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VIER

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GEGEN MITTAG war die Temperatur so weit angestiegen, dass Galgenberg nicht nur sein Jackett ausgezogen, sondern sogar die Hemdsärmel zweimal umgeschlagen hatte - ein geradezu unerhörter Vorgang, wie Kappe fand. Sie hatten das Fenster geschlossen und die schweren Vorhänge vorgezogen, aber die Hitze war aus dem engen Hof längst eingedrungen und erschwerte jede Tätigkeit. Kappe hockte apathisch hinter dem Schreibtisch und tat, als brüte er über seinem Bericht. In Wahrheit dachte auch er darüber nach, sich wenigstens etwas Luft zu verschaffen, als Dr. Kniehase zur Tür hereintrat und ihn mit einem maliziösen Lächeln musterte.

«Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch immer in der Gegend des seines Geruchs wegen unrühmlich bekannten Luisenstädtischen Kanals wohnen, mein lieber Kappe?», fragte er anzüglich.

Kappe missfiel allein schon der Ton der Frage. Aber was half es? Er musste nicken. «Waldemarstraße», fügte er vage hinzu.

Kniehase griente und sah dabei aus wie ein Hamster, der ein Loch im Getreidespeicher entdeckt hat. «Na, dann kommen Sie mal», sagte er. «Da wollen wir beide mal einen netten kleinen Ausflug unternehmen. Ich hole nur meine Photo-Utensilien.»

Er überließ es Kappe, den schweren Photokoffer zu schleppen. Sie verließen das Gebäude durch die übliche Seitenpforte, und Kniehase schlug auch richtig den Weg nach rechts zur Jannowitzbrücke ein. Statt jedoch die nächste Haltestelle anzusteuern, überquerte er an der Ecke leise vor sich hin pfeifend die Alexanderstraße. Ob Kappe ihm folgte, schien ihn nicht zu interessieren.

Erst vor dem Postamt an der Magazinstraße wandte er sich halb um und sagte: «Habe noch ein paar dringende Briefe abzusenden. Warten Sie ruhig hier.»

Verblüfft blieb Kappe in der knallenden Sonne zurück. Der hatte vielleicht Humor! Außerdem war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei den dringenden Briefen um Kniehases Privatkorrespondenz handelte. Aber das ging ihn nichts an.

Unruhig schritt er vor dem Postgebäude auf und ab und hatte sich gerade entschlossen, doch in die kühle Schalterhalle einzutreten, als Kniehase forsch heraustrat und es tatsächlich wagte, ihn zur Eile anzutreiben: «Nun aber los, Kappe! Das wird heute vielleicht noch ein langer Tag!»

Kappe stiefelte einen halben Schritt hinter ihm. «Dann ist es aber besser, wir nehmen jetzt den Omnibus oder die Straßenbahn», sagte er.

«Nehmen wir», entgegnete Kniehase, schritt aber unbeirrt auf der falschen Straßenseite weiter und bog in die Blumenstraße ein. An der Haltestelle für den Kraftomnibus Nr. 2 blieb er stehen und sah sich nach Kappe um.

«Der fährt aber nicht in die Luisenstadt», wandte der ein.

«Habe ich behauptet, wir müssten in die Luisenstadt?», fragte Kniehase zurück. «Keine Angst. Da kommen Sie noch früh genug hin. Jetzt geht’s erst mal an einen angenehm kühlen Ort, mein lieber Kappe. Warten Sie’s nur ab.»

Seestraße stand an dem Omnibus, und natürlich musste Kniehase auf das offene Verdeck steigen. «Kommen Sie, Kappe, hier oben ist die Luft frischer», rief er auch noch, so dass Kappe ihm widerstrebend folgen musste, wobei ihm der Koffer zusätzliche Nöte bescherte. Wohin dieser Geheimniskrämer Kniehase mit ihm wollte, war ihm noch immer ein Rätsel.

Vorsichtig manövrierte er sich zu der Mittelbank auf dem Deck und ließ sich neben Kniehase nieder. Zu seinem Schrecken gewahrte er, dass der Bus nach links abbog und die Waisenbrücke überquerte. Auch das noch! Er schloss die Augen, um nicht hinunter auf das Wasser blicken zu müssen, und hoffte, Kniehase würde es nicht bemerken.

«Machen Sie ruhig noch ein Schläfchen», sagte der großmütig. «Wir fahren noch eine ganze Weile.»

Kappe schämte sich, doch die brennende Sonne und der Lärm in den staubigen Straßen überwältigten ihn wie eine Lähmung. Als er die Augen wieder öffnete, überquerten sie gerade den Spittelmarkt.

Mehr als eine halbe Stunde verging, bevor sie endlich die Linden passiert hatten, unter denen halb Berlin unterwegs zu sein schien.

Erst hinter der Weidendammer Brücke überkam Kappe eine plötzliche Ahnung, wohin die Reise ging. Und richtig. Am Oranienburger Tor kletterten sie von ihrem Hochsitz und bogen gleich darauf in die Hannoversche Straße ein. Das hatte ihm nach dieser Fahrt wahrhaftig noch gefehlt. Da leuchtete auch schon der gelbe Klinkerbau in der Sonne: das Leichenschauhaus.

Seit seiner ersten Berliner Leiche war er nun schon einige Male hier gewesen, aber dass er sich an das Haus und dessen eigenartige Atmosphäre gewöhnt hatte, konnte er wirklich nicht behaupten.

Um seine Beklommenheit zu überspielen, wandte er sich betont sachlich an Kniehase: «Wen hat man denn aus dem Luisenstädtischen Kanal geborgen?»

Kniehase hob die Schultern. «Wir werden sehen», sagte er sibyllinisch.

Ein spitzbärtiger junger Mediziner mit goldumrandetem Kneifer, der sich als Doktor Levinson vorstellte, erwartete sie. «Das hat ja gedauert!», merkte er kritisch an. «Da sind wir ja schneller in Paris, wenn’s ernst wird!»

Kniehase musterte ihn säuerlich. «Ist die Frau nicht sowieso tot?», fragte er. «Die rennt uns doch nicht weg.»

«Na, beinahe wäre sie weg gewesen.»

Der Doktor eilte ihnen mit langen Schritten voraus und öffnete einladend die Tür zum Sektionsraum. Kappe roch die Leiche, bevor er sie auf dem Metalltisch wahrnahm.

«Die Herren von der Feuerwehr waren nämlich der Meinung, es handle sich um eine ordinäre Wasserleiche. Doch weit gefehlt!» Doktor Levinson schlug das Tuch zurück, und Kappe sah zuerst das lange goldblonde Haar, bevor er das aufgedunsene Gesicht der jungen Frau wahrnahm, auf dem sich blutunterlaufene Flecke abzeichneten.

«Sehen Sie selbst - die Cyanosis und die konjunktivalen Blutungen sprechen eine eindeutige Sprache», erklärte der Pathologe ebenso lebhaft wie unverständlich und legte dabei den zerschundenen Hals der Leiche frei. «Knorpel eingedrückt. Dazu Blutungen in der Mundschleimhaut und etwas schwächer in der Halsmuskulatur. Von einem etwas älteren Bluterguss unter dem rechten Auge und etlichen Flecken am ganzen Körper einmal abgesehen. Blaue Flecke zum Beispiel an den Oberschenkeln.» Und schon schlug er das weiße Tuch über den strammen, kurzen Beinen der Frau zurück.

Eine dicke Fliege brummte durch den Raum. Bei aller Beherrschung hielt es Kappe nicht länger neben der Leiche. Er hielt den Atem an und machte mit weichen Knien einige Schritte zum Fenster. Als er sich wieder umwandte, fiel sein Blick auf eine weite Schale mit blutig-hellem Inhalt.

Er stöhnte hörbar auf. Levinson, der seine Ausführungen keinen Augenblick unterbrochen hatte, maß ihn mit einem spöttischen Kneiferblitzen. «Das ist ein Fötus», sagte er belehrend. «So haben Sie auch mal ausgesehen - etwa drei Monate nach Ihrer Zeugung.»

«Sie war also schwanger?», vergewisserte sich Kniehase. Levinson nickte. «So ist es. Und es wäre nicht ihre erste Geburt gewesen. Sie hat übrigens auch unmittelbar vor ihrem Tod noch koitiert.»

«Eine Vergewaltigung?», erkundigte sich Kniehase, dem das alles nichts auszumachen schien.

Der Doktor zuckte die Achseln und spreizte seine Hände. «Ich glaube kaum. Die Verletzungen sind sämtlich älteren Datums.»

Er bedeckte die Leiche wieder mit dem Tuch und wandte ihr den Rücken zu. «Ein wahres Glück, dass ich heute Dienst habe und nicht einer von diesen. .. Nun ja, lassen wir das. Sie ist jedenfalls unzweifelhaft erdrosselt worden und nicht ertrunken. Mit höchster Wahrscheinlichkeit mit jenem Seidentuch erwürgt, das sie noch um den Hals trug.»

Er griff nach einem bunten Tuch, das auf dem Tisch neben der unsäglichen Schale lag. Kniehase bat um ein Behältnis und fragte: «War das Tuch verknotet?»

Levinson runzelte die Stirn. «Nicht fest», sagte er. «Vermutlich hat es ihr der Täter wieder umgelegt, bevor er die Leiche ins Wasser stieß.»

«Oder die Täterin», gab Kappe zu bedenken. Eifersucht war schließlich auch ein Mordmotiv.

«Das glaube ich kaum», widersprach der Doktor scharf. «Es handelt sich bei der Toten um eine dralle, kleine Person mit kräftigen Händen.»

«Irgendwelche Abwehr- oder Kampfspuren?», wollte Kniehase wissen.

«Nichts dergleichen.»

Kniehase hob die Schultern. «Tja, wenn Sie sich tatsächlich so sicher sind. ..», sagte er.

«Absolut sicher. Wir werden selbstverständlich noch den Mageninhalt und die Lunge genauer untersuchen, doch wird das kein anderes Ergebnis erbringen.»

«Und wie lange, glauben Sie, hat sie im Wasser gelegen?»

«Schwer zu sagen bei diesen Temperaturen. Nicht länger als zwei, drei Tage, meine ich. Vielleicht haben Sie ja ’ne passende Vermisstenmeldung. ..»

Eine halbe Stunde später hatte Kniehase seine Photos gemacht, und sie verließen den gelben Klinkerbau. Mit widerstrebenfeuchten Wäschesack mit der Kleidung der Toten. Schmuck oder irgendetwas anderes, was auf ihre Identität hingedeutet hätte, war nicht bei ihr gefunden worden.

Der nachmittägliche Verkehr auf der überfüllten Friedrichstraße schleppte sich stockend dahin. «Wollen wir nicht auf die Busfahrt verzichten und die zwei Stationen mit der S-Bahn fahren?», schlug Kappe vor, obwohl ihm Wäschesack und Photokoffer eine Last waren. Kniehase war einverstanden, doch als sich kurz darauf eine grellgeschminkte Kokotte an seinen Arm hängte und ihm mit deutlichen Worten nahelegte, doch erst mal etwas Kaltes mit ihr zu trinken und dann. .., verfluchte er Kappes Idee. Energisch schubste er die Frau beiseite und schnauzte Kappe an:

«Sie wissen anscheinend nicht, was das hier für eine Gegend ist! Jetzt sprechen einen die Nutten schon am hellerlichten Tag an, als fürchteten sie, dass wir morgen alle ins Feld ziehen!»

Kappe, den vertrackten Beutel weit von sich haltend, hielt es für angebracht zu schweigen.

Der Ehrenmord

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