Читать книгу Bittere Wahrheit… - Inge Elsing-Fitzinger - Страница 3

Selbstmord

Оглавление

Ein markerschütternder Schrei durchstieß die dumpfe Stille.

Alain Dubois hatte sich eben wieder an seinen Schreibtisch gesetzt, versuchte das Chaos seiner Gedanken zu ordnen. Das Gespräch mit seiner Gattin Marie-Louise, vor wenigen Augenblicken erst, bewegte ihn zu tiefst. Er hatte ihr großzügig verziehen, ihr versichert, sie würden gemeinsam eine, für beide Seiten zufrieden stellende Lösung finden - trotz des Schocks, den ihr offenes Geständnis in ihm hervorgerufen hatte.

Marie-Louise war eine betörende Frau, die ihr Charisma vor sich hertrug wie schwulstiges Parfum, das ihr in dieser Situation fast eine Nuance zu schwer geworden war. Früher hatte sie sich nie in den Vordergrund gespielt, wirkte ungekünstelt präsent, wach – und doch geheimnisvoll. In den letzten Jahren setzte sie auf wohldosierten Sexappeal, unnahbar und berechnend, mit der Aura französischer Eleganz und Frivolität. Ihre zauberhaften Lippen verzogen sich meist zu einem provozierenden Schmollmund, während sie mit den sorgfältig getuschten Wimpern klimperte. Er schämte sich bisweilen der unverholenen Lust in ihren Augen. Heute war sie wie damals, vor langer Zeit.

Erfüllt von unverbesserlichem Optimismus, sehnte er sich nach dem einstigen Paarlauf ihrer Gefühle. Wie sehr hatte sie ihn mit ihrer Zurückhaltung gereizt. Dieses kindliche Lächeln, mit dem sie vor vielen Jahren seine Werbung angenommen hatte.

„Alter Träumer“, schalt er sich.

Sie waren ein Teil der privilegierten Gesellschaft von Paris. Ein Scheidungsskandal - unvertretbar. Der fulminante Ruf der Schwiegereltern. Ein Argument, das ihn nicht allzu sehr getroffen hätte. Doch Bernard Villot, seinen väterlichen Freund und Gönner, wollte er in keiner Weise kompromittieren. Ihn achtete, schätzte und verehrte er aus tiefem Herzen.

Was hatte Marie-Louise ihm alles in den letzten Monaten angetan? Dennoch liebte er sie. Wahre, tiefe Empfindungen kann man nicht einfach wegwischen wie Kreidereste auf einer Schiefertafel, dachte er wehmutsvoll. Sie würden sich immer wieder vordrängen, die Bereitschaft zur Versöhnung unterstützen.

„Sie ist eine Frau, die ihren Gefühlen folgt, auch über die Weiten der Ozeane. Die jedem Mann Kompass und Sextant ersetzt, weil er weiß wo er hingehört, zu ihr, der Einzigen, der Verführerischen, die ihn wie Circe lockt.“ Undeutlich klangen seine Worte, doch überzeugt.

Heute hatte sie so wunderbar unschuldig gelächelt wie einst. Die Silbernetzstola lässig über die Schultern gelegt. Das hellblaue Wollkostüm. Die kastanienbraunen Haare spielerisch zusammen geschlungen, aufgesteckt. Rehbraune Augen. Wunderschöne Augen, die er so geliebt hatte an dem übermütigen, glücklichen Mädchen, vor vierzehn Jahren. Wahrscheinlich erstmals ehrliche Tränen waren über ihre hochroten Wangen gelaufen.

Wie viel Leere hält eine dauerhafte Beziehung aus, fragte er sich, und meinte gleichzeitig mit Überzeugung: „Wir werden eine Lösung finden, Marie. Wir werden diese Leere ausfüllen, diese neuen Erkenntnisse in brauchbare Bahnen lenken. Du kannst dich wie immer auf mich verlassen.“

Würde die abgestumpfte Liebe neu erstehen? Sich in glühenden Lavaströmen noch einmal in uns verlieren, oder verbrennen in unerfüllten Sehnsüchten? Rentierte sich ein erneuter Kampf auf dem Schlachtfeld der Gleichgültigkeit?

Ihr zärtliches „Merci, mon cher“ erstickte in einem tiefen Seufzer, gemischt mit den letzten Zuckungen ihres hinreißend bereuenden Schluchzens.

Jetzt sprang Alain auf, stürzte zum Fenster. Zwölf Stockwerke unter ihm lag, umringt von Gaffern, ein Bündel leblos zerschlagenem Etwas. Er konnte nicht fassen, was er sah. Konnte nicht begreifen, dass dieses tote Wesen auf dem grauen Asphalt seine Marie sein sollte, die er eben noch getröstet und sichtlich beruhigt von sich hatte gehen lassen.

„Wir waren einmal ein so wundervolles Paar, dessen Intimsphäre aber zusehends von Blitzgewittern neonhell ausgeleuchtet wurde. So hell, dass wir beide geblendet wurden – einander nicht mehr richtig sahen.“

Hatte er sie falsch eingeschätzt? Diese eiskalte, so unerreichbar scheinende, berechnende Frau, die sie in den letzten Jahren geworden war, die mit seinen ehrlichen Gefühlen Pingpong gespielt, ihm beinahe das Herz gebrochen hatte.

Versteinert starrte er in die Tiefe, registrierte nicht das Läuten des Telefons, blickte sich auch nicht um, als Francois Beret, sein engster Mitarbeiter und Freund, hereinstürmte. Verzweifelt, fassungslos.

„Alain, um Gottes Willen, komm rasch! Marie Louise…“.

Eine abwehrende Handbewegung. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die langsam über das Kinn flossen, auf der Krawatte versickerten. Ruckartig drehte er sich zu dem stets willkommenen Freund um, brüllte gereizt: „Hinaus! Lass mich alleine!“

Die ausladende Fensterwand, die warmtönigen Möbel. Alles schien feindlich und kalt. Francois verließ das Büro, leise, rücksichtsvoll.

Eine Meute sensationslüsterner Reporter, übereifriger Polizisten, würde seinen Freund bald mit unsinnigen, herzlosen Fragen quälen. Schreiberlinge, die nach einer interessanten Story für ihr Schmierblatt gierten. Je tränenreicher, je brutaler, umso effizienter. Kameras schwingend, Zettel und Schreibzeug in den Händen, Mikrophone, Kabel, lärmend, schreiend, schoben sie sich bereits zur Türe hin, die ihren grausamen Wissensdurst noch trennte. Herzlos, blindwütig. Francois wurde heftig zur Seite katapultiert.

Die belagerte Festung öffnete sich. In der breiten Flügeltür stand Alain. Ruhig, beängstigend ruhig, wandte er sich an die plötzlich verstummte geifernde Menge. Deutlich klangen Worte durch den Raum, die überraschten, doch keineswegs befriedigten.

„Ich kann die Handlung meiner Frau nicht verstehen. Wir liebten einander so sehr. Sie war das begehrenswerteste Wesen, das sich ein Mann wünschen kann.“

Die letzten Silben klangen weich, halb erstickt in wieder aufsteigenden Tränen. Er drehte sich um. Die Tür fiel ins Schloss. Francois beantwortete der Polizei jede Menge Fragen. Tiefes Mitleid erfüllte ihn.

Stunden später stiegen die beiden Männer in die Gondel aus Glas.

„Lass mich dich nach Hause bringen. Deinen Wagen soll der Chauffeur zurückfahren.“

Wortlos setzte sich Alain auf den Beifahrersitz. Das Gesicht starr, leblos. Einzig die Lider legten sich in kurzen Abständen über die geröteten Augen.

In der geräumigen Vorhalle des Hauses stolperte er über ein Samsurium von Schuhen.

„Hatte Marie tatsächlich noch solch banale Sorgen, bevor sie zu mir kam?“ Ungläubig betrachtete Alain das Chaos. „Vermutlich war sie sogar beim Friseur gewesen. Sie wollte besonders hübsch aussehen“, lächelte er gequält. „Ein typisch weiblicher Schachzug, wenn man um Verzeihung bitten will, und doch zu stolz ist es zu tun.“

Er hatte ihr verziehen. Jetzt war sie tot, unwiederbringlich von ihm gegangen, hatte ihn alleine gelassen. Sanft streifte er über den Perlnerz, der achtlos hingeworfen im Vorzimmer lag, liebkoste ihn, als glaubte er in ihm die zierliche Gestalt seiner Marie zu finden. Diese faszinierende Koketterie, wenn sie ihn mit ihren Bernsteinaugen anblickte. Die hohe Stirn, in die von Zeit zu Zeit eine dunkle Strähne fiel. Der maliziöse Schwung ihrer Lippen. Bisweilen beredtes Schweigen, träumende Grübchen, aber auch zerberstendes Lachen. Ein Rohdiamant. Sie hatte wohl ihre eigene Vorstellung von Liebe. Blau und Rot – nicht vermischbar um violett zu werden.

„Wenn du etwas brauchst, ruf mich bitte an. Zu welcher Zeit auch immer“, hörte er Francois sagen. „Da musst du durch, mein bester Freund.“ Alain zuckt mit den Achseln.

Musste er tatsächlich? Wozu? Hatte das Leben überhaupt noch einen Sinn? Was nützte ihm sein großartiges Gehalt, wenn keiner da war, das liebe Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Wie oft hatte er sich über Marie-Louises sinnlosen Leichtsinn geärgert. Wie glücklich wäre er jetzt, wenn sie hereingestürmt käme, hinter sich ein ganzes Warenlager nachschleppte. Nur einmal noch wollte er ihr bezauberndes Lachen hören, ihre trippelnden Schritte, das Klappern ihrer Absätze, das ihn stets genervt hatte.

Jetzt war es still. Kein zermürbendes Klappern, keine hasserfüllten Schmähungen, keine Liebesschwüre oder zynische Entschuldigungen. All das hatte er bis zum Überdruss hören müssen. Marie kam nicht wieder, wie sehr er auch die Eingangstür hypnotisierte - flehend, hoffend, es möge ein Wunder geschehen.

Er trat hinaus auf die Terrasse. Kühle, frühsommerliche Sonne strahlte vom Himmel. Der Magnolienbaum trug dicke Knospen. Gestern noch stellte Marie fachkundig fest: „Dieses Jahr werden sie besonders üppig! Ich liebe diesen Baum.“

Ihre glücklichen Augen leuchteten kindlich verzückt, wie einst vor langer, unendlich langer Zeit. Liebend gerne hätte er sie in die Arme genommen. Er war zu stolz, hatte den Beleidigten gespielt, obwohl er ihr im Herzen schon lange verziehen hatte. Jedes liebe Wort erfüllte ihn mit Glück. „Ein blutjunges Fohlen, das ab und zu an die Longe genommen werden musste, um ihm den rechten Weg zu weisen!“ Er betete diesen Engel an, trotz aller Schmach, die sie ihm bereitete.

Alains wehmütige Erinnerung

Vor vierzehn Jahren war Alain Dubois in die Firma des besten Freundes seines Vaters eingetreten. Kurz nach dem Examen an der Technik. Vater war verstorben, als er gerade mal sechs Jahre alt war. Onkel Bernard kümmerte sich stets fürsorglich um sein Patenkind und dessen Mutter. Unverheiratet, entwickelte der Mann dennoch außerordentliche familiäre Fähigkeiten. Nie vergaß er Geburts- oder Namenstage, Weihnachten oder Ostern. Pünktlich erschien er stets bepackt wie Père-Noël, überhäufte Mama und Alain mit Geschenken und Köstlichkeiten, die erst das Kinderherz, später das Herz des heranwachsenden Jünglings höher schlagen ließen. Von Bernard hatte er das erste Fahrrad bekommen, das erste klapprige Auto. Er hatte seinem Schützling geholfen, die schwierigen Entscheidungen des Berufszweiges an der Technischen Hochschule zu wählen. Unmerklich lenkte der reife Mann Alains Leben, nur mit einem Ziel, ihn einmal zum Erben seiner Firma zu machen. Die Witwe war dankbar. Alain nahm sich fest vor den Onkel nie zu enttäuschen.

Fleißig verfolgte er seine Studien. Verzettelte sich nicht mit amourösen Abenteuern. Er vergeudete seine kostbare Zeit nicht mit Sauforgien in verrauchten Kneipen, war begeisterter Tennisspieler, schwamm täglich in Bernards Swimmingpool, um sich fitt zu halten, büffelte mit Feuereifer.

Als jüngster Maschinenbauingenieur Frankreichs absolvierte er mit knapp zweiundzwanzig Jahren sein Examen. Wenige Wochen später trat er in den Großkonzern BERNARD VILLOT, technische Behelfsmittel aller Art, ein. Scheinbar ohne Protektion diente er sich wacker hinauf. Sein ehrgeiziges Ziel war es, möglichst bald in der Chefetage zu landen.

Damals lernte er auch Marie-Louise kennen. Tochter eines namhaften Industriekapitäns. Ein wunderschöner Unschuldsengel, eben von Auslandsstudien zurückgekehrt. Dieses Himmelsgeschöpf wollte er ein Leben lang auf Händen tragen.

Etwa gleich alt, wirkte Marie-Louise dennoch bedeutend jünger. Leidenschaftlich liebten sie einander in den ersten Jahren ihrer Ehe. Ein Traum, aus dem Alain nie mehr erwachen wollte. Stunden ungetrübten Glücks, erfüllt von frenetischem Sex, hingebungsvoller Leidenschaft, sprudelnder Sinnlichkeit.

Onkel Bernard stellte ihnen eines seiner Häuser zur Verfügung. Ein Horst der Glückseeligkeit für zwei vor Glück überbordende Menschen. Es lag nahe dem neuen Fabrikgebäude. Ein Monument aus Stahl und Beton, das ebensoviel Stärke und Persönlichkeit ausstrahlte wie sein Eigentümer. Bernard Villot war unbeugsam und mitleidlos wenn es ums Geschäft ging. Ein einziges Wort, eine schlichte Geste, vermochte Großes entstehen zu lassen, Schlechtes unwiederbringlich zu vernichten.

Sein Wahlspruch: „Wer etwas will, muss auch mutig sein zu scheitern.“

Mut hatte Bernard. Gewaltigen Mut. Doch scheitern würde er nie, war Alains feste Überzeugung. Für ihn war dieser Mann das unerschütterliche Vorbild. Verehrenswürdig, menschlich.

Marie-Louise wusste, wie sehr dem guten Onkel an Alains Erfolgen gelegen war. Gelangweilt zwar durch ausführlichen Gespräche an Sonntagnachmittagen, hockte sie geduldig zu Alains Füßen, kitzelte übermütig seine Zehen, kraulte sein buschiges Haar, als liebkose sie das Fell eines Katers. Alain hatte meist große Mühe den Faden der ausführlichen Abhandlungen Bernards nicht zu verlieren.

Eine wunderbare Zeit durchlebten sie damals. Der winzige, lauschige Garten, eng umschlungene Spaziergänge, berauschenden Nächte. Auf Liebesschwüre folgte jugendliche Leidenschaft, unerschöpfliche Freude, übermenschliches Glück.

Den massiven Anforderungen im Büro hielt der junge Mann tapfer stand, obwohl bisweilen durch den doppelten Hochleistungsdruck etwas überfordert.

„Alain, es ist unumgänglich dieses Projekt heute noch unter Dach und Fach zu bringen. Ruf deine kleine Frau an und sag ihr, dass sie ihren Abend sinnvoll, aber alleine verbringen muss.“ Die Stimme Bernards klang freundlich, beinahe scherzend, doch die Augen duldeten keine Widerrede.

Anfangs akzeptierte Marie die Notwendigkeit. Schließlich, des ewigen Wartens überdrüssig, wurde sie zusehends trotziger. Alain übersah in seinem euphorischen Eifer die immer häufiger werdenden missmutigen Blicke, die provokanten Augenaufschläge, die quengelnden Vorwürfe. Zu spät erkannte er, wie sehr er seine Frau vernachlässigt hatte.

Seitensprung, Liebesgeflüster

„Ach Claude, was bist du doch für ein starker Bursche“, Maries seufzend lüsterne Stimme klang aus dem Pavillon, als Alain das Garagentor leise schloss.

„Bei deinen Bedürfnissen brauche ich wohl solche Reserven, du kleine Tigerkatze. Mach schon, runter mit den Klamotten, gib Küsschen, lass mich nicht so lange warten. Wo soll ich denn hin mit meinem besten Stück, das dich immer so beglückt.“

Alain kannte die Stimme. Der Sohn des Nachbarn. Ein Bild von einem Mann. Stets sonnengebräunt. Ein Hüne. Leidenschaftlicher Amateurboxer, der in seine Muskelpracht all seine Kapazität investierte, wenn auch der geistige Horizont reichlich dürftig blieb.

Geplagt von Selbstvorwürfen, machte Alain auf dem Absatz kehrt, kaufte einen überdimensionalen Blumenstrauß. Geduldig wartete er, bis sein holdes Weibchen mit hochrotem Kopf, völlig außer Atem, fast nackt ins Haus huschte.

„War die Gartenarbeit so anstrengend, Kleines“, versuchte er locker zu klingen. Es krampfte ihm das Herz zusammen.

„Ach mein Süßer, das ist doch nicht so schlimm. Das schaffe ich mit links, da du ja ohnehin so oft weg bist“. Marie-Louise strahlte ihn an, hüpfte an ihm hoch wie ein Eichhörnchen, und küsste ihn mitten auf den Mund.

„Ich geh nur rasch unter die Dusche. Mach mir inzwischen einen Drink, cheri.“ Ohne ein Fünkchen schlechten Gewissens, log sie ihm mit listig funkelnden Augen ins Gesicht. Alain riss die Fenster auf. Völlig hilflos stand er einem absolut fremden Phänomen gegenüber. „Sie betrügt mich. Und sie lügt.“

In nächster Zeit überhäufte er sein honigsüßes Weibchen mit weit seine Mittel übersteigenden Geschenken. Ein Vorschuss war von Nöten. Der Chef des Besoldungsbüros versäumte nicht, den gestrengen Onkel umgehend von Alains sonderbarem Tun in Kenntnis zu setzen. Eine mehr als unerquickliche Auseinandersetzung folgte. Bernard war enttäuscht. Wohl oder übel sah sich Alain gezwungen, den Sachverhalt seines tadelnswerten Verhaltens zu erklären.

„Solche Argumente hätte ich absolut nicht erwartet.“ In Bernards knappen Worten lag gleichermaßen Respekt und Heiterkeit.

„Dass du der Firma wegen sogar deine ehelichen Pflichten vernachlässigst, ist schon ein starkes Stück!“ Gönnerhaft klopfte er seinem Schützling auf die Schulter.

Alain erhielt kurz darauf eine wesentlich wichtigere Position und eine ansehnliche Gehaltsaufbesserung.

Durch diese leitende, höchst verantwortungsvolle Stellung, hatten die Dubois nun häufig Gelegenheit an Festivitäten der Firmenleitung teilzunehmen. Dank ihrer Jugend und natürlichen Schönheit, war Marie-Louise meist Mittelpunkt solcher Abende. Sie plauderte charmant, etwas kokett, gerade noch an der Grenze des Akzeptablen, mit wichtigen Persönlichkeiten. Solcher Art verhalf sie Alain zu manch bemerkenswerter Bekanntschaft, die der Firma und ihm im Speziellen, von größtem Nutzen war. Unmerklich drängte sie sich immer weiter in sein Leben, spielte sich mit weiblicher Raffinesse bald zu seiner Managerin auf.

Nichts Böses ahnend, völlig geblendet von ihren Fähigkeiten, war Alain stolz auf seine tüchtige Frau. Je mehr sie sich um sein Wohlergehen mühte, umso glücklicher fühlte er sich.

„Alain, das Telefonat mit Herrn Generaldirektor Faberant. Ich habe versprochen, du setzt dich umgehend mit ihm in Verbindung.“ Maries Stimme klang spitz, beinahe befehlend.

„Alain, heute Abend, die Einladung bei den Sénéquiers. Vergiss es um Gottes Willen nicht. Ich weiß, maßgebliche Leute werden da sein, die großes Interesse an euren Produkten haben.“

„Alain, ich habe dir einen neuen, mitternachtsblauen Smoking gekauft. Das Galadinner bei Rumeur. Zum Sommernachtsfest bei den Chalants musst du dir unbedingt noch einen weißen anschaffen. Was denken sonst die Leute! Wir müssen doch schließlich standesgemäß auftreten. Oder?“ Ihre Stimme überschlug sich vor Eifer und Energie.

„Das ist dann der fünfte Abendanzug innerhalb eines halben Jahres. Pure Geldverschwendung“, stöhnte Alain reichlich gestresst.

In letzter Zeit wurde er nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt. Sein Terminkalender platzte aus allen Nähten. Seine Schlafstunden verkürzten sich drastisch. Marie war in ihrem Element, einfach nicht mehr zu bremsen.

Unsagbare Liebe überschwemmte dennoch sein nüchternes, rationales Denken. Blind folgte er ihren Anweisungen. Circe hatte ihn in ihren Bann gezogen, und er wollte gar nicht entrinnen. Er liebte dieses heilige Wesen bedingungslos.

Die nächsten Jahre vergingen für Alain Dubois im Fluge. Von seiner ehrgeizigen Frau geführt, verbuchte er Erfolge, die er ohne sie kaum zu hoffen gewagt hätte. Alles geschah scheinbar wie von selbst. Mit einem reizenden Lächeln, einer geringschätzigen Handbewegung, einem gezielten Augenaufschlag schaffte sie jede Schwierigkeit aus der Welt.

Alain stürzte sich weiterhin mit vollem Einsatz in die Arbeit, kam oft erst spät abends nach Hause. Mehrmals übernachtete er in den Privaträumen seines komfortablen Büros, wenn Aufsichtsratsitzungen nicht enden wollten. Maries Reaktionen auf sein Fernbleiben hatten sich grundlegend geändert. Keine Vorwürfe mehr, keine hämischen Rügen, die ein schlechtes Gewissen wach gerufen hätten. Sie hatte nur ein Ziel vor Augen: Ihr Mann sollte Chef werden, Leiter dieses großen Unternehmens, indem er Treppchen um Treppchen höher kletterte, nicht mehr aufzuhalten war. Die Begeisterung des Chefs war keineswegs zu übersehen.

Alain hatte Permanenterfolge. Täglich neue Verträge. Lorbeeren und Lobeshuldigungen. Absolut keine Bedenken, diese Glückssträhne könnte möglicher Weise künstlich hervorgerufen worden sein.

Beruflich verhindert, übernahm sein geliebtes Mädchen selbstlos zahlreiche wichtige Einladungen, auf denen sie ihr gezieltes, für manche Beteiligte oft verderbliches Spiel trieb. Sie erfuhr in charmanten Plaudereien von geplanten Vorhaben, hörte von Kaufabschlüssen oder Fusionen. Informationen, die sie ihrem Gatten beim Frühstück mit betörendem Lächeln unterschob.

Marie fand teuflischen Gefallen an solchen Eskapaden, an feuchtfröhlichen Partys, den zahlreichen Bekanntschaften, die sie mit Akribie mehrte. Oft kehrte sie erst in den frühen Morgenstunden völlig erschöpft nach Hause zurück.

Er überhäufte das raffinierte Stück mit liebvoller Zärtlichkeit. Sie suhlte sich in seiner Fürsorge.

„Ich bin wirklich untröstlich, dass du wieder nicht mitkommst, mon petit chou. Na vielleicht klappt es ja das nächste Mal.“

Lachend klapperte sie durch die große Diele, warf ihm ein Kusshändchen zu, verschwand auf unbestimmte Zeit. Wildgekräuselte Locken umspielten ihr Madonnengesicht. „Wie wunderschön du bist“, säuselte Alain verklärt. Wie sehr er sie liebte, diese Fatahmorgana, durch die er in einem Meer von Glück schwamm.

Madonna schwamm ebenfalls, ausdauernd und zielstrebig. Aus dem einst lieblichen Persönchen war eine rücksichtlose, berechnende Frau geworden, die habgierig ihrem Ziel Schritt um Schritt näher steuerte. Die Jedermann niederstreckte, der sich von ihr bedenkenlos umgarnen ließ. Sie wollte die Reichste, die Schönste, die Begehrteste, die Beneidetste sein. Dazu war ihr jede Gemeinheit recht. Berückender Charme. Charakterlose Ränkespiele. Sex.

Niemals wäre Alain auf den abwegigen Gedanken gekommen, in diesem liebenswerten Geschöpf schlummere ein Teufel, der langsam, aber unumstößlich von ihr Besitz ergriff.

Die Dämmerung war hereingebrochen. Eine halbleere Flasche Armagnac stand auf der Glasplatte des kapriziösen Ratharntisches. Alain drehte verloren sein Glas zwischen den Fingen. Die Vögel waren verstummt. Der Abendwind frischte auf. Ihn fröstelte. Wie eine Beichte formten sich vergangene Ereignisse in seinem Innern. Eine Beichte, die er sich selbst ablegte. Eine Rechtfertigung, die ihn frei sprechen sollte von einer Schuld, die er sich großteils selbst zuschrieb, in seiner unendlichen Trauer.

„Das Leben, das wir führten war seltsam genug. Ich begeisterte mich an deinen zärtlichen Umarmungen, deinen Küssen, deinen wollüstigen Schreien, wenn du dich selbst zur Ekstase triebst, mich mit dir fortbeamtest in eine lustvolle Traumwelt von erfüllendem Sex. Ich war dir verfallen mit Haut und Haar, mit Leib und Seele. Wie Wachs zerrann ich in deinen Armen, und du formtest mich einzig nach deinem Willen. Ich wurde hart und rücksichtslos gegen Freunde, ertappte mich, wie ich diese mitleidlos abwürgte, völlig unverdient und oft auch unnötig.“

Unwillig schüttelte er den Kopf. Nie wieder wollte er sich zum Scharlatan machen lassen. Beinahe feierlich hob er sein Glas: „Auf ein neues, besseres Leben, cher Alain.“

Im Herbst vor drei Jahren.

Marie-Louise holte Alain mit einem neuen Sportcabrio vom Büro ab. Am Rücksitz lag, völlig unbeachtet, ein sündteurer Leopardenmantel, hingeworfen wie ein Spielzeug, dem man keine besondere Bedeutung beimaß. Brillantklipse im Ohr, einen Brillantreif am Arm, war sie bestens gelaunt, angeregt und gesprächiger denn je. Völlig perplex hatte Alain erst sie, dann das schicke Gefährt angestarrt.

„Ein Geburtstagsgeschenk, cheri! Papa konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, dass ich mit dem alten Vehikel herumkutschiere. Schließlich fällt es ja auf dich zurück, wenn die Leute mich lächelnd bedauern, was für ein armes Würmchen ich bin.“ Alains Innerstes bäumte sich auf. Ein fast neuer Audi, den ich für sie unter großen Entbehrungen zusammengespart hatte, ärgerte er sich.

Marie klapperte verführerisch mit den Augendeckeln, legte bittend ihre zarten Hände um seinen Hals. Aller Widerwille in ihm verflog, wie luftige Blätter im Sommerwind.

Maries Familie war von uraltem Adel. Während des Krieges nicht verarmt, sondern beträchtlich reicher geworden. Monsieur Philipe de Valloir hatte mit Waffen gehandelt, sich nach Kriegsende auf Küchengeräte aller Art umgestellt. Die Fabrik wuchs zu enormer Größe. Er thronte auf seinen Millionen, mit Stolz und unerschütterlichem Vertrauen.

Seine Gattin, eine Comtesse aus verarmtem, französischem Adel, residierte an seiner Seite. Huldvoll nahm sie Ovationen entgegen, ließ Handküsse über ihre, mit Edelsteinen voll bestückten Hände streifen. Meist sah sie streng und huldvoll in die Runde. Ihre scharfen Blicke taxierten jeden Einzelnen ihres Bekanntenkreises nach Exterieurs. Garderobe, Schmuck, Orden, Ränge, die sie im Geschäftsleben oder der Politik bekleideten. Je mehr Titel, umso gnädiger der Empfang. Charakter und Herzensbildung waren eher dritt- oder viertrangig. Seelengröße wurde von den Dimensionen der Bankkonten überwuchert.

Marie-Louise schien in den ersten Ehejahren diese, mehr als verachtenswürdigen Talente ihrer Mutter aufs trefflichste zu unterdrücken. Doch später wetteiferten die beiden Frauen eifrig, welche die Fähigere sei. In die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, trieb sie zu Höchstleistungen an. Ihren Mann hielt sie wie eine Beute fest, rücksichtslos, sinnlich, drakonisch.

Schein und Sein.

Die erste Nacht nach dem schrecklichen Ereignis war dank Beruhigungstabletten überstanden. Unablässiges Klingeln an der Haustür schreckte Alain aus seinen Albträumen. Ein zorniger Blick streifte den Wecker. Halbelf Uhr morgens. Hastig stürzte er die Treppe hinunter. Vor der Tür stand Francois, eine Tüte in der einen, eine Flasche Milch in der anderen Hand.

„Lust auf ein gemeinsames Frühstück?“, lächelte er beinahe entschuldigend.

Alain schlürfte missmutig ins Bad. Duft von frischen Croissants und Kaffee erfüllte wenig später den Raum. Schwarz und heiß stürzte er die Brühe hinunter. Unvermittelt begann er zu sprechen. Francois lauschte überrascht. Die Stimme des Freundes klang seltsam entrückt, als spräche er mit sich selbst.

„War ich selbst schuld an meinem Dilemma, meiner Verzweiflung? Das düstere Wetter half sicher gehörig mit. Ich hatte es einfach nicht mehr ertragen neben Marie-Louise liegen zu bleiben, die sanft wie ein Engel in ihren Kissen schlummerte. Ein Teufel im Engelsgewand. Das seidige Nachthemd über ihren zarten Brüsten zusammen geschoben. Ich wollte sie küssen. Sie drehte sich im Schlaf zur Seite, wandte mir abweisend den Rücken zu. Wir hatten uns in den letzten Monaten so weit von einander entfernt, und ich liebte sie doch bedingungslos.“ Gebannt starrte er auf die leere Tasse in seiner Hand.

„Im Freien fühlte ich mich erleichtert. Hier verlachte mich keiner, lästerte niemand über meine hündische Abhängigkeit, in die ich mich stets wieder verlor, wenn ich in Maries Nähe war.

Missmutig stapfte ich durch das feuchte Gras in den Nebel hinaus. Dieses graue Osterwetter passte perfekt zu meiner morbiden Stimmung. Die Prognose für die Feiertage war vielversprechend gewesen. Das hatte uns dazu bewogen, die Festtage auch dieses Jahr bei Bekannten, in der Nähe von Paris auf Schloss Vallouchon zu verbringen. Ein herrlicher Besitz. Grauer Granitstein, riesige Erkerfenster mit bleiverglasten Puzzenscheiben, die im Sonnenlicht einen geisterhaften Zauber verstrahlten. Die gekachelte Halle über zwei Stockwerke hätte bequem eine Zirkustruppe aufnehmen können“. Ein mokantes Lächeln begleitete Alains Gestammel.

„Am faszinierendsten allerdings fand ich diesen traumhaft verwilderten Wald, der das Prunkhaus umgab. Er hatte mich schon im Vorjahr beeindruckt. Damals hätte ich bereits Bernards Bedenken ernst nehmen sollen“, stöhnte er missmutig.

„Bernard schien ehrlich schockiert. Unverholener Zweifel lag in seiner Stimme, den ich völlig ignorierte. Marie-Louise wollte ein verlängertes Wochenende fern vom Großstadttrubel verbringen, und ich, verliebt und stets bemüht ihr alle Wünsche von den Augen abzulesen, willigte ein.

„Warum sollten wir nicht da hinaus fahren“, hatte ich Bernard überrascht gefragt. Cléo, die Tochter des Hauses, war Marie-Louises Freundin. Sie hatte uns herzlich eingeladen.“

„Schon recht, reg dich nicht gleich wieder auf. Du bist in letzter Zeit so leicht reizbar, mon cher“, hatte Bernard mit einiger Besorgnis in der Stimme damals gemeint. „Sollte es dir tatsächlich gefallen, kannst du natürlich noch einen Tag anhängen. Die Firma wird nicht gleich in Konkurs gehen, wenn du einmal nicht da bist“. Alain hob kurz den Kopf. Ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Wir verbrachten tatsächlich ein herrliches Wochenende, das sich noch in die halbe darauf folgende Woche hinzog. Interessante Leute waren gekommen, mit denen ich wieder einmal nach Herzenslust Golfen konnte. Die Liebesnächte waren umwerfend. Marie-Louise war bezaubernd, verführerisch, wie schon lange nicht. Auch die Familie, die uns mit berauschender Gastfreundlichkeit aufgenommen hatte, erschien mir reizend und charmant. Obwohl der Hausherr stets mit brutaler Unlogik um sich warf, wie die meisten Leute, die mächtig und reich genug sind, stets das zu bekommen, was sie wollen.“

Alain war aufgestanden, schenkte sich einen großen Armagnac ein.

„Als ich am Abend unserer diesjährigen Abfahrt völlig übermüdet heimkam, saß Marie vor dem Schminktisch. Er quoll ebenso über von Tuben, Tiegeln, Dosen und Fläschchen, wie die gläsernen Wandregale, die sie akribisch mit immer neuen Schminkkreationen füllte. Die offene Lederkassette ihrer gierig gehorteten Preziosen stand griffbereit. Der seidene Bademantel lässig geschnürt, gab ihre schlanken Beine frei. Seit Stunden bereitete sie sich sichtlich auf unsere Abreise vor. Der Masseuse war ich an der Haustüre begegnet, der Friseur klingelte eben Sturm. Die beiden kamen stets ins Haus. Marie hasste es in die Salons zu gehen. Voll konzentriert klebte sie gerade lange künstlich Wimpern ans rechte Augelid, als ich ihr Heiligtum betrat.

„Schatz, lass uns den geplanten Ausflug nochmals überdenken“, startete ich einen letzten Versuch, das Bevorstehende abzublocken. Tut mir ehrlich leid, aber die Arbeit überrollt mich. Ich hätte keine ruhige Minute dort draußen.“

Überrascht drehte sich Marie um. „Das ist aber jetzt nicht dein Ernst!“ Ihre Stimme klang hysterisch schrill. Die Hände flatterten. Sie sah in diesem Moment richtig komisch aus. Am rechten Lid die langen Wimpern, das linke wirkte dagegen nackt.

„Aber ich habe doch schon verbindlich zugesagt“, kreischte sie außer sich.

Mein Versuch, ihr den Arm um die zarten Schultern zu legen, scheiterte kläglich. Sie stieß mich brüsk zur Seite.

„Du könntest vielleicht alleine vorfahren, ich komme später nach.“

Wutschnaubend lümmelte sie auf dem überfüllten Schminktisch. Ihre Augen funkelten mich vernichtend durch diverse Klappspiegel an.

„Herrgott, versteh doch. Bernard erwartet Höchstleistung von mir. Ich kann ihn nicht enttäuschen. Die Zeit drängt.“ Eindringlich und beschwörend versuchte ich sie zu überzeugen.

„Aber mich, mich kannst du enttäuschen. Das fällt dir sichtlich nicht all zu schwer.“ Grenzenlose Unzufriedenheit wandelte sich spontan in trotzigen Zorn.

Du weißt ja, Marie liebte Partys, Galaabende und offizielle Einladungen zu diversen Cocktails und Abendessen. Große Gesellschaften waren ihr Leben. Dort brillierte sie. Jeder, der ihr ein solches Fest vereitelte wurde zum Feind.

„Du bist ein richtiger Miesmacher“, brüllte sie weiter. „Womöglich hast du ja ganz Anderes vor. Du willst zu irgendeiner blöden Nutte. Du langweilst dich in meiner Gesellschaft! Gib es endlich zu. Du willst mich nur erniedrigen, bloßstellen vor all meinen Freunden. Du machst mir immer alles kaputt.“ Wie meist, drehte sie den Spieß ganz einfach um. Letztendes war immer ich der Sündenbock.

Im nächsten Augenblick konnte ich einem schweren Crèmetiegel gerade noch ausweichen. Das Geschoß traf den großen Wandspiegel hinter mir, zertrümmerte ihn in Kopfhöhe. Hätte exakt meine Schläfe getroffen, wäre ich nicht blitzschnell in die Hocke gegangen. Marie warf oft mit Gegenständen nach mir, wenn sie wütend war. Jetzt heulte sie. Tusche und Lidschatten flossen in das dicke Make-up auf ihren zarten Wangen. Gleichzeitig erfüllte mich ehrliche Reue, ihr Vorhaben so rüde torpediert zu haben. Wie wunderschön sie war, wenn auch nicht gerade im Augenblick. Wie sehr liebte ich ihren zarten Körper, ihre festen Brüste, ihre weiße Haut.

Gott ergeben ging ich zum Garderobeschrank, fingerte einen Koffer aus dem obersten Regal. Unwillig warf ich einige Kleidungsstücke hinein. Golfdress, Reitanzug, Abendanzüge. Ein leichter Hoffnungsschimmer glimmte in mir auf, diese Tage könnten wieder so schön werden wie das Jahr zuvor.

Ich Narr! Es war wohl der heimliche Wunsch, Verlorengegangenes zurückzuholen. Ich wollte etwas erzwingen, was schon lange nicht mehr existierte. Ein Fiasko war unausbleiblich. Ein beschämendes Fiasko. Diese fiesen Laffen, mit dem Ausdruck siecher Mondkälber in den versoffenen Augen. Laszive Kommentare, die allseits in Lachorgien ausarteten. Banale Konversation, skandiert und äußerst geheimnisvoll. Grauenhaft. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an völlig überflüssig. Ein lästiges Anhängsel, das man notgedrungen duldete. Auf Maries Anwesenheit wollte man sichtlich um keinen Preis verzichten. Sie genoss ihre Beliebtheit.

Dazu kam das miese Wetter. Pechschwarze Regenwolken, Gewitter, ein tosender Sturm. Die aufgemotzte Gesellschaft drängte sich in den weitläufigen, Rauch verquollenen Räumen. Eine Schar Hammeln in ihrem Pfuhl von Selbstgefälligkeit und Verderbtheit.“ Alain war auf die Terrasse gegangen, schien den Freund völlig vergessen zu haben.

„Reichlich frustrierst war ich am nächsten Morgen hinausgerannt in eine trostlose Landschaft. Ein trauriger Ostermorgen. Ich sah kaum zehn Meter weit. Dichter Nebel hatte sich über die Wiesen gelegt, der mir feucht und stickig fast den Atem nahm. Ich wollte allein sein, Ruhe und Frieden finden. Mühsam, Laubkränze an den Schuhen, bewegte ich mich auf das nahe Wäldchen hin. Dicke Tropfen fielen mir in den Hemdkragen, katapultierten mich aus den Wahnsinnsvisionen zurück in die Realität. Nur fort, möglichst weit fort, um keiner dieser unsympathischen, falschen Gestalten zu begegnen, die mich mit süffisant gespielter Liebenswürdigkeit und gekünsteltem Charme umgaukelten. Ein Albtraum. Der Hausherr, ein hässlicher Mensch, der mit gespielter Nonchalance jede Peinlichkeit zu vertuschen versuchte. Fleischige Lippen, fliehendes Kinn, viel zu hohe Stirn. Ein mit Goldzähnen gefüllter Mund. Wenn er grinste wirkte er noch wohlhabender, als er tatsächlich war. Ein Ekelpaket der übelsten Sorte.

Eine hirnverbrannte Idee, Marie-Louise hier her zu begleiten? Der Karren war verfahren. Unsere Beziehung steckte in einem bodenlosen Sumpf, sank bei jedem Versuch dies zu ändern tiefer und tiefer. Es gab kein Entrinnen mehr. Stand Isabelle dann vor mir, zerfloss all meine Courage wie Sahne auf heißer Schokolade. Ich wurde zum zahmen Lamm, dankbar für jede gönnerhaft geschenkte Liebkosung. Ein Hund, der bettelte nicht verstoßen zu werden, einen Krümel ihres Wohlwollens abzubekommen. Sie triumphierte und verspottete mich, wenn auch nicht mit Worten, so mit Taten.“ Ein trauriges Lächeln begleitete Alains Lamento.

„Mein Gemüt hatte sich durch den weiten Spaziergang wieder ins Gleichgewicht geschaukelt. Plötzlich wusste ich was zu tun war. Zurückfahren nach Paris. Vielleicht würden es doch noch schöne Ostern werden. Alleine, gute Musik, ein köstliches Glas Bojaulais, in Frieden und Stille. Mit einem Schlag war ich wieder der alte, fröhliche Alain, den ich viel mehr mochte als diesen Griesgram, der mit Gott und der Welt haderte.

Wer ist dieses Regennixlein?

Wie aus dem Nichts stand da ein junges Mädchen im hellen Regenmantel vor mir. Auf dem Kopf ein buntes Tuch. Die zierlichen Füße steckten in roten Gummistiefeln. Etwas ängstlich starrte sie mich mit unendlich traurigen Kinderaugen an. Diese seidene Makellosigkeit, die durchscheinende Haut der Jugend. Dieses Leuchten von Innen. Erinnerung an Marie vor langer, langer Zeit schmerzte plötzlich.

„Na was gibt es, mein Kind! So Gott verlassen? Hast du Kummer? Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte ich sie überrascht.

Hastig begann sie zu sprechen. „Wenn sie nach Paris fahren, nehmen sie mich dann bitte mit?“

Verblüfft schaute ich sie an. Wie konnte sie wissen, was ich selbst erst vor wenigen Minuten beschlossen hatte. Reichlich verwirrt antwortete ich nicht sofort. Träumte ich? War ich schon völlig durchgeknallt? Existierte dieses Regennixlein gar nicht? Ich versuchte einen Schritt weiter zu gehen. Sie vertrat mir den Weg, hob flehend die Hände und bat nochmals, noch inständiger als vorher.

„Sie fahren doch! Jetzt gleich! Nicht wahr?“

„Ja!“ Meinte ich etwas zögerlich. Wenn sie unbedingt mitkommen wollen! In zehn Minuten bin ich bei der Nebeneinfahrt.“ Ich konnte ehrlich nicht sagen, ob ich wach war oder träumte. Eigentlich war es mir auch völlig egal. Es fühlte sich als Realität traumhaft an, als Traum wunderbar real.

Lautlos startete ich den Wagen. Der riesige, reinrassige Schäferhund, der nachts immer frei herumlief, fand meine Abreise sichtlich in Ordnung. Nicht einmal e r versuchte mich zurückzuhalten. Beim Nebentor stand zusammengeschrumpft mein Fahrgast nach Paris.

Als wären des Königs Häscher hinter uns her, raste ich davon. Der gelbe Mittelstreifen der Straße flog uns entgegen. Der Gefahrenzone entronnen verringerte ich die Geschwindigkeit. Erstmals schaute ich bewusst zu meiner Begleiterin. Stumm kauerte sie neben mir, blickte mich mit wunderschönen Augen an, lächelte schüchtern, schwieg jedoch beharrlich.

„Na, sehr amüsant bist du ja gerade nicht!“ Ich duzte sie, was mich selbst verblüffte.

„Entschuldigen sie. Ich bin so verwirrt. Ich wollte sie nicht beleidigen“, versuchte ich meinen Fehler wieder gut zu machen.

„Das macht doch nichts. Wenn es ihnen Spaß macht, können sie mich ruhig weiter duzen. Alle Menschen duzen mich. Ich weiß auch nicht warum.“

Sie sagte es mit solch kindlichem Leichtmut, dass ich richtig fröhlich wurde. Aus dem Radio dröhnte der Wetterbericht. Schlagartige Aufhellung, Temperaturanstieg. Nachmittags Sonnenschein.

„Fein“, hörte ich die zarte Stimme neben mir. „Dann werden es doch noch richtige Ostern.“

„Wo wollen sie hin? Wo darf ich sie absetzen?“

„Ach bitte, duzen sie mich weiter, das klingt so freundlich. Dann komme ich mir gleich nicht mehr so verlassen vor.“

Ihre Worte klangen kläglich. Hatte man auch sie gekränkt und beleidigt? Ich hatte sie nicht bemerkt in den vergangenen Tagen. Wo hatte sie gesteckt? Was hatte sie nach Vallouchon verschlagen? Sie sprach ein wunderschönes, fast perfektes Französisch, war aber Ausländerin.

„D’accord! Ich heiße Alain.“

„Merci“, flüsterte sie. „Ich heiße Isabelle!“ Gleich darauf fiel sie wieder in lethargisches Schweigen. Sie hatte etwas unglaublich Beruhigendes, strahlte Wärme aus, die ich schon lange nicht mehr gefühlt hatte.

„Was machst du in Paris? Studierst du da? Wo wohnst du?“

„Ich wohne noch nirgends. Ich weiß auch noch nicht, was ich machen werde. Ich war noch nie in Paris.“

„Woher kommst du denn?“ Ich kam mir richtig lästig vor, doch dieses seltsame Geschöpf hatte meine Neugierde geweckt.

„Von weit her“, lispelte sie verträumt. „Ich hoffte mein Ziel endlich gefunden zu haben. Hier wollte ich gerne bleiben.“

„Mal sehen“, lachte ich überrascht, und trat erneut aufs Gas. Wir erreichten die Vororte von Paris. Ich hatte noch immer nicht das Geringste über sie erfahren. Nicht einmal, wohin ich sie bringen sollte. Paris ist groß.

„Na, wohin fahren wir jetzt?“

„Ich weiß nicht! Ich habe nichts vor. Ich liebe Überraschungen! Entschuldigen sie, wenn das aufdringlich geklungen hat“, hörte ich ihre Stimme wieder, „…aber ich habe wirklich keine Ahnung, wo ich hin soll. Nach den Feiertagen werde ich weitersehen. Ich bin alleine, muss für mich selbst sorgen.“

Was mich plötzlich dazu bewog sie einzuladen, weiß ich bis heute nicht.

„Meine Frau kommt erst nach den Feiertagen zurück. Wenn du willst und mir vertraust, kannst du die ersten Nächte in meinem Haus verbringen. Wir werden dann gemeinsam ein Zimmer für dich suchen. Einverstanden?“

Francois pfiff erheitert durch die Zähne. „Du hast dich ja mächtig ins Zeug gelegt. Hätte ich dir gar nicht zugetraut, du alter Schwerenöter!“

Alain lächelte. „Was sollte ich mit diesem jungen Mädchen? Ich hatte ja nicht die geringste Absicht, meine Marie zu betrügen. Wenn sie es auch vielleicht seit Monaten oder Jahren selbst tat. Ich blieb ein unverbesserlicher Träumer.

„Das ist aber sehr nett von ihnen. Sie sind der erste freundliche Mensch, der mir seit langem begegnet ist.“ Ihr Mona Lisa- Lächeln rührte mich. Bewegungslos saß sie da, abwartend. Die Scheibenwischer säuberten in monotonem Rhythmus die große Windschutzscheibe. Wir schwiegen uns einträchtig an, bis ich vor der Einfahrt meines Hauses hielt.

„Darf ich wirklich mitkommen?“, fragte sie noch einmal zögernd. Ich nickte. Ungestüm hüpfte sie aus dem Wagen, schwang die Tasche über die Schulter. Sie wirkte richtig erleichtert. Das erste Mal lachte sie entspannt und glücklich. Auch ich fühlte mich sonderbar froh.

Unschuldsvoll, benahm sie sich dennoch sicher, überraschend beherrscht, wie Marie einst, als ich sie kennen lernte. Ich war beeindruckt. Sie stellte ihre Tasche im Vorzimmer ab, hängte den Mantel auf und eilte zielstrebig in die Küche.

„Ich werde uns Kaffee kochen, den können wir beide sicher gut gebrauchen.“ Kurz darauf hörte ich sie herumwerken. Scheinbar fand sie mühelos alles Nötige. Eine Rolle Zwieback stand auf der Anrichte. Preiselbeermarmelade. Wer war das Mädchen?

Während ich noch leicht aufgewühlt, dennoch sehr zufrieden nicht alleine zu sein, eine Schallplatte auflegte, kam sie mit duftendem Kaffee ins Wohnzimmer spaziert. Alles schien selbstverständlich. Dann saßen wir einander still gegenüber. Sie schenkte Kaffee ein, gab etwas Sahne dazu, drei Stück Zucker, obwohl ich keinen Ton gesagt hatte. Lächelnd reichte sie mir die Tasse. Immer wieder strahlten mich ihre Bernsteinaugen an. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, sie von irgendwoher zu kennen.

„Kommst du überhaupt von dieser Erde?“, fragte ich scherzend. Einen Augenblick lang wurde sie ganz ernst. Dann zwinkerte sie mir unter ihren langen Wimpern zu, und deutete mit zarten Fingern auf den ungeschminkten Mund.

„Was du für Fragen stellst? Tut man das!“

Auch eine Antwort. Sie duzte mich plötzlich, und ich fand auch das charmant. Seelenruhig ließ sie sich mein Anstarren gefallen, wurde weder verlegen noch zierte sie sich. Sie war beglückend natürlich, strahlte eine tiefe, innere Schönheit aus, die mich überwältigte. Ihre kurzen, dunklen Haare standen verstrubbelt nach allen Seiten ab. Selbst das wirkte anziehend. Selten war es mir gegönnt so behaglich mit jemandem beisammen zu sitzen.“

Alain hatte sein Glas nachgeschenkt. Mit Tränen umflortem Blick schaute er in die Vergangenheit, träumte von einer nie wiederkehrenden Zweisamkeit mit seiner einst so geliebten Frau.

„Ein kräftiges Posaunensolo hallte durch den Raum. Fanfaren des jüngsten Gerichtes dröhnten aus den Lautsprechern. Isabelle saß reglos, mit halb geschlossenen Augen da. Wir lauschten der herrlichen Musik. Verklärt. Überirdisch. Plötzlich schrillte das Telefon.

„Du bist mir ja ein feiner Kavalier. Lässt mich einfach hier sitzen!“ Maries hektische Stimme, maßlos frustriert, beleidigend. Ich hielt den Hörer weit ab vom Ohr, ließ das wohlbekannte Geschnatter über mich ergehen. Ihren Redeschwall zu unterbrechen wäre ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen.

„Du hast mich verlassen Alain, ist dir das klar!“ Du warst fort, lange bevor ich dich heute verlassen habe, dachte ich resigniert. Weiß Gott, was sie alles in die Muschel brüllte. Sie klagte, zeterte, zischte zynisch – schließlich legte sie geräuschvoll auf.

Mehrere Stunden waren vergangen. Ich holte eine zweite Flasche Bojaulais aus dem Keller. Wir hörten bereits die dritte Symphonie. Keine Spur von Langeweile auf den Zügen meines Gastes. Mit großer Begeisterung fieberte sie immer neuen Passagen entgegen, war begeistert.

„Gehen wir gemeinsam essen? Hast du Lust?“

„Ja gerne“, rief sie erfreut. Gleich darauf etwas zögerlich: „Aber wird man es nicht anstößig finden, wenn du mit einer fremden Frau in der Öffentlichkeit aufkreuzt?“

„Marie war selten dabei, wenn du dich erinnerst Francois, die hatte stets andere Verpflichtungen“. Boshaft und gekränkt skandierte er jede einzelne Silbe.

„Hast du Bedenken? Sollen wir uns etwas bringen lassen?“

„Mais non! Ich würde gerne ausgehen.“ Erschocken blickte sie an sich herunter.

„In diesem Aufzug werde ich aber keine allzu gute Figur machen. Du müsstest dich richtig genieren mit mir!“

„Das ist nun wirklich kein Thema. In Maries Kleiderschrank findest du bestimmt das passende Kleid, auf der Frisierkommode und im Bad den Rest. Alles was eine Frau begehrenswert und noch hübscher macht. Irrsinnige Gedanken brausten durch mein aufgewühltes Innenleben.

Du hast bestimmt schon von Menschen gehört, die nur kurz mal um die Ecke gingen, um Zigaretten zu kaufen, und niemals wieder kamen. Im Augenblick dachte ich ehrlich daran, mich diesen Aussteigern anzuschließen. Ich hatte mein altes Leben so richtig satt. Ich sehnte mich nach einem neuen, das ich augenblicklich beginnen wollte, in der nächsten Minute. Noch war es keine fixe Idee, aber ungemein bedenkenswert. Wo waren meine Leitsterne geblieben? Meine Anständigkeit, mein Pflichtbewusstsein? Welch hohe Ideale hatte ich in der Jugend. Was wollte ich doch alles erreichen. Mit meiner ganzen Kraft, meiner Intelligenz wollte ich Bernard nacheifern, ihn nie enttäuschen. Hirnrissig, sich in solche Fantasien zu flüchten. Bernard, ein sechzigjähriger Mann, immer noch mit dem gleichen unbesiegbaren Charme ausgezeichnet, der ein Gutteil seines Berufserfolges war. Bernard, der mir blind vertraute, auf mich baute. Plötzlich schämte ich mich. Rasch stürzte ich ein Glas Rotwein in mich hinein. Unsinn, solche Gedanken überhaupt zu spinnen.

Ich wollte Isabelle ins RITZ führen. Wenn schon, dann perfekt.

Übermütig eilte sie ohne besondere Erklärungen ins Ankleidezimmer meiner Frau. Nach überraschend kurzer Zeit stand sie wieder vor mir. Sie hatte ein schlichtes Kleid aus schwarz-silbernem Lamee gewählt, das ihre reizende Figur perfekt zur Geltung brachte. Ich wusste gar nicht, dass Marie solch dezente Garderobe besaß. Etwas Rouge. Zarte Lidschatten. Die Wimpern brauchte sie erst gar nicht zu tuschen. Noch nie hatte ich so lange und dichte Naturwimpern gesehen. Sogar ihr strubbeliges Haar war auf wundersame Weise in eine akzeptable Form gelegt. Hinreißend präsentierte sie sich mir, drehte und wirbelte auf hochhakigen Nappaschlüpfern um die eigene Achse. Ich war sprachlos.

„Komm schon, Alain, ich bin am Verhungern!“

Bittere Wahrheit…

Подняться наверх