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Gnadenbrot für Jülle

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Käppe Krümmel tat einen Schluck aus dem Bierglas, schneuzte sich und sagte: „Der Teufel soll’s ändern, aber den Jülle kann ich nicht vergessen! Denkt euch, so ein armes Knochenbündel von Grubenpferd, und Tag und Nacht im tiefen Loch sitzen müssen, genau auf Sohle vier, und immer im Gespann zu gehen und den schweren Karren, beladen mit Kohle und Abbau, hinter sich her zu ziehen, Kerls, so was kann einem das Herz abdrücken!“

Käppe tauchte seinen Zeigefinger in den Bierschaum, leckte ihn ab, schwieg eine Weile und fing wieder an: „Das war mein Jülle! Nicht, daß er mein Eigentum gewesen wäre! Wo denkt ihr hin? Das hätte mir sicher gut zu Gesicht gestanden, aber damals konnte ich von einem leibhaftigen Pferd nicht einmal den Schwanz bezahlen. Wenn ich dennoch sage: Jülle gehörte mir, so ist kein Wörtchen daran gelogen, ihr sollt einmal hören, wie alles gekommen ist, die Sache mit Jülle, meine ich …“ Und Käppe Krümmel fing an, wieder einmal die Geschichte zu erzählen, die schon jedermann kannte, der in der Bergmannssiedlung wohnte.

Eines Tages – ja, so war das! – trottete er nach langer, arbeitsschwerer Schicht zum Hauptschacht zurück, das Grubenlicht am Hals und den Schlägel in der Hand. Er freute sich bannig darauf, bald wieder ins helle Tageslicht zu kommen. Dann würde es behende ans Abendbrot gehen. Was tat’s, wenn dabei nur ein Teigfladen und Zichorienkaffee auf den Tisch kamen! Damals gab es nur in reichen Häusern einen fetten Topf, bei den meisten war Schmalhans Küchenmeister, oft hing sogar der blanke Hunger auf den Zäunen.

Wie also Käppe Krümmel seinen Weg zum Hauptschacht nahm, gab es mit einemmal in seiner Nähe viel Getöse und Geschrei. Da hatte ein Grubenpferd beim Ziehen des schweren Kohlekarrens den Strang zerrissen, was den Fuhrmann, es war der rothaarige Kalle, sofort in Harnisch gebracht hatte. Er brüllte und tobte: „Du vermaledeite Krücke, ich werd’ dir’s zeigen!“

In blindem Zorn schwang er seine Peitsche und schlug auf das Tier ein. Der magere Pferdeleib zitterte und wand sich unter dem Schmerz. Aus dem Maul des Struppigen lief schaumiger Geifer. Der Zornige, in gefühlloser Besessenheit, wollte gerade erneut mit der Peitsche losschlagen, als ihm Käppe Krümmel wütend in die Arme fiel und ihn mit seiner dünnen Stimme anfuhr: „Du verfluchter Tierschinder, ich werde dir’s geben, daß dir der Zwirn ausgeht!“ Kalle stand da mit brandfeurigen Augen. Kurzweg schlug ihm Käppe den Peitschenstiel aus der Hand, was dem Wütenden merkwürdig schnell die Besinnung wiederzugeben schien. Er zuckte auffallend heftig mit seinen breiten Schultern, als ob er selbst nachträglich über seine Unbeherrschtheit erschrocken wäre.

Das kleine, struppige Grubenpferd stand zitternd da. Käppe klopfte ihm den Hals und guckte dabei in die traurigen Augen des armen Tieres. Er sah auch, daß das Fell des Pferdchens ohne Glanz war und die üppige Mähne verfilzt und grauverschmutzt herabhing.

„Armer, armer Spatz!“ sagte Käppe hilflos und merkte, wie sich die Schnauze des Tieres leicht gegen seinen Handrücken drückte. Es war wie Dank und Zärtlichkeit zugleich. In diesem Augenblick erfuhr Käppe Krümmel, wie es ist, wenn’s einem unterm Brustfleck schwach werden will. „Mensch, wie konntest du nur …?“ ging er den rothaarigen Kalle an, nur um seine Rührung zu verstecken, denn er fühlte, wie die weiche Pferdeschnauze sich erneut zärtlich gegen seine Hand drückte. Kalle stand jetzt da wie ein stummer Klotz. Der zornige Anfall, der ihn eben überwältigt hatte verflog, als hätte ihn jemand weggepustet. Wie gut, daß tiefschwarzer Kohlenstaub sein Gesicht bedeckte! Sonst hätte Käppe merken müssen, daß Kalle in der Wut über sich selbst bis hinter die Ohren rot geworden war. „Wie heißt es?“ fragte Käppe unvermittelt.

„Wer?“

„Das Pferd natürlich, wer sonst?“

„Julius!“

„Ein Pferd, das Julius heißt? So ein kleiner, borstiger, lieber Kerl heißt Julius? Da lachen ja die Hühner!“

„Er heißt nun mal so!“

„Ich würde dich Jülle nennen!“ sagte Käppe zu dem Pferdchen und kraulte ihm liebevoll die Kruppe.

So also lernten sie sich kennen, Käppe Krümmel und der kleine, struppige Bergmannsgaul. Es geschah wenige Wochen vor dem Tag, an welchem Käppe unter Zubilligung einer schmalen Knappenrente den Schlägel und die Grubenlampe für immer aus der Hand legen mußte. Als es soweit war, stritten sich in seinem Kopf und Herzen verschiedene Gedanken darüber, was nun werden sollte. Am Ende aber machte er nicht viel Federlesens, sondern er entschied sich, künftig in ein kleines Kötterhaus zu ziehen, das ihm ein Vetter zweiten Grades angeboten und dabei gesagt hatte: „Es steht leer, und mir genügt’s, wenn du das Ding ein wenig in Ordnung hältst.“

„Ist ein Viehstall dabei?“ wollte Käppe wissen.

„Das gibt es doch nicht! Ein Kötterhaus ohne Stall?“

„Dann ist’s gut!“

Was solche Fragerei sollte, erfuhr man erst später, als Käppe sich aufmachte, um bei der Zechenverwaltung vorzusprechen.

Die Herren haben die Augen weit aufgetan, als sie hörten, worum es ging. Der Knappschaftsrentner Käppe Krümmel bat darum, – zuerst glaubte man, nicht richtig gehört zu haben – ihm Julius, das Grubenpferd, zu überlassen. Ihm sei zu Ohren gekommen, so ließ sich der Bittsteller vernehmen, daß Julius in wenigen Wochen ausgedient habe, um, wie das in solchen Fällen immer geschähe, auf den Weg zum Roßschlachter geschickt zu werden. So erböte er sich, das Tier gegen Verzicht auf drei Monatsrenten abzunehmen. Julius solle durch ihn das Gnadenbrot erhalten.

Die Herren lachten und meinten: „Ein Sonderling, einer der seine Narrheit in den hellen Tag hinausläutet. Nun, wunderlich gekräuselte Dinge haťs auf dieser kuriosen Welt schon immer gegeben! Tun wir ihm den Willen!“

„Dann wäre die Sache also zu Ende gebracht“ sagte Käppe Krümmel und ging.

Von diesem Tage an hatte er alle Hände voll zu tun. Er nahm sich das alte Kötterhaus vor, kälkte die Fachwerkwände, teerte die Balken und putzte den Stall heraus, als ob es eine gute Stube werden sollte. Das alles röche nach einer Hochzeit, meinte Pastor Wimmelmann und fragte, ob sich Käppe auf seine späten Tage noch einen Myrtenstrauß ins Knopfloch stecken wolle.

„Ich möchte, Herr Pastor, Ihr Gerede nicht auf die Nadel spießen“, sagte Käppe, „aber alten Wein sollte man nicht mehr verschütten. Den Weg zum Standesamt findet ein so altgedienter Junggeselle, wie ich einer bin, nicht mehr. Hochzeit? Herr Pastor, daß ich nicht lache!“ Und wie er das sagte, mußte er ein Weilchen daran denken, daß eigentlich nur einmal in seinem Leben die Liebe zu ihm gekommen war, damals, als er, noch jung, die ersten Schichten verfahren hatte. Aber schnell, wie ein Husch, war sie abgeklungen, einfach verweht, wie das eben oft geschieht. Sein Herz hatte nicht nach einem neuen Trost gegriffen.

Nun hatte er sich vorgenommen, im Leben des alten, abgearbeiteten, kleinen Grubenpferdes Schicksal zu spielen, Julius sollte das Gnadenbrot haben, und damit lud Käppe sich eine Menge Arbeit auf den Hals, wie sich bald zeigen mußte.

Julius kam zur festgesetzten Stunde. Der rothaarige Kalle führte das Pferd am Halfter und sagte zu ihm: „Kumpel, nimm mir’s nicht übel, daß ich dich manchmal geschlagen habe! Wer so vom Zorn geplagt ist wie ich, sucht oft Speck in der Hundehütte! Nochmals, Kumpel, nimm’s mir nicht übel!“

„Es ist gut!“ sagte Käppe Krümmel, „jetzt ist Zapfenstreich, machen wir Schlußmusik!“

Die Männer tranken einen Klaren. Dann machten sie sich daran, das Pferdchen zu putzen und zu striegeln. Der Kohlenstaub wurde aus der Mähne ausgeschwemmt und bald stand Julius mit schwarzglänzendem Fell vor der gefüllten Haferkiste. Seine von der schweren Grubenarbeit gekerbten Hufe fuhren zufrieden über die Streu, das goldgelbe Weizenstroh. Als der rothaarige Kalle gegangen war, stand Käppe Krümmel neben Julius und streichelte Kruppe, Mähne, Rücken und Nüstern des Tieres, ja er erwischte sich dabei, wie er zärtliche Worte sagte: „So ein kleines, liebes Pferd kann nicht Julius heißen! Das klingt so schwer, so ernst! Ich werde dich von heute an Jülle nennen, steckt doch mehr Freundlichkeit in diesem Namen!“

Als hätte es das Tier verstanden, blinzelte es mit den Augen, und die warme Pferdeschnauze drückte sich leicht gegen Käppes Handrücken. Genau wie damals, als die beiden sich zum erstenmal begegneten, tief unten, wo graufarbige Grubenlichter den hellen Tag ersetzen sollen.

Für Käppe gab es künftig nichts anderes als Jülle. Das Gnadenbrot sollte dem Pferdchen schmecken. Das war eine Gemüts- und Pflichtsache, die den Rentner Krümmel ganz ausfüllte. Bald aber schon, nach einem guten halben Jahr, legte Jülle sich ins Stroh, um nie wieder aufzustehen. Kein gutes Wort, auch nicht das beste Rezept des Tierarztes, konnten den Tod vertreiben.

Käppe lief lange Zeit wie tiefsinnig umher, und immer wieder mußten die Leute hören, wie er sagte: „Der Teufel soll’s ändern, den Jülle kann ich nicht vergessen!“

Gestern abend traf ich Käppe. Klein, schmächtig stand er vor mir, mit fahlem Gesicht, in das sein strähniges Haar fiel. Er erzählte mir wieder einmal von Jülle. Seine Augen glänzten und waren die Spiegelung eines merkwürdigen Glückserlebnisses, das ein so jähes Ende fand.

Auf dem Heimweg kam mir der Gedanke, die Geschichte von Käppe Krümmel und seinem Jülle für die vielen Menschen aufzuschreiben, die nicht mehr an Liebe und Treue in dieser Welt glauben wollen. Während ich meinen Weg ging, stand der Himmel über mir in rötlichem Dunst. Ein schmaler Streifen, wie von grüner Seide, ging über ihn hin. Mittendrin brannte der Abendstern.

Unterm silbernen Baum. 8 ernste und heitere Geschichten

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