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Wildost in Klosterfelde

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Das „Attentat“ auf Erich Honecker

Als „Angriff auf das Leben eines Regenten oder einer sonstigen hervorragenden Persönlichkeit“ definierte vor fast 150 Jahren „Meyers Konversationslexikon“ das Attentat. Es fehlte nicht der Hinweis, dass derlei „Mordthaten zum Zweck der Vernichtung des Vertreters einer großen Idee“ bereits auf eine lange Geschichte zurückblickten.

Die DDR war mit spektakulären Ereignissen nicht gerade gesegnet. Hier dominierte der triste Alltag. Doch manchmal schien sich auch hinter ihm Besonderes zu verbergen. Davon war der junge Dieter Müller überzeugt, als er in der gerade ein paar Jahre zuvor gegründeten Deutschen Demokratischen Republik, die so große Pläne mit dem Sozialismus hatte, „Volkskorrespondent“ wurde. Erste Artikel im FDJ-Blatt „Junge Welt“ machten ihn stolz, der Weg ins „Rote Kloster“, der Sektion Journalistik an der Leipziger Uni, schien geebnet. Doch zwischen Ostsee und Erzgebirge war es schon damals eng. 1956, nach dem Abitur auf dem Hallenser Giebichenstein-Gymnasium „Thomas Müntzer“, ging Dieter Müller in den Westen.

Dass er dort zu Dieter Bub wurde, entdeckte die Stasi erst später. Da arbeitete er bereits als „Stern“-Korrespondent in Ost-Berlin und machte Mielkes Männern in der Normannenstraße so richtig Ärger. Seine Heimatredaktion in Hamburg hatte nämlich eine Riesenstory auf die Titelseite gehoben, die in Ost-Berlin alle Alarmglocken schrillen ließ. Am 11. Januar 1983 verkündete das Magazin: „Der STERN enthüllt, was die DDR zu vertuschen sucht: DAS ATTENTAT!“

In ein seitenfüllendes Foto Erich Honeckers war das bläuliche Bild eines Mannes mit einem Fernglas um den Hals eingeklinkt. Daneben stand: „Ofensetzer Paul Eßling, der Mann, der Honecker erschießen wollte.“ Eine Doppelseite zeigte eine wilde Schießerei zwischen zwei Leuten aus abrupt gebremsten Autos als Comic. Dass dort mehr Fahrzeuge zu sehen waren, als an dem Ereignis tatsächlich beteiligt waren, machte die Geschichte noch dramatischer. Überschriften verkündeten: „Anschlagsversuch auf der 109“ und „Von der Stasi in die Zange genommen“.

Die Meldung selbst war eher dünn: „Ein Ofensetzer aus einem Dorf bei Berlin versuchte Silvester auf den DDR-Staatsratsvorsitzenden zu schießen. Der Attentäter verfehlte sein Ziel. Erich Honecker entkam und überlebte. Dem Schützen blieb nur der Selbstmord. Er schoss sich in den Kopf und starb auf der Stelle. Ein Sicherheitsbeamter wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht.“

So war es dem Korrespondenten Dieter Bub in Ost-Berlin zu Ohren gekommen, und zu seiner Chronistenpflicht gehörte es, das an seine Redaktion weiterzugeben. Dass seine Zeitschrift eine so große Geschichte daraus machen würde, hatte er nicht erwartet, erzählte der Journalist später. Aber der „Stern“ hatte in jenem Jahr ohnehin kein besonders gutes Händchen für Sensationen: Vier Monate später blamierte sich das Blatt mit den vermeintlichen Tagebüchern Adolf Hitlers, die es zu entdecken geglaubt hatte.

Anders als die falschen Hitler-Tagebücher verbrannte die Story um das Honecker-Attentat nicht knapp zehn Millionen Mark. Allerdings flog Dieter Bub aus der DDR: Nach vier Jahren erfolgreicher journalistischer Arbeit musste er das Land innerhalb von 48 Stunden verlassen. Im Rückblick endete damit für ihn die „aufregendste Zeit [s]eines Lebens, Abenteuer, Herausforderung – und Albtraum“.

Albträume schien das „Besondere Vorkommnis“ dem vermeintlichen Opfer Erich Honecker nicht bereitet zu haben – obwohl es am Silvestertag 1982 tatsächlich einen Amoklauf eines in einer tiefen persönlichen Krise steckenden, alkoholisierten Handwerksmeisters gegeben hatte. Trotzdem ließ der höchste Repräsentant des Staates vorsorglich ein Dementi verfassen. Denn auch wenn der „Stern“ nicht auf der „Postzeitungsvertriebsliste“ der DDR zu finden war – solch eine Meldung lief nur Minuten nach Erscheinen des Blattes über die westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen, und die wurden in seinem Reich vom Volk mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt.

Und so landete am 11. Januar 1983 um 15.23 Uhr auf den Fernschreibern eine Meldung der Pressestelle des Ministeriums des Innern der DDR.

„Selbstmord nach Fahrerflucht“

Der 11. Januar 1983 war ein Dienstag – jener Tag der Woche, an dem die wöchentliche Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der SED stattfand, auf der das Land hinter verschlossenen Türen regiert wurde. Was nach draußen drang, waren meist weniger aufsehenerregende Beschlüsse als ritualisierte Phrasen über die Rolle der Bedeutung und die Bedeutung der Rolle.

So war es auch an diesem Tag. Die Agenda dieser ersten Sitzung im neuen Jahr umfasste 23 Punkte mit 22 Beschlussvorlagen, die sich etwa mit „Maßnahmen zur Arbeit mit den Thesen des ZK der SED zum Karl-Marx-Jahr“ und „Schlußfolgerungen für die Erhöhung von Ordnung, Disziplin und Sicherheit im Eisenbahnwesen“ befassten. Das angebliche Attentat auf den „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik und Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR“, das der „Stern“ Stunden zuvor vermeldet hatte, wurde nicht einmal erwähnt.

Natürlich wusste Erich Mielke von den Geschehnissen, denn die „Staatssicherheit“ der DDR war schließlich sein Job. Er hatte bereits in den Abendstunden des 31. Dezember 1982 erfahren, dass jenes „Besondere Vorkommnis“ keinen terroristischen Hintergrund befürchten ließ. Selbstverständlich informierte er seinen obersten Dienstherrn und setzte die üblichen Allheilmittel bei allen Abweichungen vom normierten DDR-Alltag ein: Die Zeugen wurden zum Schweigen verpflichtet, alle Informationen über das Ereignis mit der höchsten Geheimhaltungsstufe versehen – kurzum, das Ganze wurde vertuscht. Für den innersten Führungszirkel der SED gab es eine Meldung von dreißig Zeilen. Für einen Tagesordnungspunkt auf der Politbürositzung reichte das nicht.

Doch nun war die Geschichte in der Welt, und der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) meldete: „Die Pressestelle des Ministeriums des Innern weist Falschmeldungen westlicher Agenturen und Presseorgane über einen Verkehrszwischenfall am 31. Dezember 1982 in Klosterfelde, Kreis Bernau, zurück. An diesem Tag war es zu einer schweren Verkehrsgefährdung durch den Fahrer eines Pkw vom Typ Lada gekommen. Nach Feststellung der Volkspolizei stand der Fahrer des Pkw unter starkem Alkoholeinfluss. Eine ärztliche Untersuchung ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,5 Promille. Nach schwerer Gefährdung des Straßenverkehrs war der Pkw-Fahrer den Aufforderungen, die Fahrt zu stoppen, nicht gefolgt, sondern beging Fahrerflucht. Als er durch eine Streife der Volkspolizei gestellt wurde, schoß der Volltrunkene aus einer Handfeuerwaffe. Dabei wurde ein Streifenangehöriger der Verkehrspolizei schwer verletzt. Bevor es gelang, den Täter festzunehmen, beging er mit seiner Schußwaffe Selbstmord.“

Eine derartige Meldung schien geradezu prädestiniert, im täglichen Nachrichtenstrudel unterzugehen. Davon, dass der „Verkehrszwischenfall“ den ersten Mann im Staate betraf, war nichts zu lesen, und gelernte DDR-Bürger stolperten allenfalls darüber, dass einer der ihrigen eine Schußwaffe besessen hatte.

Dass illegaler Waffenbesitz im Lande unnachsichtig verfolgt und rigide bestraft wurde, wusste jeder. Waffen von Jägern und Sportlern unterlagen strengsten Sicherheitsbestimmungen. Die Russen ballerten hin und wieder illegal herum, doch das galt ohnehin als Tabuthema. Allerdings munkelte man über „personengebundene“ Pistolen von SED-Funktionären bis hinunter zu den Kreisleitungen. Was steckte also hinter der merkwürdigen Meldung?

Den „Stern“ bekamen seinerzeit nur wenige DDR-Bürger zu sehen. Den meisten entgingen also auch die Fotos, die in der Zeitschrift abgedruckt waren: von der Straße der Roten Armee in Klosterfelde (mit eingeklinkter Kartenskizze), von der aus einem noblen Pelzkragen blickenden Freundin Paul Eßlings und von dessen geschiedener Frau mit den beiden Kindern am Wohnzimmertisch.

In den Westmedien verschwand die Geschichte recht schnell wieder. Die Konkurrenzblätter wollten offenbar nicht allzu viel Reklame für den „Stern“ machen und beschränkten sich auf kleinere Berichte.

Das Formelle regelte Botschafter Wolfgang Meyer vom DDR-Außenministerium. Am 14. Januar 1983 bestellte er den Korrespondenten Dieter Bub ein, um ihn wegen der „von der Springer-Presse zur Hetze gegen die DDR ausgeschlachteten Falschmeldung” zu rügen. Dass die Illustrierte „Stern“ mit Springer nichts zu tun hatte, überstieg offenbar die Vorstellungskraft der DDR-Funktionäre, die nur eine zentral gesteuerte Presse kannten.

Bub gab zu, gegen die Arbeitsordnung für auswärtige Korrespondenten verstoßen und ohne Genehmigung recherchiert zu haben. Das war schließlich sein tägliches Brot. Informationen über das wahre Leben in der DDR aus dem SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ zu gewinnen gelang nicht einmal seinen östlichen Kollegen. Überdies erwähnte er, die Geschichte vom Attentat sei mehreren Medien unmittelbar nach Neujahr gegen Geld angeboten worden.

Auf dem üblichen Dienstweg informierte Botschafter Meyer das „Große Haus“, und Hausherr Erich Honecker entschied kurzerhand, den unangenehm aufgefallenen Journalisten hinauszuwerfen. Zwei Stunden nach der ersten Unterredung teilte Meyer Bub den Entzug seiner Akkreditierung mit. Er habe die DDR „auf Grund grober Verletzungen der gesetzlichen Bestimmungen, wegen wahrheitswidriger und verleumderischer Berichterstattung” zu verlassen. Das war keine sonderlich dramatische Sanktion, denn Bub war bereits der vierte westdeutsche Korrespondent, den ein solches Verdikt traf.

Spurensuche in der märkischen Provinz

Das Holzverarbeitungswerk mit seiner seit Anfang der 1950er-Jahre betriebenen Produktion beliebter Küchenmöbel gibt es schon lange nicht mehr, und auch an die frühere Groß-LPG Pflanzenproduktion mit über 4000 Hektar Land von Schönerlinde bis Zerpenschleuse, Agrochemischem Zentrum und großem Kartoffellagerhaus erinnern sich nur noch die Alten. Klosterfelde ist ein 3000-Seelen-Ort wie hundert andere rund um Berlin. Das alte märkische Angerdorf gehört inzwischen zur Gemeinde Wandlitz.

Aus der dort gelegenen und streng bewachten „Waldsiedlung“ rauschten früher die beiden großen Citroën CX Prestige auf der F 109 durch Klosterfelde, wenn Erich Honecker in die Schorfheide zur Jagd fuhr. Der SED-Chef hatte dieses „Spitzenerzeugnis der französischen Industrie“ – so der zufriedene Nutzer drei Wochen, nachdem die DDR am 8. Juli 1978 mit Frankreich ihr bis dahin größtes Joint Venture über den Bau eines Pkw-Gelenkwellenwerks in Mosel abgeschlossen hatte – von Citroën-Generaldirektor Raymond Ravenel geschenkt bekommen. Seine Politbüro-Genossen fuhren derweil jene Volvo 264 TE (Top Executive), die die DDR-Staatsführung bei dem Turiner Autohersteller Bertone mit einem um siebzig Zentimeter verlängerten Radstand erworben hatte. Auch das Stasi-Begleitkommando nutzte – wenn auch in kleinerer Ausführung – die kantigen Autos aus Schweden.

Derartige Nobelkarossen sind heute auf der Straße durch Klosterfelde nicht mehr zu bestaunen. Daran, dass auch damals dafür nie viel Zeit blieb, erinnert sich ein ehemaliger Volkspolizist: „Die sind hier immer nur durchgerast. Wir hatten da nichts zu melden.“ Und auch, dass eines der auf der Ostseite der Bahnlinie nach Berlin stehenden bungalowartigen Wochenend- und Wohnhäuser mal jenem Mann gehört hatte, der am Silvester 1982 starb, wissen nur noch wenige.

In einem der ältesten und dürftigsten Häuser an der Dorfstraße wohnte die Mutter des angeblichen Attentäters Paul Eßling. Dessen hinterbliebener Sohn Ralf lebte auf dem weitläufigen väterlichen Anwesen. Man unternahm damals keinen Versuch, den anfangs nicht einmal Volljährigen von dort zu vertreiben. Lange noch fuhr er das zur Straftat benutzte Kraftfahrzeug, das man ihm mit zersplitterter Türscheibe und ohne den Schonbezug des Fahrersitzes zurückgegeben hatte.

Die meisten der Zeugen, die die Stasi am Silvesterabend 1982 und in den Tagen danach vernommen hatte, wohnten auch nach dem Ende der DDR noch am Ort. Dasselbe gilt für den Arzt, der den Tod des Ofenbaumeisters Paul Eßling festgestellt hatte. Der Mediziner, der gut über seinen Nachbarn informiert war, wurde in einem „Operativen Vorgang“ unter dem Decknamen „Landarzt” überwacht. Informationen über ihn sammelte unter anderem der inoffizielle Mitarbeiter (IM) „Hans Berger”, der überdies CDU und Kirche im Ort bespitzelte.

Paul Eßling, ein Vierteljahr vor seinem 43. Geburtstag auf so schreckliche Weise ums Leben gekommen, galt als ehrgeiziger Eigenbrötler. Aufgewachsen war er auf dem großväterlichen Grundstück im Ort. Seinen Vater lernte er erst kennen, als der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte. Da war Paul schon fast neun Jahre alt. Die Ehe der Eltern wurde geschieden, und der Junge geriet vollständig unter den Einfluss von Vater und Großvater. Beide waren Handwerksmeister alter Schule, hart zu Untergebenen, Frauen und Kindern, dabei arbeitsam und trinkfest. Paul wurde wie sie.

Als Paul Eßlings eigene Ehe im Herbst 1981 geschieden wurde, zog die Frau mit den beiden Töchtern nach Berlin. Der 15-jährige Ralf blieb beim Vater, der zunehmend in eine tiefe Lebenskrise geriet, aus der er keinen Ausweg fand.

Paul Eßlings Urne ruht heute auf dem kleinen Friedhof an der Dorfkirche. Die von der Mutter geforderte Erdbestattung war damals nicht zugelassen worden. „Sie haben mir den Jungen erschossen!“ Das blieb ihre feste Überzeugung über all die Jahre, in denen man nur hinter vorgehaltener Hand über den Tod von Paul Eßling sprach. Niemand sagte ihr eindeutig, was wirklich geschehen war.

Zur Urnenbeisetzung Anfang Februar 1983 durfte nicht einmal eine Traueranzeige erscheinen. Keinerlei Aufsehen erregen, lautete Mielkes eindeutiger Befehl. Davon hatte es in den westlichen Medien schon mehr als genug gegeben. So blieben nur die Gerüchte – wie jenes, in der Asche Paul Eßlings läge noch die Kugel, als hätte nicht einmal eine Obduktion stattgefunden.

Dabei waren schon damals, 1983, alle an den Untersuchungen Beteiligten der Ansicht, dass jede Geheimniskrämerei in dieser Sache völlig unnötig, ja schädlich wäre. Schließlich seien alle Ermittlungen unter strenger Beachtung der gesetzlichen Vorschriften durchgeführt worden. Ein Sektionsprotokoll wurde angefertigt, es gab die Vernehmungsprotokolle der Zeugen und die Tatortuntersuchungen. Nur eine Anklage wurde nie erhoben. Denn der Beschuldigte war tot.

Die „Repräsentantenfahrt“

Sieben Jahre später neigte sich die Geschichte der DDR ihrem Ende zu. Statt an die Vergangenheit dachten die Menschen an die Zukunft. Für das Konvolut von vier säuberlich gebundenen Akten im Archiv des noch amtierenden Militäroberstaatsanwalts der DDR, Generalmajor Gierke, interessierte sich niemand, denn was in jenen Monaten an Stasi-Geschichten ans Licht kam, schien viel spannender.

Dabei klang schon der Kurztitel des Aktenpakets so ganz anders, als es die Gerüchte ein paar Jahre zuvor hätten erwarten lassen: „Todesursachenuntersuchung Paul Eßling – Bericht über den Abschluss der Untersuchung zum versuchten Mord an dem Angehörigen des MfS, Oberleutnant L., Rainer, am 31. 12. 1982 während seines Dienstes zur Absicherung einer Repräsentantenfahrt Ortslage Klosterfelde / Bernau und damit unmittelbar in Zusammenhang stehende Todesermittlungssache Eßling, Paul.“

Es ging also um einen „versuchten Mord“ an einem Stasi-Mitarbeiter. Und was war eigentlich eine „Repräsentantenfahrt“?

Letzteres lässt sich schnell klären. Die „Gleicheren unter den Gleichen“ im Arbeiter- und Bauernstaat wurden im SED-Kaderwelsch nicht Volksvertreter, sondern Repräsentanten genannt. Ließen sie sich irgendwohin bewegen, ganz egal, ob zum Staatsakt oder zum Freizeitvergnügen, war das eine Repräsentantenfahrt. Doch warum und wie sollte bei solch einer Kurzreise jemand ermordet werden, und wer war der darin verwickelte Repräsentant?

Eine Rekonstruktion. Der letzte Tag im Leben des Paul Eßling, ein Freitag, an dem, wenn überhaupt, nur bis mittags gearbeitet wurde, war ein trüber, schneeloser Wintertag. Am Vormittag hatte Paul seine Mutter aus ihrem Häuschen im Dorf abgeholt. Sie bereitete in der Küche des komfortablen Flachbaus am Wald, in dem ihr Sohn wohnte, das Mittagessen vor: Kartoffelsalat, wie der ihn liebte. Paul hatte seine Beziehungen zum Fleischer genutzt und dazu Filet besorgt. Sein 16-jähriger Sohn Ralf war unterdessen mit dem Moped ins Nachbardorf gefahren, um ein Stündchen auf seinem Pferd zu reiten, während der rastlose Meister selbst wie gewohnt in seinem weiträumigen Werkstatt- und Lagergebäude herumwerkelte.

Gegen 11.30 Uhr erschien Paul im Haus, um zu telefonieren. Dann verschwand er, ohne ein Wort zu sagen. Seine Mutter hörte den Wagen davonfahren. Sie wunderte sich nicht darüber, sie kannte ihren Sohn. Als der Enkel vom Reiten heimkehrte, trug sie das Essen auf.

Etwa zur selben Zeit setzten sich in der Liebermannstraße in Berlin-Weißensee zwei kräftige junge Männer um die dreißig in einen Volvo 164 E. Beide trugen die grünen Uniformen und weißen Mützen der Volkspolizei (VP). Vielleicht waren sie ein wenig sauer, ausgerechnet Silvester Dienst schieben zu müssen, aber als Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) waren sie militärische Disziplin gewohnt. Auch die Verkleidung war nichts Neues für die beiden. Sie versahen an diesem Tag den „Sicherungsdienst der Verkehrspolizei im Rahmen des Personenschutzes führender Repräsentanten von Partei und Regierung“. Ihr Dienstauftrag lautete, die Fahrt des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, von Wandlitz aus in Richtung Schorfheide zu begleiten. Der erste Mann im Staate wollte zum Jahresausklang noch ein bisschen seinem liebsten Hobby frönen, der Jagd.

Unter dem Kommando von Oberst Rudolf Knaut waren in der Abteilung 7 (Nahsicherung) der Hauptabteilung Personenschutz im MfS insgesamt 300 Mann ausschließlich für derartige Schutzaufgaben vorgesehen. Die beiden „Verkehrspolizisten“ gehörten zur Unterabteilung 2 (Personensicherung Honecker, Stoph und Sindermann).

Pünktlich um 13.00 Uhr schloss sich der Volvo am Tor der Waldsiedlung als „Nachläufer“ den beiden Citroën an, dem „Hauptwagen“ und dessen Begleitfahrzeug, dem „Kommandowagen“, der auch als Funkzentrale fungierte. In Wandlitz bog die kleine Kolonne auf die F 109 nach Norden ab, durchfuhr mit den üblichen neunzig Stundenkilometern den Ort, in dem laut Straßenverkehrsordnung wie überall in geschlossenen Ortschaften Tempo fünfzig erlaubt war, und näherte sich der nächsten Kreuzung. Von links, aus Richtung Stolzenhagen, kam ein dunkelgrüner Lada heran, hielt am Stoppschild kurz an und bog unmittelbar vor dem Hauptwagen auf die F 109 ein. Die „Sicherungsfahrt“ musste „sehr stark abbremsen“, wie in den Akten vermerkt wurde, dann überholten die beiden Citroën den Lada 1300 ohne Schwierigkeiten, während der Volvo hinter ihm blieb.

Möglicherweise warf der „führende Repräsentant“ in diesem Augenblick einen Blick auf den Fahrer des Autos, der verkrampft hinter seinem Lenkrad saß und vergeblich versuchte, das Tempo mitzuhalten. Für seine Personenschützer war alles in Ordnung, sie hatten die wichtigste Regel befolgt: Der Konvoi musste rollen und durfte sich durch keinen Zwischenfall aufhalten lassen. Trotzdem sollte auf die „Personifizierung und Abstrafung“ des Verkehrsrowdys im Lada nicht verzichtet werden. Seitdem am 14. September 1973 Georg Ewald, Politbüro-Kandidat und Landwirtschaftsminister in Thüringen, bei solch einer Kolonnenfahrt tödlich verunglückt war, herrschten strengste Bestimmungen für derlei Zwischenfälle.

So erhielt der Kommandant des Volvo, Oberleutnant Rainer L., ein ehemaliger Betonbauer, aus dem Kommandowagen per Funk die Anweisung, den Lada zu stoppen. Sein Kraftfahrer, Oberleutnant Horst H., schaltete Blaulicht und Sirene ein und versuchte, den Lada zu überholen. Der drängte nach links. Oberleutnant L. wies aus dem geöffneten Fenster mit dem schwarz-weißen Regulierstab unmissverständlich nach rechts.

Die beiden Citroën waren längst vorbei und weit voraus. Der Lada-Fahrer unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, schneller zu sein als die vermeintliche Polizei. Starren Blicks überholte er den Volvo rechts mit ungefähr neunzig Stundenkilometern.

„Der ist doch besoffen!“, sagte L. zu seinem Fahrer. Der setzte erneut zum Überholen an. Ein in Gegenrichtung fahrender Trabant schaffte es gerade noch, auf den unbefestigten Randstreifen auszuweichen.

Das ungleiche Wettrennen endete hinter den ersten Häusern von Klosterfelde. Ein entgegenkommender Lkw, der auf das Sondersignal hin hielt, versperrte die Hälfte der Fahrbahn und nahm dem Lada jede Fluchtmöglichkeit. Der Wagen kam anderthalb Meter hinter dem Volvo zum Stehen, in dem Horst H. mit laufendem Motor und eingelegtem Gang wartete, um einem eventuellen Auffahrunfall zu entgehen.

Rainer L. stieg aus und bedeutete dem Lkw-Fahrer, er könne weiterfahren. Dann ging er auf den Lada zu. „Was soll denn das hier werden?“, rief er. Er war sicher, es mit einem Betrunkenen zu tun zu haben. Immerhin war Silvester.

Der Lada-Fahrer, mittelgroß und mit einer schwarzen Lederjacke bekleidet, war ebenfalls ausgestiegen und stand hinter der Fahrertür seines Wagens.

High Noon auf der Straße der Roten Armee

12.00 Uhr mittags war seit gut einer Stunde vorbei, doch die sprichwörtliche High-Noon-Spannung lag in der Luft, als plötzlich das Unerwartete geschah: Der Mann aus dem Lada griff unter seiner Jacke zur Hüfte, zog eine Pistole und schoss.

L. spürte einen stechenden Schmerz in der linken Brusthälfte und wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Sein Kollege und Genosse Horst H., ausgebildet für alle Situationen, die beim „Schutz von Repräsentanten“ auftreten könnten, hielt im ersten Augenblick nicht für möglich, was sich da wenige Meter von ihm entfernt abspielte. Er zog seine 9-mm-Makarow und lud durch. Noch im Aussteigen begriffen und ohne über das Visier zu zielen, schoss er zweimal am Mittelholm des Volvo vorbei auf den Mann, der gebückt hinter der Lada-Tür stand und mit seiner Pistole hantierte. Die Türscheibe splitterte. Der Mann in der Lederjacke hob wiederum seine Waffe, in Kopfhöhe diesmal, zielte auf die eigene Schläfe und schoss ein zweites Mal. Dann brach er neben dem Hinterrad seines Autos zusammen.

Mit der Waffe in der Hand näherte sich Horst H. vorsichtig dem am Boden Liegenden und stieß dessen Pistole mit dem Fuß zur Seite. Erst als er sicher war, dass der Mann handlungsunfähig war, steckte er seine Makarow ein.

Inzwischen war Oberleutnant L. zum Dienstfahrzeug gewankt. „Das Schwein hat mit Platzmunition geschossen, das drückt!“, sagte er gepresst. Der Schmerz über dem Herzen verstärkte sich. Erst als er im Auto saß, entdeckte er das Blut auf seiner Uniform. Er setzte einen Funkspruch an die Zentrale ab und forderte einen Rettungswagen an.

Oberleutnant Horst H. kümmerte sich um den Mann auf der Fahrbahn, brachte ihn in eine stabile Seitenlage, wie er es gelernt hatte, und legte ihm den Sitzbezug aus dem Lada unter den Kopf. Eine Krankenschwester, die angehalten hatte, um zu helfen, machte ihm klar, dass der Mann, dessen Blut in breitem Strom über die Straße rann, tot war.

Auch der Fahrer des Lkw S 4000 und sein Sohn waren hinzugetreten. Angeblich hatten sie bei laufendem Motor die Schüsse nicht gehört, wohl aber beim Blick nach hinten den Lada-Fahrer zusammenbrechen sehen. Anwohner, die sich anfangs weder über das gewohnte Sondersignal noch über das Knallen am Silvestertag gewundert hatten, kamen aus den nahen Häusern. Es war ungefähr 13.10 Uhr. Eine Stunde später wurde Oberleutnant Rainer L. mit einem Lungendurchschuss drei Zentimeter über dem Herzen in die MfS-Klinik Berlin-Buch eingeliefert. Sein linker Lungenflügel war zusammengefallen, aus dem Rippenfellraum mussten 800 Milliliter Blut entfernt werden. Sein Zustand war ernst, besserte sich aber rasch.

Erst gegen 15.30 Uhr traf die Untersuchungskommission der Staatssicherheit am „Ereignisort“ ein, an dem nichts verändert worden war. Noch immer lag der Tote unter einer Decke neben seinem Pkw. Über die Identität bestand kein Zweifel. Jeder im Ort kannte den Handwerksmeister Paul Eßling und seinen grünen Lada. Der herbeigerufene Mediziner war Eßlings behandelnder Arzt und Nachbar. Ohne die Leiche unter der Decke vollständig zu untersuchen, diagnostizierte er den Tod durch einen Kopfschuss und stellte den Totenschein aus.

Die Tatortuntersuchung

Alle Ermittlungen und Untersuchungen wurden von Anfang an „zuständigkeitshalber“ von den Kriminalisten und Juristen der Spezialkommission der Hauptabteilung Untersuchung des MfS geführt. Intern hieß der Bereich, dem die Aufklärung aller „öffentlichkeitswirksamen“ Ereignisse und schweren Straftaten zufielen, Vorkommnisuntersuchung. Er war für die kriminalistischen Untersuchungen etwa bei Flugzeug- und Eisenbahnunglücken, spektakulären Kindesmorden oder Straftaten zuständig, von denen „Repräsentanten” betroffen waren.

In Klosterfelde, wo die vielbefahrene F 109 von der Volkspolizei seit Stunden großräumig abgesperrt war, lautete der Befehl, alle Untersuchungen am Ereignisort in kürzester Frist abzuschließen, um das entstandene Verkehrschaos so rasch wie möglich abzubauen. Inzwischen sprach bereits die ganze Gegend von der Schießerei.

Die Kriminalisten des MfS fanden in unmittelbarer Nähe des Volvo zwei 9-mm-Hülsen aus der Makarow von Horst H. Eine nicht abgeschossene 7,65-mm-Patrone lag drei Meter vom Kopf des Toten entfernt auf der Fahrbahn. Eine leere 7,65-mm-Hülse hatte der Tote in der Jackentasche, eine zweite wurde am nächsten Tag nach aufwendigen Sucharbeiten mit Metalldetektoren am gegenüberliegenden Straßenrand gefunden. Deren Projektil steckte in der Oberbekleidung des verletzten Oberleutnants, wie sich herausstellte.

Man brachte die Leiche Paul Eßlings in den Hof des nächstgelegenen Hauses an der heutigen Berliner Chaussee. Von dort wurde sie am Abend zur gerichtsmedizinischen Untersuchung abtransportiert. Zwei Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr standen bereit, um sofort nach dem vorläufigen Abschluss der Untersuchungen – inzwischen war es längst dunkel – die Fahrbahn zu reinigen.

Aus kriminalistischer Sicht war das eine Fehlentscheidung. Wohl deshalb wurden die zweite 7,65-mm-Hülse und das zweite Projektil niemals gefunden. Ungeklärt blieb vorerst auch der Verbleib eines der beiden Makarow-Geschosse. Später gaben die beiden Zeugen im Lkw dazu einen Hinweis: Die Ladeklappe ihres S 4000 wies eine einen halben Zentimeter tiefe Mulde wie von einem Geschoss auf.

Drei Anwohner an der Straße wurden noch am Silvesterabend in Wandlitz vernommen. Zwei hatten gesehen, dass der Lada-Fahrer zuerst auf den Verkehrspolizisten geschossen hatte, bevor er seine Waffe gegen die eigene Schläfe richtete. Die Zeugenaussagen widersprechen sich allerdings, was die Anzahl der Schüsse betraf.

Als ein Berliner Journalist mehr als elf Jahre später die Zeugen, darunter auch die Insassen des Lkw, noch einmal befragte, wollten nicht mehr alle zu ihren damaligen Aussagen stehen. Grund genug für die Staatsanwaltschaft in Neuruppin, erneut Ermittlungen im Fall Paul Eßling aufzunehmen, weil sie nun davon ausging, die Staatssicherheit habe seinerzeit Druck auf die Zeugen ausgeübt.

Das ist insbesondere hinsichtlich der ersten Vernehmungen am Silvesterabend unwahrscheinlich. Die Zeugen schilderten unabhängig voneinander, dass Eßling zuerst geschossen und später die Waffe gegen sich selbst gerichtet habe. Ein Versuch, die Zeugen zu beeinflussen, wäre auch logisch nicht erklärbar. Die Stasi musste ihren noch unter Schock stehenden und bis dahin nicht vernehmungsfähigen Oberleutnant des Personenschutzes nicht vor dem viel später im Raum stehenden Vorwurf bewahren, er hätte „einen Amokschützen und potenziellen Mörder hingerichtet“. Und hätte Horst H. nach einem aufgesetzten Nahschuss – der wurde im Nachhinein für möglich gehalten – unter den Augen der Zeugen seiner Tat die Leiche in die stabile Seitenlage gebracht und ihr den Schonbezug unter den Kopf gelegt? Die Aussagen von H., der erst am 6. Januar 1983 aktenkundig vernommen wurde, und Rainer L., dessen Vernehmung sogar erst am 2. Februar erfolgte, stimmten, abgesehen von geringfügigen Details, überein.

Wie nicht anders zu erwarten, verpflichtete die Staatssicherheit alle Zeugen zu absoluter Verschwiegenheit über den Vorfall. Paul Eßlings Mutter erfuhr erst am Neujahrstag vom Tod ihres Sohns. Am Silvesternachmittag hatte sie der Enkel, der noch keinen Führerschein besaß, auf Schleichwegen zu ihrem nur wenige Hundert Meter vom Ereignisort entfernten Haus direkt an der F 109 gefahren. Abends tauchte zweimal die Volkspolizei jeweils in Begleitung eines Zivilisten bei ihr auf. Beim ersten Besuch erkundigte man sich, ob sie ihren Reisepass bereits verlängert habe – als Rentnerin durfte sie mit diesem Dokument in den Westen fahren – und welche Westkontakte sie besitze. Der zweite Besuch galt ihrem Enkel. Doch der feierte bei Freunden im Nachbarort Silvester. Die Schießerei am Ortseingang von Klosterfelde war auch dort das beherrschende Thema. Erst als er nachts gegen 2.30 Uhr heimkehrte und die Untersuchungskommission im Hause antraf, erfuhr er, dass es sich bei dem Toten um seinen Vater handelte.

Das Sektionsprotokoll

Am Neujahrstag 1983 begann um 10.00 Uhr morgens an der Militärmedizinischen Akademie Bad Saarow unter Aufsicht des Militärstaatsanwalts Oberstleutnant Möller die Sektion der Leiche des Paul Eßling. Oberst Medizinalrat Professor Dr. sc. med. Schmechta, Leiter des Instituts für Gerichtliche Medizin, nahm sie selbst vor.

Der mit einer Fotodokumentation versehene ausführliche Leichenöffnungsbericht klärte die Todesursache eindeutig. Da er in diesem Fall das wichtigste Dokument ist, sei er hier, trotz der schwer verständlichen Mediziner-Sprache, ausführlich zitiert:

Die Leichenöffnung des E. ergab Befunde einer Schußverletzung des Kopfes und einer Schußverletzung des Rumpfes in Höhe des Beckens. Bei der Kopfschußverletzung befindet sich der Einschuß in der rechten Schläfenregion oberhalb des oberen Ohrmuschelrandes und ist der Ausschuß links der Kopfmitte lokalisiert. Das Geschoß hat den Schädel in Querrichtung und unter einem geringgradig ansteigenden Winkel durchsetzt. Die Einschußverletzung wies die Zeichen eines sog. absoluten Nahschusses auf (Waffe der Hautoberfläche aufgesetzt bzw. Schußentfernung bis 0,5 cm). Eine außergewöhnlich starke Beschmauchung war in der Umgebung der Schädeleinschußöffnung und an der harten Hirnhaut darunter ausgeprägt. Bei der zweiten Schußverletzung handelt es sich um einen Durchschuß des Körpers von der rechten Unterbauchregion zur linken Gesäßseite mit einem geringen Winkel nach unten (Schußrichtung gering absteigend gegenüber der Horizontalen). Nahschußzeichen waren mit bloßem Auge nicht nachweisbar. Todesursache des E. ist die Schußverletzung des Kopfes infolge der Hirngewebszerreißungen und der Schädelknochenberstungsbrüche.

Beim Entkleiden des Toten fand sich in seiner Turnhose das 9-mm-Projektil der Makarow. Es handelte sich mit großer Wahrscheinlichkeit um dieselbe Kugel, die vorher die Scheibe des Lada durchschlagen hatte. Weiter verzeichnete die Sektionsdiagnose:

Schußverletzung des Kopfes: Beschriebene Einschußverletzung der rechten Schläfenregion 5,5 cm oberhalb des oberen Ohrmuschelansatzes (166 cm oberhalb der Fußsohle). Feiner sog. Schmutzsaum der Wundränder. Zeichen des absoluten Nahschusses: Ausbildung einer Pulverschmauchhöhle mit verstreuten grauschwärzlichen Pulverschmauchablagerungen unter der Hautoberfläche, unter dem Muskelüberzug des rechten Schläfenmuskels und zwischen den Muskelfasern desselben. Die 1 cm breite grauschwarze Beschmauchung in der Umgebung der Knocheneinschußlücke. Rötliche Verfärbung der Muskelfasern des rechten Schläfenmuskels um den Schußkanal. Pfennigstückgroße grauschwarze Beschmauchung der harten Hirnhaut unter der Schädeleinschußöffnung. Handtellergroße frische dunkelrote Kopfschwartenblutung der Stirn- / Scheitelregion. Längsovale 1,5 cm mal 0,8 cm große Einschußverletzung des Schädels am vorderen oberen Rand der rechten Schläfenbeinschuppe. Trichterartige Erweiterung nach innen. Fetzige, etwa 3 cm Zerreißung der harten Hirnhaut unter der Einschußöffnung. Von der Schädeleinschußöffnung strahlig ausgehende Schädelbrüche in Richtung des rechten Stirnbeinhöckers, zur Scheitelmitte und zum rechten Scheitelbeinhöcker sowie in Kopflängsrichtung zur rechten Hinterhauptseite … Vereinzelte frische rote Punktblutungen in der Umgebung der Hirnschußverletzung … Etwa 3 cm mal 3,5 cm große Schädelknochenausschußverletzung an der Stirnbein-Scheitelbeingrenze links der Pfeilnahtkreuzung. Trichterförmige Erweiterung der Knochenlücke nach außen (Durchmesser an der inneren Knochentafel etwa 2 mal 2 cm). Von der Knochenausschußverletzung ausgehende strahlig angeordnete Schädelberstungsbrüche … Heraussprengung von 2 jeweils etwa 5 mal 5 cm großen Scheitelbeinfragmenten am Hinterrand der Knochenausschußöffnung. Zerreißung der harten Hirnhaut unter der Schädelausschußöffnung. Beschriebene Ausschußverletzung der Kopfschwarte links hinter der Kopfmitte 12 cm oberhalb der linken Augenbraue (169 cm oberhalb der Fußsohle).

Schußverletzung des Rumpfes: … Einschußverletzung des rechten Unterbauches (94 cm oberhalb der Fußsohle) … Schußverletzung der rechten äußeren Hüftschlagader von ovalärer Gestalt und etwa 0,6 mal 0,8 cm Durchmesser … Zerreißung der Hinterwand der Harnblase mit etwa 2 cm mal 3 cm großer Eröffnung der Harnblase. Geronnenes Blut in der Harnblase. Schußkanal durch die linken inneren Hüftmuskeln am Unterrand des linken Darmbeines und durch die linksseitige Gesäßmuskulatur. Ausschußverletzung der Haut der linken Gesäßhälfte 86 cm oberhalb der Fußsohle.

Allgemeines stärkeres Hirnoedem. Deutliche Blutarmut der inneren Organe. Wenig flüssiges Leichenblut. Stärkere netzartige Kohlefarbstoffablagerung unter dem Lungenfell beider Lungen. Verfettung der Leber.

Eine sogenannte Stanzmarke vom Aufsetzen der Waffe in der rechten Schläfenregion fehlte. Auch an der 7,65-mm-Waffe waren keine Hautpartikel oder andere direkte Spuren eines aufgesetzten Nahschusses festzustellen.

Ob auch die Makarow-Pistole auf solche Spuren untersucht wurde, geht aus dem Protokoll nicht hervor. Es fand jedoch eine eingehende Untersuchung der Schussspuren statt, bei der die Schmauchelemente Antimon, Blei und Kupfer unter der Haut des Schläfenlappens und an der (rechten) Schusshand Eßlings nach der atomabsorptionsspektrofotometrischen Methode bestimmt und verglichen wurden. Das Gewichtsverhältnis der Blei- und Kupferspuren an der Einschussstelle stimmte mit denen der Wischspuren von Eßlings rechter Hand überein. Daraus ergab sich laut Gutachten zweifelsfrei der Nachweis eines absoluten Nahschusses, den E. sich selbst beigebracht hatte.

Die „Stern“-Story und ihre Schwächen

In Klosterfelde und Umgebung begannen in den ersten Januartagen 1983 intensive Nachforschungen der Staatssicherheit, insbesondere im weitverzweigten Kunden- und Bekanntenkreis des Handwerksmeisters. Man war bemüht, „Umfeld und Motivation des Attentäters“ und die Herkunft der Waffe aufzuklären. Diese Ermittlungen waren nach gut einer Woche in den wesentlichen Punkten abgeschlossen. Dass inzwischen die Gerüchteküche brodelte und die Legende vom Attentat selbst den Berliner Pfarrer Rainer Eppelmann erreicht hatte, wusste die Stasi ebenfalls. Wichtigtuerische Informanten schrieben sich die Finger wund – in den Akten findet sich so manch unterhaltsames Schriftstück.

Überraschenderweise hatte jedoch, unbemerkt vom MfS, zur selben Zeit noch jemand in Klosterfelde, Wandlitz und Stolzenhagen recherchiert. Der Mann aus Berlin war in einem unauffälligen Wagen mit DDR-Kennzeichen aufgetaucht und fündig geworden: „Stern“-Korrespondent Dieter Bub, dem ein Ortsansässiger eine Information über den ungewöhnlichen Zwischenfall zugespielt hatte. Zum Erstaunen der Westmedien und zum grimmigen Ärger der DDR-Oberen konnte Bub mit echten Fotos des vermeintlichen Attentäters, seiner Familie, seines Hauses und seiner Freundin aufwarten. Auch trat er Einzelheiten aus dem Familienleben des unglücklich Geschiedenen breit, die in Klosterfelde die Spatzen von den Dächern pfiffen.

Der Westkorrespondent, der sich ohne Genehmigung des Außenministeriums auf verbotenem Terrain bewegte und sein Risiko kannte, kam an die tatsächlichen Augenzeugen nicht heran. Der „Stern“ schmückte deshalb seine fünfseitige Titelstory mit allerlei erfundenen Details aus. „Die anderen Stasi-Männer reißen ihre Kalaschnikows hoch …“, heißt es da etwa. Ein Foto des angeblichen Tatorts und die bereits erwähnte fantasievolle Zeichnung, auf der Eßlings Lada von zwei Volvos in die Zange genommen wird, während ein dritter Bewachungswagen und ein Polizeifahrzeug zu Honeckers Citroën aufschließen und weiterrasen, gehören dazu. Selbst die vermeintlichen Wagenspuren der Aktion entdeckte Bub auf dem unbefestigten Randstreifen vor dem Haus Berliner Chaussee 5. Das lag allerdings 200 Meter vom Ereignisort entfernt, die Reifenspuren stammten von den Absperrfahrzeugen.

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, wohl nicht ganz ohne Neid auf Bubs waghalsige Recherchen, zweifelte die Darstellung des Kollegen an:

„In diesem Moment [in dem Paul Eßling auf das Ende des Honecker-Konvois stieß, J. E.]“, folgert Stern-Bub, „muß den Ofensetzer aus Klosterfelde die kalte Wut gepackt haben.“ Sein einziger Beleg: Eßling habe nach Aussagen von Bekannten häufig „unbeherrscht auf Honecker und die SED-Regierung geschimpft. Wenn er nur könnte, wollte er es denen schon zeigen“ – ein Indiz, an dem gemessen es in der notorisch unzufriedenen DDR-Bevölkerung von potenziellen Attentätern nur so wimmeln müßte. Der Stern weiß noch mehr. Zwar saß Eßling nach Bubs Schilderung allein im Auto, doch der Leser ist Live dabei: „Ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen, holt er seinen Revolver aus dem Handschuhfach und entsichert ihn.“ Ob Eßling es Honecker tatsächlich zeigen wollte oder ob der Amok-Fahrer aus privatem Kummer einfach durchdrehte und, als er gestoppt wurde, den ersten besten anschoß, bevor er sich selbst umbrachte, oder ob er in einer Kurzschlußhandlung in jedem Fall Selbstmord begehen wollte – das wußte in Wahrheit Eßling allein. In der SED zirkuliert noch eine andere Version: Danach tötete Eßling möglicherweise nicht sich selbst, sondern wurde von Sicherheitsbeamten erschossen; unsinnig ist in jedem Fall die Stern-Behauptung, der Staatsratsvorsitzende sei „nur knapp einem Attentat entkommen“.

Auch Marlies Menge, von 1978 bis 1990 für die Wochenzeitung „Die Zeit“ in Ost-Berlin, machte sich so ihre Gedanken. Am 14. Januar 1983 schrieb sie in ihrem Blatt: „Ein Ofensetzer, so hieß es, sei es gewesen. Er habe seine Öfen bei Mitarbeitern von Honecker gesetzt und sich über den üppigen Lebensstil der hohen Genossen geärgert.“ Zutreffend stellt sie fest: „Zunächst wurde über das Motiv gestaunt: Ein Handwerker, der sich über das Wohlleben anderer aufregt! Egal, ob ein Handwerker einen privaten Betrieb hat, mit staatlicher Beteiligung arbeitet oder in einer staatlichen Produktionsgemeinschaft – jeder in der DDR weiß, daß es Handwerkern nicht schlecht geht.“ Und dann äußerte die Journalistin einen Gedanken, der eigentlich auf der Hand lag: „Wenn ihn das gute Leben seiner Auftraggeber wirklich so empört hat, warum hat er dann nicht einen Sprengsatz in einem der Öfen montiert, fragte man sich. Das hätte immerhin mehr Aussicht auf Erfolg gehabt als ein Attentat auf offener Straße.“

Attentat oder nicht – Mielkes Firma wurde nach der „Stern“-Veröffentlichung erst richtig aktiv in Klosterfelde. Angeblich wurden zeitweilig sogar die Telefonverbindungen nach Berlin unterbrochen, doch dabei konnte es sich auch um eine normale Störung im überalterten Telefonnetz der DDR-Post handeln. Jedenfalls war die Staatssicherheit fieberhaft bemüht, Bubs Informanten ausfindig zu machen. Aber nicht einmal die eigenen IM, die es in der Gegend um Wandlitz noch reichlicher gab als anderswo in der DDR, brachten Klarheit in die Angelegenheit. Man vernahm ein Dutzend Leute, doch keiner wusste etwas. Nur eine Frau wollte einen „West-Wagen“ im Ort gesehen haben.

In seiner nächsten Ausgabe vom 18. Januar – Bub war seit Tagen aus der DDR ausgewiesen – schob der „Stern“ noch einmal nach, allerdings nur auf Seite 124: Neue Fakten, neue Fotos – diesmal von einem Flensburger Verwandten der Familie Eßling, Immo Sch., beigesteuert. Von seinen Besuchen bei Paul Eßling wusste Sch. zu berichten, der sei ein höchst eigensinniger Mensch und überdies ein Waffennarr gewesen, keinesfalls jedoch ein Alkoholiker. Ein Attentäter mit 2,5 Promille (die wies ein nach dem gaschromatografischen Verfahren gewonnenes Gutachten dem Toten nach) machte offenbar nicht so viel her wie einer, der aus Zorn auf das Regime zur Waffe griff.

Ob ein geübter Schütze auch oder gerade in diesem Zustand sein Ziel zu treffen vermag, steht auf einem anderen Blatt. Paul Eßling war jedenfalls ein ausgezeichneter Schütze. Die zahlreichen Schießscheiben in seinem Haus bewiesen es, und die GST, die vormilitärische „Gesellschaft für Sport und Technik“, in Klosterfelde bestätigte es den Ermittlern von der Staatssicherheit.

Paul Eßling – ein Mann mit Problemen

Im Ort wusste jeder, was Immo Sch. und der „Stern“ nicht wahrhaben wollten: Paul Eßling hatte getrunken. Und auch die Stasi wusste es. Bereits am 24. Januar 1982 hatte man ihm in Berlin nach einer Verkehrskontrolle die Fahrerlaubnis entzogen. Er hatte mit einem Blutalkoholgehalt von 1,9 Milligramm pro Liter die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 19 Stundenkilometer überschritten. Doch der Mann wusste sich zu helfen. Wozu hatte man schließlich gute Bekannte bei einer gewissen Firma? Mit einem Ofensetzer, der noch dazu das nötige Material besorgen konnte, wollte es sich niemand verderben. Ein Kamin für die „Datsche“ war der Gipfel kleinbürgerlichen Wohlstands, und Paul Eßling nutzte das.

Deshalb wandte er sich an Hauptmann T. von der MfS-Kreisdienststelle Bernau, der wiederum den Genossen St. von der HA VII/1, verantwortlich für die Offiziershochschule der VP in Biesenthal, so gut kannte, dass er ihn um Unterstützung angehen konnte. Eine Hand wusch nun mal die andere. Der stellvertretende Leiter der Kreisdienststelle bat die H VII/1, das bei der VP-Inspektion Pankow anstehende „Verfahren gegen Eßling, Paul … einzuziehen und uns zur operativen Nutzung zu übersenden“. Einem solchen Wunsch der Stasi konnte sich die Polizei nicht verschließen – was galten da schon Recht und Gesetz? Eine Begründung für den Deal mit eigennützigem Hintergrund lieferte T. ein Jahr später nach: „E. war mir persönlich bekannt, es bestand ein operatives Interesse resultierend aus bedeutsamen Kontakten … Einfluß auf die Überlegungen … hatte auch, daß Eßling für viele Genossen des MfS gearbeitet hatte und eine Arbeit für einen Genossen der HA XVIII bei Groß Köris zugesagt, aber noch nicht ausgeführt hatte. Im Frühsommer 82 wurde dem E. die Fahrerlaubnis zurückgegeben.“

Trotz der „unbürokratischen“ Regelung seines Vergehens war das Jahr 1982 eine besonders kritische Zeit im Leben Paul Eßlings. Inzwischen hatte er den letzten Halt verloren, den ihm die Familie vorher noch geboten hatte, obwohl er Frau und Kinder mit seinem herrischen Verhalten tyrannisierte. Seine Unausgeglichenheit und ständige Unzufriedenheit schlugen sich immer öfter in einer Unbeherrschtheit seinen Kunden und Bekannten gegenüber nieder. Sein Alkoholkonsum stieg. Darunter litten auch seine letzten persönlichen Beziehungen.

Die 38-jährige Geschäftsfrau Sieglinde St. aus Stolzenhagen, um die er hartnäckig geworben hatte, kündigte ihm ein paar Tage vor Weihnachten an, die Beziehung zu ihm endgültig zu lösen. Eßling war verzweifelt und betrank sich sinnlos. Als der Schnaps alle war, griff er nach vergälltem Brennspiritus. Sogar von einem Suizidversuch ist die Rede. Ein guter Bekannter, den er in der Nacht zum 23. Dezember mehrfach anrief, riet ihm dringend, einen Arzt aufzusuchen.

Ob Eßling am Silvestervormittag in seiner Werkstatt getrunken hatte, bevor er erneut bei Frau St. anrief und seinen Besuch ankündigte, ist ungewiss. Frau St. und ihre Mitarbeiter stießen gerade mit einem Glas Sekt auf den Feierabend an, und sie war nicht bereit, mit ihm zu reden. Als Eßling gegen 12.00 Uhr dennoch vor ihrem Haus aufkreuzte, drohte er: „Ich gehe jetzt rein und räume bei dir auf!“ Sieglinde St. blieb ruhig und sagte, er solle verschwinden. Zwanzig Minuten später war er wieder da, stieg aber diesmal nicht aus seinem Auto aus.

Elf Jahre später erinnerte sich Frau St.: „Kann sein, dass er etwas getrunken hatte, besoffen war er jedenfalls nicht.“ Ausführlicher sprechen mochte sie über die alte Geschichte nicht mehr – zu sehr hatten sie damals die zahlreichen Verhöre durch die Stasi belastet. Die hatte sogar unterstellt, Sieglinde St. sei die „Stern“-Informantin gewesen und habe dafür ein Honorar von 30 000 Westmark kassiert. Das wollte jedenfalls der Berliner „Tagesspiegel“ nach dem Ende der DDR von ihr erfahren haben.

Doch zurück zu jenem verhängnisvollen Silvestertag. Wahrscheinlich hatte Eßling zu diesem Zeitpunkt nur einen ersten Schluck aus der Flasche Goldbrand genommen, die er in den zwanzig Minuten zwischen seinen beiden Besuchen in Stolzenhagen im Wandlitzer Imbiss „Zum dicken Kurt“ gekauft hatte. Sein Frust über das abweisende Verhalten der Frau war möglicherweise der Auslöser für die späteren Ereignisse. Auf dem Beifahrersitz neben ihm lagen das Fernglas, das er immer bei sich hatte, und die Flasche Goldbrand, aus der er ungefähr 0,3 Liter getrunken hatte – also sieben bis acht „Doppelte“, was mit dem Blutalkohol-Untersuchungsergebnis übereinstimmt. Ein 23 Zentimeter langes Messer lag griffbereit im Fußraum des Autos. In Eßlings Gürtel steckte die 7,65-mm-Walther-Pistole, mit der er schon öfter Schießübungen veranstaltet hatte.

In seiner Tasche trug Paul Eßling über 1000 Mark bei sich, dazu den Entwurf einer Heiratsannonce für die Zeitung „Wochenpost“: „Die 40 sind überschritten, die erste Ehe ist geschieden. Vater mit 16jährigem Sohn, nur 1,70 groß und auch keine Schönheit, kann auch nicht mit Hochschul-Abschluß glänzen und muß kräftig arbeiten, in schöner Gegend bei Berlin, ortsgebunden, überzeugter Nichtraucher, sucht hübsche, lebenserfahrene Frau, die bereit ist, sich anzupassen, so wie er es auch möchte. Fahrerlaubnis erwünscht, obwohl eigene vorhanden. Bitte Bildzuschriften …“

Der erfolgreiche Handwerker träumte offenbar von einem neuen Leben. Doch seine Abhängigkeit vom Alkohol bestimmte seine Gegenwart. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.

Die Ermittler der Staatssicherheit stießen in Eßlings Haus und seiner Werkstatt überall auf leere Flaschen. Sechs Tage lang durchsuchten sie unter Aufsicht des Militärstaatsanwalts B. das gesamte Anwesen. Sie durchforschten selbst den Karpfenteich mit Detektorsonden. Die Ausbeute: ein rostiger Nagel.

Ein Waffennarr mit Beziehungen

Aussagekräftiger war, was man im Haus und unter dem Dach des großen Nebengebäudes fand. Kein Zweifel, der Mann, dem das alles gehört hatte, musste ein regelrechter Waffennarr gewesen sein! Über dem Kamin hing eine ganze Kollektion von Waffen: ein Florett, ein indischer Dolch, mehrere Waidmesser und eine Armbrust. Darüber hinaus besaß Paul Eßling eine französische Doppelflinte mit Zielfernrohr, Kaliber 16 x 24, dazu 617 Patronen, eine Büchsflinte der Firma C. Franz Keller aus Suhl, Kaliber 11.15 / 16 x 70, eine 8,8-mm-Scheibenbüchse mit gezogenem Lauf, sämtlich um die siebzig Jahre alt. Außerdem Kleinkaliberwaffen, zwei unbrauchbare Revolver, selbstgebaute Schalldämpfer, zwei Druckluftpistolen, insgesamt 1154 Schuss Munition und 360 leere Patronenhülsen. Das Beschlagnahmeprotokoll umfasste 164 Positionen. 31 Gegenstände wurden später auf Anweisung des Staatsanwalts vernichtet, 77 an die Erben zurückgegeben.

Den Grundstock für diese Waffensammlung hatte schon Eßlings Vater, ehemals Blockleiter der NSDAP, gelegt und über die Wirren der Zeit versteckt gehalten. Aus dessen Besitz stammte auch die schlecht gepflegte „Selbstladepistole Cal. 7.65 Walthers-Patent Modell 4“, um 1915 von Carl Walther im thüringischen Zella St. Blasii gefertigt.

Paul Eßling trug diese Pistole am Silvestertag nicht zum ersten Mal bei sich. Er liebte es, bewaffnet umherzufahren. Nach dem Suizid lag die Pistole mit nicht zurückgefahrenem Ladeschlitten als „Spur Nr. 3“ auf der Chaussee in Klosterfelde. Hatte Eßling vor dem tödlichen Schuss noch Zeit gefunden, eine Ladehemmung zu beseitigen? Die Patrone sprach dafür. Auch beim Probeschießen im Verlauf der waffentechnischen Untersuchung verklemmten sich immer wieder Patronen im Auswerferfenster der Waffe.

Paul Eßling war nicht nur ein Waffenliebhaber, er wollte seine Waffen auch nutzen. Mit dem „führenden Repräsentanten“, in dessen Nähe er an jenem Silvestertag geriet, teilte er eine besondere Leidenschaft: Er war ein passionierter – um nicht zu sagen manischer – Jäger. Doch im Gegensatz zu dem hohen Würdenträger, der sich dafür riesige Waldgebiete reservierte, ließ man den eigenwilligen Handwerksmeister, dessen charakterliche Schwächen und dessen Neigung zum Alkohol bekannt waren, legal nie zum Schuss kommen. Wer in einer der rund 970 Jagdgesellschaften der DDR auf die Pirsch gehen wollte, musste über eine entsprechende „persönliche politische Eignung“ verfügen, denn geschossen wurde „unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“. Die Jagdgesellschaft erzog „ihre Mitglieder zu aufrechten Kämpfern für den Sozialismus“, in ihren Lehrstunden nahm Staatsbürgerkunde mehr Raum als die Ausbildung an den Waffen ein. Doch Paul Eßling hatte mit seinem Staat nichts am Hut, er wollte nur schießen.

Dass der ihm das edle Waidwerk vorenthielt, traf ihn tief. Nicht einmal die Politprominenz zweiter Garnitur, die zu seinem Kundenkreis zählte, vermochte ihm da zu helfen. In den Befragungsprotokollen der Staatssicherheit tauchten zahlreiche renommierte Namen auf. Über einen prominenten Autor ist nachzulesen, er habe Eßling zu Hause besucht und sei von dessen Bekannten K. nach Hause gefahren worden. Betroffen bestätigte der Schriftstellerkollege den Vorgang. Bis zu unserem Gespräch darüber hatte er nicht geahnt, dass ihn die flächendeckende Überwachung der Stasi mit dem „Honecker-Attentäter“ in Verbindung gebracht hatte.

Paul Eßling baute seine Kamine auch in Häusern und „Datschen“ der Stasi-Oberen, unter anderem bei Markus Wolf, in mehreren Armee-Objekten und in den „Jagdhütten“ des Sportvereins Dynamo bei Groß-Schönebeck. Er war stolz auf seine Arbeit, die jeder schätzte. Ins Jagdkollektiv wurde er dennoch nicht aufgenommen. „Unsere Jagdgesellschaft ist durch Abtrennung eines Jagdgebiets an eine andere Jagdgesellschaft mit Jägern weit überfordert“, hieß es in einem von mehreren Ablehnungsschreiben auf seine wiederholten Aufnahmegesuche.

Jene „andere Jagdgesellschaft“ hatte in der Schorfheide seit über hundert Jahren ihre eigene Tradition. Diese reichte von Kaiser Wilhelm über den „Reichsjägermeister“ Hermann Göring bis zu Erich Honecker und Genossen. Selbst als Paul Eßlings Munitionslieferant, der Diplom-Staatswissenschaftler K., der als „Versorger“ für die Waldsiedlung Wandlitz tätig war und ein Jahr nach dem Tod des Ofensetzers auf der F 109 in seiner Jagdhütte selbst Suizid beging, sich im angeblichen Auftrag von „General Wolf“ für den Möchtegern-Jäger einsetzte, half das nicht. General Günter Wolf, Chef der Hauptabteilung Personenschutz im MfS, zeichnete für den Butler-Service in der Waldsiedlung Wandlitz verantwortlich. Er hatte seinen Untergebenen nicht nur schriftlich befohlen, ihre Arbeitsaufgaben „zur optimalen und niveauvollen Betreuung und Versorgung der führenden Repräsentanten, ihrer Familienangehörigen und Gäste … jederzeit vorbildlich, mit hoher Einsatzbereitschaft, revolutionärer Wachsamkeit und tschekistischer Meisterschaft zu realisieren“, sondern sie auch allen Ernstes angewiesen, den hohen Herren Genossen jeden Wunsch von den Augen abzulesen, bevor er überhaupt ausgesprochen wurde.

Dass sich ein Stasi-General für Paul Eßling eingesetzt haben soll, bleibt merkwürdig, denn der war bekanntermaßen aufmüpfig. Doch letztlich wog wohl das gängige DDR-Motto „Privat geht vor Katastrophe“ schwerer als das Gemoser des Mannes, den alle brauchten. Als die Stasi nach den „staatsfeindlichen Äußerungen“ Eßlings in Klosterfelde fragte, wollte sie dort niemand bestätigen. Vielmehr wurde der abgängige Mitbürger als ein in „politischer Hinsicht zurückhaltender Mensch charakterisiert“, obwohl es viele besser wussten. Selbst die zahlreichen „ehrenamtlichen Informanten“ der Firma gaben sich unwissend und behaupteten, dass Eßlings Jagdleidenschaft bekannt gewesen sei, nichts jedoch über die Waffen in seinem Besitz gewusst zu haben.

Auch das war ausgesprochen unglaubwürdig. Paul Eßling war häufig im Wald herumgestreift und -geritten und hatte etliche Jäger verärgert. Es war nicht unbemerkt geblieben, dass er gewildert und Rehe und Wildschweine geschossen hatte. Mindestens ein solcher Vorfall war aktenkundig, wie die Stasi herausfand. Außerdem stammte die Munition für Eßlings Jagdwaffen – anders als die von der Deutschen Waffen- und Munitions-AG Berlin Borsigwalde produzierten Vorkriegspatronen für seine Walther-Pistole – aus den 1970er-Jahren. Die konnte in der DDR nur ein ausgewählter Personenkreis besorgt haben.

Das MfS protokollierte all das säuberlich und unternahm weitere umfangreiche Nachforschungen. Aber so recht schien niemand daran interessiert gewesen zu sein, ausgerechnet in der Nähe von Wandlitz in einem schier bodenlosen Sumpf herumzustochern. Vier magere Seiten füllt beispielsweise die bemerkenswerte Tatsache, dass ein Offizier der eigenen Firma, Oberstleutnant Al. von den rückwärtigen Diensten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), Eßling für Westgeld dessen beide Luftdruckpistolen besorgt hatte.

Ausführlicher dargestellt wurden die charakterlichen Schwächen Paul Eßlings, man ließ zu diesem Zweck sogar ein nachträgliches medizinisches Gutachten anfertigen. In ihm wurde Eßlings wenig geselliges, leicht reizbares und rechthaberisches Wesen hervorgehoben. Besonders nach dem Verlust der Familie habe sich der zu Alkoholmissbrauch neigende ziel- und willenlose Mann – schon Vater und Großvater seien „Potatoren“ gewesen, Quartalstrinker – hilflos und unsicher gefühlt. Aus diesem Persönlichkeitsbild wurde geschlussfolgert, man habe es mit dem „Bilanzselbstmord“ einer „anankastischen [zwanghaften] Persönlichkeit“ zu tun.

Für die Staatssicherheit war das eine annehmbare Lösung des Falls Paul Eßling. Der zwölfseitige, vom Abteilungsleiter Oberstleutnant Lehmann unterzeichnete Abschlussbericht der Hauptabteilung Untersuchung bescheinigte Eßling außerdem, er habe sich in einem „schuldhaft herbeigeführten, die Zurechnungsfähigkeit vermindernden Rauschzustand (Psychose)“ befunden, und kam zu dem Ergebnis, es könne ausgeschlossen werden, dass E. aus einer „feindlichen negativen Haltung heraus gezielt einen Angriff auf eine Repräsentantenfahrt geführt oder geplant hatte“.

In Klosterfelde kehrte allmählich wieder Ruhe ein. Angesichts der umfangreichen Stasi-Aktivitäten im Ort war das auch allen recht, denn darüber sprechen durften sie ohnehin nicht. Die Sicherheitsbestimmungen für „Repräsentantenfahrten“ wurden verschärft. Und dem besonders mit der Sicherung der Protokollstrecke beauftragten IM „Hans Berger“, der nicht ahnte, dass man vorsichtshalber auch sein Telefon abhörte, und der in Eßling seinen besten Goldbrand-Kunden verloren hatte, wurde in Anerkennung besonderer Leistungen bei der Aufklärung des „Vorkommnisses“ eine Spieluhr im Wert von 350 Mark überreicht.

Der Streit der Leibwächter

Als das Ende der DDR eingeläutet war, ließ die Geschichte um Paul Eßling dann doch noch einmal den Blätterwald rauschen. Nachdem „Das Magazin“ 1990 in seiner April-Ausgabe einen „Report“ zu dem Fall gebracht hatte, meldeten sich nach und nach auch Honeckers ehemalige Leibwächter zu Wort.

„Bild“ widmete Ende März 1990 dem angeblichen Augenzeugen Bernd Brückner eine Serie, obwohl der den Vorfall selbst gar nicht miterlebt hatte. Silvester 1983 war einer seiner raren freien Tage gewesen. In Brückners Mär machte sich der „stockbetrunkene Ofensetzer“ in einem Trabant, den zwei Männer des Begleitkommandos beiseitegeschoben hatten, an die Verfolgung der Kolonne. „Und da passierte es: Der Ofensetzer sprang, wie von Sinnen – und das war er ja auch –, aus seinem Trabi und zog eine Pistole, zielte und schoß …“ Brückner betonte, dass man nur auf Angriffe von vorne vorbereitet gewesen sei: „Für solche Fälle war vorgesehen – und tausendmal geübt worden – dass der Citroën mit der Nummer 1 seine Fahrt stark abbremst, ohne anzuhalten, der Kommandowagen an ihm vorbeizieht und vor dem Hindernis stoppt … Die Kollegen reißen als Deckung alle vier Türen auf, gehen dahinter mit der Waffe in Stellung und einer läuft zum Hindernis, um die Lage zu klären.“

Als ihn das MDR-Fernsehen noch einmal im Juni 2003 als Sachverständigen für das Honecker-Attentat präsentierte, korrigierte Brückner sich: „Das Fahrzeug mit dem Tatverdächtigen hielt an, und ein Mitarbeiter der Verkehrspolizei stieg aus, um den Fahrer zu kontrollieren. Dieser schoss ohne Vorwarnung auf den Mitarbeiter der Verkehrspolizei und verletzte diesen schwer. Der Kollege, der zweite Kollege, schoss zurück. In diesem Augenblick hatte sich aber der Tatverdächtige bzw. der Täter schon selbst erschossen.“

Aus dem „Attentat bei Klosterfelde“ wollten schon in den Monaten der DDR-Agonie auch Brückners Kollegen ein bisschen Kapital schlagen. Adelhard Winkler, bis dahin 36 Jahre im Dienst als Fahrer und selbst unter seinen Genossen als „einer der schlimmsten Hofhunde EHs“ verschrien, war der Nächste, der seine schmal gewordenen Einkünfte zwischen den Busenwundern einer Illustrierten aufzubessern gedachte. Neben etlichen besonderen Unappetitlichkeiten aus dem Leben des Generalsekretärs wusste Winkler der Leserschar auch etwas über den schießwütigen Ofensetzer mitzuteilen: „Wir waren uns sicher: Der Mann wollte Honecker töten!“ Eilig meldete die „Berliner Zeitung“ daraufhin am 5. September 1990: „Leibwächter bestätigt das Attentat auf Honecker.“

Diese durch nichts zu beweisende Behauptung ließ wiederum Ralf Ehresmann nicht ruhen, der ebenfalls zehn Jahre lang den Schatten des Übervaters bewacht hatte. In der Redaktion der „Berliner Zeitung“ gab er zu Protokoll, Winkler habe an jenem Silvestertag dienstfrei gehabt. Und überhaupt wisse er es besser: Es war kein Attentat. „Kugeln von Klosterfelde galten nicht Honecker“, hieß es am 7. September prompt auf Seite eins. Ehresmann hatte anscheinend wirklich neben Funker und Fahrer im zweiten Citroën gesessen und zumindest den ersten Teil des „Besonderen Vorkommnisses“ als Augenzeuge erlebt: „Am nördlichen Ausgang von Wandlitz kam links aus Richtung Stolzenhagen ein grüner Lada 1300 auf die Fernverkehrsstraße zu. Er stoppte an der Kreuzung, fuhr wieder an, stoppte nochmals, stieß anschließend wenige Meter zurück … Als wir ziemlich nahe dran waren – etwa hundert Meter von der Kreuzung entfernt –, bog der Lada in scharfem Tempo links ein, zog gleich auf den rechten Sommerstreifen und schlingerte anschließend ein wenig auf die Straße. Im gleichen Augenblick waren wir jedoch schon an ihm vorbei.“ Die „Nummer eins“ hatte offenbar von alldem nicht viel mitbekommen: „E. H.s Hand jedenfalls zitterte auch an diesem Nachmittag nicht. Neun kapitale Hirsche sollten das Jahr 1983 nicht mehr erleben. Ehresmann will es genau wissen; er musste das Wild ja aufbrechen.“

Dem damaligen innenpolitischen Ressortchef der „Berliner Zeitung“ erschienen die Auskünfte seines Informanten allzu dürftig. Deshalb reicherte er sie mit einer detaillierten Schilderung des weiteren Verlaufs in Klosterfelde sowie mit Erkenntnissen aus dem „Bericht der Untersuchungsbehörden“ und den „von namhaften Medizinern erstellten Obduktionsergebnissen“ an, die er offenbar der Einfachheit halber ohne Quellenangabe aus dem „Magazin“ abschrieb. Immerhin wollte er selbst herausgefunden haben: „Das Attentat auf den ‚führenden Repräsentanten des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates’ hat also überhaupt nie stattgefunden.“

Ein letztes Rauschen im Blätterwald

Das alles ließ den „Stern“ nicht ruhen. Kurioserweise kam die Zeitschrift drei Jahre später, im Dezember 1993, noch einmal auf die eigene, elf Jahre alte Story zurück und beharrte darauf, alles sei so gewesen wie damals beschrieben: „Das Attentat fand statt. Hartnäckig dementierte die DDR-Führung vor zehn Jahren den Stern-Bericht über einen Anschlag auf Erich Honecker. Jetzt aufgefundene Dokumente geben dem Stern recht“, hieß es vielversprechend. „Das zwanzigseitige Stasi-Dossier über den Vorfall – so geheim, daß es nur drei Exemplare gab – wurde jetzt in der Gauck-Behörde aufgefunden. Durch neue Recherchen des Stern alarmiert, hat die Staatsanwaltschaft beim Berliner Kammergericht nun sogar die zuständigen Kollegen in Frankfurt / Oder gebeten, den angeblichen Selbstmord des Attentäters Paul Eßling zu überprüfen. Denn es wird nicht mehr ausgeschlossen, daß der schon angeschossene Handwerker von einem Stasi-Offizier mit einem gezielten Nahschuß in den Kopf regelrecht ‚hingerichtet‘ worden ist.“

Der Rest des fünfspaltigen „Stern“-Artikels enthielt Bekanntes aus den Akten des Militäroberstaatsanwalts. Wenn es denn ein „neuer Beweis dafür war, daß der Klosterfelder Handwerker es wirklich auf Honecker abgesehen hatte“, weil die Fahrzeugkolonne des Staatschefs nicht aus einem halben Dutzend Wagen – wie vom „Stern“ 1983 vermutet –, sondern „bloß aus drei“ bestanden hatte, so war dieser „Beweis“ seit April 1990 im „Magazin“ und seit demselben Jahr im Kriminalmagazin „Underground“ nachzulesen.

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt / Oder indes ermittelte tatsächlich. Das war ihre Pflicht, denn wäre es ein Mord gewesen, hätte den Täter keine Verjährung vor Strafe geschützt.

Die Untersuchungen ergaben aber offenbar nicht viel, und elf Monate gingen ins Land, bis die „Berliner Zeitung“ erneut fragte: „Erschoß die Stasi den Honecker-Attentäter?“ Und die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Mutmaßlicher Attentäter angeblich auf der Stelle von Stasi-Offizieren hingerichtet.“

Den Vogel – in dem Fall eine kapitale Ente – schossen in trauter Eintracht „Bild“ und Sat 1 ab. Die nämlich fabulierten am 27. Oktober 1994 von angeblichen Stasi-Dokumenten, die den damals Berlin regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) als Waffenlieferanten für Paul Eßling entlarvten. Das habe ein ungenannter Stasi-Informant einem namenlosen Berliner Polizeibeamten mitgeteilt. Doch den „Zeugen“ vom Hören-Hörensagen nahm niemand ernst. Während Diepgen – mit seinem damaligen Polizeipräsidenten Hagen Saberschinsky gerade auf einer Moskau-Reise in Sachen Sicherheit unterwegs – locker äußerte, bei den Waffen, die er bisher beschafft hätte, habe es sich ausschließlich um Wasserpistolen für seine Kinder gehandelt, war Sat 1 auf Anfrage nicht einmal mehr bereit, den Wortlaut der damals ausgestrahlten Meldung mitzuteilen.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin, die den Fall Eßling inzwischen übernommen hatte, schaute sich hingegen tatsächlich noch einmal die Ergebnisse des Obduktionsberichts und die Zeugenaussagen an.

Nachdem das Gutachten eines Bonner Rechtsmediziners – das sich vermutlich auf im „Underground“ zitierte Formulierungen aus dem Bad Saarower Leichenöffnungsbericht vom 3. Januar 1983 stützte – zu dem Schluss gekommen war, Eßling sei mit einer Waffe größeren Kalibersals 7,65 Millimeter erschossen worden, erhärtete sich der Anfangsverdacht gegen Horst H. Der Neuruppiner Oberstaatsanwalt Gerd Schnittcher erklärte gegenüber der „Berliner Zeitung“: „Wir haben den Verdacht, daß der Mann durch einen aufgesetzten Kopfschuß getötet wurde, ohne daß sich seine Verfolger zu diesem Zeitpunkt noch in einer Notwehrlage befanden.“

Der Rechtsmediziner Professor Dr. Maxeiner von der Freien Universität Berlin kam nach eingehendem Studium der Unterlagen aus Bad Saarow zu einem anderen Schluss: Die auf den Obduktionsfotos deutlich sichtbare Ausfaserung der Ausschusswunde sei typisch für das Kaliber 7.65. „Es sei zweifelsfrei erwiesen, daß Eßlings Kopfwunde aus einer 765er [sic!] Walther stammte.“ So zitierte am 30. Dezember 1994 „Der Tagesspiegel“ den Leitenden Neuruppiner Staatsanwalt Dr. Erardo Rautenberg. Nach dessen Ansicht stand „mit ziemlicher Sicherheit fest, daß sich Eßling an jenem 31. Dezember 1982 mit seiner eigenen Waffe erschossen habe“.

Die Augenzeugen – diesmal nicht von Journalisten, sondern von der Staatsanwaltschaft befragt – hatten ihre Aussagen vom Silvesterabend 1982 bestätigt. Die Obduzenten in Bad Saarow dokumentierten den Bauchdurchschuss, den der Oberleutnant H. Paul Eßling beigebracht hatte, ebenso gewissenhaft wie die tödliche Kopfverletzung.

Dennoch blieb, wie immer in solchen Fällen, ein unwägbarer Rest. Dass Kugeln nicht auffindbar waren, Papillarabdrücke auf Eßlings Waffe fehlten und sich die Aussagen der Zeugen über Details ihrer Beobachtungen und über die Anzahl der Schüsse widersprachen, deutet eher auf eine unbeeinflusste Untersuchung und Befragung hin.

Bei aller Irrationalität, wie sie vielen Aktionen der DDR-Staatssicherheit eigen war: Weshalb hätte die „Firma“ einen akribisch geführten Aktenvorgang von 743 Seiten und Tausenden weiteren mit Protokollen und Gutachten anlegen und fälschen sollen, wenn für sie doch feststand, dass die Unterlagen nie ein Unbefugter zu Gesicht bekommen würde? Es hätte mehr Zeugen für die Fälschung als für den tatsächlichen Tathergang gegeben.

Für die schon im Januar 1983 im „Spiegel“ geäußerte Vermutung, dass sich Eßling möglicherwiese nicht selbst getötet habe, sondern von einem Sicherheitsbeamten erschossen wurde, fanden jedenfalls auch die Neuruppiner Staatsanwälte keinen Beweis. Selbst Dr. Rautenberg hegte am Ende der Untersuchungen starke Zweifel, „ob Eßling überhaupt einen Anschlag auf Honecker geplant hatte …“

Nachtrag: Ein konstruiertes Verbrechen

Dass nicht auf Honecker, sondern auf seinen Vorgänger Walter Ulbricht ein Anschlag geplant gewesen sein soll, den doch tatsächlich die Stasi erfunden hat und der für ein paar Menschen bitterste Konsequenzen hatte, fand nach dem Ende der DDR weit weniger Beachtung als die Story um Paul Eßling.

Diese Geschichte begann am 26. Oktober 1968 in der Kneipe des thüringischen Ortes Steinbach. Man feierte Kirmes, und die Sterncombo aus Trusetal machte Musik. Es ging hoch her.

Am Stammtisch sitzen die Einheimischen und schimpfen auf die Regierung. Von „Kommunistenschweinen“ ist die Rede und auch davon, dass man diese Leute am besten erschießen sollte. Fremde am Nachbartisch hören das mit Missfallen. Sie tragen das SED-Parteiabzeichen am Revers und kommen aus dem benachbarten Bad Liebenstein. Dort sind sie Kurgäste – so wie lange zuvor auch mal Walter Ulbricht und Frau Lotte.

Die Steinbacher Gerald Rilk und Werner Iffert legen sich mit den SED-Genossen an. Es wird gepöbelt, immer wieder ist vom Erschießen der Kommunisten die Rede. Viel Bier hat die Zungen gelockert. Die Kurgäste verdrücken sich und erstatten Anzeige. Rilk und Iffert werden noch in der Kneipe verhaftet.

Die Kripo hat die Thüringer schon lange im Auge, denn in Steinbach wird gewildert. Und wer wildert, muss auch Waffen haben. Deshalb sammelt sie seit einiger Zeit alle Informationen in der Akte „Steinbock“.

Nach einem Dreivierteljahr übernimmt die Stasi-Kreisdienststelle Bad Salzungen die Sache. Am 16. Juni rücken ihre Leute in Steinbach ein, verhören die Anwohner und durchsuchen die Häuser.

An mehreren Orten werden illegale Waffen gefunden, auch Handgranaten sind dabei. Gerald Rilk besitzt sogar ein Fallschirmspringer-Sturmgewehr. „Das habe ich gefunden“, gibt er an, doch niemand glaubt ihm. Die Wehrmacht der Nationalsozialisten hatte bei Kriegsende das Zeug einfach im Wald liegen gelassen, an dem sich einige Steinbacher bedient hatten.

Mehr als zwanzig von ihnen sitzen jetzt wegen illegalen Waffenbesitzes in Untersuchungshaft. Anfang 1970 werden die meisten in Bad Salzungen verurteilt. Gerald Rilk und Werner Iffert sind nicht dabei. Auch nicht die später verhafteten Brüder Kurt und Herbert Malsch sowie Herbert Fischer.

Die Stasi vermutet, diese Männer könnten mehr auf dem Kerbholz haben. Sie haben in der Kneipe auf Ulbricht geschimpft und den Prager Frühling begrüßt – daraus konstruieren die Vernehmer nun einen Umsturzplan, eingeleitet mit einem Attentat auf Walter Ulbricht.

Die Steinbacher begreifen zunächst gar nicht, worum es eigentlich geht. Doch dafür, dass sie das endlich verstehen, wird in den immer wieder stattfindenden Verhören gesorgt. Gerald Rilk: „Die Stasi hat uns auf eine Linie geführt.“ Nun ist plötzlich nur noch vom angeblich geplanten „Mordanschlag auf den Staatsratsvorsitzenden“ die Rede.

Dass Walter Ulbricht das benachbarte Bad Liebenstein seit 1964 gar nicht mehr besucht hat, ficht die Stasi nicht an. Sie bastelt ihren Mordplan – nur fehlen nach anderthalb Jahren immer noch die Geständnisse. Doch schließlich machen die Verhöre die stets erneut Beschuldigten mürbe, und sie unterschreiben.

Immer noch traut sich die Stasi mit ihrer erfundenen und erpressten Geschichte vom Attentat auf Walter Ulbricht nicht vor Gericht. Es fehlt ein angeblicher Anführer der „Bande“.

Den glaubt man in NVA-Hauptmann Rainer Grauel zu finden, einem MiG-21-Piloten aus Steinbach, der in Trollenhagen bei Neubrandenburg dient. Er erhält Flugverbot, wird von 42 IMs bespitzelt, in Arrest gesteckt, zum Soldaten degradiert und schließlich für ein Jahr eingesperrt, weil er alles nicht begreift und einfach nur nach Hause möchte. Worum es damals, Anfang der 1970er-Jahre überhaupt ging, erfährt Rainer Grauel erst nach dem Ende der DDR aus seinen Stasi-Akten. Als „Rädelsführer“ des angeblichen Ulbricht-Attentates taugt er damals jedenfalls nicht. Da scheint Georg Wölkner geeigneter.

Der Förster arbeitet im Sperrgebiet, kennt die Steinbacher und hat sogar schon illegal mit ihnen gejagt. Am 2. Oktober 1970 wird er verhaftet.

Wieder vergehen zwei Jahre. Walter Ulbrichts Stern ist gesunken, und die angeblichen Attentäter sitzen derweil fast fünf Jahre in U-Haft. So wird ein Geheimprozess vor dem Obersten Gericht der DDR geplant. Die Angeklagten lernen ihre Rollen auswendig. Immerhin steht die Drohung der Todesstrafe im Raum. Die Stasi-Leute machen den Männern unverhohlen klar, dass die ganze Geschichte nur dann glimpflich ablaufen könne, wenn sie wie erwartet vor Gericht funktionieren.

Im Prozess gibt es weder Beweismittel noch Zeugen. Nur Urteile. Am 11. April 1972 werden sie verkündet: Gerald Rilk lebenslänglich, Werner Iffert und Herbert Fischer 15 Jahre, Herbert Malsch 12 Jahre und Kurt Malsch 10 Jahre.

Georg Wölkner wird in einem eigenem Prozess in Erfurt wegen Spionage zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Nach acht Jahren erkrankt er lebensgefährlich, wird entlassen und verstirbt.

Die fünf Männer aus Steinbach sitzen zwischen fünf und sieben Jahren ab, bevor sie begnadigt werden. Nach dem Ende der DDR folgen Rehabilitierung und Haftentschädigung.

Mit einer allerletzten Attentatsgeschichte überraschte „Der Tagesspiegel“ einige Jahre später, 2009, seine Leser. Sie spielt Ende der 1950er-Jahre. Auch der derweil in Ehren ergraute verhinderte Mordbube, der Schauspieler und Komiker Dieter Hallervorden, erinnerte sich daran – nicht ohne Grund: „Ulbricht war die Marionette Moskaus – der bestgehasste Möchtegern-Politiker – da konnte man als junger Mann mit großer Sehnsucht nach deutscher Wiedervereinigung schon mal mit dem Gedanken spielen, den diktatorischen Block durch ein Attentat auf den Spitzbart Ulbricht aufzubrechen.“

Im „Tagesspiegel“ vom 30. Januar 2009 liest sich die Geschichte so: „Es war das Jahr 1958, Dieter Hallervorden, Student der Romanistik, war aus Ost-Berlin in den Westen geflüchtet. Er trat einer Burschenschaft bei … Etliche der Mitglieder waren wie Hallervorden aus der DDR geflüchtet, so auch Kurt Eberhard. Mit dem freundete sich Hallervorden an, und die beiden überlegten, wie man helfen könnte, das SED-Regime im Osten zu beseitigen … Walter Ulbricht … sollte erschossen werden. Die Pläne waren recht präzise: Von der S-Bahn aus wollten sie schießen, in Prenzlauer Berg zwischen den Bahnhöfen Greifswalder Straße und Zentralviehhof. Neben der Werner-Seelenbinder-Halle spielte Walter Ulbricht öfter Tennis. Hallervorden sollte die Waffe besorgen. Eine Freundin von Kurt Eberhard brachte die beiden schließlich von dem riskanten Plan ab. Hallervorden sagt heute: ‚Das war ein Dumme-Jungs-Plan, mehr eigentlich nicht …‘“

J. E.

Attentat auf Honecker und andere Besondere Vorkommnisse

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