eine schlechte Nacht hinter sich. Die Rückenschmerzen hatten ihn geplagt, die er sich in seinem Beruf als Maurer zugezogen hatte und sich deshalb vorzeitig in Rente schicken ließ. Der Arzt sprach von Verschleiß der Wirbelsäule, wogegen medizinisch außer Schmerztabletten kein Kraut gewachsen sei. Da die Tabletten ausgegangen waren, wollte er an diesem Morgen zu seinem Arzt Dr. Brettschneider gehen, um sich neue Tabletten verschreiben zu lassen. Ein Telefon konnte er sich bei der kleinen Rente nicht leisten, dass er telefonisch einen Termin mit der Sprechstundenhilfe vereinbart hätte.

Alfred Lehmann war dreiundsechzig, mittelgroß und schlank. Sein Gesicht hatte sich die frühen Falten zugelegt, und die Haut hatte den leichten Graustich des vorzeitigen Alterns. Die Hände waren derb und verarbeitet. An beiden Händen waren Verletzungsfolgen zurückgeblieben. So fehlten an der rechten Hand die Endglieder des dritten und vierten Fingers, und an der linken Hand fehlte das Endglied des Daumens. Als Kind hatte er das linke Schlüsselbein und als Jugendlicher bei einem Motorradunfall einige Rippen am linken Brustkorb gebrochen. Er war Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrpott mit vier anderen Brüdern und einer Schwester. Der Vater war mit sechsundfünfzig wegen einer Asbestose invalidisiert worden and mit einundsechzig verstorben. Die Mutter war an einem spät erkannten und nicht mehr heilbaren Brustkrebs verstorben, als er dreizehn war. Bei ihr hatte der Krebs auch zu Rückenschmerzen und zu einer ‘pathologischen’, so sagte es jedenfalls der Arzt, Oberschenkelfraktur am rechten Bein geführt. Der Vater hatte ein zweites Mal geheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei seiner jüngeren Brüder und seine Schwester hervor. Mit seiner Stiefmutter, die seines Erachtens viel zu jung für den Vater war, als er bereits in the Enddreißigern war, hatte er nie eine herzliche Beziehung aufbauen können. Die Situation hatte sich dermaßen zugespitzt, dass er die mittlere Reife sausen ließ und die Schule und das väterliche Haus, was eine Vierzimmerwohung im zweiten Obergeschoss war, verließ. Er ging in die Lehre als Maurer und lebte die Lehrlingsjahre in der Wohnung seines Onkels Gustav am anderen Stadtende, zu dem er ein herzliches Verhältnis hatte. Tante Emmi war einige Jahre älter als Onkel Gustav, die ihn, weil sie selbst keine Kinder hatten, wie einen Sohn aufnahm, bekochte und die Wäsche wusch. Onkel Gustav war einige Jahre jünger als der Vater und arbeitete als Vormann in einer Maschinenfabrik.

Alfred Lehmann war von seiner sechs Jahre jüngeren Frau Emilie seit mehr als zehn Jahren geschieden. Aus der Ehe, die seit weiteren zehn Jahren vorher nicht mehr stimmte, gingen die beiden Söhne Gerhard und Kurt hervor. Für die eheliche Verstimmung gab es zwei Gründe: einmal war es der Alkohol, den er mit jungen Jahren in der Stammkneipe konsumierte und häufiger als erlaubt betrunken nach Hause kam, und dann waren es die Perioden der Arbeitslosigkeit vor allem in den Wintermonaten, als das Geld knapp wurde und die Strom- und Wasserrechnungen verspätet gezahlt wurden. Einige Male kam der Mann von der Stadtverwaltung, nachdem die Mahnbescheide nicht pünktlich befolgt wurden, und drehte den Haupthahn zu, knipste die Hauptsicherung aus und plombierte den zugedrehten Wasserhahn und den verschlossenen Sicherungskasten. Das war die eine Seite der Medaille. Die andere Seite war, was aber nie eindeutig bewiesen wurde, dass Emilie eine Affäre mit einem Mann hatte, der etwa in seinem Alter war, aber um etliches besser aussah, ja attraktiv war. Emilie ging dieser Affäre für mehr als einem Jahr nach besonders dann, wenn Alfred in einer anderen Stadt zu mauern hatte und dort in der Betriebsbaracke übernachtete, oder mit großer Regelmäßigkeit in der Stammkneipe saß, den Alkohol konsumierte und spät, was oft erst nach Mitternacht war, zurückkam.

Die beiden Söhne Gerhard und Kurt gingen früh aus dem Haus, Gerhard als Zimmermann mit dem Gesellenbrief und Kurt, nachdem er sich zur Volksarmee gemeldet hatte. Gerhard hatte früh geheiratet und einen Sohn und eine Tochter. Doch auch seine Ehe wurde nach drei Jahren geschieden. Die geschiedene Frau nahm die Tochter Amalie mit, und der Sohn Andreas blieb beim Vater, der seit fünf Jahren die Frauen wie ein Hemd wechselte, das meist kürzer als ein Jahr, in einem Fall waren es anderthalb Jahre, ‘getragen’ oder als Frau ertragen wurde. Dabei waren die Frauen nicht immer passiv, dass einige von sich aus das Handtuch warfen und Gerhard verließen. Kurt, der vier Jahre jüngere Bruder, der zur Volksarmee eingezogen und zu Grenzwachen zunächst an der deutsch-polnischen Friedensgrenze, dann an der deutsch-deutschen Grenze im Süden der Republik nach Bayern hin und schließlich zur Bewachung der Küste und Küstengewässer gegen feindliche Objekte eingesetzt war, ist unverheiratet geblieben. Beide Söhne haben es beruflich zu etwas gebracht: Gerhard ist zweiter technischer Abteilungsleiter in der VEB-Möbelfabrik ‘Tisch und Stuhl’ im Bezirk Erfurt, und Kurt hat es aufgrund seiner sportlichen und militärischen Leistungen bei gleichbleibender Linientreue nach siebzehn Jahren Volksarmee zum Fregattenkapitän gebracht, was dem Rang eines Oberstleutnant entspricht. Er hat als junger Soldat gemeinsam mit den sozialistischen Waffenbrüdern an der Niederwerfung des Prager Aufstandes, der später der Prager Frühling genannt wurde, teilgenommen. Diese Teilnahme dürfte seine ‘sozialistisch-patriotische’ Haltung erneut unter Beweis gestellt und zur steilen militärischen Karriere im Deutschen Arbeiter- und Bauernstaat beigetragen haben.

Kurt hat den Vater nur selten besucht. Das war bis vor zweieinhalb Jahren, bevor er Fregattenkapitän geworden ist. Seitdem hat sich Sohn Kurt unsichtbar gemacht und in Schweigen gehüllt, obwohl er aus den Jahren der Grenzwachen nur wenig erzählt hatte, was sich in technischen Grenzen wie Motorschäden, Achsbrüche oder das schwierige Fahren durch hohen Schnee oder auf gefrorener Piste hielt. Ausnahmen waren die Erzählungen vom Angeln von Hechten und Karpfenfischen in den Zuläufen zur Oder, der natürlichen, mit chemischen und anderen Abwässern verschmutzten Friedensgrenze, die sich da romantisch ausnahmen, was Kurt auf zwei Male begrenzte, einmal unweit von Frankfurt an der Oder und das zweite Mal südlich von Stettin mit dem neueren polnischen Namen Szczecin.

Glühend steigt der Sonne Feuerball,

drückt zurück die Nacht ins dunkle Weltenall,

schlaflos war das Gros der nächtlichen Stunden,

Menschen kommen ohne Krach nicht über die Runden.

Menschen soll es geben, die hinter den Feuerball blicken

und das Detail betrachten in seinen atomaren Stücken.

Für sie öffnet sich im Kleinsten die Größe des Alls,

sie blicken und messen die Weiten des Feuerballs.

Die Sonne steigt und geht dem Tag in Helligkeit voran,

sie hebt ihn aus dem Gestern mit seinen Sorgen heraus.

Es wird sich zeigen, ob sich Optimismus bewährt im Haus,

wenn Menschen erwachen aus Schlaf und Traum.

Gerötet sind die Augen und trocken die Lippen,

leer sind die Mägen und raus stehen die Rippen,

auch Wasser gab es nicht, nicht zum Verrecken,

stattdessen gab es Moskitos und beißende Zecken.

Die, die das Wasser tranken, waren fett und rund,

sie waren ständig am Zanken mit vollem Mund,

denn auf ihre Bäuche ließen sie nichts kommen,

da schlugen sie manches Bewusstsein unbenommen.

Es waren Politiker und ihre gehorsamen Schergen

mit dem Wohlstand und den Hirnen von Zwergen,

sie spuckten den Rest Wasser den Durstigen ins Gesicht,

die öffneten die Münder, als stünden sie vor Gericht.

So ist es in der Welt mit dem verfluchten Geld,

dass sich mancher blind, ein anderer taub sich stellt,

wenn es drauf ankommt mit dem Stückchen Brot

und dem Geben, dann sehen viele die Fahne mit dem Rot.

Darüber hinaus kommt es vor nicht nur am eisernen Tor,

dass Menschen statt Brot den Stein gereicht bekommen

und im Stein die Härte der Herzenskälte bildlich verstehen,

die der Wind weder enthärtet, wegbläst oder verweht.

Um das zu verstehen, braucht’s Hunger und Verstand,

dann liegen Köpfe, Arme, Beine und Rippen im Sand,

die keiner wegholt, wegräumt, ordnet und begräbt,

weil der Name fehlt und keiner die Ursache versteht.

Alfred Lehmann trank die zweite Tasse Kaffee zu Ende mit dem Fensterblick auf die Karl Liebknecht-Straße und den Ernst Thälmann-Platz mit den qualmenden Trabis, den Bussen, den motorisierten und per Fuß zu tretenden Zweirädern auf der nassen Straße und den Fußgängern auf den nassen Gehsteigen. Das Wort “Bürgersteig” war wegen seiner reaktionären Anrüchigkeit so gut wie aus dem Sprachverkehr gezogen worden. Es war der morgendliche Berufsverkehr, dass der beißend scharfe Gestank der Trabis und Zweitakt-Motorräder bis zum Dachgeschoss drang und Alfred Lehmann das Fenster ganz schloss, die ausgetrunkene Tasse auf der Spüle abstellte, den grauen Regenmantel überzog und sich auf den Weg zur Praxis von Dr. Brettschneider machte, um sich neue Schmerztabletten verschreiben zu lassen. Er schloss die Wohnungstür mit den drei kleinen Zimmern sorgfältig ab, drückte noch einmal auf die Klinke, um sicher zu sein, dass die Tür verschlossen war, und ging langsam die schmale Holztreppe mit den quietschenden, muldig ausgetretenen Stufenbrettern herunter. Im schmalen Flur des Erdgeschosses öffnete er den kleinen Briefkasten, der seit Monaten bis auf die regelmäßigen Zahlungsforderungen der Bezirksverwaltung ‘Stadt’ für Strom und Wasser keine persönlichen Briefe enthielt, die erwähnenswert wären.

Er legte die alte, renovierungsbedürftige Haustür bedächtig ins Schloss und machte sich auf den Weg. Wegen der Nässe hatte sich Alfred Lehmann auch die Schuhe angezogen, die vom Schuster Schlechtriem vor zwei Wochen mit neuen Sohlen und Absätzen bezogen wurden, um ein Ausrutschen zu vermeiden, was er mit den Rückenschmerzen schwer verkraften würde. Auf den Kopf hat er die abgegriffene schwarze Baskenmütze gesetzt, ein Erbstück seines Onkels Karl, der es ihm in einer Kriegsweihnacht geschenkt hatte, bevor er an der Ostfront gefallen war. Der feine Regen nässte das Gesicht, dass er in Abständen mit der bloßen Hand durch das Gesicht fuhr. Das Nass tropfte von der Nase, als er die Arztpraxis erreichte, die im Stadtzentrum, genauer in der Rosa Luxemburg-Straße nicht weit vom Platz mit dem Namen ‘Platz der Revolution’, gelegen war. Das Wort ‘Revolution’ bezog sich nicht auf die französische sondern auf die ‘glorreiche’ russische Oktoberrevolution. Alfred Lehmann nahm die Baskenmütze vom Kopf und schlug sie einige Male gegen den grauen Regenmantel, bevor er die Tür zur Praxis öffnete und wieder schloss und die wenigen Schritte zur Rezeption nahm. Die nicht mehr junge Sprechstundenhilfe saß mit blassem Gesicht und einer schmalen Nase hinter dem schmalen Tisch und blätterte in der Kladde, in der sie Namen auf beschriebenen Blattseiten durchstrich, andere Namen unten hinzufügte oder auf eine der nächsten leeren Blattseiten schrieb. Das Telefon klingelte, und Frau Speer, das war der sportbezüglich und deutsch-geschichtlich besondere Name der Sprechstundenhilfe, nahm den Hörer ab, ohne den Blick von den Kladdenblättern zu nehmen.

Man sollte es den Herren des Hauses sagen,

lauter sollte man es ihnen in die Ohren blasen,

die als Funktionäre die großen Reden schwingen,

doch schweigen, wenn die aus der Not ihr Liedchen singen.

Da ballen sich tausend Fäuste in leeren Taschen

bei denen, die chronisch hungern und husten,

weil ihnen die Tuberkulose nicht nur im Nacken sitzt,

die ihnen den Tag grau macht und das Leben kürzt.

Sie standen Schlange fürs Brot und bekamen Steine,

viele fielen und waren tot, jeder dachte das seine

vom Leben fürs Leben, das Mütter der Zukunft geben,

wenn Generationen nach vorn schreiten und streben.

Wenn Steine schlagen statt menschlich gebender Herzen,

dann stehen Städte in Flammen und Kinder in Schmerzen,

denn die Familien sind zerbrochen im Fehlen der Väter

und aus klaffenden Gräben und Löchern ruft der Verräter.

Aus den Tiefen kommen die Rufe und von allen Seiten

von denen, die schliefen und träumten in die Weiten,

dass das Leben anders sei mit den duftenden Wiesen

in den sonnigen Hängen der Almen bergstolzer Riesen.

Der Morgen im nächtlichen Tau der Blätter und Gräser

hebt in der Berührung der Finger die vollen Gläser

mit den Säften aus wilden Früchten und Blütenhonig

zu neuen Kräften stemmender Säulenschäfte des Jonisch.

Was Jugend betrifft, sie braucht die führende Hand

zur Disziplin und zum Lernen im ruinierten Land,

dass sie nicht vergammelt schon in jungen Jahren,

um Intelligenz und ihre Aufbaukräfte zu bewahren.

Es muss gesprochen werden in klaren Sätzen,

Vision, Fleiß und Stärke braucht’s auf diesen Plätzen,

damit es mit dem Wiederaufbau vorwärts geht

und das Bauwerk der Zeit der Irrtum nicht verdreht.

Die Fremden kommen, man nennt sie Immigranten,

die bekommen Essen und Schlafplatz als Asylanten

kostenlos gestellt und das für nichts und wieder nichts,

weil sie die Heimat verlassen oder verloren haben.

Sie kommen mit Frauen und Kindern und bringen

noch die alten Menschen mit.

Dazu sprechen sie eine uns unbekannte Sprache

und krümmen keinen Finger,

dass sie ohne Arbeit das bessere Leben finden.

Der Mensch muss das Helfen wieder lernen,

wenn es um die Hungernden und die Kinder geht,

die das Zuhause und als Kinder ihre Eltern

verloren haben. So spricht ein kauender Politiker

vom vollen Tisch im Hause seiner Heimat.

Alfred Lehmann stand geduldig vor dem schmalen Schreibtisch und kam nicht umhin, das Telefonat insoweit mitzuverfolgen, dass Frau Speer den Namen des Anrufers nannte, davon sprach, dass der Doktor in den nächsten Tagen ausgebucht sei, obwohl die folgenden Kladdenblätter nur wenige Namen trugen oder noch ganz leer waren. Frau Speer beendete das Telefonat und trug den Namen des Anrufers auf einer völlig leeren Blattseite ein, was nach Zahl der vorwärts geblätterten Seiten gut eine Woche später bedeutete. Der Hörer war aufgelegt und der Name notiert, als Frau Speer mit blassem Gesicht und fad-blauen Augen aufsah und den ‘guten Morgen’ erwiderte, den ihr Alfred Lehmann nach Abklopfen der nassen Baskenmütze und gleich beim Eintreten gewünscht hatte. “Sie kommen sicher wegen der Schmerztabletten”, sagte sie mit hellseherischer Bestimmtheit, die die volle Zustimmung von Alfred Lehmann fand. “Sie sagen es, die Schmerzen nehmen mir den Schlaf”, sagte er. Frau Speer machte sich eine Notiz und sagte, dass er am Nachmittag das Rezept abholen solle. Alfred Lehmann fragte, ob da nicht mehr zu machen sei. “Wie meinen Sie das?”, fragte die Sprechstundenhilfe zurück, ohne ihr blasses Gesicht mit den fad-blauen Augen vom Papier auf dem schmalen Tisch zu nehmen. “Ich meine, sollte nicht mal ein Spezialist nach meinem Rücken schauen?”, antwortete er. “Das müssen Sie den Doktor fragen”, war die Antwort. Alfred Lehmann blickte auf die leeren Stühle im angrenzenden Wartezimmer und fragte, ob er den Arzt sprechen könne. Frau Speer sagte, dass Dr. Brettschneider in der Poliklinik beschäftigt sei und dass ein Termin vereinbart werden müsse, um ihn zu sprechen beziehungsweise ihm die Frage bezüglich eines Rückenspezialisten zu stellen. Alfred Lehmann dachte an neue Röntgenaufnahmen der Hals- und Lendenwirbelsäule, da die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurücklagen. Er unterließ es, das Gespräch in dieser Richtung zu vertiefen und sagte mit Blick auf das dauergewellte dunkelblonde Haar der Frau Speer, dass er am Nachmittag wiederkommen werde, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. “Das geht in Ordnung”, erwiderte die Sprechstundenhilfe im herben Ton der subalternen Bestimmtheit und setzte das Vor- und Zurückblättern in der Kladde fort.

Max und Otto:

Das verstehen wir nur zu gut,

denn auch uns fehlen die Väter oder

Mütter, der Bruder oder die Schwester

und legen uns krumm, ihr seht’s an unsrer Magerkeit.

Wir hungern uns durch Tag und Wochen,

und sind Menschen wie du und er,

wir sind Asylanten im eigenen Land,

das ist dir Politiker doch lange bekannt.

Paul:

Wir sind hier, denn uns beißen die Hunde,

der Hunger schwächt uns mehr mit jeder Stunde,

dabei sind wir verwandt um wenige Ecken,

haben als Kinder geteilt das Brot und die Decken.

Die Nachbarhilfe, die gute, stand jedem zu,

Einer sorgte für den andern und dessen innere Ruh

ob bei Tage oder Nacht, stets hielt einer Wacht,

denn das Leben braucht den andern, das wohlbedacht.

Wer andern im Geheimen die Zunge raussteckt,

ist einer von den vielen, der nur an sich selber denkt

und den Mut nicht hat, über sich hinaus zu blicken,

um das Kind mit den großen Augen zu beglücken.

Alfred Lehmann verließ die Praxis, schloss die Praxistür und setzte sich die abgegriffene, nasse Baskenmütze, das kriegsweihnachtliche Geschenk seines Onkels Karl, wieder auf den Kopf. Der Regen nieselte weiter vor sich hin und nässte von neuem das Gesicht, dass er sich mit der bloßen Hand dann durch das Gesicht fuhr, wenn das Nass wie aus dem Kränchen von der Nase zu tropfen begann. Er machte noch einen Schlenker durch die Stadt und hatte sich vorgenommen, einen Bekannten in der Geschwister Scholl-Straße, einer kleinen Nebenstraße hinter dem ‘Platz der Revolution’ zu besuchen, den er vor einigen Jahren bei seinen Spaziergängen durch den kleinen Buchenwald außerhalb der Stadt kennengelernt hatte, als es mit dem Rücken noch besser ging. Der kleine Buchenwald hat seinen Namen behalten. Auf der rechts vom Weg zum Waldeingang aufgestellten Tafel von einer Größe von fünfzig mal fünfunddreißig Zentimetern stand geschrieben: “Im Gedenken der Opfer gegen den Nazi-Faschismus”. Alfred Lehmann wusste, dass der Bekannte so wie er selbst Mitglied der Partei mit dem ovalen Abzeichen mit dem Handschluss war und stellte sich daher auch die Frage, ob dieser Buchenwald spazierende Bekannte über die Parteimitgliedschaft hinaus noch weitere antifaschistische Horch-Aktivitäten betrieb, was aus den Gesprächen beim Nebeneinanderspazieren, die von seiner Seite deshalb behutsam geführt wurden, nicht herauszuhören waren. Er überquerte den ‘Platz der Revolution’, bog von der breiten ‘Straße des Widerstands’ in die dritte Nebenstraße, die Geschwister Scholl-Straße, links ab und blieb vor der Haustür mit der Nummer 17 und dem abblätternden fleckigen Grauputz stehen. Er drückte auf den Klingelknopf zum zweiten Obergeschoss und streifte mit der anderen Hand das Nass von der Baskenmütze. Er drückte das zweite Mal auf den Klingelknopf, als ein Fenster im zweiten Obergeschoss geöffnet wurde, und der Kopf von Otto Schulte mit dem grau-fahlen Gesicht eines gealterten Mannes mit schütterem Weißhaar und Stirnglatze von oben nach unten zum Hauseingang blickte.

“Ach Sie sind es, Lehmann. Ich drücke den Türöffner”, sagte Otto Schulte, zog den Kopf zurück, schloss das Fenster und drückte von oben den Türöffner. Alfred Lehmann schlug die nasse Baskenmütze einige Male gegen den Regenmantel, fuhr mit der Hand über das Haar und nasse Gesicht, legte die Haustür ins Schloss und nahm die Schritte durch den schmalen Flur im Erdgeschoss mit der Baskenmütze in der linken Hand. Er spürte beim Steigen der schmalen Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken den stechenden Rückenschmerz mit dem Muskelkrampf bis in beide Lenden, dass er mit der rechten Hand am Geländer entlangfuhr. “Das ist heute kein Wetter für den Buchenwald”, begrüßte ihn oben Otto Schulte vor der halb geöffneten Wohnungstür. “Kommen Sie rein. Den nassen Mantel legen Sie am besten über das Geländer”, fügte Otto Schulte der Vorsicht halber hinzu. Alfred Lehmann folgte der Hinzufügung, zog den grauen Regenmantel vor der Wohnungstür aus und legte ihn über das Geländer, das weiter zur Dachgeschosswohnung führte. So tropfte das Nass vom Kragen, den Mantelsäumen und Ärmelenden vom zweiten Obergeschoss den schmalen Treppenschacht herab bis zum Erdgeschoss.

Otto Schulte hatte den mitspazierenden Weggefährten durch den Buchenwald in besseren Tagen in das beengte Wohnzimmer geführt und ihm einen ausgesessenen schmalen Sessel in der Sitzecke vor dem Fenster zum Sitzen angeboten. “Was treibt Sie denn durch das unfreundliche Wetter?”, fragte Otto Schulte, der das offizielle Medienblatt ‘Neues Deutschland’ vom anderen ausgesessenen Sessel nahm, zusammenfaltete und auf den Boden links neben den Sessel legte. “Der Rückenschmerz”, antwortete Alfred Lehmann. “Wie kann ich das verstehen?”, fragte Otto Schulte und fügte hinzu: “Bei so einem Wetter kann doch der Rückenschmerz nur schlimmer werden.” “So ist es. Deshalb bin ich zum Arzt gegangen, damit er mir neue Schmerztabletten verschreibt”, erklärte Alfred Lehmann die Situation. Otto Schulte verstand die Situation und wiederholte, was er von einem der Gespräche der gemeinsamen Spaziergänge durch den Buchenwald wusste, dass der Rückenschmerz Folge eines Sturzes vom Gerüst sei, was Alfred Lehmann mit einem Kopfnick bestätigte. “Dann haben Sie aber schon viele Jahre diese Schmerzen”, folgerte Otto Schulte richtig und stellte die Frage, ob da nicht die Behandlung durch einen Wirbelsäulenspezialisten angezeigt sei. Alfred Lehmann verstand die Fragestellung und sagte, dass er auch daran gedacht habe. “Und was sagt ihr Arzt?”, erweiterte Otto Schulte die Fragestellung. “Der hält das offensichtlich für erfolglos. Jedenfalls hat er davon nichts gesagt. Ich kann aber nicht sagen, dass er an eine Spezialbehandlung nicht gedacht hat”, erwiderte Alfred Lehmann. “Dann müssen Sie ihn eben darauf ansprechen. Vielleicht lässt sich doch durch eine Operation eine Besserung erzielen”, schlussfolgerte Otto Schulte. Dieser Schlussfolgerung konnte Alfred Lehmann ebenfalls folgen, wenn er auch Bedenken hatte, ob eine solch aufwendiger medizinischer Vorgang, wie es eine Operation an der Wirbelsäule ist, einem Rentner als einem ‘Otto Normalverbraucher’ von staatlicher Seite zugestanden wird. “Versuchen können Sie es doch”, reagierte Otto Schulte auf die Bedenken des Spaziergangsgefährten durch den Buchenwald. Er bot sich gegenüber Alfred Lehmann sogar an, einem höher gestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit das Rückenproblem vorzutragen, um von höherer Stelle die nötige Unterstützung zu bekommen. Alfred Lehmann zog die Stirn in Falten und stellte sich die Frage, ob so etwas überhaupt möglich sei in einem sozialistisch reglementierten Arbeiter- und Bauernstaat. Auch wunderte sich Alfred Lehmann, dass Otto Schulte über solche höherreichenden Verbindungen verfügte, was ihn reflektorisch auf den Verdacht eines ‘antifaschistischen Horchlöffels’ brachte, wofür er aber bislang keinerlei Anhaltspunkte bei den gemeinsamen Spaziergängen durch den Buchenwald herausgehört hatte.

Ein Herr aus der Menge:

Immer das Gerede, und es tut sich nichts.

Es ist schon schlimm, wie voll sich das Mundwerk nimmt

mit den abgedroschenen Sprüchen von Gleichheit und Recht,

das ist, wenn es in die Praxis geht, doch nicht echt.

Denn in Wahrheit gilt die Gleichheit nur den Armen,

die das Dauerproblem mit dem fehlenden Brot und Geld längst haben,

dass da keiner dem andern auf den Teller sieht,

der ohne ein Krümel verlassen auf dem Tische steht.

Diese Gleichheit sieht man den Armen von weitem an,

so den Kindern mit den schmalen Gesichtern,

dass nichts zu verstecken ist, weil es nichts zu verstecken gibt,

was nur der notorische Rechthaber in Zweifel zieht.

Arme dünn, Beine dünn, nicht anders sind die langen Hälse,

das Leben quält die Armen, deren Schuld die Armut ist.

Dazu zählen, zur großen Schande sei’s gesagt, das Kind,

das in der Ecke hockt mit aufgebissener Lippe und schweigt.

Es sind die alten Unterschiede in so vielen Dingen,

dass sich der Wohlstand auf die Wenigen beschränkt,

während Hunger und Härte die Vielen bedrängt,

die mager und wehrlos ums nackte Überleben ringen.

Die Sprache von oben ist hart und rücksichtslos,

von unten kommt das Stöhnen zwischen Wort und Ruf.

Es ist das Bangen um den Erhalt des Provisoriums,

weil in ihm die Matratze für Kopf und Körper ist.

Hinzu kommt, dass die Gutgenährten sich tragen lassen

von den Mageren mit den dünnen Armen und Beinen,

den Ausgemergelten quasi auf den Schultern sitzen,

die sich unter den Lasten krümmen und zu Tode schwitzen.

Dass sich die Menschen durch Armut und Elend plagen,

sind Geschichten, die es schon aus dem Altertum beklagen,

wenn die Plebejer die langen Straßen pflastern,

während die Patrizier vom hohen Ross herunter lästern.

Die Welt ist geblieben, was sie war, vom gleichen Schlag,

das spüren Menschen der harten Arbeit Tag füt Tag.

Dafür danken die Wenigen von den Höhen der Geburt,

dass ihnen die Härte der Lasten abgenommen wurde.

Andere sind’s, sie sprechen von Vernunft und Gerechtigkeit,

was immer das ist, das der gründlichen Erklärung bedarf,

weil von Gerechtigkeit so wenig und vom Gegenteil so viel

zu sehen ist, dass der Zweifel mehr als nur berechtigt ist.

Sieht man die Toten, Menschen, die für’s Gute ihr Leben gaben,

dann glaubt man den Geboten: Du sollst nicht töten,

doch zweifelt am Menschen, dem es gilt, warum er’s weiter tut,

anstatt den Krieg zu hassen und nicht den Menschen.

Otto Schulte erwähnte, dass er einen Sohn im Zentralkomitee sitzen habe, der einiges möglich machen kann, was ein gewöhnlich Sterblicher im Staat der sozialistischen Errungenschaft und Verbrüderung, wenn überhaupt, nur schwer erreichen könne. Alfred Lehmann nahm es zur Kenntnis, ohne weitere Fragen bezüglich des hoch angekommenen Sohnes zu stellen. Er dachte dabei an seinen Sohn Kurt, der es zum Fregattenkapitän bei der Volksarmee gebracht hatte, den er wegen seiner Rückenschmerzen hätte ansprechen können, was er jedoch nicht getan hatte, weil er auf die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und in der medizinischen Betreuung in diesem Staat vertraut hatte, aber von der Ungleichheit vor beidem, dem Gesetz und den medizinischen Möglichkeiten, enttäuscht worden war. Die sozialistischen Errungenschaften hatten eine politische Eliteklasse, die Nomenklatura, hervorgebracht, der er als ‘Otto Normalverbraucher’ eben nicht angehörte und die Alfred Lehmann als eine chauvinistische Missgeburt betrachtete. Otto Schulte führte das Gespräch auf die überteuerten Lebensmittelpreise in den Läden der staatlichen Handelsorganisation und sagte, dass er sich schwerlich vorstellen könne, wie sich eine kinderreiche Familie mit nur einem verdienenden Brotbringer ordentlich ernähren könne. “Von Luxusartikeln wie einem Trabi oder qualitativ hochwertigen Geräten oder einer anspruchsvollen Kleidung will ich gar nicht reden. Da wird doch eine Zeitbombe gesetzt, die spätestens in der nächsten Generation hochgehen kann”, sagte Otto Schulte. Alfred Lehmann staunte über die offene, nicht-konforme Äußerung und stellte sich vor, wie der hochgestellte Sohn vom Zentralkomitee mit hochgezogener Stirn auf seinen Vater herabgeblickt und ihn zur sozialistischen ‘Ordnung’ oder Linientreue ermahnt hätte.

Otto Schulte sah ihn mit dem grau-fahlen Gesicht mit den Falten um die blauen Augen und dem schütteren ergrauten Haar mit der Stirnglatze an, als erwartete er eine Antwort. “Ich stimme ihnen zu, dass das Leben im Sozialismus teuer geworden ist, dass es ein Einzelner gar nicht schaffen kann, eine Familie mit mehr als einem Kind zu unterhalten”, erwiderte Alfred Lehmann. Darauf meinte Otto Schulte, dass die Geburtenkontrolle eine preisgebundene sei, worin sich der Sozialismus nicht vom Kapitalismus unterscheide. Die Äußerung setzte Alfred Lehmann in stärkeres Erstaunen, dass der Spaziergangsgefährte durch den Buchenwald den Sozialismus mit seinen Errungenschaften auf eine Stufe mit dem Kapitalismus setzte. Eine innere Stimme sagte ihm, vorsichtig wenn überhaupt auf diese Äußerung zu reagieren. “Da müssen eben beide Eltern arbeiten. Da meine ich unterscheidet sich die sozialistische Gesellschaft von der kapitalistischen, dass in diesem Arbeiter- und Bauerstaat jeder Arbeit findet, wenn er arbeiten will. Arbeitslosigkeit kennt der Sozialismus im Gegensatz zum Kapitalismus nicht.” Das war die Resonanz von Alfred Lehmann auf die sozialistisch-kritische Äußerung von Otto Schulte bezüglich der preisgebundenen Geburtenkontrolle, wobei er der inneren Stimme zur Vorsicht gefolgt war.

Otto Schulte holte eine Flasche Pils der VEB-Brauerei Wismar und zwei Biergläser und füllte beide Gläser. “Trinken wir auf die sozialistische Zukunft.” Mit diesem Trinkspruch erhob er das Glas und sagte ‘prost’. Alfred Lehmann folgte, hob sein Glas mit dem Gegenprost und spülte mit dem zu wenig gekühlten Bier den bitteren Beigeschmack mit der sozialistischen Zukunft von der Mundschleimhaut. “Wissen Sie”, fuhr Otto Schulte fort und setzte das Glas auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches, “ich habe mir die sozialistischen Errungenschaften etwas anders vorgestellt. Ich hatte die Vorstellung, dass sich der Sozialismus durch eine gerechte Güterverteilung nach dem Gleichheitsprinzip vom Kapitalismus unterscheidet. Es hat sich aber eine Zweiklassengesellschaft herausgebildet, in der die Staatsfunktionäre oben die Sahne abschöpfen und die Magermilch für den Normalverbraucher unten übrig bleibt. Das verstößt meines Erachtens gegen das Gleichheitsprinzip. Was meinen Sie dazu?” Alfred Lehmann nahm einen Schluck vom zu wenig gekühlten Bier, setzte das Glas zurück und sagte, dass er da nicht widersprechen könne. “Dann teilen Sie auch meine Meinung”, fuhr Otto Schulte fort, “dass ein unausgewogener oder ungleich hantierter Sozialismus die Gefahr des Weg- oder Umkippens habe, wenn das System auf unsoliden Säulen ruht. Aber gerade das braucht unser neues Deutschland nach den beiden großen Kriegen nicht, und spätestens die junge Generation wird auf die Ungleichheit der Behandlung mit einem Sturm der Empörung reagieren. Sie wird die Oberklasse der Funktionäre als die neue Ausbeuterklasse brandmarken, die den Fleiß der arbeitenden Klasse zu ihrem Vorteil ausbeuten und durch ihre Raffgier den Sozialismus ruinieren und letztendlich als ein ausgehöhltes totes Gebilde zum Einsturz bringen.”

Aus den Lehren wächst die Forderung der Jugend,

die junge Brücke der Verständigung nicht wieder zu sprengen,

sondern zu festiigen, zu beleuchten und gehsicher zu machen,

damit Menschen von beiden Seiten aufeinander zugehen können,

um sich zu umarmen.

Versöhnung ist dringendst gefordert, dass Wert und Würde

ins Leben kommen, denn das Leben ist von kurzer Dauer, die nicht durch Hass und Mord noch weiter zu verkürzen ist,

dass sich der Geier in Menschengestalt am Profit noch länger überfrisst.

Max, Otto und Paul:

Das haben wir gelernt:

Die Jugend irrt in ihrem Streben,

dass der Meister ruft: Man sollt’ euch eine kleben,

denn für’s Leben, wie es ist, seid ihr noch zu dumm,

denn wenn’s drauf ankommt, bleibt ihr stumm.

Schlägt der Hammer die Schwere auf den Amboss,

dann schallt die Macht des Augenblicks tief ins Gehör.

Die Furcht brennt zur Angst und türmt sich hoch,

dass Meißelschläge die Form des Tages prägen.

Alfred Lehmann war sprachlos über die offene Kritik in der Handhabung des Sozialismus im neuen Deutschland und wusste der Kritik weder etwas hinzuzusetzen noch sie anhand von Tatsachen abzumildern. Er entschuldigte sich damit, dass er zur Praxis seines Arztes gehen müsse, um das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen, obwohl der Abholtermin erst für den Nachmittag vereinbart war, weil Dr. Brettschneider den ganzen Vormittag in der Poliklinik beschäftigt sei, wie Frau Speer, seine Sprechstundenhilfe, sagte. Alfred Lehmann drank das Glas aus und stellte es auf die verkratzte Glasplatte des kleinen Klubtisches. Otto Schulte begleitete ihn vor die Wohnungstür und sah zu, wie Alfred Lehmann den grauen Regenmantel vom Treppengeländer nahm und sich anzog und die abgegriffene schwarze Baskenmütze, das Erbstück seines Onkels Karl auf den Kopf setzte und in die richtige Position schob. “Ihrem Rücken wünsche ich eine gute Besserung”, sagte Otto Schulte, während sich Alfred Lehmann den Regenmantel zuknöpfte und mit der linken Hand noch einmal über die Baskenmütze strich. “Denken Sie daran, den Arzt auf die Spezialbehandlung bei einem Orthopäden anzusprechen. Wie gesagt, ich könnte in dieser Sache mit einem höhergestellten Funktionär im Ministerium für Volksgesundheit sprechen, um eine operative Behandlung mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit zu ermöglichen.” Nach diesem Schlusskommentar von Otto Schulte gaben sich beide die Hand, und Alfred Lehmann dankte für das Bier und das Angebot. Sie gingen auseinander, Otto Schulte zurück in die Wohnung, wobei er die Wohnungstür leise in Schloss legte, und Alfred Lehmann die Treppe herunter mit den ausgetretenen quietschenden Stufenplanken und der linken Hand am Geländer wegen der erheblichen Rückenschmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten. Er drehte am Knopf und zog den Schließbolzen der Haustür zurück und schloss die Haustür mit dem Schnapplaut des Verschlusses.

Politiker:

Gebt endlich Ruh,

ich muss an den Schreibtisch zurück,

um an der Rede zu arbeiten,

die ich vor den Menschen der Verwaltung

zu halten habe.

Der Herr:

Ihr hört’s: Die Politik wird in

die Verwaltung getragen,

denn an die harte Arbeit kommt sie nicht heran.

Man kann sagen: Politik ist für die Sitzenden,

den Stehenden mit dem Meißel in der Hand

und den anderen mit den schlagenden Hämmern

hat sie nichts zu sagen.

Der Nieselregen dauerte an, und Alfred Lehmann fuhr mit der bloßen Hand durch das nasse Gesicht, als er den ‘Platz der Revolution’ erreichte und in Richtung Bäckerei Pollack am anderen Platzende ging, um dort eine Tasse Kaffee zu trinken und ein belegtes Brötchen zu essen, das für den Mittag reichen sollte. Frau Pollack begrüßte ihn freundlich mit den Worten: “Eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit frischer Leberwurst”. Alfred Lehmann nickte und hängte den tropfenden Regenmantel und die Baskenmütze so an den Ständer, dass der Mantel auf einen ausgelegten Scheuerlappen tropfte. Er nahm am kleinen Fenstertisch mit der runden Tischplatte Platz und wartete auf das Bestellte, während er aus dem Fenster sah und den Verkehr auf der nassen Straße mit den quäkenden und qualmenden Trabis und Zweitakt-Motorrädern und die vorübergehenden Fußgänger auf den mit Pfützen überzogenen Gehsteigen verfolgte und in Gedanken bei dem Gespräch mit Otto Schulte war. Frau Pollack setzte die Tasse Kaffee mit Teelöffel und zwei Zuckerwürfeln auf der Untertasse und ein Schälchen mit Trockenmilch und den Teller mit dem Leberwurstbrötchen auf die runde Tischplatte und wünschte dem Gast einen guten Appetit. Da kein weiterer Kunde im Geschäft war, kam es zu einem Gespräch, in dem Frau Pollack fragte, ob Alfred Lehmann auch davon gehört habe, dass viele DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei die Republik verließen, um in den Westen zu kommen. Einige Hundert hielten sich auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag auf und weigerten sich, in die DDR zurückzukehren. Sie würden von der Botschaft mit Essen versorgt. Sogar Zelte seien von der Botschaft aufgestellt worden. Alfred Lehmann schaute auf das Leberwurstbrötchen und hatte das Bild des Untergangs der Republik vor dem geistigen Auge, als er leise sagte, dass er auch davon gehört habe und sich nicht vorstellen könne, wie es mit der Republik weitergehen soll. Darauf sagte Frau Pollack, dass sie seit Jahren das ungute Gefühl hätte, dass der Sozialismus durch das Schmarotzertum der Funktionärsklasse bald am Ende sei. “So etwas kann doch auf Dauer nicht gutgehen, wie die sich da oben in Berlin benehmen und alles unter den Nagel reißen und wie die Maden im Speck mit westlichem Luxus leben. So etwas ist doch nicht in Ordnung. Das hat doch mit Sozialismus nichts mehr zu tun”, erregte sich Frau Pollack.

Ein Kunde betrat die Bäckerei, und Frau Pollack ging zur Theke zurück. Alfred Lehmann aß das Brötchen mit dem Appetit des leeren Magens und sah dabei aus dem Fenster. Nach dem Gespräch am kleinen runden Tisch betrachtete er die vorübergehenden Menschen im Nieseldauerregen mit ‘anderen’ Augen und erkannte in ihren Gesichtern die Zeichen der Unzufriedenheit, die ihm so deutlich vorher nicht aufgefallen waren. Das mit dem weniger Aufgefallensein hatte auch mit seinen Rückenschmerzen zu tun, dass er in den letzten Wochen und Monaten seltener einen Gang durch die Stadt unternommen und sich mehr in seiner Dachwohnung aufgehalten hatte mit dem Blick durch das Dachfenster auf die Straße oder Zeitung lesend, wobei sich die Zeitung auf das ‘Neues Deutschland’ beschränkte, in der von solchen unzufriedenen Gesichtern in keinem der Artikel die Rede war. Im Gegenteil, die Leitartikel auf den Frontseiten und die anderen Artikel auf den folgenden Seiten priesen in unverminderter Großherrlichkeit die Errungenschaften des sozialistischen Aufbaus und die Unterstützung afrikanischer Länder im Befreiungskampf gegen Apartheid und Kolonialismus. Schwarze Kinder aus Mosambik und Namibia wurden in der DDR aufgenommen, wo sie in Stassfurt zur Schule gehen und in Heimen untergebracht und großzügig versorgt werden. Afrikaner studieren an den Universitäten der DDR. Doch die Gesichter der Bürger der DDR verrieten, dass es mit der Praxis des Sozialismus nicht stimmte. Die Zeitbombe, von der Otto Schulte sprach, tickte. Es war eine Frage der Zeit, dass das missbrauchte Volk auf die Straße gehen und gegen die Beton- und Schröpfköpfe eines ausgehöhlten, maroden und verkalkten Systems protestieren würde. Die Werte einer guten Ideologie waren verbraucht. Die Theorie des Sozialismus mit der gerechten Güterverteilung scheiterte an der orthodoxen Engstirnigkeit, dem Lügenmaul und der rücksichtslosen Verschwendungssucht der Funktionäre. Sie sind die Ausbeuter am Volk und die Verräter an einer guten Sache mit einer guten Idee, die für die Verrottung und den Untergang des Sozialismus verantwortlich zu machen sind.

Alfred Lehmann zahlte Kaffee und Brötchen, zog den grauen Regenmantel an und setzte die abgegriffene schwarze Baskenmütze auf und verließ die Bäckerei Pollack. Er setzte den Spaziergang in den frisch besohlten Schuhen im anhaltendem Nieselregen fort und ging einige Male um den ‘Platz der Revolution’. Was ihm bei diesem ‘revolutionären’ Rundgang auffiel, was ihm mit weniger Rückenschmerzen vor Wochen so nicht aufgefallen war, waren die kleinen Menschengruppen an den Ecken des Platzes, die unter aufgespannten Schirmen beieinander standen und miteinander sprachen. Dass Menschen der Stadt das bei diesem unwirtlichen Wetter taten, sagte ihm, dass sie etwas Wichtiges zu hören und zu sagen hatten, was über die Schönwettergespräche hinausging. Innerlich fühlte sich Alfred Lehmann erschrocken, dass er diese Art des Zusammenstehns vorher nicht beachtet oder nicht gesehen hatte. Die Grüppchen standen noch zusammen, als er das vierte, das fünfte und das sechste Mal um den ‘Platz der Revolution’ mit grauem Regenmantel und schwarzer Baskenmütze spazierte und sich in Abständen das Nass mit bloßer Hand vom Gesicht wischte. Gesichter von Bekannten konnte er in den Grüppchen nicht ausmachen, weil die Menschen, es waren Männer und Frauen, ihm entweder den Rücken zukehrten oder die Gesichter unter den Schirmen verbargen. Das vage Gefühl wurde ihm zur ‘nassen’ Gewissheit, dass es mit dem Sozialismus bergab geht, auch wenn Menschen mit ihm über die sozialistische Talfahrt bislang nicht offen gesprochen hatten, wenn er von Frau Pollack und Otto Schulte einmal absah. Er verstand das Gruppenstehen der Menschen auf dem ‘Platz der Revolution’ als den Beginn des Aufbegehrens in Form einer friedlichen Demonstration und stellte sich vor, wie die Gruppen von Woche zu Woche mehr und größer wurden und die Bürger der Republik anfangen würden, mit Kerzen und Spruchbändern schweigend durch die Stadt zu ziehen. Doch erstaunlich war die Tatsache, dass die Bürger die Angst vor der permanenten Überwachung durch die allgegenwärtige Stasi ablegten, um ihrem Unmut und ihrer Verbitterung über die desolaten Verhältnisse eines abgewirtschafteten Sozialismus Ausdruck zu verleihen.

Alfred Lehmann ging noch das siebte Mal mit den schicksalsschweren Gedanken des Zusammenbruchs des Sozialismus und der bürgerlichen Revolution um den ‘Platz der Revolution’ und bog in die Rosa-Luxemburg-Straße ab, um bei Frau Speer, der nicht mehr jungen blassgesichtigen Sprechstundenhilfe von Dr. Brettschneider das Rezept für die Schmerztabletten abzuholen. Es war früher Nachmittag, als er die Baskenmütze vom Kopf zog und mehrere Male gegen den nassen Regenmantel schlug, die Praxistür öffnete und hinter sich schloss und die wenigen Schritte bis zum schmalen Tisch machte, hinter dem Frau Speer saß und wie am Morgen in der Kladde vor- und zurückblätterte. Sie sah mit ihren fad-blauen Augen hoch: “Sie kommen aber früh. Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Herr Doktor kam erst spät aus der Poliklinik zurück und muss das Rezept noch schreiben.” Alfred Lehmann: “Dann fragen Sie den Arzt, ob nicht neue Röntgenbilder in Anbetracht der zunehmenden Rückenschmerzen angebracht wären und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Er nahm im Wartezimmer, in dem er der einzige wartende Patient war, Platz und machte sich seine Gedanken über den Morgen und die Republik. Es dauerte länger, als Frau Speer aus dem Sprechzimmer zurückkam und sich hinter ihren schmalen Tisch setzte und Alfred Lehmann aus dem Wartezimmer rief: “Hier ist ihr Rezept. Ich habe Herrn Doktor ihre Fragen gestellt. Er sagte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da keine Wunder zu erwarten sind. In punkto Spezialist sagte Herr Doktor, dass ihrer Wirbelsäule nicht mehr zu helfen sei als die Schmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle zu bringen. Sie werden verstehen, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.” Sie überreichte das Rezept mit ausdruckslosem Gesicht, und Alfred Lehmann verließ die Praxis enttäuscht, dass der Arzt bei leerem Wartezimmer sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, ihn und seinen Rücken zu untersuchen.

Es rüttelt und schlägt ans Gittertor der Pforte,

das aus Eisen geschmiedet ist.

Haus und Scheune sind verschwunden, dazwischen lag der Krieg mit seinen Wunden.

Du weißt, die Pforte kann verschlossen sein,

dann ist der dicke Riegel vorgeschoben.

Durch die Nächte schlug es an den Riegel hart,

dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.

Trifft der Morgenblick die Morgenblume,

dann ist sie die Mahnesrune im harschen Wetterbruch.

Denn nicht alles steht, was stehen soll und ohne Tuch

nach durchkämpfter Nacht in Traum und Wirklichkeit.

Schwer liegt das Schweigen auf der Brust,

noch schwerer wiegt der Morgen,

wenn zu den ganz normalen Alltagssorgen

das Wort des Abschieds über deine Lippen kommt.

Du schautest zurück in letzte Stunden,

gabst weiten Raum der stillen Sehnsucht letzte Runden

mit dem Wunsch nach Frieden dieser Zeit.

Er schloss die Praxistür von draußen, setzte sich die abgegriffene schwarze Baskenmütze auf den Kopf und ging zur nächsten Apotheke in der Weidemann-Straße, einer Nebenstraße der Rosa Luxemburg-Straße. Apotheker Traunicht, ein untersetzter Herr jenseits der Mitte der Lebensjahre mit blassem Gesicht und schütterem grauen Haar nahm das Rezept entgegen, ging zu den Regalen und füllte einen kleinen Plastikbehälter mit Tabletten, die er auf einem Tablett vorher abgezählt hatte. “Das sind ihre Tabletten”, sagte Herr Traunicht, als er den halb gefüllten Plastikbehälter auf die Theke stellte und den herabgesetzten Rentnerbetrag verlangte. Alfred Lehmann zahlte den Betrag, und Herr Traunicht gab das Wechselgeld heraus und fragte, wie es sich mit den Rückenschmerzen verhalte. “Die werden von Monat zu Monat stärker”, antwortete Alfred Lehmann. “Dann soll Sie ihr Arzt zu einem Spezialisten überweisen”, sagte Herr Traunicht. “Das habe ich die Sprechstundenhilfe auch gefragt, die die Frage an den Arzt weitergegeben hat”, erwiderte Alfred Lehmann. Der Apotheker: “Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie die Frage nicht selbst an ihren Arzt gerichtet?” Alfred Lehmann: “Weil der für mich keine Zeit hatte oder sich keine Zeit nahm.” Der Apotheker: “Das sind schon komische Zustände, dass sich ein Arzt für einen Patienten, auch wenn er ein Rentner ist, keine Zeit nimmt.” Alfred Lehmann: “Der Arzt ließ durch die Sprechstundenhilfe sagen, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, obwohl die letzten Aufnahmen zwei Jahre alt sind, und dass meiner Wirbelsäule auch durch einen Spezialisten nicht mehr zu helfen sei. Ich müsse die Rückenschmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle halten.” Apotheker Traunicht machte ein ernstes Gesicht, als wollte er sich für das schlechte Verhalten des Arztes entschuldigen: “Ich sage ihnen, unser Gesundheitssystem ist wie das ganze System mit dem guten Namen Sozialismus durch und durch verrottet. Das kann einfach nicht gut gehen. Das sage ich ihnen in aller Offenheit.”

Alfred Lehmann steckte den kleinen Plastikbehälter in die linke Manteltasche und verließ die Apotheke. Er machte sich auf den Heimweg zu seiner Dachwohnung im Altbau mit dem bröckelnden Grauputz am Schleusenweg 3. Er musste sich anstrengen, die schmale Treppe mit den muldig ausgetretenen Stufenplanken bis obenhin zu steigen. Der Rücken machte ihm starke Schmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten und die Rückenmuskeln verspannten. Er zog den nassen grauen Mantel mit Mühe aus und hängte ihn an den Haken im kleinen Flur. Die abgegriffene schwarze Baskenmütze war noch auf dem Kopf, als Alfred Lehmann in der kleinen Mansardenküche ein Glas mit chlorrüchigem Leitungswasser füllte, zwei Schmerztabletten in den Mund steckte und mit dem Wasser aus dem Glas runterspülte. Er setzte sich an den kleinen Tisch im Wohnzimmer und stützte die Ellenbogen fest auf die Tischplatte, um die Wirbelsäule zu strecken, wobei er eine leichte Schmerzlinderung spürte. Der Spaziergang hatte ihn doch erschöpft, dass er nach einigen Minuten Ellenbogenstütze am Esstisch sich aufs Bett legte, wo ihm die Baskenmütze vom Kopf rutschte und er schließlich dem Schlaf der Erschöpfung verfiel. Es klingelte mehrere Male, bis Alfred Lehmann Stunden später erwachte. Kurt stand vor der Tür, was den Vater erstaunte nach Jahren ausgebliebener Besuche seines jüngeren Sohnes. Auch hatte Kurt dem Vater nur selten einen Brief geschickt, und das nicht xu jedem Geburtstag oder jeder Weihnacht. Kurt hängte seinen trockenen Uniformmantel eines Fregattenkapitäns der Volksarmee neben Vaters klammen grauen Mantel an den Haken und setzte sich an den kleinen Esstisch im beengten Wohnzimmer. Der Vater sah kurz aus dem Fenster, bevor er es schloss, und sah den schwarzen Volvo, den Wagen der gehobenen Luxusklasse für die hohen Offiziere und Funktionäre, unten vor dem Haus parken. Der Nieselregen dauerte an. Er fragte den Sohn, ob er allein gekommen sei, worauf Kurt sagte, dass der Fahrer im Wagen warten könne. Darauf setzte sich der Vater zum Sohn an den kleinen Esstisch.

Dem neuen Tag brennen die Augen entgegen,

macht schon das Gestern im Denken verlegen,

wie das Leben heute und morgen werden kann,

wenn nichts mehr steht, was hundert Jahre stand.

Aus der Dämmerung steigt das Licht in den Morgen,

wieviel mehr wär aus der Wahrheit in den Tag zu borgen,

um Fehler und Verfehlung von gestern zu meiden

und den Stolz zu spüren, wenn Tiere in Frieden weiden.

Es sollen Wiesen sein im frischen Morgentau,

dass sich junges Leben im Wohlbefinden stellt,

es sind die Tropfen an den Blättern und Gräsern,

sie fallen im All der Unschuld und rollen herab.

Ich sehe die frühen Menschen mit ihren Sorgen

in den von Müdigkeit tief geröteten Augen,

denn ihnen geht die Arbeit bis in die späten Stunden,

was über die Jahre kaum einer schafft mit den Runden.

Menschen blicken ernst und dunkel,

nicht einer sprüht Freude im Augenfunkel.

Gekrümmt gehen sie schon in jungen Jahren

und andere am Stock, dass sie wie alte Menschen waren.

Was geht denn an in dieser lauten Welt,

wenn sie den Menschen nicht gefällt?

Sie werden Opfer der Gier nach Macht

und führen ein Leben, das für andere schafft.

So ist vieles anders, wie es einmal war,

die Hände sind ungeschickt geworden,

sie brechen Dinge der feineren Art,

dass man ihnen nicht mehr trauen kann.

Hinzu kommt die Verbiegung von Wahrheit und Moral,

manches geht verloren, anderes wird zur Qual.

Da bleibt an diesem Morgen keine weitere Wahl,

als den Weg nach Norden oder Süden zu nehmen.

Menschen sagen Dinge, die nicht immer stimmen,

ob am Morgen oder Abend oder zwischendrin,

so bei Tische oder auf den Plätzen und den Straßen,

wenn die Zigaretten noch glimmen über die Maßen.

Alfred Lehmann schaute in das Gesicht des Sohnes und bemerkte, dass das Gesicht nicht nur älter geworden war, sondern auch die frühen Sorgenfalten bekommen hatte, die kommen, wenn die Verantwortung mit einer besonderen Herausforderung verbunden ist, oder wenn der Berufsalltag über die Normen der Routine erheblich hinausgeht. “Wie geht es dir? Du hast dich lange nicht blicken lassen.” Das waren die beiden Einstiegssätze des Vaters an den Sohn, um das Gespräch zu eröffnen. Kurt schaute in das schmerzgeplagte grau-fahle Gesicht des Vaters und suchte nach einer passenden Entschuldigung, die er nicht fand, weil es keine Entschuldigung gibt, den Vater solange weder besucht noch ihm geschrieben zu haben, obwohl er vom angegriffenen Zustand des Vaters wusste. Kurt hatte sich zu schämen, dass er den Vater auch in materieller Weise vernachlässigt hatte, sah er doch die beengten, ja erbärmlichen Verhältnisse, in denen der Vater lebte und mit der kleinen Rente zu leben hatte. Der Vater las es in den Augen des Sohnes, dass er sich nicht wohl fühlte, weder mit ihm am nackten kleinen Esstisch in der Mansardenwohnung noch im Allgemeinen. “Wie geht es dir? Was führt dich her? Du weißt, dass dein Besuch den großen Seltenheitswert hat.” Mit diesen Sätzen wollte Alfred Lehmann dem Sohn auf die Sprünge helfen. Kurt musste einige Denkkurven genommen haben, als er von einer ganz anderen Ecke, als es der Vater erwartet hatte, zu sprechen begann: “Ich glaube, wir haben Probleme”, sagte Kurt. “Wie meinst du das?”, fragte der Vater. Kurt: “Das System wackelt.” Vater: “Ach so meinst du das.” Kurt: “Die Sicherheitsmaßnahmen sind drastisch angezogen worden. Die Seepatrouillen wurden verdoppelt und verschärft.” Vater: “Was heißt verschärft?” Kurt: “Mit Schießbefehl.” Vater: “Au Backe! Auf wen soll denn geschossen werden?” Kurt: “Auf jeden und alles, was nach Republikflucht aussieht und auf den dritten Warnschuss nicht reagiert.” Vater: “Dann schießen die ja auf die eigene Republik, ich meine auf die Bürger dieser Republik.” Kurt: “So kannst du es auch sehen. Die Situation hat sich zugespitzt. So ernst war es noch nie gewesen.” Vater: “Ich gebe dir Recht, dass unter diesen verschärften Gesichtspunkten das System wackelt. Wenn die eigenen Leute das System zerschießen, dann gerät die Republik ganz aus den Fugen. Dann ist das Ende auch nicht mehr weit.” Kurt: “So pessimistisch sollst du das wiederum nicht sehen. Ich denke, dass die Sicherungsvorkehrung dem Schutz der Republik dienen soll.” Vater: “Das siehst nur du so. Ich sehe es anders. Die Polit-Aristokratie hat das Volk ausgemolken bis zum letzten Strich und Faden. Das System mit einer guten Ideologie ist ausgehöhlt und am Ende. Der sozialistische Staat ist unter seiner schmarotzenden Obrigkeit verrottet. Die Menschen sind unzufrieden und fühlen sich betrogen. Sie haben vom Juni-Aufstand gelernt, bei dem Ulbricht im russischen T-34 saß und zusah, wie auf deutsche Arbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat geschossen wurde. Das wollen die Menschen dieser Republik nicht noch einmal erleben. Deshalb verlassen sie diesen abgewirtschafteten Staat enttäuscht und verbittert, der längst in den Krämpfen der Agonie liegt. Die Menschen trauen dem ZK nichts Gutes mehr zu und fürchten eine Wiederholung des Ulbricht’schen Verrats am Volk mit Panzergranaten.” Kurt: “Du malst ja die Apokalypse an die Wand.” Vater: “Ich male sie nicht an die Wand. Wir leben in der sozialistischen Apokalypse. Oder lebst du auf einem anderen Stern?” Kurt: “Die Präambel des Befehls lautet jedenfalls: Rettet die sozialistische Republik.” Vater: “Ich habe dich für intelligenter gehalten. Wie willst du diese Republik retten, wenn du auf seine Menschen schießt? Diese Präambel ist nicht mehr als eine leere, abgedroschene und verlogene Floskel.” Kurt: “Dann gibst du der Republik nur eine geringe Chance.” Vater: “Ich gebe einer abgewirtschafteten Republik überhaupt keine Chance. Sie ist am Ende und wie ich sagte, sie liegt in den letzten Krämpfen der Agonie.”

Alfred Lehmann brühte einen Tee in der kleinen Küche auf und stellte zwei Tassen, die Zuckerdose und eine weitere Tasse halbvoll mit Trockenmilch auf den kleinen Esstisch. Er legte zwei Blech-Teelöffel dazu und füllte die Tassen. Kurt fragte den Vater nach seinem Rücken, und der Vater erzählte, dass er beim Arzt gewesen sei, der meinte, dass an der Wirbelsäule nichts mehr zu machen sei. “Hat dich denn der Arzt untersucht?”, fragte Kurt. Vater: “Welcher Arzt untersucht in dieser Republik schon einen Rentner?” Kurt: “Das verstehe ich nicht.” Vater: “Der war angeblich beschäftigt. So richtete ich der Sprechstundenhilfe aus, sie soll den Arzt fragen, ob wegen der zunehmenden Schmerzen neue Röntgenaufnahmen gemacht werden sollten, weil die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurückliegen, und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Kurt: “Und…” Vater: “Ich wartete eine längere Zeit im leeren Wartezimmer auf das Rezept für die Schmerztabletten. Die Sprechstundenhilfe kam aus dem Arztzimmer zurück und setzte sich hinter ihren schmalen Tisch und rief mich aus dem Wartezimmer mit den Worten: ‘Hier ist ihr Rezept.’ Dann sagte sie, dass sie dem Arzt meine Fragen weitergegeben habe, der meinte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da an meiner Wirbelsäule mit einem Wunder nicht zu rechnen sei. Ich solle die Schmerzen mit den Tabletten unter Kontrolle halten. Von einem Spezialisten hielt der Arzt nichts, jedenfalls sagte die Sprechstundenhilfe kein Wort, als sie mir das Rezept mit einem ausdruckslosen Gesicht und den Worten gab, dass sie mehr für mich nicht tun könne.” Kurt schwieg mit einem bekümmerten Gesicht. Er legte dem Vater ein paar Banknoten auf den Tisch und stand auf, ohne die Tasse leer getrunken zu haben. Alfred Lehmann sah vom kleinen Esstisch im Wohnzimmer zu, wie Kurt im engen Flur den Kapitänsmantel mit den Worten anzog: “Das ist schon eine Sauerei. Eine Moral gibt es wohl bei den Ärzten auch nicht mehr.”

Die Schmerztabletten halfen immer weniger, obwohl Alfred Lehmann schon die doppelte Dosis schluckte. Immer häufiger blieben die Nächte schlaflos, teils wegen der Gedanken an die zerfallende Republik mit dem Untergang der sozialistischen ‘Sonne’, teils wegen der apokalyptischen Träume, die sich dem Gedankenwirrwarr anschlossen und pharmakologisch durch die Tabletten weiter ‘angefeuert’ wurden und dann ausuferten, wenn sie ihn in ein brüllend-schäumendes Meer der Ausweglosigkeit in den Abgrund rissen, oder durch die Rückenschmerzen, die ihn dermaßen verspannten, dass er mit dem Gefühl in Stücke gerissen zu werden, hilflos und schweißgebadet im Bett lag und auf ein Ende der Schmerzen wartete. Die Schmerzen wurden so stark und seine Widerstandskraft so schwach, dass er an den Alkohol dachte, dem er sich, seitdem er geschieden war, so gut wie ganz entzogen hatte, weil der Alkohol ein Grund für das familiäre Desaster gewesen war.

Nicht alles dient der unbedingten Sauberkeit,

weniges nur verbindet sich in den Höhen der Moral,

dass das Bild von Hand und Kopf die Wahrheit spricht,

das Wort in den Silben den Charakter nicht verdreht.

Dabei mühen andere sich ab, die Arbeit ordentlich zu tun,

sie schaffen mit den Händen und wollen nicht ruhn,

solange es mit der Sauberkeit in den Straßen nicht stimmt

und sich der Mensch auf den Plätzen unsauber benimmt.

Es geht ums Füllen der Löcher und Schließen der Dächer,

damit der Regen nicht weiter ins Zimmer kommt,

auch wenn die Granate das Mauerwerk zerbombt,

dass zu den Seiten sich öffnen die Buch- und Kleiderfächer.

Keine Frage ist’s, das Leben ist schwerer geworden

für die Familien mit Kindern, wo der Vater fehlt,

und für die Alten, wo das Leben arm und ruhelos vergeht,

die in Mänteln und abgegriffenen Mützen den Tag durchsitzen.

Da ist der Mond, er schickt sein letztes Licht

mit in den Tag, es ist der leuchtende Anhang

aus der letzten Nacht mit dem letzten Traum,

dem verworfenen Garten mit dem gefallenen Baum.

Der Pfad hat sich geweitet, den viele Füße gingen,

wo meine Füße fühlten den nächtlich hängenden Tau.

Vergangenheit ist’s, die sich neu meldet,

wenn das Sonnenlicht die Blätter wellt und trocknet.

Der Morgen hebt, der Morgen klafft, er schafft,

erwacht und öffnet weit die Menschenaugen.

In ganzer Weite legt der Tag sich vor euch aus,

so schafft, geht nicht unverrichteter Dinge zurück nach Haus.

Es war etwa ein Monat nach dem letzten Besuch seines Sohnes Kurt, dass Alfred Lehmann die schmale Treppe mit den muldig ausgetretenen Holzplanken herunterstürzte und sich nicht mehr bewegen konnte, obwohl sein Bewusstsein noch funktionierte, abgesehen von den Prellmarken an Kopf und anderen Körperteilen. Querschnittsgelähmt wurde er mit dem Notarztwagen in das nächste Krankenhaus gebracht, wo die Ärzte die komplette Lähmung beider Beine diagnostizierten, deren Ursache mehrere Wirbelbrüche waren, die das Rückenmark eingequetscht hatten. Metastasen eines bösartigen Tumors hatten die Wirbelsäule durchsetzt, die auch die Ursache für die rapide Zunahme der Rückenschmerzen waren. Während sich draußen der Aufbruch mit den Friedensmärschen formierte, lag Alfred Lehmann gelähmt im Krankenhaus und bekam das Ende der Republik, auf die er so große Hoffnungen gesetzt hatte, nicht mehr mit.

Die Seelen toben, andere schmerzen,

innere Stimmen loben bis zum Herzen,

Gewalten sind’s, die an ihnen reißen,

den Menschen zu achten und nicht zu beißen.

Die Stunden gehen weiter und das unbemerkt

durch Tag und Woche und durch’s ganze Jahr,

Freud’ und Liebe haben die Jugend gestärkt,

die begibt sich auf den Weg der Hoffnung, das ist wahr.

Unvergessene Jahre in der Verlängerung

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