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MENSCHENRAUB

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HILDEGUND HRIBAL saß an ihrem Arbeitsplatz und träumte. Nicht gerade von besseren Zeiten, aber wenigstens vom bevorstehenden Pfingstfest. Das bescherte ihr zweieinhalb freie Tage. Sie freute sich darauf, zumal laut Wetterbericht angenehme Temperaturen und Sonne zu erwarten waren. Wölfchen hatte versprochen, mit ihr an die Havel zu fahren. Vielleicht würden sie essen und eventuell auch tanzen gehen. Bei Wölfchen wusste man nie, wie er gerade bei Kasse war. Das wechselte in letzter Zeit. Bei ihr war das anders, da herrschte immer Ebbe im Geldbeutel. Das kleine Gehalt reichte nur für das Notwendigste. Immerhin war sie für Montagabend zum Nachtdienst eingeteilt worden und erhielt so einen kleinen Zuschlag. Sie musste Wölfchen nur beibringen, dass solche Dienste nun mal zu ihrem Beruf gehörten.

Ohne wirklich hinzusehen, blickte Hildegund hinüber auf die grauen Fassaden der Messehallen, die jenseits der breiten Allee in der Mittagssonne glänzten. Lehnte sie sich ein wenig zurück, konnte sie sogar die winzigen Gestalten auf dem Funkturm erkennen, die von der Aussichtsplattform auf das schiffförmige Klinkergebäude hinunterschauten, in dem sie an ihrem Schreibtisch darauf wartete, dass ein vor Aufregung schwitzender Jungredakteur ihr stammelnd einen Kommentar diktierte. Darin würde er zum tausendsten Mal in mäßigem Deutsch das «Kriegstreiberregime da draußen» madigmachen. Direkt vor ihren Augen lag der böse, wilde Westen mit den vielen Arbeitslosen – und mit all jenen Verlockungen, denen Hildegund insgeheim ganz gerne erlegen wäre. Sie seufzte. Vielleicht ergab sich einmal eine Gelegenheit …

Aus dem Zimmer des stellvertretenden Chefredakteurs drangen streitende Stimmen. «Wir werden dem Gegner keine Steilvorlage liefern!», dröhnte er. «Eine solche Meldung geht nicht über meinen Tisch!» Worauf jemand sarkastisch anmerkte, dass den Hörern bei dieser Zurückhaltung nichts anderes übrigbleibe, als sich beim RIAS über die Unterbrechung des Telefonnetzes zu informieren. Das war Hünicke, ein junger Bursche mit einer frechen Schnauze, dem der Chef sofort lautstark über den Mund fuhr: «Darüber unterhalten wir uns an anderer Stelle! Einer wie du braucht einen alten Genossen wie mich nicht über die Rolle des RIAS aufzuklären!»

Die Drohung des «alten Genossen» von knapp dreißig Jahren überraschte Hildegund nicht. Jeder wusste, dass der von den Amerikanern bezahlte Rundfunk aus dem amerikanischen Sektor hier im Haus als rotes Tuch galt. Die Erwähnung des Feindsenders war – wenn überhaupt – nur unter Beifügung saftiger Vokabeln üblich. Und dass der Telefonverkehr zwischen Ost und West seit Dienstag unterbrochen war, musste inzwischen auch der Letzte mitgekriegt haben.

Hildegund hatte sich längst abgewöhnt, auf den Inhalt der Phrasen zu achten, die täglich nicht nur an ihre Ohren drangen, sondern auch auf ihren Stenoblock und anschließend in die Tasten gerieten. Nur gelegentlich machte sie auf eine besonders unpassende Formulierung aufmerksam oder korrigierte die schlimmsten Sprachschnitzer. Sie war inzwischen zur Sekretärin des stellvertretenden Chefs aufgestiegen, aber keiner von diesen neunmalklugen Fatzken ließ sich gerne von einer einfachen Tippse belehren. Stattdessen machten die Kerle sich auf schleimige Art an sie ran oder versuchten, ihr mehr oder weniger direkt an die Wäsche zu gehen. «Sexualproviant», hatte mal einer gesagt und damit all die schlechtbezahlten jungen Frauen im Haus gemeint, die in den Sekretariaten, in der Telefonzentrale und in der Technik arbeiteten.

Sexualproviant! Für so was war sich Hildegund zu schade. Ihr beinahe vergessener Verlobter, eine Kinderfreundschaft aus dem Nachbarhaus, war vom letzten Einsatz an der Oder nicht zurückgekehrt, ihr kurzzeitiges Verhältnis mit einem Kaffeeschieber bald gescheitert. Und schließlich hatte sie es nach zwei Versuchen auch aufgegeben, sich mit einem der Redakteure aus dem Funkhaus einzulassen. Politische Agitation störte sie im privaten Bereich. Zu allem Unglück hatte sich der erste Kandidat, bei der täglichen Arbeit ein besonders scharfer Genosse, unerwartet als westlicher Provokateur entpuppt, der seine Agentenausbildung in britischer Kriegsgefangenschaft verheimlicht hatte. Ihr hatte das einigen Ärger eingebracht. Der zweite, ein ausnehmend schöner Mann, um den alle Frauen sie beneideten, hatte sich im Endeffekt als einer von den vielen Homosexuellen im Hause erwiesen und wollte die Beziehung zu einer Frau als Tarnung nutzen.

Allen schlechten Erfahrungen zum Trotz wäre Hildegund mit ihrem Leben zufrieden gewesen, hätte sich Zufriedenheit überhaupt unter den von ihr erwogenen Möglichkeiten menschlicher Existenz befunden. Sie war ein von Natur aus kritischer Mensch, der nicht zu viel von den eigenen und noch weniger von den Leistungen und Fähigkeiten anderer hielt. Glücklicherweise hinderte ihre Intelligenz sie daran, sich diesbezüglich zu äußern. Im jahrelangen engen Zusammenleben mit einer starrsinnigen Mutter war es ihr gelungen, ihre Schweigsamkeit so weit zu vervollkommnen, dass man sie allgemein für zurückhaltend, ja beinahe schüchtern hielt. Als eine nicht mehr ganz junge, stets wie aus dem Ei gepellte, dezent geschminkte und sorgfältig frisierte junge Frau hinterließ sie überall den allerbesten Eindruck. In normalen Zeiten wäre sie längst als Mutter schulpflichtiger Kinder mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen. Aber die Zeiten waren, sieben Jahre nach Kriegsende, in ihren Augen keineswegs als normal anzusehen.

Anders als ihr armer Vater, der in den Weiten Russlands verschollen blieb, hatte sie den Krieg leidlich überstanden. Als 25-jährige Nachrichtenhelferin mit Fernschreibpraxis, mit guten Schreibmaschinenkenntnissen also, besaß sie keine schlechte Ausgangsposition für einen Neuanfang. Das bisschen Steno flog ihr beinahe zu. Die kränkelnde Mutter hatte den Nahrungsmangel und den kalten Winter ’47 nicht überstanden und ihr die schlicht eingerichtete Wohnung der einstigen Familie in der Palisadenstraße hinterlassen: Stube und Küche im Hinterhof, immerhin mit Innentoilette. Das war keine erstklassige Adresse, doch sehr viel mehr, als andere junge Frauen ihr Eigen nannten. Wohnraum war knapp in Ost und West. Von den Neubauten an der Stalinallee erwarteten bloß Aktivisten des Nationalen Aufbauwerks und sächsischsprechende Funktionäre eine Verbesserung. Hildegund stand der Sinn nicht nach freiwilligen Aufbaustunden, wenn sie abends todmüde nach Hause kam.

Dass ihr die Wohnung noch zu einem ganz anderen Vorteil gereichen würde, hätte sie nicht erwartet, als sie sich vor drei Jahren auf den Rat einer Bekannten hin beim Berliner Rundfunk bewarb. Dessen Generalintendanz befand sich im alten Goebbels-Ministerium am Kaiserhof, der jetzt Thälmannplatz hieß, die Personalabteilung saß nicht weit entfernt, in der Friedrichstraße. Dort empfing sie ein finster wirkender, dunkelhaariger Mann unbestimmten Alters, dessen durchdringender Blick sie irritierte. Erst als sie den Beruf des Vaters – der war Maurer – angab, wurde seine Miene wohlwollender und hellte sich bei ihrer Adresse endgültig auf. «Wir brauchen dringend junge Arbeiterkader aus dem Osten», äußerte er mit dem rollenden R des Sudetendeutschen, und damit war sie eingestellt.

Es war ein bemerkenswertes Unternehmen, in das sie da geriet. Berliner Rundfunk und Deutschlandsender residierten als Deutscher Demokratischer Rundfunk unter sowjetischem Schutz im Funkhaus der ehemaligen Reichsrundfunkgesellschaft in Charlottenburg und damit im britischen Sektor von Berlin. Vor dem ansehnlichen Klinkerbau an der Masurenallee verkündeten nicht zu übersehende Tafeln: Achtung! Dies ist kein Westberliner Sender! Dennoch führten alle Kabel aus dem Funkhaus in den amerikanischen Sektor nach Schöneberg, zum Verstärkeramt in der Winterfeldtstraße, wo sich bis 1948 die RIAS-Studios befunden hatten. Damals hatten die Sendeanlagen noch in Tegel im französischen Sektor gestanden.

Einen eigenen Rundfunksender besaß die von den Westmächten gepäppelte Insel im roten Meer, sah man vom amerikanischen RIAS ab, nicht. Der Nordwestdeutsche Rundfunk NWDR betrieb im Haus der Zahnärzte am Heidelberger Platz ein bescheidenes Studio und weit hinter dem Olympiastadion einen schwachen Sender, der kaum über West-Berlin hinausdrang. Aus der Ribbentrop-Villa in der Dahlemer Podbielskiallee erfreute der AFN des American Forces Network die amerikanischen Soldaten und eine jugendliche deutsche Hörerschar in Ost und West mit der Musik, die sie wirklich hören wollten. In der Masurenallee lagerte Derartiges als «imperialistisch verseucht» im Giftschrank.

Zu Hause in ihrer düsteren Hinterhofstube bevorzugte Hildegund wie die meisten ihrer Nachbarn den RIAS. Das Programm fiel allemal unterhaltender und informativer aus als die dröge Propaganda aus der Masurenallee. Bei flotter Musik erfuhr man, was im Westen, vor allem aber, was im Osten wirklich passierte, und montags hörte alle Welt die Schlager der Woche. Das West-Berliner Radiokabarett Die Insulaner mochte Hildegund nicht so sehr, die populäre Unterhaltungssendung Mach mit dafür umso mehr. Die versuchten die östlichen Betriebsabende vergebens zu übertreffen.

Dass die RIAS-Kommentare genauso giftig klangen wie diejenigen, die sie täglich zu tippen hatte, störte Hildegund kaum. Es überraschte sie nur immer wieder, dass der Westen nichts Ernsthaftes gegen die feindselige Stimme in der eigenen Stadthälfte unternahm. Umgekehrt hätten die Russen sich das vermutlich nicht so lange gefallen lassen. Im Haus wurde viel darüber gemunkelt, wie lange das noch gutgehen würde. Die Übertragungstechnik war bereits in den Ostsektor umgesiedelt. Vor einigen Tagen hatte man in einer Nacht- und Nebelaktion auch den größten Teil des Musikarchivs in den Osten transportiert. Unter strengster Geheimhaltung natürlich, doch Hildegund besaß, wenn es darauf ankam, ein gutes Gehör. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass die Unzahl von Tonbändern in dem kleinen Funkhaus in Grünau Platz finden sollte. In das ehemalige Bootshaus draußen an der Dahme musste sie von Zeit zu Zeit vertrauliche Materialien bringen.

Wie der hauseigene Mundfunk meldete, war man seit einem Jahr irgendwo in Ost-Berlin dabei, ein neues Funkhaus einzurichten, zu dem West-Berliner keinen Zutritt haben sollten. Das wiederum glaubte Hildegund nicht, wohnten doch viele Schauspieler und Regisseure und fast alle Musiker seit eh und je im Westen der Stadt. Zu einem Umzug in den Osten würde sich kaum einer von denen überreden lassen.

Bei den Redakteuren holte man den erforderlichen Nachwuchs aus der Provinz, so wie diesen Bauerntölpel Volker Ratzmann, der gerade hereinstürmte, schwitzend, die zerknitterten Papierbögen schwenkend und einen Geruch nach Ziegenstall verbreitend. Unwillkürlich bekam Hildegund eine Gänsehaut. Der Kerl wagte es wahrhaftig, ihr seine feuchte Flosse vertraulich auf die Schulter zu legen und sich über sie zu beugen, als wolle er ihr in den Ausschnitt gucken. Doch da hatte er bei ihr kein Glück. Sie hatte sich angewöhnt, selbst an warmen Tagen auf ein Dekolleté oder ähnlich Aufreizendes zu verzichten.

Hildegund schüttelte Ratzmanns schweißige Pfote ab und maß ihn mit einem Blick, der ihn zurückweichen ließ. Was für ein armseliger Trottel! Mit seiner ungebärdigen Haarmähne, dem durchgeschwitzten Hemd und der fleckigen Hose sah er aus wie ein verkleideter Orang-Utan. Noch dazu trug der Riesenkerl tatsächlich Igelitlatschen! Ihre eigenen Schuhe waren allerdings auch nicht besonders modisch. Hier im Haus verzichtete sie besser auf die von Wölfchen geschenkten, denen man die Herkunft ansah. Es gab Leute, die auf so etwas achteten und es meldeten.

«Stell dich nicht so prüde an, Mädchen!», polterte Ratzmann. «Jetzt hauen wir dieser miesen Frontstadtbagage mal richtig auf den Kopp!»

Dementsprechend fiel sein wirres Pamphlet aus. Hildegund war sicher, dass selbst der Chef, der jeden Beitrag vor der Aufnahme abzeichnen musste, seine helle Freude an Ratzmanns plumpen Formulierungen haben würde. Das sollte eigentlich nicht ihre Sorge sein. Die Änderungen des Manuskripts beschäftigte sie jedoch in den nächsten Stunden noch zweimal.

Ratzmann schien sich an diesem Tag gegen sie verschworen zu haben. Als Hildegund zum Feierabend endlich hinunter in die Halle eilte, schob er seine unübersehbare Gestalt gerade durch die Ausgangskontrolle, gefolgt von Sigmar Hünicke, dem schmächtigen Kerlchen mit der großen Klappe. Der hatte zu allem und jedem etwas Dämliches anzumerken. Oft war das ganz lustig, doch auf die Dauer ging Hildegund der bissige Ton auf den Geist. Zumindest war Hünicke nicht so unsympathisch wie der ungeschliffene Schnösel Ratzmann, der jetzt neben ihm in Richtung S-Bahn herstakte. Von hinten wirkten die beiden wie das dänische Filmkomikerpaar Pat und Patachon.

Innerlich verfluchte Hildegund die beiden. Sie nahmen sich alle Zeit der Welt und trödelten herum. Hildegund wollte sie auf keinen Fall überholen. Das hätte allemal ein Gespräch provoziert, und dem wollte sie unbedingt entgehen. Es genügte ihr, die Kerle den ganzen Tag auf der Arbeit erdulden zu müssen, wenigstens die Heimfahrt wollte sie in Ruhe genießen. Sie hatte immer ein Buch bei sich. Manchmal fand sich sogar ein Sitzplatz.

Die BVG war gespalten. Omnibus, U- und Straßenbahn verlangten Westgeld. Deshalb fuhren die Rundfunkmitarbeiter mit der S-Bahn, die dem Osten unterstand. Es sei denn, sie saßen weit genug oben und verfügten über einen Dienstwagen. Normalerweise durften Autos mit Ost-Berliner Nummer nicht in den Westen, aber das galt nicht für den Funk.

Pat und Patachon näherten sich der Kreuzung am Messedamm und machten Anstalten, zum Bahnhof Westkreuz abzubiegen. Wahrscheinlich wollten sie auf schnellstem Wege in die Innenstadt, um im Osten endlich etwas trinken zu gehen. Eigentlich war das auch Hildegunds Richtung. Notfalls konnte sie jedoch von Witzleben aus mit dem Nordring fahren und an der Stalinallee in die U-Bahn umsteigen. Nahe der Samariterstraße gab es ein Konsum-Kaufhaus, in dem es sich vielleicht lohnte, vor Pfingsten nach einem brauchbaren Kleidungsstück Ausschau zu halten. Noch war ihre Punktkarte nicht leer. Immer nur auf Wölfchens Geschenke angewiesen zu sein behagte ihr nicht. Außerdem besaß er einen leicht ausgefallenen Geschmack. Was er ihr mitbrachte, war meistens viel zu auffällig für die tägliche Arbeit in einem Ost-Berliner Staatsunternehmen.

Oder sollte sie die Gelegenheit nutzen, Wölfchen mit einem Besuch zu überraschen? Diese Idee trug sie schon seit längerer Zeit mit sich herum. Weshalb sollte sie immer warten, bis er sich meldete? Bis zur Damaschkestraße brauchte sie keine Viertelstunde.

Hildegund war gerade dabei, den Messedamm zu überqueren, als sich plötzlich ein dunkler Pkw in so scharfem Tempo näherte, dass sie erschrocken zurücksprang und prompt im Rinnstein stolperte. Sie fiel auf Knie und Hände, hielt aber ihre Handtasche krampfhaft umklammert. Die Strümpfe waren hin, so viel war gewiss. Unwillkürlich kamen ihr vor Wut und Schmerz die Tränen.

Als sie sich aufrappelte, wuselten zwei Männer um sie herum, die scheinbar besorgt an ihrer Kleidung herumklopften und beruhigend auf sie einsprachen. Der dunkle Wagen, der scharf gebremst hatte, stand genau an der Stelle, von der sie eine halbe Minute zuvor zurückgesprungen war.

«Kommen Sie, wir fahren Sie ins nächste Krankenhaus!», sagte der breitschultrige Mann, dessen Hand sie vergeblich von ihrem Arm zu streifen versuchte, während der andere, ein kleiner Kerl mit einem Menjoubärtchen in der Gaunervisage, einladend die Wagentür aufhielt.

Hildegund protestierte. «Was wollen Sie von mir? Mir ist nichts passiert!»

Der Griff um ihren Oberarm wurde fester. «Das wird sich noch herausstellen. Wir fahren Sie, wohin Sie wollen.»

«Ich will nirgendwohin!» Hildegund funkelte den kompakten Kerl mit dem bleichen Gesicht an und blickte sich hilfesuchend um. Ein paar Leute blieben stehen. «Und schon gar nicht mit Ihnen!», schrie Hildegund jetzt fast, worauf der mit dem Bärtchen zu erklären versuchte, die junge Frau habe sich verletzt und bedürfe dringend medizinischer Hilfe.

«Hilfe!», nahm Hildegund das Wort auf. «Hilfe!», rief sie ganz laut. «Ich bin nicht verletzt!»

Irgendwer sprach aus, was in der Luft zu liegen schien: «Menschenraub!», worauf der Breitschultrige rot anlief und blökte: «Machen Sie sich nicht lächerlich! Die Frau muss dringend ins Krankenhaus!»

Das Nächste, was Hildegund wahrnahm, waren ein dumpfes Türklappen und der anschließende Schmerzensschrei des Menjoumännchens. Sie drehte sich um. Grinsend stand Sigmar Hünicke neben dem Wagen und blickte unschuldig durch seine Brillengläser. Er hatte die Autotür zugeschlagen und dem Kerl dabei die Finger eingeklemmt. Plötzlich lockerte sich auch der Griff um ihren Arm. Eine vertraute Stimme sagte: «Lass das Mädel los, oder ich polier dir deine schäbige Agentenfresse!»

Ausgerechnet Ratzmann! Den schickte ihr in diesem Augenblick der Himmel. Der von dem Redakteur so höflich Titulierte wandte sich dem unerwarteten Widersacher zu, der ihn um einen halben Kopf überragte. Ratzmann verlieh seinen Worten mit einem kräftigen Faustschlag Nachdruck, traf jedoch nur die Schulter seines Gegners. Immerhin ließ der massige Kerl endlich Hildegunds Arm los – und wollte sich auf Ratzmann stürzen. Hildegund schaffte es gerade noch, ihm einen heftigen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Manchmal war es doch gut, derbes Schuhwerk zu tragen. Der Schmerz ließ den Mann den Kopf senken, was Ratzmann Gelegenheit zu einem weitausgeholten Haken bot. Sein Gegner taumelte. In diesem Moment spürte Hildegund eine Hand, die nach der ihren griff. «Nischt wie weg hier!», stieß Hünicke halblaut hervor und zerrte sie quer über die Fahrbahn. «Nicht umdrehen! Da drüben ins Gewühl rein!»

An der gegenüberliegenden Ecke drängte sich eine Gruppe von Menschen, denen jemand etwas über den Funkturm erzählte. Hünicke stürzte sich mitten hinein und zog Hildegund hinter sich her, bis der S-Bahn-Eingang sie endlich verschluckte. Auf der Treppe zum Bahnsteig hinunter ließ Hünicke ihr etwas mehr Zeit. «Bist du verletzt?», erkundigte er sich besorgt.

Hildegund schüttelte den Kopf. «Nur ein bisschen am Knie», gab sie dann zu. Die aufgeschürften Handballen bemerkte sie erst jetzt. «Was ist mit Ratzmann?», fragte sie.

Hünicke lachte. «Der kann sich mit seinen Mühlenflügeln selbst wehren.»

Der Südring kam zuerst, und sie stiegen ein. Wie immer um diese Zeit war es voll. Der Mief im Raucherabteil stieg Hildegund unangenehm in die Nase. Dennoch protestierte sie nicht. Auch nicht dagegen, dass Hünicke sie weiterhin ungeniert duzte. «Na, Hildchen, das war aber ’ne heiße Nummer, die wir miteinander abgezogen haben, was?»

Sie lächelte schwach. «Ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollten.»

«Ich schon!», behauptete Hünicke, beließ es jedoch dabei.

Am Westkreuz stiegen sie aus und gingen hinunter zur Stadtbahn. Im Schutz des Aufsichtshäuschens und nachdem er sich umgesehen hatte, setzte Hünicke seine Aufklärung fort. «Die waren von der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, der KgU! Todsicher! Die wussten genau, auf wen sie es abgesehen hatten.»

Hildegund erschrak jetzt doch ein bisschen. «Wer bin ich denn, dass die sich für mich interessieren?»

«Eigentlich müsstest du das gleich melden», meinte Hünicke, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Abwehrend verzog sie das Gesicht. «Du bist wohl verrückt!» Unwillkürlich duzte sie den Redakteur ebenfalls. Der war ein paar Jahre jünger als sie. Immerhin hatte er ihr rausgeholfen aus dem Schlamassel, dafür musste sie ihm dankbar sein. «Damit ich meinen Namen morgen in allen Zeitungen wiederfinde? Was versprichst du dir davon?»

Das war für Hünicke ein Argument. «Aber Ratze wird sich mit seiner Heldentat brüsten», vermutete er.

Die S-Bahn fuhr ein. «Tu mir den Gefallen und rede ihm das aus!», bat sie beim Einstiegen.

«Ich werd sehen, was sich machen lässt …», meinte er und griente schon wieder dreist, wobei er sich ein bisschen an sie drängte. «Jetzt bringe ich dich erst mal nach Hause zu Mutti.»

Unglücklicherweise sagte Hildegund: «Die ist schon ein paar Jahre tot.»

Hünicke grinste noch breiter. «Umso besser!», sagte er.

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