Читать книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo - Страница 11

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Es ruhte ein blasser Feiertagsfriede über Været. In der Woche vor Ostern war es ihnen gegangen wie einer Henne, die ein Ei legen will. Aber sie gackerte nicht viel. Stakste nur hierhin und dahin, während die Zeit verging. Und das Nest blieb leer.

Die Fischer sahen verhärmter aus als sonst. Einige sagten ganz offen und sehr verbittert, dass das Zugnetz der Fischerei mehr schade als das Grundnetz. Sie blieben bei Laune, indem sie sich gegenseitig herausforderten, wie Tigerjunge in einem ernsthaften Spiel um eine Beute, die sie nicht zu töten schafften.

Normalerweise fischten sie bis Mitte April. Aber nicht in diesem Jahr. Die Zugnetzfischer leugneten, dass sie daran schuld seien, obwohl es sogar in der Zeitung stand, dass der Fischfang bis zum »Zugnetz-Tag« gut gewesen sei. Zusätzlich fischten die verdammten Krabbenkutter alle kleinen Fische in der Barentssee bis hinunter zur norwegischen Territorialgrenze weg. Piratenpack! Man musste es nach Ostern in Finnmark probieren. Über eines waren sie sich einig in den Fischerhütten, bei Tabaksrauch und Schwarzgebranntem: die Zwölfmeilenzone! Das wäre für sie die Rettung.

Simon hörte an diesem Karfreitag den Männern zu. Sonst kam er nicht oft her. Er konnte, um die Wahrheit zu sagen, den Gestank nicht aushalten. Aber das sagte er nicht laut. Deshalb hieß es auch, er hänge seiner Frau am Rockzipfel. Es konnte ihm egal sein, was die Leute redeten. Simon mochte keine Erklärungen abgeben. Er vergab den Leuten gerne jede Dummheit, nur nicht, dass sie stanken. Das sagte er aber nur zu Rakel. Sie lachte und meinte, er sei verwöhnt. Runzelte die Stirn und ermahnte ihn, seinesgleichen nicht zu verachten. Ein Fischer musste riechen, wenn er zu seiner Frau kam! Ja, ja. Sogar Simon konnte gewisse Dinge, die er nicht mochte, mit Wohlwollen betrachten, wenn Rakel sie in Schutz nahm.

An diesem Abend war Simon Strohwitwer. Er war zu Hause in Bekkejordet im Kreis herumgelaufen und hatte Daumen gedreht. Zu guter Letzt hatte es ihn nach Været und in die Tobiashütte gezogen. Dort war nicht viel von Karfreitag zu spüren. Die einheimischen Fischer waren nach Hause gekommen, und die auswärtigen waren weggefahren. Der Tabaksqualm von den Heimkehrern war ebenso grau wie der von den Fremden, auch wenn die Einheimischen etwas hellere Kleider anhatten. Sie hatten Frauen auf der Insel, die alles in Ordnung hielten.

Die Köchin hatte eine liebevolle Hand gehabt und einen Kätzchenzweig in einer Flasche auf den Tisch gestellt. Die Flasche wackelte jedes Mal gefährlich, wenn die Männer den Ellenbogen wechselten, um das feiertäglich gesäuberte Haupt zu stützen, oder eine Karte auf den Tisch knallten und den Stich mit einer ausholenden Armbewegung einholten.

»Die Heimen mit Netzen und dem ganzen Kram, Echolot und übriger Ausrüstung, kommt nach Ostern zur Zwangsauktion«, verkündete einer der Männer und strich sich ernst übers Kinn. Als ob er erstaunt wäre, dass dort ein Bart wuchs, strich er ungläubig noch ein paarmal darüber. Dann begann er an den Stoppeln zu zupfen, um sie mit der Wurzel auszureißen.

»Pul dir nicht im Gesicht rum, Mann, du bist hier nicht allein. Es wird wohl noch mehr passieren als nur das, nach dieser Saison!«, sagte eine bissige Stimme.

Simon hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn das Gespräch diese Wendung nahm. Früher oder später würde ein Sündenbock für die schlechten Zeiten gefunden werden.

Henrik saß mit gesenktem Kopf beim Ofen. Er hatte die Stiefel ausgezogen und war in sich zusammengesunken, als ob er schliefe. Aber alle wussten, dass er leidlich nüchtern war und dass er das Gespräch wie ein Habicht verfolgte, auch wenn er sich kaum einmischte.

»Biste lange auf dem tollen Schiff gefahren?«, fragte Håkon, einer von denen, die man sehr oft in der Tobiashütte hören konnte.

»Zwei Jahre. Weiß der Teufel, wie es jetzt weitergeht, es ist nicht mehr viel übrig, wovon wir nach Finnmark fahren können, wenn die Fischerbank ihr Geld bekommen hat.«

»Sie sind wie der Teufel, wenn man ihnen den kleinen Finger reicht, nehmen sie gleich die ganze Hand!« Einar spuckte auf den Boden. »Man sollte beim Simon anheuern«, fügte er hinzu und schielte gleichzeitig zu Simon hin.

»Meine Mannschaft ist komplett«, sagte Simon. »Aber es gibt wohl eine Möglichkeit. Sie können ja nicht einfach die Boote nehmen. Das wäre doch, wie die Leute in den Schuldturm zu werfen. Es ist doch klar, ohne Arbeitsplatz kann keiner seine Schulden bezahlen.«

»Du redst wie ’n Pastor«, fauchte Einar.

»Pastor kannste selber sein«, meinte Simon gutmütig.

»Wo ist übrigens die Rakel zu Ostern?«

»In Breiland, soviel ich weiß.«

»Habt ihr da Verwandte?«

»Nein.«

Henrik richtete sich in seiner Ofenecke auf. »Manche sind so stinkvornehm, dass sie Ostern nicht mehr zu Haus feiern können. Sie wohnt wohl im Hotel, die Rakel? Und strickt Osterhäschen, was?«

Simons Gesicht verdunkelte sich. Er brachte keine Antwort heraus. Es wurde still um den Tisch. Die Männer senkten den Kopf und vermieden, Simon anzusehen.

Da war der schroffe Håkon, der ein böses Maul hatte, der aber eher weinte als eine Frau und half, wo er nur konnte. Da war der sture, naive »Himmelsnarr«, den die Leute nicht für einen ordentlichen Menschen hielten, weil er schielte und mit dem Kopf wackelte. Da war Nas-Eldar, der den Lastwagen vom Dahl fuhr, der überall war, nur nicht da, wo er sein sollte. Da war Einar von der Veranda-Dachstube, der einst vom Pfarrhof vertrieben wurde, weil er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Speck aus dem Vorratshaus des Pfarrhofs mitzunehmen – und der plötzlich ein Dieb war, als der neue Pastor kam. Er las Bücher und kam wie ein Prophet mit Warnungen über die allen Dingen innewohnende Teufelei. Der Grünschnabel war auch da. Er war viel zu jung, um mit den alten Männern in der Hütte zu sitzen, aber er wurde trotzdem geduldet, weil er solche Schwierigkeiten hatte, eine Frau zu finden, und weil sich doch irgendwer um ihn kümmern musste. Schließlich war da noch Kornelius, der keinen Spitznamen und keine Besonderheit hatte, der es aber auch nie sehr eilig hatte, nach Hause zu gehen. Und noch zwei andere. Alle waren gleichermaßen verlegen.

Einar, der sonst den Mund als Letzter aufmachte. Leise, während er an einem Loch im Zahn lutschte: »Du sollst jetzt Ruh geben, Henrik. Du weißt, es ist noch so zeitig im Jahr, dass der Mist friert, wenn man ihn ausstreut.«

»Du hast ein ziemlich scharfes Maul, wie ich hör. Was meinste damit?«, fragte Henrik. Er war sauer wie ein Seemannshandschuh, der wochenlang benutzt worden war.

»Wenn du dich nicht anständig benimmst, dann schmeißen wir dich raus. Wir beziehen Stellung. Ist das klar? Für den Simon. Du hast mal im Gefängnis gesessen, reicht das nicht? Ich versteh nicht, dass der Simon es nach der Brandgeschichte noch über sich bringt, mit dir in einem Raum zu sitzen.«

Niemand hatte es für möglich gehalten. Trotzdem geschah es. Henrik fuhr hoch, erstaunlich schnell. Dann saß seine gesunde Faust mitten in Einars Gesicht. Der alte Mann zuckte ein bisschen, ehe er vom Stuhl glitt.

Henrik stand mit wilden Augen mitten im Raum. Der Alte lag wie ein Sack vor dem Ofen. Die Männer waren aufgesprungen. Hocker und Lederstiefel. Sonderbare Kehllaute. Eine Art Fauchen. Wie auf Kommando fielen sie über Henrik her. Endlich! Sie hatten lange darauf gewartet. Jetzt war die Gelegenheit da. Simon war mittendrin, ohne es selbst zu wissen. Alle schlugen drauflos, als ob das ganze Leben, die Gefahr eines Konkurses, der fehlgeschlagene Fischfang, unbezahlte Rechnungen – alles sich in ihren Fäusten konzentrierte. Die Arme flogen wie Windmühlenflügel und trafen das Ziel wo auch immer.

Schließlich nahmen die Männer wahr, dass zwei Körper am Boden lagen. Einar und Henrik. Sie standen mit hängenden Armen im Kreis um die beiden herum und atmeten schwer. Der Karfreitag schlich sich barfuß zu ihnen herein, aber es gab keine andere Möglichkeit. Der Mann musste fertiggemacht werden. Endlich! Der Schächer kam ans Kreuz. Um die Wahrheit zu sagen, es waren bestimmt viele Schächer. Aber Christus war nicht da. Deshalb nahmen sie Strafe und Vergebung in die eigene Hand. Es war nicht zu ändern.

Håkon weinte ein wenig, als er sah, wie übel es um Einars Nase stand. Er verfluchte und beschimpfte einen am Boden liegenden Henrik, der überhaupt nicht imstande war, einen Laut zu hören. Jemand holte eine Schüssel Wasser und fing unbeholfen an, das Elend in Ordnung zu bringen.

Simon sah lange zu. Sein Oberkörper war ganz steif, aber er spürte, wie gut es getan hatte draufloszuschlagen. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie wenig es von den Problemen, die zwischen Bekkejordet und dem Tausendheim bestanden, gelöst hatte. Dennoch: Was für eine Erleichterung war es gewesen! Die Männer hatten mitgemacht. Es gab keinen Zweifel daran, wer Simon war – und wer Henrik! Aber beim Weiterspinnen dieses Gedankens: Wusste Henrik, warum Rakel in Breiland blieb? Während Simon es nicht wusste? Da schoben sich rote Wolken vor seine Augen. Er stieß mit dem Stiefel gegen den leblosen Körper, ganz kurz. Hart.

Simon wollte nicht dabei sein, wenn sie Henrik nach Hause zu Ingrid brachten, nachdem sie ihn mühsam wieder zum Leben erweckt hatten. Er war feige. Außerdem war er verwirrt über die süße Rache, die in den wütenden Schlägen gelegen hatte.

Simon erinnerte sich an Situationen, in denen er geprügelt hatte. Es waren nicht viele. Ein paarmal in seiner Jugend. Als er noch seine Männlichkeit beweisen musste. Dann den jungen Burschen bei dem Tanz auf dem Kai, der sich an Tora gehängt hatte. Henrik. Was war mit diesem Mann los? Henrik schien gewissermaßen Simons Leben zu steuern. Wusste, wann er zupacken musste. Wusste, wo Simon verwundbar war. Er hatte den seltsamen Gesichtsausdruck gesehen, als Henrik nach der Schlägerei aufgewacht war. Die Augen waren beinahe froh gewesen. Erleichtert. Als ob er um die Prügel gebeten hätte. Glücklich wäre über die Schläge … Und die Männer – beschämt. Gute Männer. Waren dennoch viele gegen einen gewesen. Eine schlimme Sünde.

Einar wurde es schlecht von dem Schlag. Er kotzte ein bisschen. Auf diese Weise wurde die Bestrafung gerechtfertigt.

So erklärten sie es auch Ingrid. Henrik hatte den alten Einar geschlagen. Sie malten es nicht weiter aus. Und Ingrid war es nicht gewohnt, dass man ihr erklärte, was vorgefallen war, deshalb sagte sie nichts.

Bei Einar gab es keine Frau. Man konnte ihn nur ins Bett legen und das Beste hoffen. Ingrid versprach, nach ihm zu sehen. Das sei ja das Wenigste, was sie tun könne, meinten die Männer – mit so einem verdammten Kerl im Haus wie Henrik. Trotzdem waren sie nicht sehr fröhlich gestimmt, als sie sich trennten und jeder nach Hause ging. Der Nachmittag und der Abend waren nicht so geworden, wie sie sich das gedacht hatten. Und sie erzählten zu Hause nicht viel. Um bei der Wahrheit zu bleiben, sie erzählten gar nichts.

Aber alles wurde in gewisser Weise in Ordnung gebracht. Die Leute, die ins Tausendheim gehörten, wurden dahin verfrachtet, die anderen gingen dorthin, wohin sie gehörten. Alle wurden in die richtige Schublade sortiert. So hielten sie es seit Generationen.

Um die Fischgestelle am Wegrand stank es schon nach Frühling. Der scharfe Geruch nach Fisch, der vor dem hellen Himmel zum Trocknen aufgehängt war. Gegen Mittag taute der Schnee um die Steine ein wenig auf. Abends fror es wieder, und es bildeten sich Eisnadeln auf den Wegen und an den alten Grashalmen vom Vorjahr, die im Wind schwankten.

Simon ging, die Hände auf der Lenkstange, den Hang hinauf und verfluchte den Schnaps. Alles lief verkehrt. Er hätte sich nicht auf den angebotenen Schnaps einlassen sollen.

Er hatte sich wie ein Kind aufgeführt! Kurz vor dem Gartenzaun von Bekkejordet traf ihn die Erkenntnis wie ein Pfahl. Dass dieser Abend sie alle rammen würde. Nicht in erster Linie Henrik. Aber ihn selbst, Rakel und vielleicht am meisten: Ingrid.

Auch wenn er nicht verstand, was in Ingrids Kopf vor sich ging, so würde er es doch ungern sehen, wenn ihre Situation sich verschlimmerte.

Er brauchte nicht lange für den Rückweg. Bald stand er vor Ingrids Küchentür und klopfte an. Zögernd. Er wusste nicht, wie man ihn empfangen würde. Aber es sollte gehen, wie es wollte. Es war doch alles falsch. Die Stimme von drinnen klang dünn. Aber sie trug erstaunlich gut. Wie ein Ruf über das Wasser bei dichtem Nebel.

»Herein!«

Sie war mit irgendetwas hinten am Küchenschrank beschäftigt. Drehte sich nicht gleich um, als er eintrat. Aber Henrik richtete die tiefen, dunklen Augen sofort auf ihn. Er zog sich gerade die Stiefel aus. War im Gesicht übel zugerichtet.

»Guten Abend«, sagte Simon, nahm die Mütze ab und blieb stehen.

»Setz dich!«, sagte Ingrid leise, ohne ihn anzusehen. Wandte sich dann aber um und kam bis an den Lichtkegel beim Tisch. Sie hatte eine Mullbinde und Jod in den Händen.

Simon setzte sich in ihrer Nähe an den Tisch. Als ob sie eine Art Verbündete wäre. Er wusste nicht, ob er Angst vor Henrik hatte, jetzt, da er allein war. Jedenfalls war es so etwas wie eine Prüfung, durch die er hindurchmusste, um sich selbst wieder in die Augen sehen zu können.

»Henrik hatte Probleme«, sagte sie bemerkenswert neutral. Wie die Stimme, die im Radio den Wetterbericht vorlas. Sie feuchtete ein Stückchen Mull mit Jod an. Ging fünf kleine Schritte zum Herd, neben dem der Mann saß. Reinigte die Wunde. Holte rasch zwei Heftpflaster aus der Schürzentasche und klebte sie über Kreuz auf das Stück Mull. Henrik rührte sich kaum. Schnitt nur Grimassen wie ein kleiner Junge, als das Jod ihn traf.

»Ja, ich war auch dabei«, sagte Simon und räusperte sich.

Sie drehte sich um. Blitzschnell. Als ob sie ihren Ohren nicht traute. Ihre Blicke hielten einander stand.

»Ich fürchte, ich hab mich auch an der Schlägerei beteiligt …« Simon spürte plötzlich, wie warm es in dem Raum war. Das Gefühl zu ersticken lähmte den Rest seiner Rede, die er sich überlegt hatte.

»Warum das denn?«, flüsterte Ingrid wie betäubt. Sie sah wie von weit her auf Henrik und legte automatisch Schere, Pflaster, Jod, Mullbinde zu einem unordentlichen Haufen auf den Tisch.

»Er hat schlecht über Rakel gesprochen, und ich bin nicht der Mann, so was hinzunehmen«, erklärte Simon, als ob nur Ingrid und er im Raum wären.

Ingrid sah von einem zum anderen. »Schlecht? Wieso schlecht?«

»Nun, es war wohl nicht so bös gemeint, oder?«, räumte Simon ein und sah Henrik fragend an. Wollte ihn mit hineinziehen.

»Was haste gesagt?«, fragte Ingrid und sah Henrik an.

Die Möwen da draußen hatten etwas gefunden, worum sie sich zankten. Sie schrien, als ob auch sie den Sachverhalt erklären wollten.

»Das ist alles Unsinn.« Henrik stand auf und schleuderte seine Stiefel unter den Herd.

»Ja, was nun war oder nicht war, wir hätten’s auf eine andre Art und Weise bereinigen sollen, Henrik. Ich hätt mich nicht in die Schlägerei in der Tobiashütte einmischen sollen. Aber du bist nun mal so, dass selbst ein Stein vor Wut zerspringen könnte. Ja, ich hab’s bisher nicht gesagt. Wir haben wohl seit dem Brand überhaupt nicht mehr miteinander geredet … Aber wie dem auch sei, ich möcht jetzt einen Schlussstrich ziehn. Ich kann die Menschen nicht argwöhnisch anschaun und mich fragen, wie sie zu mir stehn. Unsre Frauen sind Schwestern … Wir können das Leben unsrer Frauen nicht durch unsre Feindschaft zerstören. Das war nicht richtig.«

Die lange Rede hatte er nun doch losgelassen. Simon fühlte sich erleichtert und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Die Kugellampe über dem Tisch ergoss ihr Licht über seine blonden Haare.

Hinten in der Ecke beim Herd war es warm. Aber das Licht hielt sich von dort fern. Henrik war ein Tier, das sich da hinten rührte. Bewegte ein bisschen den gesunden Arm. Ein Schatten.

Ingrid wusste nicht, was sie von dem Ganzen halten sollte.

»Es gibt kaum was, worüber wir zu reden hätten, mein ich«, fing Henrik an. Aber die Stimme verriet ihn. Sie taugte nicht viel. Es war nicht üblich auf der Insel, dass Feinde in der Küche zusammensaßen, um alten Groll aus der Welt zu schaffen. Die Worte waren eingeschlossene Stiefkinder.

»Na schön, es könnte so aussehn. Aber ich glaub nicht, dass du so gemein bist, Henrik.«

»Gemein!«, schrie Ingrid. Ihr Schrei zerriss die Luft, und Simon konnte kaum noch atmen. »Gemein? Warum sagste so was, Simon?«

»Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll! Weil ich ihn nicht zu fassen krieg, den Mann, mit dem du zusammenlebst!«

Simon verlor die Fassung, aber hatte sich schnell wieder in der Hand. Er sah klar Henriks Fähigkeit, die Menschen zum Kochen zu bringen, während er selbst am Rand saß und einfach nur anwesend war. Die Wut pochte wieder hinter Simons Stirn. Die Lust, noch einmal auf diesen Burschen loszugehen!

»Ich begreif nicht, was du gegen Rakel und mich hast, Henrik. Versteh nicht, was wir dir eigentlich getan haben. Verstehst du’s selbst?«

Es kam keine Antwort. Die Wände saugten die Worte an. Gierig. Als ob es darauf ankäme, sie möglichst schnell unsichtbar zu machen.

Er strich sich entmutigt übers Gesicht. Wurde sich allmählich dessen bewusst, dass er bei einem um gut Wetter bat, der gar nicht daran interessiert war, etwas in Ordnung zu bringen. Er sah sich in der Küche mit den schäbigen Wänden um. Die Farbe war abgewaschen oder abgerieben worden, schon lange bevor Ingrid mit ihrem Schmierseifenwasser angefangen hatte. Die armseligen Möbel. Die abgetragenen Kleidungsstücke am Haken neben der Tür. Der Geruch eines Hauses, in dem viele Menschen lebten. Die Türen konnten neugierige Augen und Ohren nicht ausschließen. Wahrscheinlich klebten Ohren im Treppenhaus an den Wänden. Um zur Stelle zu sein, wenn etwas los war. Die Ohnmacht gegenüber dem eigenen Schicksal konnte dadurch gelindert werden, dass man miterlebte, wie das Leben anderer Menschen zerbrach. Einen Augenblick sah er Rakels Familie vor sich, dann erhob er sich müde und machte sich fertig zum Gehen.

Henrik und Ingrid folgten ihm stumm mit den Augen. Getrennt, ohne Kontakt zueinander. Simon empfand es als eine Erleichterung, seine eigenen Schritte auf dem abgetretenen Holzfußboden zu hören.

»Du – ihr könntet schon erzählen, was in der Hütte gesagt worden ist.« Ingrid sah endlich von einem zum anderen. Es rauschte wütend in den Rohren über ihren Köpfen. Eine Art Signal, dass die Welt sich drehte – noch.

Simon blieb stehen – und versuchte dankbar, die Worte, die Henrik in der Tobiashütte gebraucht hatte, wiederzugeben. Was Einar geantwortet hatte. Den Schlag. Die Schlägerei.

Henriks Gesicht war eine nicht gestrichene Bretterwand.

»Die Rakel ist in Breiland, um nach der Tora zu sehn, das wisst ihr doch?«, fügte er hinzu.

»Warum denn? Wie meinste das?« Ingrid wurde unruhig. War auf dem Sprung. Knickte in der Mitte etwas zusammen.

»Die Rakel hat angerufen und gesagt, dass sie vor morgen nicht nach Haus kommt. Denn der Tora geht’s nicht besonders gut.«

»Hat sie nicht gesagt, was ihr fehlt?«, fragte Ingrid.

»Nein. Nur, dass sie noch bleibt. Ich dachte, ihr wüsstet …«

»Nein«, sagte Ingrid. Sie zog sich mit steifen Händen die verschlissene geblümte Schürze aus. Legte sie auf dem Tisch ordentlich zusammen. »Ich geh jetzt mit dir nach Haus, Simon, und dann ruf ich in Breiland an. Ich muss was Genaueres erfahren.«

Henrik hob endlich den Kopf. Die Schwellungen von den harten Schlägen wurden immer bedenklicher. Er sah ziemlich fertig aus.

»Du gehst nirgendwo mit ihm hin!«

Beide drehten sich zu Henrik um.

»Ich ruf nur kurz an und frag, wie es aussieht, verstehste das nich?«

»Ich will nicht, dass du nach Bekkejordet raufläufst wie ein Flittchen!«

Die Stimme klang wie alte dürre Kiefernstämme, die im Sturm brachen. Einer nach dem anderen. Ein einsamer Ruf. Den Simon verstand. Im tiefsten Herzen. Er wusste nicht, warum. Es war einfach so. Endlich erkannte er die Eifersucht, die Gedanken und Reaktionen dieses Mannes antrieb.

»Geh du nur anrufen, Ingrid. Ich bleib solange hier unten und leiste dem Henrik Gesellschaft. Kochste Kaffee, Henrik?«

Über das Gesicht des Mannes in der Herdecke huschten Schatten. Scham? Ein Funken Trauer? Ein Eingeständnis? Ingrid sah ratlos aus, aber sie ging. Als die Tür hinter ihr zufiel, überkam Simon ein Gefühl des Unbehagens. Es schien alle seine Gedanken zu überdecken. Er zwang sich, Henrik den Rücken zu kehren, während er selbst Kaffee kochte. Holte die Kaffeedose und ließ Wasser in den Kessel laufen. Heizte ein. Alles in der verkehrten Reihenfolge. Aber der Kaffee kam zum Kochen. Und die Geräusche im Haus erinnerten ihn daran, dass er mit Henrik nicht allein war. Zu guter Letzt zwang er sich auf den Stuhl, der Henrik am nächsten stand, und sah den Mann abwartend an.

»Du redst nicht viel, Henrik. Aber du sagst jedenfalls Bescheid, so dass du’s immer so hinkriegst, wie du’s haben willst.«

»Das schert mich den Teufel, was ihr glaubt.«

»Ja, das wissen wir.«

Simon sagte mit Absicht wir. Überlegte, wie er es anfangen sollte.

»Glaubste wirklich, Henrik, dass Ingrid und ich was miteinander haben, so dass wir nicht zusammen nach Bekkejordet gehn dürfen? Man hat dauernd den Eindruck, dass du nicht ganz richtig im Kopf bist, mein Junge.«

»Ich scheiß darauf, was du denkst. Aber du sollst zum Teufel noch mal meiner Frau nicht nachstellen.«

»Ich glaub, du spinnst. Andrerseits ist es ein Wunder, dass sie dich immer noch hierhaben will, so wie du dich benommen hast – mit dem Brand und dem Alkohol. Aber das geht ja niemand was an.«

»Halt’s Maul!«

»Na schön.«

Simon passte auf den Kessel auf. Dann machte er den Kaffee fertig. Langsam und umständlich. Rakel hatte es ihm beigebracht. Nahm zwei Tassen heraus und schenkte ein.

»Du bist sehr vertraut hier, wie ich seh«, stichelte Henrik mit einem Grinsen. »Du warst wohl öfters hier, während ich gesessen hab? Was?«

»Hör mal zu, jetzt reicht’s mir bald. Lass uns von was anderm reden. Warum haste meinen Betrieb angesteckt, Henrik? Ich hätte nie geglaubt, dass sich mal die Gelegenheit bieten würde, dich zu fragen. Aber jetzt tu ich’s. Warum, Henrik?«

»Ich hab nie gesagt, dass ich’s getan hab!«

»Aber du hast’s getan!« Simons Herz hämmerte. »Du hast’s getan!«, wiederholte er. Die Stimme war leise und atemlos.

»Ja. Es ist so …«

Simon sah die ganze Zeit dem Mann direkt in die Augen. Jetzt schien der Blick dort hinten in der Ecke zu bersten. Kam und ging. Hatte keinen Anfang. Kein Ende.

Das Wort Ja – bedeutete nichts. Aber das Gesicht des anderen!

Der Mann schielte zur Tür, als ob er darauf wartete, dass jemand hereinkäme. Um im nächsten Moment die Augen wieder auf Simon zu richten. Es lag etwas wie eine Bitte in ihnen.

»Aber warum?«, flüsterte Simon. Fenster und Türen hatten Augen und Ohren. Das ganze Haus hielt die Luft an.

Simon schlürfte den glühend heißen Kaffee, aber er ließ Henrik nicht aus den Augen.

»Ich weiß nicht …«

Simon hatte schon den Mund geöffnet für den nächsten Schachzug, aber er hielt inne.

»Ja, vielleicht bin ich gemein. Und wenn schon. Ist doch egal. Aber jedenfalls weiß ich, was die Hölle ist! Verstehste? Ich weiß es.«

Henrik erhob sich. Stand zusammengesunken da und sah vor sich hin. Dann bewegte er sich seitwärts bis zur Mitte des Raumes. Wie ein verletzter Krebs scharrte er über den Boden.

»Vielleicht muss ich ja so sein. Gemein!« Sein Lachen klang heiser und gepresst.

»Erzähl mir, Henrik, von deiner Hölle.«

Es war noch immer Karfreitag. Der schwarzgebrannte Fusel steckte ihm noch immer im Körper.

Henrik griff nach Simons Hand. Er schwankte wie ein großer, unförmiger Stamm, den jemand vergeblich aufzurichten versucht hatte. Dann sank er über Simons Schulter in sich zusammen.

»Keiner hat mit mir geredet. Kein Mann hat bisher mit mir geredet. Weißte das, du Blödmann? Weißte, was es heißt, nie mit dabei zu sein? Nie den Respekt zu bekommen, den man zum Leben braucht?«

Simon wurde es übel, aber er schluckte die Übelkeit herunter. Er hörte sich alle Vorwürfe gegen jedermann an. Hörte sich an, was für eine leichtfertige Frau Ingrid war, was für ein anspruchsvolles Mädchen Tora. Was für eine Kindheit Henrik gehabt hatte. Wie alle versagt hatten. Der Krieg. Die Torpedierung. Das Gefängnis.

Simon fühlte sich allmählich besser. Aber die Leere war schlimmer. Dieser Mann war blind gegenüber sich selbst. Er hatte sich nie selbst scharf angesehen.

»Ist dir nie aufgegangen, dass du vieles von dem Missgeschick, das dir widerfahren ist, selbst verschuldet hast?«, fragte Simon schließlich. Henrik stand da mit gesenktem Kopf. Der rechte Kiefer kippte gleichsam unsicher nach unten. Ein armer Hund. Das war er.

Simon wusste nicht, was er von diesem Besuch erwartet hatte. Sein Gewissen zu erleichtern? Und jetzt stand er bis zu den Knien in Henriks verspieltem Leben. Die Stimme des Mannes schwamm wie altes Laub im Hochwasser. Runter in den Graben damit. Als Simon ging, wusste er nicht, ob er mit einem Feind Frieden geschlossen oder ob die Feindschaft sich noch verstärkt hatte. Aber er wusste zwei Dinge, als Ingrid zurückkam. Niemand ging bei Frau Karlsen in Breiland ans Telefon – und: Er hatte sein eigenes Gewissen wegen des Geschehens in der Tobiashütte so erleichtert, dass er Rakel davon erzählen konnte.

Er hoffte nur, dass Henrik nicht alles an Ingrid ausließ, wenn sie allein waren. Der Bursche schaute schon wütend drein, als sie nur die Treppe heraufkam. Simon verstand die Menschen nicht. Natürlich hatte er auch manchmal Wut auf Rakel. Aber er konnte seine Wut nicht an ihr auslassen. Wenn er sie ansah, wurde er ganz weich. Wie ihr Strickgarn. Die Wolle, die sie von den Schafen schoren. Wenn Rakel ihn umarmte, spürte er erst richtig, dass sie ihm immer gefehlt hatte. Sie machte ihn stark. Gab den Tagen, zu denen er aufstand, Farbe. Sie!

Vielleicht, weil er immer so sicher gewesen war, dass er der Mann war, den sie haben wollte.

Es wehte ein scharfer Wind von der Bucht. Der Frühling setzte sich fest. Simon stand auf dem Hügel und sah über die Landschaft. Das tat er oft. Hatte das Fahrrad zum zweiten Mal an diesem Abend hinaufgeschoben. Draußen leuchtete der Horizont. Die Inseln lagen in einer Art schimmernder Dämmerung. Simon gehörte nicht zu den Menschen, die Visionen und ein außergewöhnliches seelisches Erlebnis hatten, wenn sie eine so schöne Natur sahen. Er lebte in ihr und mit ihr. Aber manchmal machte er seine großen blauen Augen weiter auf als sonst – und sah. Das weckte einen gewissen Widerhall in ihm, bei dem er sich sehr wohlfühlte. Genauso wie nach einer guten Mahlzeit mit Rakel, die ihm bei Tisch gegenübersaß. Aber er grübelte es nicht weg. Ließ nicht zu, dass es Besitz von ihm ergriff.

Jetzt stand er da oben und schaute auf seinen neuen Betrieb. Er hob sich in der Dämmerung ab. Mit dem weißen Anstrich stach er aus all dem Grauen und Blauen hervor. Schob sich von selbst in jedermanns Blickfeld.

Simon besaß. Er verwaltete. Er war nicht besonders hochmütig. Er hatte im Tausendheim für klare Verhältnisse gesorgt, auch wenn Rakel nicht da war. Er stand in der Dämmerung und war froh. Das war alles.

Trotzdem brannte eine gewisse Unruhe in ihm. Warum kam sie nicht nach Hause? War Tora wirklich krank? Oder wollte sie von der Insel fort – von ihm? War es zu eng für sie in Simons Reich? Hatte er während seines ganzen Erwachsenenlebens auf die Katastrophe gewartet, die ihn in den Abgrund stürzen würde? Weil Simon, der uneheliche Junge aus Bø, von einem Leben wusste, in dem man sich immer überflüssig fühlte und allen Leuten im Weg war. In dem man immer zu viel aß, zu viel herumlungerte. So war es bei den Pflegeeltern gewesen. Bis er als junger Kerl auf die Insel gekommen war, weil der Onkel kräftige Fäuste für die Arbeit brauchte.

Und dann war der Onkel ebenso passend und zuverlässig gestorben, wie im Herbst die Johannisbeeren gepflückt werden. Und Simon wurde über Nacht König. Er hatte um einen Onkel, den er kaum gekannt hatte, nicht getrauert. Hatte nur ein paar von den schlechtesten Möbeln in die Scheune befördert und war die Buchführung durchgegangen. Er verstand nicht allzu viel davon und fuhr damit zum Steuerberater nach Breiland, der ihm sagen konnte, dass Geschäft und Gebäude und Boot sozusagen schuldenfrei waren. Ebenso Wohnhaus und Hof. Dreitausend Kronen sollten an die Mission gehen, aber alles andere – Grundstücke und Bankkonto – gehörte ihm. Simon war zwanzig Jahre alt. Er vergaß nie, wie leicht es gewesen war. Und er hatte eine tief verwurzelte Angst, dass er ebenso leicht alles wieder verlieren könnte. Der Brand war eine Warnung gewesen.

An dem Tag, nachdem der Onkel unter die Erde gekommen war, hatte er sich Felder und Wiesen und das ganze Umland, Wohnhaus und Ställe angesehen. Mit den Händen in den Hosentaschen. Als ob er Angst hätte, es könnte etwas vor seinen Augen verschwinden, wenn er es anfasste. Nach ein paar Tagen ging er in den Fischereibetrieb, machte heimlich Skizzen und plante Verbesserungen und Modernisierungen.

Ein Wunder löste das andere ab. Rakel war das größte. Sie zog mit ihren drei Schafen zu ihm herauf und blieb. Anfangs ging sie noch jeden Abend von Bekkejordet in das kleine Fischerhaus zu ihren Eltern, weil der Vater es so wollte. Aber ihre roten kräftigen Haare waren überall zu finden. Im Schafstall, in der Ofenecke, in der Speisekammer und im Dachgeschoss. Sogar in Simons Bett. Und ihr Geruch blieb zurück wie der Geruch von getrockneten Blumen, die im Herbst in dem kleinen Nebenraum hingen. Sie waren so jung. Es fehlte ihnen nichts. Zunächst.

Simon und Rakel hatten ihre Hochzeit selbst ganz groß ausgerichtet. Ohne jemanden um Rat zu fragen. Und die Braut war nicht schwanger.

Der Schafstall war in jedem Frühling voller Lämmer. Ebenso sicher, wie das Licht über den Inseln in die Bucht kam. Aber Rakels Leib blieb flach. Der Segen wolle sich in diesem Haus nicht einstellen, hieß es. Jedoch Simon wusste. Auch wenn Rakel nach Breiland fuhr und zurückkam und ihm erzählte, dass sie keine Kinder bekommen könne, Simon wusste. Manchmal weinte es in ihm deswegen. Aber er konnte es nicht ertragen, dass Rakel weinte. Deshalb wagte er nicht, es ihr zu zeigen.

Er war unfruchtbar, nicht Rakel. Er wusste es seit der Zeit, als er ein armer Kerl gewesen war, der sich seine Freude holte, wo er sie bekommen konnte, ohne dass ihn das Gewissen sonderlich plagte, wie wohl das Schicksal des Mädchens aussehen werde. Aber es kam nie ein Kind. Darüber hatte er sich ab und zu gewundert.

Sie waren einander Kinder, Geliebte, Gesinde und Träume. Sie spielten wie Tierkinder, drinnen und draußen. Bis die Freude herausbrach wie heißblütige junge Pferde. Gelegentlich ließen sie Zorn und Angst aneinander aus, um sich im nächsten Augenblick zu gegenseitigem Trost aneinanderzuschmiegen. In Haus und Hof wuchs und gedieh alles.

Simon stand auf dem Hügel und sah nach Været hinunter und über den Fjord. Und er vermisste Rakel so sehr, dass sein Blick getrübt war und die großen, starken Hände unruhig und schutzlos auf dem Fahrradlenker lagen.

Der taube Himmel

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