Читать книгу Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack - Ive Holt - Страница 5

- Zwei -

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Heute, zwei Jahre später, verlief Sarahs Leben in geregelten Bahnen. Sie hatte sich in ihrer neuen Wahlheimat eingelebt, trotz der traurigen Umstände, die sie damals veranlasst hatten, diesen Weg zu beschreiten. Jetzt hatte sie ihr eigenes Geschäft, einen Job, der ihr Spaß machte, und nette Freunde. Und mit einer von ihnen war sie am Freitagabend verabredet gewesen.

Sarah erschien eine Stunde später als ausgemacht im Pub und sah Jessica bereits in bester Gesellschaft. Wie jeden Freitag war es in dieser Lokalität brechend voll. Alle Tische waren besetzt und der Lärmpegel hoch. Doch zu dieser Jahreszeit wirkte der Pub in seinem Dämmerlicht sehr urig.

Ihre Freunde, Mark und Tom, saßen ebenfalls an der Bar an ihrem gewohnten Stammplatz, Mark zu Jessicas linker und Tom zu ihrer rechten Seite. Alle drei steckten die Köpfe zusammen und amüsierten sich prächtig. Wahrscheinlich hatte Tom mal wieder einen seiner Witze zum besten gegeben. Ursprünglich sollte es ein Mädel Abend werden und sie wollten Pläne für die Adventswochenenden schmieden. Aber wie so oft waren ihre männlichen Freunde dabei. Sarah stöhnte innerlich, hatte aber nichts gegen die Gesellschaft der beiden Männer.

Als Sarah sich durch die Menschenmenge zwängte, erhaschte sie hin und wieder anerkennende Blicke von Männern, die ihr bereitwillig Platz machten. Unbeirrt setzte sie ihren Weg zu den Freunden fort. Bevor sie die Bar erreichte, hob Jessica genau in dem Moment den Kopf in Sarahs Richtung und schaute sie mit leicht säuerlicher Miene an. Diese Gesichtszüge passten aber durchaus nicht zu ihr. Sarah kannte ihre Freundin mittlerweile so gut, dass sie wusste, dieser Zustand würde nur für ein paar Sekunden dauern. Jessica war von Natur aus ein fröhlicher Mensch und nie nachtragend.

Sie wurden Freundinnen, kurz nachdem Sarah damals in Garmisch-Partenkirchen eintraf. Jessica kaufte regelmäßig ihre Bücher in Mariannes Laden und diese war es auch, die sie miteinander bekannt machte. Auf Anhieb waren sich die jungen Frauen sympathisch und Marianne schlug vor, dass beide gemeinsam etwas unternehmen sollten, sie waren ja schließlich im selben Alter. Und außerdem tat ihrer Enkelin die Abwechslung gut.

„Hey Sarah, schon Feierabend?“, fragte Jessica mit leicht ironischer Stimme und schwenkte ihr leeres Glas Bier, um Mike, dem Barbesitzer, zu signalisieren, dass eine neue Runde fällig war.

Sarah zog ihren Wintermantel aus und legte ihn samt Mütze und Schal auf den freien Platz neben Mark. Sie schüttelte ihre Haare, an dessen Spitzen vereinzelte weiße Schneeflocken klebten, und setzte sich neben Tom auf den leeren Barhocker.

„Ich freu mich auch, dich zu sehen. Hallo zusammen. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber im Laden war die Hölle los. Doch darüber werde ich mich nicht beklagen. Die Leute suchen nach dem passenden Geschenk zu Weihnachten. Wie ihr wisst: jeder Kunde ist König. Außerdem musste ich die letzte Bücherlieferung aus den Kartons packen und in die Regale einräumen. Sorry, aber das macht sich nicht von alleine.“ Entschuldigend hob sie die Hände. „Wie ich aber sehe, seid ihr auch ohne mich klar gekommen“, und zeigte auf die bereits geleerten Biergläser.

„Okay, okay. Ist ja schon gut. Dir sei verziehen, wenn du die nächste Runde bezahlst“, gab Jessica mit zwinkernden Augen zu verstehen.

Ein Lächeln breitete sich auf den Gesichtern ihrer Freunde aus. Der Vorschlag war einstimmig angenommen. Sarah erhob sich von ihrem Hocker und lehnte sich über den Tresen zu den Freunden hinüber, um sie nacheinander mit einem Küsschen auf die Wange zu begrüßen, wobei Mark versuchte, sie etwas länger an den Händen zu halten.

„Schön, dass du endlich da bist“, schrie er beinah über den Tresen, um den Lärmpegel zu übertönen. Ein Leuchten umfing seinen Mund. Sarah senkte den Blick und entzog ihm langsam die Hände.

Sie spürte, dass Mark nicht nur ein Freund sein wollte, er mochte sie. Das zeigte er bei sich jeder bietenden Gelegenheit. So hatte er sie auch letztes Wochenende, als sie zur Disco im Eisstadion waren und Sarah zeitig nach Hause wollte, weil sie wahnsinnige Kopfschmerzen hatte, heimgebracht. Er hatte sie nicht nur vor der Haustür abgesetzt, sondern sie in ihre Wohnung begleitet, half ihr aus den dicken Sachen, kochte einen Tee und verabreichte ihr eine Schmerztablette. Als Sarah es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, war er sofort zur Stelle und hüllte sie in eine flauschige Decke. Hätte Sarah nicht darauf gedrängt, dass er gehen könne, weil sie einfach nur schlafen wollte, wäre er geblieben, um zur Stelle zu sein, falls sie etwas benötigte. Beim Abschied drückte Mark sie leicht und gab ihr einen zarten Kuss auf den Mund.

Mark war zwei Jahre älter und ein hübscher Typ, er war mindestens eins neunzig groß und durchtrainiert. Das lag gewiss auch daran, dass er auf dem hiesigen Gymnasium neben Englisch auch Sportunterricht erteilte. Seine Haare waren kurz und strohblond und nach hinten gestylt, wobei der Ansatz eines Seitenscheitels das Ganze wie bei einem Model aussehen ließ. Seine blauen Augen wurden von einem Meer von blonden Wimpern umrandet und sein Teint schimmerte goldbraun. Das zeigte, dass er sich im Sommer oft an der frischen Luft aufhielt und regelmäßig Sport trieb, um sich fit zu halten. Mark war der Schwarm vieler Frauen. Doch ihn schienen die anderen Frauen nicht zu interessieren. Er hatte nur Augen für Sarah. Bisher war er für sie nur ein sehr guter Freund, sie mochte ihn und seine Art, aber für mehr war sie einfach noch nicht bereit. Nach fast zwei Jahren Trennung von Paul fühlte sie sich noch nicht in der Lage, eine neue Beziehung einzugehen. Die Enttäuschung von damals war zu groß, zu stark hatte Paul ihre Gefühle verletzt. Sie hatte Angst, sich jemals wieder ernsthaft zu verlieben, um dann erneut enttäuscht und verletzt zu werden. Das Vertrauen in das andere Geschlecht hatte einfach zu sehr gelitten.

„Und wie lief eure Woche so?“, wollte Sarah von den anderen wissen.

„Wie immer stressig“, gab Jessica mit einem kleinen Seufzer zur Antwort, „wenn es auf die Weihnachtstage zugeht. Die Kids und ich studieren ein kleines Weihnachtsprogramm ein und wollen dieses in dem neuen Seniorenheim, welches im Sommer eröffnet wurde, vorstellen. Dann treffe ich die ersten Vorbereitungen für das Plätzchenbacken kommende Woche, das soll in unserer ansässigen Bäckerei stattfinden. Und nicht zu vergessen, das jährliche Basteln der Wichtelgeschenke für die Eltern. Also, es läuft!“

Jessica arbeitete seit ihrem Lehrabschluss in der Kindertagesstätte im Zentrum der Stadt. Obwohl sie gerne so tat, als wäre es ihrer Meinung nach der anstrengendste Job der Welt, liebte sie ihren Beruf als Erzieherin über alles.

Da Kindereinrichtungen und Schulen eng zusammenarbeiteten, hatte Jessica vor drei Jahren Mark und dessen Freund Tom kennengelernt. Seitdem waren die drei eine Clique.

Seit Sarahs Umzug nach Garmisch und dem Bekanntmachen mit Jessica war es das Selbstverständlichste für Jessica, sie in ihre kleine Gemeinschaft aufzunehmen. Mark und Tom waren ihr sofort sympathisch und umgekehrt traf es genauso zu.

Ihre Treffen fanden in der kalten Jahreszeit regelmäßig in Mikes Pub statt und in den warmen Monaten unternahmen sie viele gemeinsame Ausflüge.

„Sei froh, bei dir wird es nie langweilig. Jeder Tag bringt dir kleine und neue Überraschungen mit deinen Kids. Du liebst sie und sie lieben dich. So wie wir dich kennen, möchtest du doch gar keinen anderen Beruf ausüben! Oder würdest du mit mir tauschen wollen?“, fragte Tom mit hochgezogener Augenbraue und unterdrückte mühsam ein Grinsen.

„Lass mal gut sein, du hast ja recht. Ich kann mir nicht vorstellen, acht Stunden am Tag am Bankschalter zu stehen, um das Geld anderer Leute zu zählen, einzubuchen oder auszuzahlen. Nein, das wäre mir zu anstrengend“, hob Jessica die Hände und winkte kopfschüttelnd ab.

„Ganz so monoton ist der Job nun auch wieder nicht. Schließlich habe ich es stets mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun. Langweilig wird mir da nicht. Und jetzt haben wir seit einigen Wochen eine neue Chefetage.“

Tom verzog seinen Mund und tat ein wenig gekränkt, doch Jessica legte ihm versöhnlich den Arm um die Schulter und nahm ihr Bierglas in die Hand.

Sarah entging das Leuchten in seinen Augen nicht, als Tom die Chefetage erwähnte. Bevor sie darauf eingehen konnte, mischte sich Mark ein. Also verwarf Sarah geschwind diesen Gedanken, vielleicht würde sie später noch einmal darauf eingehen.

„Lasst uns nicht von Arbeit reden. Es ist Wochenende, das erste Adventswochenende in diesem Jahr. Also Prost, auf die Adventszeit.“

Die vier Freunde erhoben ihre Gläser und stießen an.

„Auf die Adventszeit“, prostete Mark den anderen zu und zwinkerte zu Sarah hinüber.

Sie tranken ihr Bier und Jessica schaute ihre Freunde neugierig an.

„Was wollen wir am Samstag unternehmen? Hat schon jemand einen Plan?“, fragte sie schließlich in die Runde.

„Also mein Vorschlag wäre, dass wir morgen auf die Piste gehen. Seit Mittwoch hat es so viel Schnee gegeben, dass diese ab sofort freigegeben sind“, schlug Mark als erster enthusiastisch vor.

„Ich bin dabei“, riefen Jessica und Tom ebenso begeistert aus einem Munde und lachten. Nur Sarah zögerte.

Sie mochte sich nicht wirklich auf Skier stellen, weil sie es nie wirklich gelernt hatte. Die drei sind hier in den Bergen groß geworden. Da war es doch ganz selbstverständlich, dass sie von klein auf das Skifahren gelernt haben. Es wurde ihnen sozusagen mit in die Wiege gelegt. Sarah hingegen war Zeit ihres Lebens ein Flachlandtiroler, wie ihre Großmutter ihr immer wieder bestätigte, als Sarah die ersten Versuche unternahm, um jedes Mal kläglich zu scheitern.

„Ich habe morgen noch im Laden zu tun“, gab Sarah als Ausrede vor und rieb sich ihre feuchten Hände, da sich allein bei dieser Vorstellung, auf Brettern zu stehen, ein leichter Schweißfilm gebildet hatte.

Die drei schauten sie mit weit aufgerissenen Augen an und ahnten, dass sie sich nur drücken wollte.

„Ach komm Sarah, wir kennen dich und wissen, dass du nicht auf Skiern geboren wurdest. Aber wir wollen dich dabei haben“, versuchte Tom sie mit seinem Charme zu überzeugen und grinste zu ihr rüber.

„Genau, sonst macht es nur halb so viel Spaß“, fügte Jessica hinzu.

„Wir werden eine einfache Piste nehmen und ich verspreche dir, an deiner Seite zu bleiben, damit dir nichts passiert. Dieses Mal auch wirklich. Du hast das Wort eines Ehrenmannes!“ Mark drückte die rechte Hand ritterlich gegen sein Herz, schaute Sarah bittend von der Seite an und gab ihr zu verstehen, dass er das wirklich so meinte.

„Nein“, schüttelte sie abwehrend mit dem Kopf, „meinetwegen braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen. Ich will euch nicht den Spaß verderben. Dann könnt ihr auch die steileren Hänge abfahren. Wir können uns aber am Abend, wenn ihr euch ausgetobt habt, auf dem Weihnachtsmarkt treffen und unseren ersten Glühwein trinken.“

Sie nahm ihr Bierglas und trank einen großen Schluck in der Hoffnung, die Freunde würden das Angebot akzeptieren. Doch Jessica, die ihre Freundin gut genug kannte, ließ sich nicht beirren. Sie beugte sich zu ihr, wobei ihre langen blonden Haare auf den Tresen fielen und sie diese mit der rechten Hand hinter ihrem Ohr befestigte, und gab Sarah einen Klaps auf die Schulter.

„Komm schon, sei kein Spielverderber. Der erste Schnee in diesem Jahr, und als Schneehäschen hast du schon im letzten Jahr eine gute Figur gemacht.“

Jessica konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie daran dachte, wie sie zusammen im vergangenen Winter eine gemeinsame Abfahrt hingelegt hatten.

Mark und Tom hatten damals mit Sarah im Schlepptau den Hang hinunterfahren wollen, doch schon nach knapp hundert Metern landete Sarah im Schnee und rutschte mehr oder weniger freiwillig den Abhang auf ihrem Po hinunter. Mark und Tom versuchten immer wieder, sie auf die Beine zu stellen, doch alle Müh‘ war vergebens. Sarah kam jedes Mal wieder ins Straucheln und stellte die Ski quer, verhakte sich und landete erneut im Schnee.

Als Sarah es doch irgendwie geschafft hatte und endlich im Tal ankam, warteten die drei Freunde bereits auf sie, doch man erkannte nur noch sehr wenig von ihrem Schneeanzug. Eine Schneeschicht umhüllte ihren Körper und ihre Skimütze mit den zwei Bommeln ließ sie aussehen wie ein kleines Häschen. Tom, Mark und Jessica schüttelten sich vor Lachen und nannten sie seitdem Schneehäschen, wenn Sarah nur mit Schnee in Berührung kam.

An diese Aktion konnte auch Sarah sich sehr gut erinnern, ebenso an die vielen blauen Flecke, die sie davon trug. Anfangs war sie ein bisschen sauer auf die Freunde, weil diese sie oben am Berg im Stich gelassen hatten, doch als sie endlich das Tal erreichte und ihre Freunde lachend an der Skihütte stehen sah, konnte auch Sarah sich ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Letztendlich war sie froh, dass sie heil und ohne Knochenbrüche ins Ziel kam. Im Grunde war sie eher ein kleines bisschen stolz, dass sie den Mut aufgebracht hatte und das Risiko auf sich nahm, ungelernt dieses Wagnis einzugehen. Danach hatte sie es nur noch dreimal probiert, aber jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis. Sie blieb ein hoffnungsloser Fall.

Alle drei Freunde schauten jetzt erwartungsvoll auf Sarah, doch so leicht wollte sie sich nicht umstimmen lassen.

„Na gut, ich bin dabei, aber nur unter einer Bedingung, wenn ihr…, hm, wartet! Mir fällt gleich etwas ein.“ Überlegend stützte Sarah ihre Hände an den Kopf und fixierte die drei. Sie musste sich irgendwie aus der Affäre ziehen. Während ihr Blick durch den Pub schweifte, blieb er an der Tür hängen, doch fiel ihr immer noch nichts Passendes ein.

„Gut, überleg dir was. Ich bin mal für kleine Mädchen.“ Jessica stand von ihrem Barhocker auf und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Damentoilette.

Sarah sah ihr gedankenverloren nach und grübelte, welche unlösbare Aufgabe sie ihren Freunden aufbrummen und sie sich somit vor der morgigen Aktion drücken konnte.

Allmählich nahm Sarah wahr, dass der Pub aus allen Nähten platzte. Er füllte sich zusehends. Sie vermutete, dass die letzten Weihnachtsmarktbesucher versuchten, der eisigen Kälte zu entfliehen. War das Glück auf deren Seite, ergatterten sie hier noch einen freien Platz und tranken gemütlich einen Absacker, um den Abend ausklingen zu lassen. Einige der anwesenden Gäste kannte sie aus dem Buchladen, manche waren Stammkunden in Mikes Pub, so wie sie und ihre Freunde.

Inzwischen hatte Tom erneut eine Runde Bier für alle bestellt, was gar nicht so leicht war bei dem Andrang, und Sarah spürte, wie der Alkohol ihr bereits ins Blut schoss. Sie hatte noch nie viel Alkohol vertragen und wusste, dass es ihr letztes Glas sein würde, ansonsten hätte sie morgen ein Problem mit dem Aufstehen.

Tom und Mark unterhielten sich bereits über den morgigen Tag, wann sie starten und welche Piste sie ausprobieren wollten. Sarah hörte den beiden skeptisch zu und überlegte weiterhin krampfhaft, wie sie die Freunde austricksen konnte.

Als Jessica plötzlich die Hände auf ihre Schultern legte und ihr ins Ohr schrie, erschrak sie aus ihren Gedanken: „Na schon überlegt, wie du dich morgen drücken kannst?“

Jessica kannte sie einfach zu gut, es war schwer, ihr irgendetwas vorzumachen. Schwungvoll setzte sie sich wieder auf ihren Hocker und ergriff das neu gefüllte Glas, das Mike gerade serviert hatte.

„Dann lass mal hören, unter welcher Bedingung du mit uns an den Start gehst!“

Tom stupste Sarah von der Seite an. „Mach es uns aber nicht zu schwer, du weißt, wir wollen dich dabei haben.“

Er schaute zu Mark rüber und zwinkerte ihm zu. Er wusste, dass Mark auf Sarah stand, doch bisher nicht bei ihr landen konnte. Beide würden allerdings ein schönes Paar abgeben, er, der blonde Sonnyboy, und sie, die zurückhaltende hübsche Großstadtmaus.

Sarah hatte eine schlanke Figur, war knapp ein Meter fünfundsechzig groß und sah mit ihrem schulterlangen braunen, lockigen Haar, welches ihr schmales Gesicht einhüllte, sehr attraktiv aus. Sie betonte ihre rehbraunen Augen nur mit etwas Mascara und ihre schmalen Lippen trugen ein Hauch von Lipgloss. Für Mark stand der Sport immer im Vordergrund, Sarah dagegen mied diesen weitestgehend, und er wusste, sie liebte dafür ihre Bücher umso mehr.

Wie es schien, hatte es bisher nur auf Marks Seite gefunkt. Tom war sich nicht sicher, ob Sarah irgendwann Marks Gefühle erwidern würde, aber das behielt er lieber für sich. Er wollte sich da nicht einmischen, weil er aus Erfahrung wusste, wie es ist, wenn eine Liebe nicht erwidert wurde und Außenstehende trotzdem versuchten, zu vermitteln. Entweder der Liebesfunke sprang gleich auf beiden Seiten über und es machte peng, oder es würde trotz aller Bemühungen zu keiner dauerhaften Beziehung kommen.

Die vier unterhielten sich einige Minuten über belanglose Sachen, die in dieser Woche geschehen waren, als plötzlich Sarah eine brillante Idee hatte. Da es schon ziemlich spät war und sie nicht mehr daran glaubte, dass sich weitere Gäste um diese Uhrzeit in den überfüllten Pub einfinden würden, schaute sie kurzum noch einmal zur Eingangstür und platzte mit dem Satz „Ich hab’s“ heraus.

Alle drei Freunde und auch die Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft blickten sie neugierig und erwartungsvoll an.

Sarah senkte die Stimme, als sie bemerkte, dass die gesamte Aufmerksamkeit der anderen Besucher ihr galt. „Also gut, falls sich heute noch jemand hier im Pub verirrt und einer von euch diese Person mit Vor- und Zunamen kennt sowie sein Alter und seinen Beruf, dann komme ich morgen mit auf die Piste.“

Ein triumphierendes Lächeln breitete sich um ihre Mundwinkel aus, als sie in die verdutzten Gesichter der anderen sah. Sie wusste, dass ihre Chance, nicht starten zu müssen, höher als fünfzig Prozent lag. Einheimische wären schon längst hier eingekehrt und neue Gesichter noch anzutreffen, bedeutete auch, dass ihre Freunde sie nicht kannten.

Die anderen schauten sich verblüfft an.

„Na gut, dann warten wir und schauen, ob sich heute noch was in Bezug auf bekannte Kundschaft tut.“ Jessicas, die als erste ihre Sprache wiederfand, drehte missmutig ihr Glas in den Händen und schaute zu ihrer Freundin rüber. „Aber freu dich nicht zu früh. Es ist zwar weit nach zweiundzwanzig Uhr, das heißt aber noch lange nicht, dass hier niemand mehr reinschaut, den wir nicht kennen.“

Aufmunternd sah Sarah die drei an.

„Na kommt schon, macht nicht solche Gesichter! Falls ihr verliert, könnt ihr morgen eure erste Tour voll und ganz genießen und müsst euch nicht von einem Schneehäschen wie mir ausbremsen lassen. Ich komme bestimmt ein anderes Mal mit, schließlich beginnt die Wintersaison gerade erst.“

Mark nahm sein Bierglas und trank es auf Ex aus. „Du weißt, dass wir dich dabei haben wollen. Du bist keine Spaßbremse. Ohne dich ist es nur halb so lustig!“

Sarah wusste, dass Mark am liebsten seine ganze Freizeit, also falls er gerade mal nicht mit seinem Fitnessprogramm beschäftigt war, mit ihr verbringen wollte. Doch dazu war sie nicht bereit. Sie fühlte, dass er mehr von ihr wollte, was sie ihm nicht geben konnte. Sie genoss seine Nähe und er war sehr liebenswert, aber ihre Gefühle waren nicht tiefgründig genug. Mehr als Freundschaft für ihn empfand sie im Moment nicht. Der Schmerz über die erlebte Enttäuschung mit Paul versperrte wie ein kalter Stein den Weg zu ihrem Herzen. Aber ihm das zu sagen, widerstrebte ihr, sie wollte seine Gefühle nicht verletzen.

„Und wie schaut es aus, meine Damen und Herren, noch ein Bier?“ Mike hatte sich mit beiden Händen auf den Tresen gestützt und schaute mit hochgezogener Augenbraue auf die leeren Gläser. Lässig hing ein weißgraukariertes Geschirrtuch über seiner Schulter.

Sarah schüttelte den Kopf, doch Tom nickte. „Na klar, noch mal dasselbe für alle. Schließlich haben wir noch einen langen Abend vor uns.“

Tom zuckte gleichgültig mit den Schultern und schob Mike sein leeres Glas hinüber. Wer weiß, wie lange sie hier sitzen und warten mussten, bis doch noch jemand Bekanntes den Weg in den Pub finden würde.

„Ich kann nicht mehr trinken, mir wird jetzt schon ganz schwindelig. Außerdem muss ich früh aufstehen und neun Uhr im Laden sein. Ihr dagegen habt Wochenende und könnt ausschlafen“, beschwerte sich Sarah.

„Na komm, eine Bierlänge noch und wenn bis dahin keiner mehr über die Türschwelle kommt, den wir kennen, hast du gewonnen, kannst in dein Bett gehen und brauchst morgen nicht mit auf die Piste.“ Jessica machte ein honigsüßes Gesicht und klimperte mit ihren langen Wimpern.

Wie immer sah ihre Freundin fantastisch aus. Sie war über eins siebzig groß, sportlich durchtrainiert, hatte langes blondes Haar und Mandelaugen. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht, das sie dezent schminkte, und in ihrer Röhrenjeans und dem eng anliegendem Rollkragenpullover sah sie einfach zum Anbeißen aus. Für Männer war sie die reinste Augenweide. Jeder, der ihren Weg kreuzte, schaute sich nach ihr um, und an Komplimenten, die ihr zu Teil wurden, mangelte es weiß Gott nicht.

Sarah schaute auf die Uhr, die an der dunklen Wand über dem Regal hing, das mit Gläsern und Flaschen gefüllt war, und stellte fest, dass der Zeiger in wenigen Minuten dreiundzwanzig Uhr schlug. Sie war müde von dem langen Tag und sehnte sich nach ihrem Bett.

„Abgemacht. Eine Bierlänge, mehr nicht! Aber jetzt bringe ich erst einmal mein altes Bier weg. Haltet den Platz frei.“

Sarah drehte sich abrupt auf ihrem Hocker um und schwang sich hinunter.

Oh, das hätte sie wohl lieber nicht tun sollen. Plötzlich spürte sie, wie der Alkohol ihr nicht nur zu Kopf stieg, sondern auch in die Beine floss. Auf wackligen Füßen und mit gerötetem Gesicht bahnte sie sich einen Weg durch die Massen, grüßte ein paar Leute, die sie kannte, und verschwand eilig in der Toilette.

Zehn Minuten später erschien sie wieder an der Bar und sah, dass Mark und Tom die Plätze getauscht hatten. Jetzt war nur noch der Platz neben Mark frei. Sie ahnte, dass Mark dies geschickt unter einem banalen Vorwand eingefädelt hatte, um neben Sarah sitzen zu können. Stöhnend hievte sie sich auf den Barhocker neben ihm.

„Und alles okay bei dir?“, fragte Mark mit sehnsuchtsvollen Augen.

Wie zufällig berührten sich ihre Arme und Sarah hatte das Gefühl, Mark wollte sich an ihrem Körper heranschmiegen. Irgendwann musste sie schließlich mit ihm reden und ihm erklären, dass sie im Moment nur freundschaftliche Gefühle für ihn empfand und nicht bereit für ein Abenteuer war. Aber jetzt schien nicht der richtige Augenblick zu sein, sie ahnte nicht, wie er reagieren würde. Außerdem hatte sie bereits genug Alkohol im Blut und ihre Zunge wurde schwer.

„Klar, alles supi bei mir“, beantwortete Sarah seine fürsorgliche Frage und versuchte, auf Abstand zu gehen. Sie spürte, dass sie mittlerweile zu viel Bier getrunken hatte und morgen garantiert einen Kater bekam. Deshalb versuchte sie, den letzten Schluck hinunter zu spülen und sich dann auf den Weg nach Hause machen.

Sie drehte sich zu Jessica und Tom, nahm ihr fast leeres Bierglas und prostete den beiden zu.

„Sag mal Jessica, was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende in die Eishalle gehen, da ist wieder Discolauf am Samstag?“, schlug Sarah ihrer Freundin vor.

Von jeher liebte Sarah das Schlittschuhlaufen. Als kleines Mädchen erzählte ihre Großmutter immer Geschichten über die Eisprinzessin, wenn sie abends an Sarahs Bett saß. Seitdem war es Sarahs größter Kindheitstraum gewesen, selber einmal eine Eisprinzessin zu werden. Deshalb ging sie so oft wie möglich in die Eishalle zum Trainieren, um einmal wie die Eisprinzessin in ihren Träumen zu werden.

„Das müsste sich machen lassen. Ich sag dir am Montag Bescheid, ob es dabei bleibt.“

Jessica sah ihrer Freundin an der Nasenspitze an, dass es Zeit zum Aufbruch wurde. Die Wette war anscheinend verloren, da niemand mehr den Pub betrat.

Einige Leute verließen bereits die Lokalität, trotzdem konnte Mike sich nicht über seinen Umsatz an diesem Abend beklagen.

Jessica trank den letzten Rest und gab Sarah zu verstehen, es ihr gleich zu tun.

„Ja!“, brüllte Tom aus heiterem Himmel und riss seine rechte Faust in die Höhe. „Ich habe es gewusst. Gewonnen!“

Die Mädels schauten erschrocken zu Tom auf, der seinen Hintern vom Barhocker hob und ein Strahlen im Gesicht hatte.

„Was?“ Mit fragendem Blick schaute Jessica in dieselbe Richtung wie Tom und stierte genauso wie er zum Eingang. Jessicas Gesichtszüge verzogen sich zu einem breiten Grinsen, als sie sich wieder zu ihrer Freundin umdrehte.

Sarah folgte nun ebenfalls Toms Blick und rutschte dabei auf ihrem Barhocker in die andere Richtung. Ihre Augen blieben an der Eingangstür zum Pub hängen, die gerade von einem ziemlich gut aussehenden Mann geschlossen wurde. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Die Wette! Jetzt verstand sie Toms Reaktion. Es kamen vier neue Gäste und Tom musste diese wohl kennen. Mist, dachte Sarah bei sich, und stützte sich auf Marks Arm ab, um besser sehen zu können, wer den Pub zu später Stunde noch besuchte. Ihr Blick streifte von einer Person zur nächsten, doch sie kannte die Neuankömmlinge nicht. Zuerst sah sie eine hoch gewachsene, schlanke und äußerst attraktive Blondine im Designermantel mit Pelzkragen, die wohl Mitte dreißig war, gefolgt von diesem unglaublich gut aussehenden Mann, dessen Arm auf ihrer Schulter lag, um sie vorwärts in Richtung Tresen zu schieben. In deren Gefolgschaft befanden sich zwei weitere Männer, doch Sarah starrte unverwandt in die attraktiven Gesichtszüge des ersten. Trotz des hochgestellten Mantelkragens und dem dicken Schal um den Hals zog sein Anblick sie in ihren Bann. Sarah saugte jedes Detail auf. Er hatte Augen, deren Blaugrau sie sofort faszinierten. Ihr Herz setzte für einige Wimpernschläge aus und das Blut rauschte in ihren Ohren. Wow! Mit aller Kraft konnte sie sich von diesem Anblick lösen.

Tom hinter ihr wedelte erfreut mit seinen Armen, um die Neuankömmlinge auf sich aufmerksam zu machen.

„Kennst du diese Leute?“, richtete Sarah überflüssigerweise ihre Frage an Tom, ohne dabei den Blick abzuwenden, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

„Sicher. Das sind unsere neuen Chefs, Daniel Hochkamp und sein Bruder Richard. Und dahinter siehst du Alexander, ein sehr guter Freund von den beiden, und Melanie, Melanie Hansen. Daniels Partnerin. Melanie und Daniel treten stets gemeinsam in Erscheinung und scheinen unzertrennlich. Sie hängt wie eine Klette an ihm“, flüsterte Tom Sarah zu und verleiherte die Augen. Er holte kurz Luft, bevor er fortfuhr. „Sie ist die Tochter des Bauunternehmers Hansen. Sie stammen alle von hier, aber Daniel und sein Bruder waren für einige Jahre in Frankfurt. Daniel Hochkamp ist fünfunddreißig. Richard vierzig.“ Tom räusperte sich und hielt verlegen die Hand vor dem Mund.

Sarah verspürte plötzlich ein bedrückendes Gefühl in der Herzgegend, als ihr klar wurde, was Tom gerade gesagt hatte. Dieser imposante Mann, der sich ihrer vollen Aufmerksamkeit sicher sein konnte, und diese elegante Frau vor ihm waren ein Paar. Es war ja nicht so, dass Sarah irgendwelche Absichten hegte, doch ein Hauch von Enttäuschung breitete sich in ihrer Brust aus.

Sie wollte ihren Blick gerade abwenden, da erblickte Daniel Hochkamp Tom am Tresen, der ihnen immer noch zuwinkte, damit die Gruppe sich zu ihnen gesellte. Daniel Hochkamp grüßte ihn mit einem Nicken zurück, dann schweifte sein Blick zu Toms dunkelhaariger Nachbarin. Seine Augen erfassten Sarah und blieben förmlich an ihr hängen.

Ein wohliger Schauer durchzog Sarahs Körper. Sie konnte sich von seinem Anblick nicht losreißen. Für einen Moment vergaß sie die Welt um sich herum. Wie magisch angezogen erwiderte sie mit derselben Intensität diesen Blick. Was hatte das zu bedeuten? Sind sie sich womöglich schon einmal begegnet? Sarah konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, ihm schon einmal über den Weg gelaufen zu sein. Aber warum starrte er sie sonst so an?

Als ihr bewusst wurde, dass auch sie ihn anstierte, war sie plötzlich stocknüchtern und senkte mit roter Gesichtsfarbe abrupt den Kopf. Sie drehte sich zu Jessica um, die sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen konnte.

„Ja meine Liebe, da wird dir wohl nichts anderes übrig bleiben, als morgen mit uns auf die Piste zu kommen. Wir sehen uns am Nachmittag am Hausberg. Vierzehn Uhr?“

Sarah verstand kein Wort, alles um sie herum schien ausgeblendet zu sein. Vor ihren Augen sah sie nur noch diesen herrlichen Anblick von Daniel Hochkamp.

Jessica schien die Abwesenheit ihrer Freundin zu bemerken und schnipste mit ihren Fingern vor Sarahs Augen. „Jessica an Sarah, hallo, jemand zu Hause? Nun mach nicht so ein verstörtes Gesicht, wird schon lustig werden.“ Tröstend strich sie ihrer Freundin über die Hand.

Sarah schreckte hoch und nickte ihr zu.

„Ja, ja! Alles klar. Ich mach mich jetzt aber in die Spur. Dann sehen wir uns also morgen vierzehn Uhr am Hausberg.“

Ehe Sarah sich von ihrem Barhocker erheben konnte, standen die vier Leute auch schon um sie herum.

Daniel, Alexander und Richard begrüßten Tom mit einem Handschlag, Melanie Hansen streckte ihm mit ausdrucksloser Miene lediglich die manikürte Hand entgegen, die er zögerlich entgegennahm und ihr mit dem Kopf zunickte. Tom wandte sich wieder den Männern zu. Sein Blick blieb an Richards Gesicht haften und eine leichte Röte überzog seine Wangen.

„Das ist super, dass ihr heute hierher gefunden habt, ihr seid unsere Rettung!“, bemerkte Tom mit einem triumphierenden Lächeln um den Mund und beobachtete Sarah aus den Augenwinkeln, die auf ihrem Hocker immer kleiner zu werden schien.

„Darf ich vorstellen, das ist Jessica, ihr müsstet euch bereits kennen. Wir saßen im letzten Winter oben auf der Berghütte beim Eckbauern mal zusammen. Und das ist Sarah, die Besitzerin des Buchladens auf dem Marienplatz.“ Mark war dieser Gruppe bereits bekannt.

Die Ankömmlinge schüttelten Toms Freunden die Hände.

Sarah gab wie im Trance Richard und Alexander die Hand und erwiderte die zurückhaltende Begrüßung von Melanie Hansen knapp.

„Hallo Sarah, dir gehört der Buchladen? Schön dich mal persönlich kennenzulernen. Unsere Großmutter ist eine Stammkundin in deinem Laden, zumindest erzählt sie immer nett über die attraktive Ladenbesitzerin. Und wie ich sehe, liegt sie mit ihrer Behauptung völlig richtig.“ Richard warf Sarah einen anerkennenden Blick zu. „Sie war mit deiner Vorbesitzerin befreundet. Leider ist sie im vergangenen Jahr verstorben. Ein herber Verlust für unsere Großmutter“, erzählte Richard freundlich weiter.

„Die Vorbesitzerin war meine Großmutter“, erwiderte Sarah mit Wehmut, das Gesicht auf Richard gerichtet, als er ihre Großmutter erwähnte.

„Oh, das tut mir leid. Das habe ich nicht gewusst.“ Bedrückt schaute Richard für einen Bruchteil auf seine Füße. Es war gewiss nicht seine Absicht, eine traurige Stimmung zu verbreiten. Er hob seinen Kopf und deutete auf die Männer neben ihm.

„Das ist Alexander“, er zeigte auf seinen Freund und dann auf seinen Bruder „und das mein Bruder Daniel und seine Partnerin Melanie.“

Dann wandte er sich wieder Tom zu. „Wieso sind wir deine Rettung?“, wollte Richard von ihm wissen.

Tom erzählte euphorisch in knappen Sätzen über die Wette und dass Sarah, dank ihnen, nun morgen mit auf den Berg musste, um den verlorenen Wetteinsatz einzulösen.

Jessica hatte Melanie in ein Gespräch verwickelt, sie kannten sich ja bereits.

Als Sarah den Blick von Richard abwendete, bemerkte sie, dass blaugraue Augen sie unverhohlen beobachteten. Daniel Hochkamp kam direkt auf sie zu und reichte ihr die Hand. Er fixierte sie dabei vom Kopf über die Taille bis hin zu ihren ineinander verschränkten Händen. Tausend Blitze durchbohrten Sarah wie kleine Laserstrahlen und scannten ihren Körper bis ins kleinste Detail. Er beugte sich hinunter. „Hallo Sarah. Kennen wir uns?“

Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr und sofort sprühten Funken von dieser kurzen Berührung auf ihren Körper über. Wärme durchflutete Sarah. Wäre sie ein Eiszapfen, würde sie binnen weniger Sekunden zu Wasser geschmolzen sein. Sarah schloss ihre Augen und sog seinen Moschusduft ein, ehe sie antwortete. Dabei verspürte sie eine extreme Anziehungskraft, die von diesem Mann ausging. Er hatte Sexappeal und sah außergewöhnlich gut aus.

„Hi. Sollten wir?“

„Du bist eine Freundin von Tom. Da liegt es doch nahe, dass mein Bruder und ich dir schon einmal begegnet sind.“

Sarah schüttelte ihre braune Mähne. „Ich glaube nicht.“

„Das könnte man ja ändern!“ Ein Funkeln spiegelte sich in seinen Augen wider, die plötzlich noch dunkler wirkten.

Wie bitte? Was wollte er ihr damit sagen? War Daniel Hochkamp immer so direkt? Nervös rieb sie ihre freie Hand über die Jeans.

„Lebst du schon lange in Garmisch? Wieso habe ich dich hier noch nie gesehen?“

„Vielleicht weil du deine Bücher, vorausgesetzt, du liest welche, nicht in meiner Buchhandlung kaufst!“ Ihre spitze Bemerkung zauberte ein amüsiertes Lächeln um seine Mundwinkel.

„Oder du den Weg in unsere Bank noch nicht gefunden hast“, konterte er.

Sarah öffnete den Mund, um ihm die passende Antwort zu servieren, doch Daniel war schneller.

„Ich gehe davon aus, dass du dein Geschäftskonto bei einer anderen Bank hast.“ Das war kein Frage, sondern eine reine Feststellung.

„Und wenn“, antwortete Sarah schnippisch. „Das ist doch immer noch meine Entscheidung und geht dich nichts an!“

Er lachte auf. „Da stimme ich dir natürlich zu. Ich will nicht aufdringlich sein, aber wir bieten den Gewerbetreibenden gute Bankkonditionen an. Heutzutage hat niemand etwas zu verschenken.“

„Das mag sein, aber ich bin mit meiner Hausbank sehr zufrieden.“ Dass das nur halbwegs stimmte, musste er ja nicht wissen. Allein wenn sie daran dachte, wie hoch ihre Kontoführungsgebühren waren, wurde ihr schlecht. Aber welche Bank arbeitete schon umsonst?

„Okay. Ich habe verstanden. Aber vielleicht solltest du einmal darüber nachdenken. Mein Angebot steht.“

Beschwichtigend hob er eine Hand. „Lassen wir das Thema.“

Na geht doch! Schließlich war sie hier hergekommen, um mit ihren Freunden den Alltagsstress hinter sich zu lassen und Pläne für das Wochenende zu schmieden. Dem Anschein nach lag das bei Daniel anders. Offensichtlich lag es in seiner Natur, eben der typische Verkäufer, stets irgendwo ein Geschäft zu wittern. Sein Interesse an ihr beruhte demnach auf einer rein geschäftlichen Ebene. Und Sarah dachte erst, er könnte an ihr als Privatperson interessiert sein, aber da lag sie völlig falsch. Ernüchtert senkte sie den Kopf. Natürlich war er genauso wenig an ihr interessiert wie sie an ihm, sie konnte auf Männerbekanntschaften gut und gerne verzichten. Schließlich kam sie ziemlich gut ohne sie klar und das würde sich auch in Zukunft nicht ändern. Seit Paul sie betrogen hatte, waren Männer ein Tabu. Und dennoch, dieser Daniel Hochkamp hatte etwas an sich, was sie nur schwer zu definieren vermochte. Seine Gegenwart genügte, um ihren Pulsschlag in die Höhe zu treiben. Puh, ‚tief durchatmen Sarah und nicht die Kontrolle verlieren‘, ermahnte sie sich selber. Erst jetzt bemerkte sie, dass Daniel immer noch ihre Hand hielt. Als hätte sie sich daran verbrannt, entzog sie ihm ihre Finger.

Als sie aufblickte, war der Zauber vorüber. Melanie Hansen stand hinter Daniel und legte ihm ihre manikürte Hand mit den perfekt rotlackierten Nägeln auf den Unterarm. „Daniel. Wolltest du nicht eine Runde Bier spendieren?“

In einem Ton, der keinen Widerstand duldete, sah sie ihn eindringlich an, bevor sie sich abwandte. Daniel entschuldigte sich mit einem charmanten Lächeln, das Berge hätte versetzen können. „Bin gleich wieder bei dir.“

Er folgte Melanie und beugte sich über den Tresen, um bei Mike eine Runde Hacker Pschorr für alle zu ordern. Sarahs Blick haftete an seinen breiten Schultern und wanderte hinauf in sein bildhübsches Gesicht. Er sah fantastisch aus. Wow, er war die reinste Augenweide!

Hoppla, was war das denn? Schnell löste sie den Blick und konzentrierte sich auf ihre Hände, die ihren wirren Kopf stützen mussten. Sarah rang verstört mit ihrem inneren Gleichgewicht. Jeder Nerv ihres Körpers war bis aufs kleinste angespannt und ihre bis dahin versunkene Libido machte sich bemerkbar. Noch nie zuvor hatte Sarah so extrem auf einen Mann reagiert. Als sie während des Studiums zum ersten Mal Paul begegnete, sprang so ein Funken nicht über, obwohl sie ihn von Anfang an sehr sympathisch und anziehend fand. Bei dem Gedanken an ihren Ex schluckte sie den dicken Kloß hinunter, der jedes Mal dann in ihrem Hals steckte, wenn sie an jene Zeit zurückdachte. Sarah erinnerte sich, dass sie sich damals zu einhundert Prozent sicher war, dass Paul ihre große Liebe war.

Aber das hier, das war etwas völlig Neues. Dieser Mann könnte einen epileptischen Anfall in ihr auslösen, der die totale Kontrolle über ihren Körper übernahm und ihrer Sinne beraubte. Erneut warf sie einen unauffälligen Seitenblick zu Daniel Hochkamp und fuhr mit nervösen Fingern durch ihre braune Mähne. Sie spürte die Hitzewelle, die seine bloße Anwesenheit aussandte. Die Luft im Raum fühlte sich heiß an und knisterte vor Spannung.

Puh, Sarah atmete stoßweise den angehaltenen Atem aus. Sie sollte hier möglichst schnell verschwinden. Es war eindeutig genug für heute und sie musste bei klarem Verstand bleiben, wenn ihr restlicher Körper sich schon ihrer Kontrolle entzog. Dieses plötzliche Gefühlschaos warf sie völlig überraschend aus der Bahn und überrollte sie wie ein Zug.

War es allein die Gegenwart dieses Mannes, die ihr plötzlich Schwindelgefühle verursachte, oder hatte sie doch schon zu viel getrunken? Sie durfte nicht vergessen, dass sein Interesse nur auf geschäftlicher Ebene beruhte.

Sarah drehte sich abrupt zu Jessica und machte Anstalten, aufzustehen. Doch ups, das war leichter gedacht als getan. Glücklicherweise hielt Jessica ihren Arm fest, sodass sie nicht stürzte.

„Hiergeblieben, Jensen! Wohin willst du? Der Abend ist noch nicht zu Ende! Vielleicht wird es noch interessant.“ Dabei schaute sie mit einem verschmitzten Lächeln zu Alexander rüber, der anscheinend in ihr Raster, was Männer betraf, passte. Das war so typisch für Jessica, bloß nichts anbrennen lassen.

„Nein, mir reicht es wirklich für heute. Der Tag war lang genug. Ich will einfach nur nach Hause, in mein Bett. Ihr habt gesagt, nur noch ein Glas. Also, das war’s dann für mich. Ich bin raus.“

„Ach komm schon, Sarah! Dieses eine noch und dann bring ich dich nach Hause, versprochen“, mischte sich nun auch Mark mit ein, der sich an Sarahs Seite gestellt hatte. Er drückte sie sanft auf den Barhocker zurück. Dabei sah er bittend in ihre braunen Rehaugen. Sarah verdrehte die Augen und erspähte für einen kurzen Moment über Marks Schulter, dass Daniel Hochkamp Melanie Hansen etwas ins Ohr flüsterte, doch dabei Sarah fixierte. Seine Augen, die dunkel zu ihr rüber funkelten, beobachteten jede kleinste ihrer Bewegungen. Stirnrunzelnd blickte Daniel zu Mark und wieder zu Sarah zurück und das Lächeln in seinem Gesicht verschwand.

Just in der Sekunde stellte Mike acht gefüllte Biergläser auf den Tresen und alle, bis auf Sarah, bedienten sich.

„Auf die angenehme Gesellschaft“, prostete Daniel in die Runde und betrachtete Sarah so unverblümt, dass sie unsicher wurde.

Widerwillig nahm sie ihr Glas, prostete ihm und den anderen ebenfalls zu und nippte an ihrem Bier. Über den Glasrand hinweg taxierte auch Sarah weiterhin Daniel. Ihre Lippen kräuselten sich, weil der Geschmack des Bieres ihr zuwider wurde. Ihre Geschmacksknospen litten bereits an der Unmenge dieser braunen Flüssigkeit. Sie hatte wirklich genug. Ein bisschen zu heftig stellte sie das Bierglas auf den Tresen ab, so, dass es überschwappte. „Oh, tut mir leid“, sagte sie entschuldigend in die Runde, als die anderen zu ihr hinüber schauten. Zum Glück hielt sich der Schaden in Grenzen, nur ein paar Tropfen des Gebräus waren danebengegangen. Achselzuckend wischte Sarah mit einem Tempo die übergelaufenen Tropfen weg. Keiner der Freunde verlor ein Wort, sondern wandten sich ab und unterhielten sich angeregt weiter. Einschließlich Melanie Hansen, die Daniel in Beschlag genommen hatte und ihn nicht mehr von der Leine ließ.

Schließlich raffte Sarah sich auf. Sie drückte Jessica das Geld in die Hand und drehte sich zu Mark.

„Mark, könntest du mich jetzt bitte nach Hause bringen!“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.

Marks enttäuschte Miene entging Sarah nicht, anscheinend hatte er noch keine Lust, die gesellige Runde zu verlassen. Aber darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen, schließlich war sie es, die morgen pünktlich halb zehn den Laden aufschließen musste. Doch das war nur die halbe Wahrheit.

Dieser Daniel Hochkamp verwirrte sie, brachte sie durcheinander. Sie hatte das Gefühl, gegen seine Anziehungskraft machtlos zu sein.

Letztlich trank Mark sein Glas in einem Zug leer und stellte es auf den Tresen ab. „Okay. Also dann mal los.“ Er gab Jessica und Tom zu verstehen, dass er Sarah nach Hause bringen würde und stand auf.

„Na dann, bring mir Sarah unversehrt nach Hause und einen schönen Abend euch beiden.“ Jessica zwinkerte Mark zu, beugte sich zu ihrer Freundin, um sich von ihr zu verabschieden.

Tom sah, wie Daniels Augen sich verdunkelten, als er die Abschiedszeremonie beobachtete. Was hatte das denn zu bedeuten? Nicht eine Sekunde hatte Daniel Sarah aus den Augen gelassen. Tom, der ein feines Gespür besaß, ahnte, dass hier zwei Rivalen aufeinander getroffen waren und um die Gunst einer Frau buhlten. Und Sarah? Sie schien nervös zu sein. Bis jetzt hatte sie nie auf irgendwelche Anzüglichkeiten von Männern reagiert. Würde das bei Daniel anders sein? Wie ihm schien, waren da soeben ein paar Funken übergesprungen. Aber wer weiß! Vielleicht bildete er sich das alles auch nur ein. Wahrscheinlich hatte Sarah wirklich genug für heute und musste einfach nur ins Bett. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Auf jeden Fall könnte das noch spannend werden. Nun, er würde sich überraschen lassen. Sein Blick richtete sich wieder auf Sarah und Mark, der gerade seinen Mantel überzog.

„Tschüss ihr beiden, wir sehen uns morgen Nachmittag wie verabredet an der Skihütte.“ Tom verabschiedete sich mit einer Umarmung von Sarah, die auf ihrem Hocker wie angeklebt verharrte, und half ihr, den Mantel überzuziehen.

Startklar legte Mark einen Arm um Sarahs Schultern und zog sie leicht an sich. „Alles gut bei dir?“, schaute er sie fragend an.

Sarahs Rücken versteifte sich. „Was soll denn nicht in Ordnung sein? Mir geht es gut. Aber ich glaube, das letzte Bier war schlecht“, versuchte sie zu scherzen, damit niemand ihre Anspannung bemerkte. Abrupt löste sie sich von Mark. Sie fühlte sich unwohl mit seiner, wie ihr schien, übertriebenen Fürsorge und richtete ihr Haar über dem Mantelkragen. Außerdem hatte sie nicht das Bedürfnis, weitere Erklärungen abzugeben, sie wusste ja selbst nicht einmal, was plötzlich mit ihr los war. Sie wollte einfach nur nach Hause.

Verwirrt über ihr leicht gereiztes Verhalten verzog Mark seine Lippen zu einer schmalen Linie, ließ sich aber nichts anmerken, sondern verabschiedete sich von Daniel, Alexander, Melanie und zuletzt von Richard mit einem Gruß in deren Richtung und setzte zum Aufbruch an.

Sarah wickelte ihren Wollschal um den Hals und war bereit zum Gehen. Beim Aufstehen verfing sich einer ihrer Füße am Hocker. Sie verlor das Gleichgewicht und rutschte beinahe vom Hocker. Wären da nicht in dem Augenblick zwei starke Arme gewesen, die sie auffingen, wäre sie womöglich zu Boden gestürzt. Erschrocken klammerte sie sich daran fest und war froh, nicht vor allen Leute Augen hingefallen zu sein. Wie peinlich wäre das denn gewesen? Dankbar hob sie den Kopf und sah überrascht in die Augen ihres Retters.

Ein leichter Schauer durchfuhr ihren Körper. Das war nicht Mark, der sie da hielt, sondern Daniel. Und urplötzlich war wieder dieses Knistern zwischen ihnen zu spüren.

„Oh, danke“, stammelte Sarah verlegen.

„Hast du dir wehgetan?“, fragte er mit besorgter Miene.

Sarah schüttelte den Kopf. „Nein, alles bestens. Danke nochmal.“

„Du musst dich nicht bedanken.“ Immer noch hielt Daniel sie am Arm. „Eine Frau wie dich würde ich immer auffangen.“

Wie bitte? Was hatte er eben gesagt? Eine Frau wie sie würde er immer auffangen? Sollte dies‘ ein Kompliment sein? Flirtete dieser Mann gerade mit ihr?

Seine Worte rannen runter wie Öl und verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie ließen Sarahs Herz erneut schneller schlagen. Verdutzt spürte sie die Wärme seiner Hände, die förmlich durch den dicken Wollstoff ihres Mantels drang, so, als würde er direkt ihre Haut berühren. Ihre Gesichter waren so nah beieinander, dass kaum mehr eine Hand dazwischen gepasst hätte. Blaugraue Augen durchbohrten rehbraune und es sah aus, als würde ein Feuerwerk entfachen.

Sarahs Muskeln in ihrem Unterleib zogen sich auf angenehme Weise zusammen. Sie schloss die Augen. Ihre Sinne wurden von Daniels Aura eingehüllt und ließen keinen Freiraum für andere Wahrnehmungen. Was für ein Mann! Unsicher öffnete sie ihre Lider und sah auf seine geschmeidigen Hände. In ihrem Kopf entstanden Bilder, wie diese feingliedrigen gebräunten Fingern ihre Haut berührten, beginnend an ihren Armen, Linien über ihre Schultern, Brüste und Bauch zogen. Sarah nahm das Verlangen zwischen ihren Beinen wahr und wünschte sich, ihm noch näher zu sein. Erschrocken über ihre befremdeten Fantasien schaute sie auf. Daniel bedachte sie weiterhin mit seinem durchdringenden Blick, als ahne er ihre Gedanken. Diese Erkenntnis ließ Sarahs Puls erneut höher schlagen und die Farbe ihres Gesichts leuchtend rot schimmern. Ihr Herz raste. Was passierte hier gerade mit ihr? Ein charmantes Lächeln lag auf seinen Lippen. Die Zeit schien still zustehen. Um sie herum war nichts als ein Schleier aus Lichtern in Moschusduft gehüllt.

Ernüchtert erwachte sie aus ihrer Betäubung, denn wieder war es Mark, der sie in die Gegenwart zurückholte.

„Sarah, lass uns gehen! Bis eben hattest du es noch eilig.“ Vorwurfsvoll baute er sich neben ihren Hocker auf. Anscheinend hatte er nichts von ihrem kleinen Ausrutscher mitbekommen, sondern sah nur, dass Daniel sie an den Armen hielt. Als Sarah nicht reagierte, drehte er sich schnaubend um und verschwand erneut in Richtung Ausgang. Er wartete nicht einmal mehr auf sie.

„Alles in Ordnung?“, wollte Daniel, unbeeindruckt von Marks Abgang, wissen. Sarah senkte ihren Blick. Achselzuckend beantwortete sie seine Frage. Ihre Stimme hatte plötzlich jämmerlich versagt, so sehr war sie von ihm beeindruckt.

Daniel war nun schon der Zweite, der innerhalb von wenigen Minuten fragte, ob es ihr gut ginge. Was sollte das? Natürlich ging es ihr gut! Sarah schüttelte sich, sammelte ihre fünf Sinne zusammen und löste sich aus Daniels Griff. Sie trat dankbar an Tom heran, der ihre Handschuhe und Tasche in den Händen hielt.

„Die solltest du nicht vergessen“, wies er auf ihre Handschuhe, „draußen ist es bitterkalt. Schlaf gut, Süße.“ Tom gab ihr die Sachen und streichelte über ihre Schulter.

„Gute Nacht, Tom.“ Sarah straffte sich. Es war höchste Zeit, sich vom Acker zu machen. Noch einmal glitt ihr Blick zu dem attraktiven, dunkelhaarigen Mann neben ihr.

„Auf Wiedersehen, Sarah.“ Daniels Stimme klang gefühlvoll, ein nicht zu deutendes Lächeln umspielte seinen Mund.

„Daniel.“ Verlegen hob sie die Hand zum Gruß, machte auf den Absatz kehrt und folgte Mark geschwind zum Ausgang. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was dieses ‚Auf Wiedersehen‘ bedeutete, sondern nur noch raus.

Inzwischen hatte sich der Pub geleert, sodass sie ohne Probleme zum Ausgang fand. Die kalte Luft würde ihren Körper und ihre Sinne auf Normaltemperatur bringen. Jedoch verließ Sarah den Pub mit dem Gefühl, dass Daniels Augen sich in ihren Rücken bohrten. Hoffentlich passierte ihr nicht noch einmal vor lauter Herzklopfen so ein Missgeschick wie eben. Ob Daniel Hochkamp dann auch wieder zur Stelle gewesen wäre? Einerseits war sie so von seiner Heldentat beeindruckt, dass sie es kurz in Erwägung zog, noch einmal zu stolpern, denn es wäre die Chance, erneut in sein attraktives Gesicht zu schauen. Doch auf der anderen Seite beunruhigte sie die Tatsache, wie heftig ihr Körper auf diesen Mann reagiert hatte. Schnell verscheuchte sie diesen abwegigen Gedanken. Daniel hatte kein persönliches Interesse an ihr.

In der Kälte angekommen atmete Sarah tief durch und war froh, unbeschadet dem Pub entkommen zu sein. Und auch diesem umwerfenden Mann. Die Tür hinter sich schließend sah sie, dass Mark mit verschränkten Armen von einem Fuß auf den anderen stapfte und bereits auf sie wartete.

Die Nacht war kalt und feucht. Neuschnee kündigte sich an. Die Luft verwandelte sich in weiße Wölkchen, die ihr Atem in der kalten Dezemberluft bildete. Ringsherum glitzerte der Schnee wie tausend kleine Kristalle im Licht der Straßenlaternen.

Mark nahm seine Hände vor den Mund und hauchte seinen warmen Atem hinein. „Komm, für heute hast du wirklich genug.“

Lag da etwa eine Zweideutigkeit in seinem Satz? Ein Hauch von Enttäuschung schwang in seiner Stimme mit. Er war sauer.

„Wer wollte denn, dass ich noch auf ein weiteres Bier bleibe?“, konterte sie und ärgerte sich nun ebenfalls. Leiser Groll keimte in ihr auf. Wortlos traten sie nebeneinander den Heimweg an.

Was war denn heute Abend in Mark gefahren? Er spielte sich auf, als wäre sie ihm Rechenschaft schuldig. Dabei war er nicht mal ihr fester Freund. So kannte sie ihn gar nicht. Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass er auf Daniel eifersüchtig war. Grundlos natürlich, sie hatte doch nichts mit ihm, sie verband ja noch nicht einmal eine Geschäftsbeziehung! Außerdem hatte sie nicht mehr als zehn richtige Sätze mit Daniel gewechselt. Ferner war er in Begleitung seiner Partnerin, das bedeutete doch im Umkehrschluss, dass Melanie Hansen seine Freundin war oder etwa nicht?

Eine Frau wie Melanie war wie aus einem Bilderbuch entsprungen und passte hervorragend zu ihm. Melanie besaß Sarahs Meinung nach genau die Eigenschaften, die sich jeder Mann wünschte: elegant und wunderschön. Und diese Frau hatte Klasse und strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Viel fehlte wahrscheinlich nicht mehr, dann würde sogar ein Heiligenschein über ihr Haupt schweben. Okay, Sarah wollte nicht übertreiben, für ihren Geschmack war es ein wenig zu viel des Guten. Aber trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass Melanie einen gewissen Reiz verkörperte, der Männerherzen höher schlagen ließ. Melanie und Daniel gaben das perfekte Paar ab. Neben dieser Frau kam Sarah sich beinahe unscheinbar vor. Eine kleine Buchladenbesitzerin, die sich kaum mit den Einnahmen aus dem Buchverkauf über Wasser halten konnte. Dank der Mieteinnahme für die kleine Wohnung ihrer Großmutter konnte sie den Laden erhalten und alle Rechnungen begleichen. Viel blieb zwar am Monatsende nicht übrig, aber sie war zufrieden. Immerhin konnte sie sich die Besuche in Mikes Pub leisten.

Nachdem sie schon einige Meter schweigend nebeneinander herliefen, tat es ihr leid, Mark so angefahren zu haben. Zumindest war er ein Freund, der sie nicht hängen ließ und sie mitten in der Nacht nach Hause brachte. „Sorry, das von eben habe ich nicht so gemeint.“ Sarah schaute von der Seite zu ihm auf.

„Schon gut“, zwinkerte er ihr zu. Versöhnlich legte er seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Ohne Widerstand duldete Sarah diese freundschaftliche Geste. Sie war einfach nur froh, nach Hause in ihr Bett zu kommen und zu schlafen, ohne Träume von schönen Händen und blaugrauen Augen.

Da der Weg vom Pub bis zu ihrer Wohnung kaum zehn Minuten dauerte, standen sie schon bald vor ihrer Haustür.

„Soll ich dich noch raufbringen?“, flüsterte Mark bittend und drehte sich in ihre Richtung.

Sarah schüttelte den Kopf, wobei zarte Schneeflocken von ihren Haarspitzen fielen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass kleine weiße Flocken vom Himmel tanzten, so tief war sie in Gedanken versunken. „Wir sehen uns morgen. Danke, dass du mich gebracht hast.“

„Sarah, ich…“

Mit einer Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen. „Heute nicht, ich bin einfach zu müde“, gab sie zurück.

Mark beugte sich leicht über Sarah, hielt ihre kalten Hände umschlungen. Bevor er ihr einen Kuss geben konnte, drehte sie leicht den Kopf zur Seite. Abrupt ließ Mark ihre Hände los und versteifte sich. Seine Augen durchbohrten ihre, als suche er eine Erklärung. Doch die bekam er nicht. Wortlos machte er auf den Absatz kehrt und ging in den Schnee.

Als Sarah ihre Wohnung betrat, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. Das einzige, was sie heute noch brauchte, war ihr Bett und genügend Schlaf.

Wetteinsatz mit bittersüßem Beigeschmack

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