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1. Die Einladung

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Wer einmal anfängt zu lügen, kann kaum jemals mehr damit aufhören. Eine Lüge macht die nächste erforderlich, baut sich auf der vorhergehenden auf wie ein Kartenhaus, das irgendwann in sich zusammenfällt. Mein Kartenhaus wäre wegen meiner Lügen fast komplett eingestürzt. Und weil jemand eine Karte aus der untersten Reihe zog, um mich zu zerstören.

Meine Eltern legten großen Wert auf die Wahrheit. Jedenfalls behaupteten sie das immer. Andererseits war es ihnen auch wichtig, vor anderen gut dazustehen, sich, meine Schwester und mich im besten Licht erscheinen zu lassen. Da war es nur allzu bequem, wenig berauschende Fakten nicht zu erwähnen oder etwas anders darzustellen. Vermutlich habe ich irgendwann angefangen, es meinen Eltern gleichzutun, eine schlechte Klassenarbeit zu verschweigen oder zu behaupten, mir sei meine Armbanduhr, ein teures Geschenk meiner Großeltern zu meiner Konfirmation, gestohlen worden. Dabei hatte ich sie wegen meiner Nachlässigkeit verloren, ich wusste nicht einmal, wo. Später erfand ich für meine Eltern einen erfolgreichen, wohlhabenden Geschäftsmann, der beruflich viel im Ausland unterwegs war, so dass ein persönliches Kennenlernen ihres zukünftigen Schwiegersohns schwierig sei. Denn so stellte ich den nicht existierenden Mann dar: jemand, der es ernst mit mir meinte, der eine gemeinsame Zukunft mit mir plante, der mich heiraten wollte. Oh, es gab schon Männer in meinem Leben und gar nicht wenige, aber nie etwas Festes, weil ich nicht auf der Suche nach etwas Festem war. Meine Eltern hätten meine Art zu leben, hätten sie davon erfahren, nicht im Geringsten toleriert. Denn für sie gab es nur einen einzigen richtigen Weg der Lebensführung: ihren eigenen. Ja, ich gebe es zu: Ich wollte einen guten Eindruck machen, niemanden enttäuschen. Das war nicht nur bei meinen Eltern der Grund, weshalb ich manchmal nicht ganz ehrlich war. Doch mehr noch als meinen Mitmenschen habe ich mir selbst etwas vorgemacht.

Ich bin Küchenplanerin im großen Küchenstudio Hansen, das sich am Rand der Großstadt befindet, in dessen Vorort ich aufgewachsen bin. Unsere Zielgruppe sind Menschen mit gehobenen Ansprüchen und entsprechenden finanziellen Möglichkeiten. Es kommt hin und wieder vor, dass ich die unangenehme Aufgabe habe, Besucher darauf hinzuweisen, dass sie mit ihrer Preisvorstellung von bis zu zehntausend Euro besser bei der Konkurrenz aufgehoben seien. Das tut mir immer leid, und ich versuche, dabei möglichst einfühlsam zu sein. Ein dumpfes Gefühl habe ich trotzdem jedes Mal. Das ist der einzige Aspekt, der mir an meinem Beruf nicht gefällt.

Mein Vater ist der Ansicht, dass ich mit meiner Arbeit in dem Küchenstudio weit unter meinen intellektuellen Möglichkeiten geblieben sei. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, dass ich immerhin eine dreijährige Ausbildung absolviert habe. Die Beamtenlaufbahn hätte ich seiner Meinung nach einschlagen sollen, wie er einen leitenden Posten in einer Behörde einnehmen. Für meine Mutter ist meine Berufswahl ebenfalls befremdlich. Schließlich ist es so gar nichts Besonderes, mit dem sie sich vor Nachbarn und Bekannten hervortun kann. Noch schlimmer wäre es für sie allerdings gewesen, wenn ich meinen ursprünglichen Berufswunsch, Autoverkäuferin, realisiert hätte.

Trotz, vielleicht auch wegen, des Unverständnisses meiner Eltern liebe ich meinen Beruf. Ich kann mir für mich keine erfüllendere Tätigkeit vorstellen, wenn auch das Abweisen unpassender Kunden dazugehört. Es gibt nichts Schöneres, als die Vorstellung von einer neuen Küche mittels Menschenkenntnis, intensiver Beratung und genauer Planung Wirklichkeit werden zu lassen und durch hochwertige Möbel und teure Elektrogeräte möglichst noch zu übertreffen. Obwohl es einer der Grundsätze des Küchenstudios Hansen ist, niemals einem Kunden etwas aufzuschwatzen, gelingt es mir doch hin und wieder durch überzeugende Alternativvorschläge, Preisvorstellungen um einige Tausend Euro nach oben zu verschieben und dafür später, wenn der Käufer zum ersten Mal seine nagelneue Küche betritt, in den höchsten Tönen gelobt zu werden.

Als Kundenberaterin ist es unklug, immer die Wahrheit zu sagen. Möglicherweise hat mich mein Beruf noch darin bestärkt, es auch in meinem Privatleben so zu handhaben. Wenn ich mir die Gegebenheiten vor Ort in der Wohnung oder dem Haus eines Kücheninteressenten ansehe, äußere ich mich noch vor dem Ausmessen positiv über die geschmackvolle Einrichtung außerhalb der bisherigen Küche, ganz egal, ob sie mir tatsächlich gefällt. Das hat sich als der beste Einstieg in die Beratung bewährt. Lob schafft Vertrauen und die Illusion, auf einer Wellenlänge zu sein. Das mag hinterhältig klingen, doch das bin ich nicht. Es macht mich einfach glücklich, wenn sich der Kunde über meinen Zuspruch freut und sich für die Vorschläge, die ich ihm für seine neue Küche unterbreite, offen zeigt, denn nur dann kann sich meine Kreativität voll entfalten. Der Verkauf von Küchen ist ohne Kreativität gar nicht möglich. Außerdem kommt mir dabei mein rhetorisches Talent zugute. Vermutlich würde ich auch eine ganz anständige Radio- oder TV-Moderatorin abgeben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was meine Eltern zu dieser Berufswahl gesagt hätten.

Zunächst hatte ich nach meinem Abitur 1990 eine Ausbildung zur Automobilkauffrau angestrebt, obwohl mein Vater der Auffassung war, dass ich mit meinem guten Notendurchschnitt wie meine zwei Jahre ältere Schwester Caroline besser studieren sollte, und mich meine Mutter wiederholt fragte, wie sie Bekannten, die sich nach mir erkundigten, erklären solle, weshalb ich ausgerechnet einen Männerberuf ausüben müsse. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, zahlreiche Bewerbungen an alle möglichen Autohäuser in der naheliegenden Großstadt zu schreiben, doch wurde ich nur zu einem einzigen Vorstellungsgespräch eingeladen, in dem mir mein schwitzendes, glatzköpfiges, in einen zu eng sitzenden Anzug gekleidetes Gegenüber meinen zukünftigen Ausbildungsplatz im Büro beschrieb. Als ich daraufhin erwiderte, dass ich vorrangig daran interessiert sei, im Verkaufsraum zu stehen und Kunden beim Kauf eines neuen Autos zu beraten, teilte mir der Mann amüsiert lächelnd mit, dass Autokauf Vertrauenssache sei und niemand einen Wagen von einer Frau kaufen wolle. In seinem Geschäft werde keine Frau im Verkaufsraum stehen, und in anderen Autohäusern sei das genauso. Er wünsche mir für mein Vorhaben dennoch viel Erfolg und vor allem Glück, da ich das am meisten brauchen würde. Abschließend riet er mir nicht ohne ironischen Unterton, es, falls es mit dem Autoverkauf nicht klappen sollte, doch in einem Küchengeschäft zu versuchen.

Meine anfängliche Verärgerung nach dem Vorstellungsgespräch über den unverschämten Vorschlag des fetten Glatzköpfigen löste sich schnell auf, als ich näher darüber nachdachte. So entschied ich mich für eine Ausbildung als Assistentin für Innenarchitektur an einer Berufsfachschule in der Großstadt. Meine Ferien wollte ich für Praktika nutzen, die zwar vermutlich nicht bezahlt, sich aber gut in meinem Lebenslauf machen würden. Schon meine erste Bewerbung beim Küchenstudio Hansen führte zu einem Praktikumsplatz, und weil es mir in dem Unternehmen so gut gefiel, arbeitete ich dort stundenweise nebenbei während der Ausbildung und verdiente so sogar etwas Geld. Der Besitzer des Küchenstudios, Philipp Hansen, war damals Mitte dreißig und hatte das Geschäft erst kürzlich von seinen Eltern übernommen, die sich aus gesundheitlichen Gründen zur Ruhe setzen wollten. Mein Vorgesetzter hatte strahlend blaue Augen, ebenmäßige Gesichtszüge und dickes dunkelblondes Haar, das mich an Schafwolle erinnerte und faszinierenderweise an einer etwa walnussgroßen Stelle an seinem Hinterkopf in einem helleren Blondton wuchs. Am Anfang nahm ich noch gar nicht richtig wahr, wie gut Philipp Hansen aussah. Für mich war er nicht mehr als mein Chef und seine sicher einige Jahre ältere Frau, die in Teilzeit in dem Geschäft mitarbeitete, meine Chefin. Das feuerrot gefärbte, kurze Haar von Regina Hansen wirkte stets gewollt zerzaust, und oft trug sie um den Kopf ein buntes Haarband, vermutlich immer dann, wenn es an der Zeit gewesen wäre, den Ansatz nachzufärben. Noch mehr als das Haar leuchtete ihr roter Lippenstift, und auch der Rest ihres Gesichts war für meinen Geschmack etwas zu grell geschminkt.

In der ersten Zeit dachte ich wenig über Philipp und Regina Hansen nach. Ich war einfach überglücklich über die Möglichkeit, praktische Berufserfahrung zu sammeln, auch wenn meine Arbeit anfangs nur aus recht eintöniger Bürotätigkeit bestand, und viel zu sehr damit beschäftigt, all die neuen Informationen und Eindrücke, mit denen ich täglich konfrontiert war, zu verarbeiten. Hin und wieder hörte ich unter den Mitarbeitern geflüsterten Klatsch über das Ehepaar Hansen, das sich demnächst scheiden lassen werde, wenn es so weitergehe. Ich tat das als dummes Gerede ab und vermutete als Grund schlicht Neid.

Eingearbeitet wurde ich von der grauhaarigen, korpulenten Hannelore Blech, die als Auszubildende im Küchenstudio Hansen angefangen hatte und nun schon ihrem fünfunddreißigjährigen Dienstjubiläum entgegensah, wie sie mir gleich an meinem ersten Tag berichtete. Die Kleidung von Hannelore Blech – meistens Rock, Bluse und gegebenenfalls eine Strickweste – schien ihr immer mindestens eine Größe zu klein zu sein. Die Brille, die sie den ganzen Tag über trug, war zusätzlich durch eine an den Bügeln befestigte goldfarbene Kette um ihren Hals gesichert. Ihr sei bereits einmal eine Brille heruntergefallen und kaputtgegangen, und dies sei eine sehr schlimme Erfahrung gewesen, vertraute mir Hannelore Blech an. Ich konnte mir weitaus schlimmere Erfahrungen vorstellen und fand die Angst um die gewöhnlich aussehende Brille etwas übertrieben, behielt meine Meinung aber für mich. Abgesehen von dieser Marotte war Hannelore Blech eine sehr nette, ausgeglichene Frau und beantwortete all meine Fragen, auch wenn ich diese manchmal selbst für dämlich hielt, stets geduldig.

Hannelore Blech hielt anscheinend sehr viel von Philipp Hansen. Jedenfalls lobte sie ihn wiederholt in den höchsten Tönen und verglich ihn mit seinem netten, kompetenten und fleißigen Vater, den ich nicht kannte. Von ihrer Chefin hatte meine Kollegin wohl keine so hohe Meinung. Sie erwähnte sie kaum, hütete sich aber ebenfalls davor, schlecht über sie zu sprechen. Außerdem war mir aufgefallen, dass Hannelore Blech sich nicht am Büroklatsch beteiligte, was ich sehr sympathisch fand.

Ich war seit einigen Monaten im Küchenstudio beschäftigt, als sich mein bisher eher unauffälliger Eindruck vom Ehepaar Hansen schlagartig änderte. Hannelore Blech hatte mich gebeten, ausnahmsweise etwas länger zu bleiben, da sie an diesem Tag mehrere komplizierte Rechnungen zu schreiben hatte und mir an diversen Fallbeispielen einige Besonderheiten erklären wollte. Es war bereits kurz nach 18:00 Uhr, und wir saßen beide schon seit Stunden im fast dunklen Büro, das nur vom Schein einer Schreibtischlampe erhellt wurde, konzentriert über Angebotsunterlagen, während Hannelore Blech auf deren Grundlage nach und nach die Rechnungen auf einer elektrischen Schreibmaschine schrieb und mich dabei darauf hinwies, was dabei alles zu beachten sei. Der Raum befand sich, wie die anderen Büros, die Teeküche, ein Pausenraum und die Toiletten für die Mitarbeiter, im zweiten Stock des Gebäudes, während im Erdgeschoss und im ersten Stock die Küchen ausgestellt wurden. Die Kollegin aus der Verwaltung war bereits gegen 17:00 Uhr nach Hause gegangen, die firmeneigenen Handwerker schon um 16:00 Uhr, soweit Kücheneinbauten keine Überstunden erforderten, und auch die Küchenplaner machten sich nun auf den Heimweg. Philipp Hansen hatte sich am frühen Nachmittag mit den Worten verabschiedet, noch einen längeren Kundentermin wahrnehmen zu wollen und anschließend nicht ins Büro zurückzukehren. Seine Frau war an diesem Tag nicht im Geschäft gewesen. Manchmal blieb sie zu Hause, wenn eines der beiden Kinder krank war. Oder wenn es zwischen ihr und ihrem Mann „ordentlich gekracht“ hatte, wie unter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde. Hannelore Blech und ich waren an diesem Winterabend allein im Gebäude, was mir unheimlich gewesen wäre, hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Stattdessen versuchte ich mit mittlerweile verkrampften Fingern, auf einem Block alles mitzuschreiben, was die ältere Kollegin mir erzählte, doch langsam nahm meine Konzentration ab, und ich wünschte mir einen baldigen Feierabend.

Plötzlich hörten wir Schritte die Treppe zum zweiten Stock hinaufeilen und hielten in unserer Beschäftigung inne. Hannelore Blech legte den Zeigefinger ihrer rechten Hand an ihre Lippen, erhob sich und wollte auf die hinter einer Schranktür verborgene Garderobe zugehen – vermutlich, um den Schlüssel für die Bürotür aus ihrer dort aufbewahrten Handtasche zu nehmen und die Tür von innen abzuschließen -, als die Tür bereits aufgerissen wurde. Im Türrahmen stand Regina Hansen in einem dunkelgrünen Wintermantel, der einen schönen Kontrast zu ihren roten Haaren und ihrem rot geschminkten Mund bildete. Ohne ein Wort zu sagen, betätigte sie den Lichtschalter, und die Neonröhren an der Decke des Büros flackerten auf und tauchten den Raum in ein grelles Licht. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie dunkel es vorher gewesen war. Und dass Regina Hansen anscheinend vor Wut kochte. „Wo ist mein Mann?“, fragte sie unfreundlich.

Hannelore Blech, die sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl setzte, und ich sahen uns etwas ratlos an. Ich hielt es für besser, sie als die Ältere reden zu lassen, doch als ich merkte, dass sie kein Wort herausbrachte, erwiderte ich schließlich: „Herr Hansen ist schon vor ein paar Stunden zu einem Kundentermin aufgebrochen.“

„So so.“ Regina Hansen lachte bitter. „Diese Kundentermine kenne ich.“ Böse fügte sie hinzu: „Dieser verlogene Mistkerl.“ Sie zeigte auf Hannelore Blech. „Los!“, befahl sie. „Sie haben doch einen Zweitschlüssel für das Büro meines Mannes. Und wagen Sie nicht zu behaupten, Sie hätten den Schlüssel nicht. Ihnen vertraut er ja anscheinend weit mehr als mir.“

Hannelore Blech, die es offenbar für besser hielt, nichts darauf zu erwidern, erhob sich etwas schwerfällig und ging zur Garderobe. Sie nahm ein Schlüsselbund aus ihrer Handtasche.

„Her damit!“, forderte Regina Hansen, riss Hannelore Blech die Schlüssel aus der Hand und marschierte zurück in den Flur. Ich stand nun ebenfalls auf und sah neben Hannelore Blech stehend zu, wie Regina Hansen die Tür zum Büro ihres Mannes aufschloss, das Deckenlicht einschaltete und in dem Raum verschwand.

„Frau Blech!“, hörten wir sie kurz darauf schreien. „Frau Blech, kommen Sie her!“

Meine Kollegin kam der Bitte, oder vielmehr dem Befehl, nach, und da sie mir nicht untersagt hatte, ihr zu folgen, tat ich es. Ich blieb unauffällig in der Tür des Büros von Philipp Hansen stehen. Es war ein schönes Zimmer mit einer großen Fensterfront, einem massiv wirkenden dunklen Holzschreibtisch, einem edlen Lederschreibtischstuhl, einem Aktenschrank in der Farbe des Schreibtischs, mehreren großen Grünpflanzen und einer gemütlichen Ledersitzgruppe um einen niedrigen Tisch mit Marmorplatte für Gespräche mit wichtigen Kunden. Mein Vorstellungsgespräch hatte dort ebenfalls stattgefunden.

Regina Hansen stand über den Schreibtisch gebeugt und hielt ein aufgeschlagenes Notizbuch in der Hand. Sie drehte sich zu Hannelore Blech um, als diese etwas zaghaft den Raum betrat. „Kommen Sie her!“, forderte Regina Hansen und hielt Hannelore Blech das Buch hin. „Hier! Lesen Sie vor, was da auf der Seite mit dem heutigen Datum steht!“

Meine Kollegin nahm das Notizbuch entgegen. Es sah so aus, als zitterten ihre Hände leicht. Hatte sie etwa Angst vor Regina Hansen? Diese wirkte mit ihren vor Zorn zusammengezogenen Augenbrauen tatsächlich etwas furchteinflößend. „Vorlesen, habe ich gesagt!“, kommandierte sie.

„Also da steht: ‚15:00 Uhr Rabenweide 12‘ ... und eine Telefonnummer“, antwortete Hannelore Blech brav. „... Soll ich die auch vorlesen?“

Ohne darauf zu antworten, nahm Regina Hansen den Hörer des auf dem Schreibtisch befindlichen weinroten Telefons ab und hielt ihn Hannelore Blech entgegen. „Anrufen.“

Meine Kollegin zögerte. Dabei war es doch nicht misszuverstehen, was Regina Hansen von ihr wollte.

„Anrufen, habe ich gesagt!“, wiederholte Regina Hansen barsch.

Hannelore Blech trat näher an den Schreibtisch heran. „Und ... was soll ich sagen, wenn sich jemand meldet?“, fragte sie zaghaft.

Regina Hansen drückte ihr den Hörer in die Hand und entriss ihr das Notizbuch. „Dann sagen Sie, dass Sie Ihren Vorgesetzten Herrn Hansen sprechen wollen.“

„Und wenn Herr Hansen dann ...“

„Jetzt wählen Sie die Nummer, die ich Ihnen diktiere“, unterbrach Regina Hansen in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Mich, die ich immer noch in der Tür stand und die absurde Szene mit widerwilliger Faszination beobachtete, nahm unsere Chefin anscheinend überhaupt nicht wahr. Stattdessen begann sie, aus dem Notizbuch eine Telefonnummer vorzulesen, die Hannelore Blech in die Tastatur des Telefons eingab. „Und?“, fragte Regina Hansen, nachdem Hannelore Blech anschließend einen Moment lang in den Hörer gelauscht hatte.

„Ich glaube ...“, suchte diese schüchtern nach Worten. „Ich meine ..., ich muss mich verwählt haben ...“

„Geben Sie her!“, befahl Regina Hansen und horchte nun selbst in den Hörer. Dann legte sie ihn mit einem zufriedenen Lächeln ungewöhnlich sanft auf die Gabel, platzierte das Notizbuch ordnungsgemäß auf dem Schreibtisch und ging auf die Tür zu. Ich trat automatisch einen Schritt zur Seite und rechnete damit, von Regina Hansen wegen meiner Neugier getadelt zu werden. Doch diese drehte sich stattdessen zu Frau Blech um. „Schließen Sie hier wieder ab“, sagte sie nur, verließ das Büro und stieg die Treppe hinab.

Ich wartete im Flur, bis Hannelore Blech die Tür des Büros von Philipp Hansen abgeschlossen hatte.

„Wir machen für heute Feierabend“, entschied meine Kollegin etwas hastig, als sie vor mir zurück in unser Büro ging. „Es ist schon spät. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Mit diesen Worten räumte sie ihren Schreibtisch auf, während ich ihr tatenlos dabei zusah, und zog sich anschließend ihre Jacke an. „Hier.“ Sie reichte mir meinen Parka und meine Tasche.

„Wer war denn vorhin am Telefon?“, traute ich mich endlich zu fragen, als wir das Gebäude durch einen Nebeneingang verlassen hatten und Hannelore Blech auch diese Tür sorgfältig abgeschlossen hatte.

„Ich muss mich verwählt haben“, lautete ihre unbefriedigende Antwort. „Das lag sicher an der Aufregung. Ich bin doch sonst so gut mit Zahlen. Wir hätten es einfach noch einmal versuchen sollen.“

Fragend sah ich sie an.

„Da kam die Ansage ‚Kein Anschluss unter dieser Nummer‘“, erklärte sie etwas widerwillig. „Schönen Feierabend.“ Mit diesen abrupten Abschiedsworten wandte sie sich von mir ab und ging über den Parkplatz zu ihrem Wagen.

Es war kein angenehmes Erlebnis gewesen, Zeugin zu werden, wie der eigene Chef seine Frau hinterging, wenn auch alle Beteiligten in der darauffolgenden Zeit das Thema mit keinem Wort mehr erwähnten.

Der Frühlingstag mehr als vierzehn Jahre später, an dem ich die Einladung erhielt, die mein Leben verändern sollte, war allerdings noch schlimmer. Dabei verlief er für mich zunächst ganz normal, um dann beinahe in einer Katastrophe zu enden. Das lag daran, dass Philipp Hansen, der nach wie vor mein Vorgesetzter war, an diesem Tag herausfand, dass mir ein großer Fehler unterlaufen war. Ein unverzeihlicher Fehler, der mir nicht einmal passiert war, als ich nach meiner Ausbildung ganz am Anfang meiner beruflichen Laufbahn als Küchenplanerin im Küchenstudio Hansen gestanden hatte.

Am späten Nachmittag kam ich zurück ins Geschäft, nachdem ich drei Termine zu Hause bei Kunden wahrgenommen hatte. Eigentlich wären die Termine die Aufgabe meiner Kollegin Julia Werner gewesen, denn es waren ihre Kunden, doch ich hatte Julia dazu überreden können, stattdessen beim Einbau der Küche in der Wohnung eines meiner Kunden vor Ort zu sein. In den Tagen davor war die alte Küche abgebaut, neue Stromleitungen gelegt, neu tapeziert und gefliest worden. Nun war der große Tag gekommen, und die neue, von mir entworfene Küche sollte eingebaut werden. Normalerweise ließ ich es mir niemals nehmen, den Einbau zu beaufsichtigen und die fertige Küche anschließend gemeinsam mit dem zufriedenen Kunden abzunehmen. Doch an diesem Tag ging das wegen eines wichtigen privaten Termins, den ich am Abend hatte, nicht. Ich wusste, dass Julia hoffnungslos romantisch war, und hatte daher behauptet, unbedingt pünktlich zu Hause sein zu müssen, um meinen Freund anlässlich unseres ersten Jahrestages mit einem Abendessen zu überraschen. Ein Teil davon stimmte zumindest. Es war Torbens und mein Jahrestag, und ich durfte wirklich an diesem Abend auf keinen Fall zu spät nach Hause kommen, denn es gab etwas, das ich auf keinen Fall verpassen wollte. Beim Einbau einer Küche konnte es immer zu Verzögerungen kommen. Ein Anschluss passte nicht. Ein Ersatzteil oder spezielles Werkzeug musste nachgeholt werden. Es kam zu Kurzschlüssen, deren Ursache herausgefunden werden musste, um nur einige mögliche Widrigkeiten aufzuzählen. An und für sich blieb ich dann stets gelassen und wartete geduldig, bis auch das letzte Problem behoben war und der Kunde in seiner neuen Küche kochen konnte, aber an diesem Tag wäre mir das Risiko, zu spät nach Hause zu kommen, zu groß gewesen. Daher hatte ich die Kundentermine von Julia Werner übernommen und mit dem höflichen Hinweis, jetzt leider zum nächsten Termin zu müssen, etwas verkürzt.

Als ich mich anschließend am Nachmittag noch einmal an meinen Schreibtisch setzte, wollte ich eigentlich nur noch den Lieferstatus von zwei Küchenbestellungen überprüfen und dann nach Hause fahren. Umso überraschter war ich, dass Julia Werner kurz nach mir das Büro betrat, das wir uns teilten, und neben meinem Schreibtisch stehen blieb. Julia war siebenunddreißig, drei Jahre älter als ich, hatte dunkelbraune kurze Haare und eine zierliche Figur. Auffallend waren die farbigen Gestelle ihrer Brillen, die sie nach ihrer Kleidung auswählte. Sie musste mindestens ein Dutzend haben. An diesem Tag war meine Kollegin in einen weißen Hosenanzug gekleidet, und so hatte auch ihre Brille ein weißes Gestell.

„Oh, seid ihr schon fertig“, sprach ich meine Kollegin erstaunt an. „Das ging ja schneller als erwartet. Dann hätte ich den Termin ja auch selbst übernehmen können. Na ja, leider weiß man so etwas ja nie vorher.“

Julia Werner blickte betreten zu Boden, und mir war sofort klar, dass etwas gründlich schiefgegangen war. Was das war, erfuhr ich schon einen Moment später, denn nun betrat auch ein verärgert wirkender Philipp Hansen mein Büro. Er sah immer noch so gut aus wie damals, als ich mich in der Ausbildung befunden hatte, wenn das Haar an seinen Schläfen auch mittlerweile von etwas Grau durchzogen war. Vor etwa zehn Jahren hatten er und ich für einige Monate ein Verhältnis gehabt, das nach einer Firmenfeier begonnen hatte. Philipp hatte damals unter seiner frustrierenden Ehe mit Regina gelitten und war auf der Suche nach Trost gewesen und ich ... wieder einmal nach einem Abenteuer. Inzwischen war er geschieden und wieder verheiratet. Zwischen uns beiden bestand ein stummes Einverständnis, die damalige Affäre mit keinem Wort mehr zu erwähnen. Ich kannte Philipps zweite Frau nicht, doch ein Foto von ihr stand auf seinem Schreibtisch, so als müsste er allen demonstrieren, dass er glücklich vergeben war und keine andere Frau mehr eine Chance bei ihm hatte. So ganz nahm ich Philipp das nicht ab, wünschte ihm aber für seine zweite Ehe von Herzen alles Gute.

„Kannst du mir bitte erklären“, begann mein um Beherrschung bemühter Chef, der wie gewöhnlich leger in Jeans und Oberhemd gekleidet war, „weshalb die Küchenfronten für den Kunden ...“ Er sah etwas hilflos zu Julia.

„Brecht“, half sie ihm auf die Sprünge. „Für das Ehepaar Brecht.“

„Ja ..., danke“, nahm Philipp den Faden wieder auf. „Also: Kannst du uns bitte erklären, weshalb die Küchenfronten für die Kunden Brecht in Hochglanz geliefert wurden, obwohl du ihnen angeblich eingeredet hast, dass Hochglanz viel zu gewöhnlich sei und echte Eleganz heutzutage durch Seidenmatt zum Ausdruck gebracht werde?“

Das stimmte. Ich hatte dem Ehepaar Brecht die von ihnen gewünschten beigen Küchenfronten in Seidenmatt schmackhaft gemacht, weil sie um einiges teurer als die Ausführung in Hochglanz waren und weil das Paar auf mich den Eindruck gemacht hatte, leicht beeinflussbar zu sein. Mit dieser Einschätzung hatte ich richtig gelegen, denn es hatte nicht viel Mühe bereitet, sie von ihrer eigentlichen Meinung abzubringen. Anderenfalls hätte ich das Vorhaben auch aufgegeben, denn das Risiko, dass beide am Ende bereut hätten, von ihrem ursprünglichen Entschluss abgewichen zu sein, wäre zu groß gewesen. „Nun“, suchte ich nach einer Erklärung, „dann wird die Küche falsch geliefert worden sein. Das wäre ja schließlich nicht das erste Mal.“

„Sieh bitte in der Bestellung nach“, forderte mich Philipp auf, und eine Ader an seiner Stirn trat deutlich hervor, wie immer, wenn er sich aufregte.

Sicher, keinen Fehler gemacht zu haben, rief ich den Bestellvorgang auf meinem Computerbildschirm auf, während Philipp und Julia hinter mir auf das Ergebnis warteten. Und da stand es schwarz auf weiß: Korpus „Vivaldi“ in Saharabeige, Hochglanz.

„Ich ...“, setzte ich an, doch mir fehlten angesichts dieses groben Patzers selbst die Worte. Noch nie in meiner bisherigen beruflichen Laufbahn war mir so etwas passiert. „Ich kann mir das ...“

Bitte bring das in Ordnung“, fiel mir Philipp ins Wort. „Wir haben schließlich einen Ruf zu verlieren.“

„Ja, natürlich“, gab ich mich kooperativ. „Ich werde Herrn und Frau Brecht sofort anrufen und um Entschuldigung bitten.“

„Das wirst du nicht.“ Philipps Gesichtsausdruck war unnachgiebig. „Du wirst dort hinfahren. Jetzt gleich. Es ist mir egal, was du den beiden erzählst, aber du wirst dafür sorgen, dass sie ihre Küche in Hochglanz lieben. Hast du mich verstanden?

„Ja, natürlich“, lenkte ich ein, da ich wusste, dass mir nichts anders übrigblieb. „Es ist mein Fehler, und ich werde dafür geradestehen.“

Philipp nickte nur mit ernster Miene, bevor er das Büro verließ. Julia ging ein paar Schritte auf die Tür zu, bevor sie sich noch einmal zu mir umdrehte. „Tut mir leid. Und das gerade heute, wo ihr doch euren Jahrestag feiern wolltet.“

„Was?“ Für einen Moment lang hatte ich keine Ahnung, wovon meine Kollegin sprach. „Ach so. Ach, ich werde gleich zu Hause anrufen und Torben sagen, dass ich mich verspäte. Dafür hat er sicher Verständnis. Er ist nämlich immer sehr ... verständnisvoll.“ Etwas zögernd fügte ich hinzu: „Sind sie sehr verärgert? Das Ehepaar Brecht, meine ich.“

„Verärgert nicht“, versuchte mich Julia zu beruhigen. „Nur verwundert, würde ich sagen. Und da ich den Vorgang nicht kannte, konnte ich ...“

„Ich weiß schon. Das ist ja auch meine Aufgabe, das wieder geradezubiegen“, kam ich ihr entgegen.

„Tja, ... ich werde dann für heute Feierabend machen. Viel Glück.“ Mit diesen Worten ließ mich Julia allein im Büro zurück.

Verdammt. Um zum Ehepaar Brecht zu gelangen, musste ich im Feierabendverkehr fast einmal quer durch die ganze Stadt fahren. Eine halbe Stunde Überzeugungsarbeit. Nein, eine Viertelstunde musste dafür reichen. Dann zurück ins Stadtzentrum zu unserer Wohnung. Es würde sehr knapp werden, das bis 19:00 Uhr zu schaffen. Doch ich durfte auf keinen Fall zu spät kommen.

Bevor ich losfuhr, rief ich von meinem Büroanschluss zu Hause an.

„Torben Brandt“, meldete sich mein Freund wie ein braver Schuljunge am Telefon.

Ich hatte ihn schon des Öfteren deswegen geneckt, woraufhin er sich gewöhnlich rechtfertigte, dass ja theoretisch auch jemand anders aus meiner Firma am anderen Ende der Leitung sein könnte und er sich lächerlich machen würde, wenn er sich zum Beispiel mit „Hallo Schatz“, melden würde.

Heute verkniff ich mir jeglichen Kommentar. „Hallo Schatz. Es tut mir leid, aber ich schaffe es nicht rechtzeitig zum Essen. Iss einfach ohne mich, ja?“

„Ach was. Ich kann doch auf dich warten. Das ist kein Problem“, bot mein gutmütiger Freund an. „Wann wirst du denn ungefähr hier sein?“

„Das weiß ich noch nicht. Ich muss hier noch ... ein Problem lösen. Bitte iss einfach ohne mich“, wiederholte ich meinen Vorschlag. Wenn ich nach Hause käme, hätte ich erst einmal Wichtigeres zu tun als zu essen.

„Na, wenn du meinst“, lenkte Torben ein. „Ich habe Gulasch gemacht. Das schmeckt auch aufgewärmt noch ganz gut. Und anschließend machen wir es uns so richtig gemütlich.“

„Sicher schmeckt das Gulasch aufgewärmt noch besser“, schmeichelte ich. „Bis später.“ Ich legte auf, ohne ein Abschiedswort meines Freundes abzuwarten.

Während der Fahrt zur Wohnung Brecht sah ich immer wieder nervös auf die Uhr hinter dem Lenkrad. Fast 18:00 Uhr. Und vor mir fuhren alle im Schneckentempo.

Um 18:10 Uhr erreichte ich endlich die Straße, in der sich die Wohnung des Ehepaars befand, und parkte, da ich keinen geeigneten Stellplatz fand, vor einer Einfahrt. Es war ja nur für ein paar Minuten. Ich klingelte unten an der Eingangstür des fünfstöckigen Backsteinhauses, und mir wurde ohne Nachfragen geöffnet. Vermutlich hatte Julia meinen Besuch vorhin bereits angekündigt. Etwas außer Atem erreichte ich den dritten Stock. Es gab einen Aufzug, den ich bereits bei meinem ersten Besuch benutzt hatte. Daher war ich der festen Überzeugung, jetzt schneller zu sein, wenn ich die Treppe nahm. Herr und Frau Brecht waren beide etwa Anfang sechzig und erwarteten mich Arm in Arm in ihrer Wohnungstür. Frau Brecht, eine schlanke Frau in Jeans und einem altrosa Pullover, trug ihre braun gefärbten Haare kinnlang, während ihr ebenfalls schlanker und in Jeans und grünes Polohemd gekleideter Mann fast komplett kahl war.

„Tja“, begann ich aufgesetzt heiter, als ich auf die beiden zuging, „da haben Sie heute eine ziemliche Überraschung erlebt, wie mir berichtet wurde.“ Ich reichte zuerst Frau Brecht und anschließend ihrem Gatten die Hand. „Wenn man nicht alles selbst kontrolliert! Mich hat heute ein Notfalltermin davon abgehalten, bei dem Einbau Ihrer Küche vor Ort zu sein, was ich sehr bedaure. Sonst wäre ich vorhin natürlich bei Ihnen gewesen und hätte Ihnen ... mit Rat und Tat zur Seite gestanden.“ Ich zwang mich, meinen Redeschwall zu unterbrechen. Schließlich hatte ich nur eine Viertelstunde Zeit.

„Ja, ... wir waren doch leicht verwundert“, erwiderte Herr Brecht etwas lahm, als ich dem Paar in den Flur ihrer Wohnung folgte. „Schließlich hatten Sie uns doch von Hochglanz abgeraten, und nun wurde Hochglanz geliefert.“

„Ja, da ist etwas bei der Lieferung schiefgelaufen“, erklärte ich. „Wie gesagt: Wenn man nicht alles selbst kontrolliert.“ Ich zeigte auf eine grün-weiß gemusterte Bodenvase, die neben der Garderobe stand und einen bunten Stoffblumenstrauß beinhaltete. „Oh, hatten Sie die beim letzten Mal auch schon, als ich hier war? Die sieht ja entzückend aus. Und gibt dem Flur gleich ein besonderes Flair.“

„Doch, die haben wir schon länger“, bestätigte Frau Brecht. „Die Vase gehörte meiner Mutter. Die soll auch einiges wert sein.“

„Das sieht man ihr auf jeden Fall an.“

Herr und Frau Brecht betraten den großen quadratischen Raum, in dem sich die Küche befand. Ich blieb in der Tür stehen, um den ersten Eindruck in mich aufzunehmen. Der dunkelbraun geflieste Boden und die schlichte, edle Deckenleuchte aus Chrom machten sich wunderbar. Statt des Küchentischs gab es in der Mitte des Raums nun einen modern wirkenden hohen Block mit saharabeiger Hochglanzoberfläche und darum herum vier Hocker, deren Sitzpolster und niedrige Lehnen mit cremefarbenem Kunstleder bezogen waren. Ich hatte dem Ehepaar zur pflaumenfarbenen Polstern geraten, um das Ganze etwas aufzulockern, doch das hatten die beiden abgelehnt, da es zu gewagt sei, aber auch die cremefarbenen Bezüge machten sich in der Küche sehr schön. Zwei der Wände wurden von den beigen Hochglanzküchenfronten eingenommen. Die Arbeitsplatten waren dunkelbraun und in edler Marmoroptik. Die Wände unter den Oberschränken waren mit Kunststoffplatten verkleidet, die mit überdimensionalen Kaffeebohnen und Limettenscheiben bedruckt waren. Die Küche war ein Meisterwerk. Nur dass ich das Ehepaar überredet hatte, Seidenmatt statt Hochglanz zu wählen.

„Das ist ...“, begann ich. Dann wandte ich mich an Herrn und Frau Brecht. „Aber sagen Sie selbst: Wie gefällt es Ihnen?“

„Ja ...“, antwortete Herr Brecht. „Ganz gut. Oder, Mathilde?“

Seine Frau nickte. Dann fügte sie etwas zögernd hinzu: „Aber Sie sagten doch, dass Hochglanz billig aussieht und wir lieber Seidenmatt nehmen sollten.“

„Da haben Sie mich etwas missverstanden“, behauptete ich, obwohl mich Frau Brecht durchaus richtig verstanden hatte. „Hochglanz kann – ich würde es eher ‚gewöhnlich‘ als ‚billig‘ nennen - wirken, und dieses Risiko wollte ich vermeiden. Aber in Ihrem Fall ... Ich meine: Wow! Sehen Sie sich doch nur dieses Schmuckstück von einer Küche an!“

Herr und Frau Brecht sahen sich gehorsam um.

„Besser geht es doch gar nicht, oder etwa nicht? Man kann fast von Glück reden, dass der Lieferant einen Fehler gemacht hat. Zumal die Küche für Sie nun durch die Hochglanzfront auch noch um einige Hundert Euro günstiger wird.“

„Ach ...?“, zeigte sich Herr Brecht verblüfft.

„Das soll natürlich nicht heißen, dass ich Ihnen die Küche aufschwatzen will“, stellte ich klar. „Wir können die Fronten natürlich austauschen. Es dauert aber ein paar Wochen, bis die neuen geliefert sind. Da haben Sie sich dann gerade an Ihre neue Küche gewöhnt, fühlen sich darin pudelwohl, und dann gerät wieder alles durcheinander ... Renovierungen sind ja immer mit Schmutz und Umständen verbunden. Aber das müssen Sie selbst wissen. Ich will Ihnen nicht in Ihre Entscheidung hineinreden.“

Herr Brecht sah seine Frau an. „Also, was meinst du, Mathilde?“

„Sie ist ja wirklich schön ...“, gab Frau Brecht zu. „Oder gefällt sie dir nicht, Hans-Günther?“

„Doch, doch“, stimmte Herr Brecht zu. „Aber du wirst ja hauptsächlich darin kochen, backen und was weiß ich nicht alles. Dir muss sie in erster Linie gefallen, Mathilde.“

Herr Brecht und ich sahen Frau Brecht erwartungsvoll an.

„Wir behalten die Küche so, wie sie ist“, entschied diese.

„Sehr schön“, versuchte ich, das Gespräch nun schnell zum Abschluss zu bringen. „Das ist die richtige Entscheidung. Sie werden mit dieser Küche sehr glücklich werden. Das spüre ich. Ich wünsche Ihnen beiden noch einen schönen Abend.“

Es war 19:02 Uhr, als ich den Wagen vor dem vierstöckigen Haus parkte, in dem sich die Wohnung befand, die ich seit einigen Monaten mit meinem Freund Torben teilte. Beim zu hektischen Aussteigen verdrehte ich mir das Bein, dass es schmerzte. Ich zwang mich, dennoch schnell die Treppe bis in den dritten Stock hinaufzulaufen, und schloss mit zitternden Fingern die Wohnungstür auf. Im Wohnzimmer hörte ich den Fernseher. Gut. Noch in Jacke und Straßenschuhen steckte ich meinen Kopf zur Wohnzimmertür hinein. Torben saß auf dem Sofa und sah sich eine seiner geliebten Tiersendungen an, während ihm seine Katze Miezi auf seinem Schoß Gesellschaft leistete.

„Bin wieder da“, flüsterte ich und küsste Torben auf den Kopf.

Er sah lächelnd zu mir hoch und griff nach meinem Arm. „He, schön, dass du endlich zu Hause bist. Soll ich dir das Gulasch aufwärmen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich ... muss noch was für die Firma erledigen.“

Torben sah mich entgeistert an. „Was, jetzt noch?“ Besorgt fuhr er fort: „Du darfst dich nicht so ausnutzen lassen. Das geht doch nicht, dass du ständig so viel arbeitest. Du wirst noch krank davon werden.“

Ich hatte jetzt keine Zeit für Diskussionen. „Wir sprechen nachher, okay? Wenn ich dein Gulasch genieße.“ Ich gab meinem Freund noch einen flüchtigen Kuss, verließ eilig das Wohnzimmer und verschwand in dem Raum, den ich als Bügel- und Arbeitszimmer sowie als Abstellraum nutzte.

Während mein Laptop hochfuhr, zog ich hastig meine Jacke aus, warf sie achtlos auf das Sofa, das früher in meiner Wohnung gestanden hatte, und kickte meine Schuhe in eine Ecke. Endlich war es so weit. Es war 19:07 Uhr, als ich mich mit klopfendem Herzen in dem Chat-Room anmeldete. Ich war sieben Minuten zu spät. Black Tiger war bereits online.

Wonder Woman lässt mich warten, schrieb er. Das ist nicht nett.

Du wirst es nicht bereuen, dass Du auf mich gewartet hast, lautete meine Antwort.

Black Tiger: Sag mir, wie Du es wieder gutmachen willst.

Wonder Woman: Nein. Sag Du mir, wie ich es wieder gutmachen soll.

Black Tiger: OK. Dann beschreibe mir erst einmal genau, was für Unterwäsche Du heute trägst. Und wage es ja nicht, auch nur ein Detail auszulassen.

„Das Gulasch schmeckt superlecker!“, lobte ich etwa zwei Stunden später, als ich es mir mit meinem Teller auf dem Schoß neben Torben auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte und das Essen gierig in mich hineinschaufelte. Miezi hatte weichen müssen und lag zu Torbens Füßen.

„Ich meine das, was ich vorhin gesagt habe, ernst, Sandra“, erwiderte mein Freund, ohne auf mein Lob einzugehen. „Du kannst dich nicht ständig so ausnutzen lassen und abends zu Hause weiterarbeiten. Wenn dein Chef nicht mit sich reden lässt, musst du darüber nachdenken, dir eine andere Anstellung zu suchen. Ich mache mir wirklich Sorgen um dich.“

Ich legte meine Gabel auf den Teller und stellte ihn auf dem Wohnzimmertisch ab. Torben konnte richtig niedlich sein, wenn er sich um mich sorgte. Er hatte eine so viel bessere Frau als mich verdient.

„Alles Gute zum Jahrestag“, sagte ich und küsste ihn auf den Mund.

„Du hast es trotz des ganzen Stress bei der Arbeit nicht vergessen, was?“, antwortete er, bemüht, seine Rührung vor mir zu verbergen, und nahm meine Hand.

„Natürlich nicht. Was denkst du denn von mir?“

„Warte einen Moment.“ Mein Freund stand auf und kehrte kurz darauf mit einem Strauß roter Rosen zurück. „Für dich.“ Er reichte mir den Strauß. „Alles Gute zum Jahrestag. Ich bin so froh, dich in meinem Leben zu haben.“

Nun kamen mir fast die Tränen. „Danke“, flüsterte ich. „Die Blumen sind wunderschön.“

„Ich hole dir eine Vase“, bot Torben an.

„Da ist übrigens heute ein recht farbenfroher Briefumschlag für dich angekommen“, fuhr er fort, als die Blumen mit Wasser versorgt waren und in einer Vase auf dem Wohnzimmertisch standen. „Liegt im Flur neben dem Telefon.“

„Den sehe ich mir später an. Jetzt möchte ich erst einmal in Ruhe dein fantastisches Gulasch zu Ende essen.“ Mit diesen Worten nahm ich den Teller vom Wohnzimmertisch und schob mir mit der Gabel einen großen Bissen in den Mund.

Kennengelernt hatten Torben und ich uns vor etwas mehr als einem Jahr auf einer Party, die ein gemeinsamer Bekannter von uns gegeben hatte, obwohl „Bekannter“ eigentlich zu viel gesagt war, denn ich kannte den Gastgeber ehrlich gesagt kaum. Torben war ich noch nie zuvor begegnet. Ich hatte die Party mit meiner besten Freundin Nathalie Steinbrink besucht, mit der ich zur Schule gegangen war und die nun als Polizistin arbeitete. Wegen ihres Schichtdienstes hatten wir nicht so oft Gelegenheit zu abendlichen Unternehmungen, und obwohl ich grundsätzlich offen für alles war, hätte ich lieber einen Abend mit Nathalie allein im Kino oder in einem Restaurant verbracht als auf einer lauten Party im Gedränge zu stehen und von irgendwelchen Leuten vollgequatscht zu werden, die mich nicht interessierten. Nathalie versuchte gern, mich zu verkuppeln, obwohl sie selbst auch Single war. Dass sie unbedingt einen Mann für mich finden wollte, lag an meinem Fehler, ihr von der Online-Singlebörse zu erzählen, bei der ich zu der Zeit angemeldet war, und von den diversen Verabredungen, die ich seitdem gehabt hatte. Nicht alle waren unterhaltsam gewesen, eine sogar so grauenhaft, dass ich im Restaurant, in dem das Treffen stattgefunden hatte, heimlich durch den Hinterausgang verschwunden war. Doch fand ich es im Nachhinein komisch, davon zu erzählen. Nathalie konnte darüber überhaupt nicht lachen, im Gegenteil, sie hielt es für unverzeihlich leichtsinnig, sich mit wildfremden Männern zu verabreden und ihnen in ihre Wohnung zu folgen, wie ich es zugegeben auch schon mehr als einmal getan hatte. Immer wieder hatte sie mich angefleht, von diesen Abenteuern zu lassen, doch das konnte ich nicht. Es war das Aufregendste, das ich in meinem Leben hatte. Insgeheim reizte mich wohl auch die Gefahr, denn theoretisch konnte jeder, den ich nach Hause begleitete, ein gewalttätiger Irrer sein. Ich hörte auf, Nathalie von meinen Erlebnissen zu berichten, dabei hatte ich es genossen, sie mit jemandem zu teilen. Auch Nathalie sprach mich nicht mehr darauf an. Es war wie eine unsichtbare Wand, die zwischen uns stand, und die uns voneinander entfremdete. Umso mehr freute ich mich, als mich meine beste Freundin nach einigen Wochen fast kompletter Funkstille anrief, um mir vorzuschlagen, sie zum dreißigsten Geburtstag eines Bekannten zu begleiten, der bei ihm zu Hause gefeiert wurde.

Als mich Nathalie zu der Party abholte, hätte ich sie am liebsten gebeten, stattdessen gemeinsam einen ruhigen Abend bei mir zu verbringen, aber als ich sah, wie viel Mühe sie sich mit ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrem Make-up gegeben hatte, wusste ich, dass ich keine Chance hatte, ihr unser Vorhaben auszureden.

Nathalie stammte ursprünglich aus dem Nahen Osten – sie wusste seltsamerweise selbst nicht einmal, aus welchem Land - und war als Kleinkind nach Deutschland gekommen. Über einige Umwege war sie mit acht Jahren von einem deutschen Ehepaar adoptiert worden, das in derselben Wohnsiedlung lebte wie ich mit meiner Familie. Meine beste Freundin hatte keine schöne Kindheit verbracht. Ihre Adoptivmutter war eine gefühlskalte Frau, die ihre Launen an Nathalie ausließ, und ihr Adoptivvater ein schweigsamer Mann, dem alles egal zu sein schien, auch, dass der Vorname seiner Adoptivtochter auf Wunsch seiner Frau geändert wurde. Nathalies ursprünglicher Name war Neyla gewesen. Frau Steinbrink hatte damals, um es milde auszudrücken, nicht sehr positiv reagiert, als sie zufällig erfuhr, dass ihre Adoptivtochter mir dies anvertraut hatte.

Die Party fand an einem eisigen Februarabend statt, doch Nathalie hatte zu hohen schwarzen Pumps und einer schwarzen Netzstrumpfhose ein knappes kurzärmeliges schwarzes Kleid gewählt, das sie mit ihrer sportlichen Figur sehr gut tragen konnte. Darüber trug sie nur ein grobmaschiges Häkeljäckchen. Nathalie hatte langes, dickes, dunkelbraunes, welliges Haar, um das ich sie beneidete. Sie hatte es kunstvoll hochgesteckt und eine große goldfarbene Spange an ihrem Hinterkopf befestigt. Ihr Mund war dunkelrot geschminkt und ihre großen dunkelbraunen Kulleraugen schwarz umrandet und mit reichlich Wimperntusche betont. Nathalie redete oft davon, dass ihre Nase zu groß sei, und versuchte mit diesen Schminktricks, davon abzulenken. Obwohl ich diesen Schwachpunkt kannte, hätte ich meine beste Freundin, nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt hatten, angesichts ihrer Aufmachung fast im Scherz gefragt, ob sie auf Männerfang sei. Ich wusste, dass das gemein war, und so verbiss ich mir den Kommentar, nicht zuletzt, weil ich ihre sichtlich gute Stimmung nicht verderben wollte.

Ich selbst hatte mir mit meinem Erscheinungsbild weitaus weniger Mühe gegeben. Bis zuletzt hatte ich damit gewartet, mich zurechtzumachen, da mir der Sinn viel mehr nach einem Fernsehabend als nach einer Feier stand. Meine langen schlanken Beine, die ich glücklicherweise von meiner Mutter geerbt hatte, steckten in einer engen verwaschenen Jeans, die ich schon seit Ewigkeiten besaß. Dazu hatte ich einen dünnen roten Pullover mit V-Ausschnitt und schwarze Wildlederstiefel gewählt. Leider hatte ich meiner Mutter auch mein feines hellblondes Haar zu verdanken, das bei feuchtem Wetter dazu neigte, sich zu kräuseln. Damit ließ sich beim besten Willen nicht viel anfangen. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich einen längst fälligen Friseurtermin immer wieder aufgeschoben, so dass meine normalerweise kinnlangen Haare nun fast meine Schultern berührten. Es wäre geschmeichelt gewesen, den derzeitigen Zustand auf meinem Kopf als Frisur zu bezeichnen. Ich hatte einen hellen Teint, blaue Augen und einen – im Gegensatz zu meiner kleinen Nase – breiten Mund. Alles in allem fand ich mein Aussehen ganz passabel. Dass ich mich an diesem Abend bis auf eine Make-up-Grundierung, etwas Puder und Wimperntusche nicht geschminkt hatte, lag allerdings daran, dass ich mir von der Party nicht viel versprach und nicht einsah, weshalb ich mich dafür groß zurechtmachen sollte.

„Du siehst toll aus“, lobte Nathalie mein Erscheinungsbild, und es klang aufrichtig. Ich konnte mir aus ihrem Mund auch keine unehrlichen Worte vorstellen. Trotz ihrer Vergangenheit, über die sie ungern sprach, hatte meine beste Freundin nicht den Glauben an das Gute verloren und war zu allen stets freundlich. Sie war auch Polizistin geworden, um anderen Menschen zu helfen. Für diese unerschütterlich positive Einstellung bewunderte ich Nathalie.

„Ach was, du siehst toll aus!“, widersprach ich.

„Na, dann sehen wir eben beide toll aus“, bot sie mir lachend als Kompromiss an.

„Ist es nicht etwas peinlich, wenn wir bei der Party ohne Geschenk für den Gastgeber auftauchen?“, wagte ich doch noch einen Versuch, den Abend, statt auszugehen, vor dem Fernseher zu verbringen.

„Mach dir keine Sorgen, ich habe etwas besorgt“, erwiderte Nathalie unbeschwert. „Das wird bestimmt gut ankommen. Ich verrate dir nicht, was es ist, ja? Lass dich einfach überraschen.“

„Na gut“, gab ich mich geschlagen, zog meine Winterjacke an und nahm Handtasche und Schlüssel.

Wir erreichten das Haus, in dem die Geburtstagsfeier stattfinden sollte, mit Nathalies Kleinwagen. Ich wunderte mich jedes Mal, dass sie in egal welchen Schuhen fahren konnte. Ich nahm, wenn ich elegante Schuhe trug, zum Fahren immer ein Paar Turnschuhe mit.

Nach etwa einer Dreiviertelstunde hielten wir vor einem Einfamilienhaus, das in einem Wohngebiet am Stadtrand lag.

„Hat der mit dreißig schon ein eigenes Haus?“, fragte ich beeindruckt, als wir ausstiegen.

Der heißt Max“, erklärte Nathalie freundlich. „Du solltest dir besser den Namen unseres Gastgebers merken. Und es ist das Haus seiner Eltern.“

„Er ... Max wohnt mit dreißig noch zu Hause?“, erkundigte ich mich. Ich wusste über diesen Max so gut wie gar nichts, war ihm bisher höchstens dreimal begegnet.

„Ja ...“, gab Nathalie zögernd zu und ging mit dem kleinen, in buntes Papier eingewickelten Geburtstagsgeschenk in der Hand durch die niedrige Gartenpforte. „Ist eine längere Geschichte.“

„OK, ich kann darauf verzichten. Sehen wir lieber zu, dass wir ins Warme kommen.“

Auf unser Klingeln wurde sofort geöffnet, und vor uns stand Max, ein etwas übergewichtiger Mann mit sehr kurzen blonden Haaren und Brille in einem kurzärmeligen, hellblauen Oberhemd, das eindeutig zu eng saß, dunkelblauer Jeans und ... Pantoffeln, wie ich erstaunt feststellte, als ich automatisch an ihm heruntersah.

„Hallo Max!“, rief Nathalie erfreut, umarmte ihn und strich ihm über das pelzartige Kopfhaar. Eine seltsam vertraute Geste, wie ich fand, doch Max ließ sie sich gern gefallen. „Alles, alles Gute zum Geburtstag! Dein Geschenk bekommst du sofort, nur lass uns bitte erst ins Warme.“

„Ja, natürlich, kommt doch rein“, forderte uns das Geburtstagskind auf und trat einen Schritt zur Seite, um uns in den Flur zu lassen, an dessen Wände mehrere Geweihe hingen.

„Auch von mir herzlichen Glückwunsch“, sagte ich ungewohnt steif und gab Max die Hand.

Er hatte breite Hände und einen festen Händedruck. „Willst du deine Jacke ausziehen?“, bot er mir an.

„Ja, gern.“

Max nahm mir meine Winterjacke ab und versuchte, sie noch an der bereits gut gefüllten Garderobe unterzubringen, was ihm schließlich gelang. „Die Feier findet im Wohnzimmer statt“, teilte uns unser Gastgeber mit. „Also, eigentlich sind es zwei Wohnzimmer mit einer mobilen Trennwand. Werdet ihr gleich sehen.“

Wir folgten ihm durch eine offen stehende Tür in ein beachtlich großes Zimmer, aus dem angeregte Unterhaltungen drangen.

„Wir haben die Musik noch nicht angemacht“, erklärte uns Max, „damit wir die Klingel hören. Aber demnächst, wenn alle da sind, geht die Party richtig los.“

Ich sah mich um. Etwa zwanzig Personen standen auf einem Holzdielenboden in kleinen Gruppen in dem hell tapezierten Raum, der zu unserer Rechten durch eine hellbraune, faltbare Kunststofftrennwand geteilt werden konnte. Einige Gäste hielten bei unserer Ankunft die Hand hoch oder riefen uns eine Begrüßung zu, andere nahmen von uns überhaupt keine Notiz. Mir kamen auch nur wenige Gesichter bekannt vor.

An der Wand rechts neben der Tür stand ein breiter Schrank aus Kiefernholz mit Schnitzereien in den Fronten, die Jagdszenen nachempfunden waren. Einen ähnlichen, etwas schmaleren Schrank gab es ein Stück weiter an derselben Wand im zweiten Wohnzimmer. Vor den Schränken lagen zusammengerollte große Teppiche, die vermutlich angesichts der vielen Gäste in Straßenschuhen geschont werden sollten. Die Wand links von der Tür wurde von einem mit hellblauem Stoff bezogenen Sofa eingenommen. Davor standen zwei dazupassende Sessel. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums gab es eine mit braunem Stoff bezogene, aber ansonsten identisch aussehende Sitzgruppe, nur war dort zusätzlich noch ein weiteres, kleineres Sofa vorhanden. Was für eine eintönige Möblierung. Ich hätte die Raumteile so eingerichtet, dass sie einen interessanten Kontrast zueinander gebildet hätten. Die beiden Tische, die sicher ursprünglich zwischen den Sofas und Sesseln gestanden hatten, waren nebeneinander an die Wand gegenüber der Tür vor die Fenster geschoben und mit weißen Tischdecken verziert worden, um darauf ein Büfett aufzubauen. Außerdem waren noch einige Stühle zu den eigentlichen Sitzmöbeln gestellt worden, die aufgrund ihres dunkleren Holzes nicht so recht mit den restlichen Möbeln harmonierten, um allen Gästen eine Sitzmöglichkeit zu bieten. Ferner stand an der Seite des vorderen Raums, an der geöffneten Trennwand und zwischen den beiden Tischen mit dem Büfett, auf einer Kommode ein Fernseher und daneben eine Musikanlage, die angesichts der restlichen unmodernen Einrichtung fehl am Platz wirkte. Die Sitzmöbel, vielleicht auch die Kommode, waren so weit verrückt worden, um in der Mitte des großen Raumes eine ausreichende Tanzfläche zu schaffen. Die Wände waren mit diversen Geweihen und Bildern, die Jagdszenen zeigten, geschmückt.

„Mein Vater ist leidenschaftlicher Jäger“, teilte uns Max mit. „Deshalb sind wir so eingerichtet. Aber für mich ist das nichts. Obwohl die Braten, die meine Mutter aus den erlegten Tieren zubereitet, fantastisch schmecken. Sie hat übrigens alle Snacks für das Büfett zubereitet. Sie hätte für die Party auch etwas Richtiges gekocht, aber ich wollte nur Kleinigkeiten, weil es sonst so umständlich mit dem Essen ist.“

„Hier, Max, dein Geschenk“, wechselte Nathalie das Thema. „Von Sandra und mir. Ich bin so gespannt, was du sagst!“

Ich konnte die Aufregung meiner besten Freundin nicht nachvollziehen und hatte so langsam den Eindruck, sie könnte in diesen Max verschossen sein.

Der nahm das kleine Geschenk entgegen, löste vorsichtig das Geschenkband und wickelte es aus, wobei er darauf achtete, das bunte Geschenkpapier möglichst wenig zu beschädigen. Zum Vorschein kam ein Karton.

„Mach auf! Ich kann es kaum erwarten, dein Gesicht zu sehen!“, drängte Nathalie.

Max hob den Deckel des Kartons ab, und darin befanden sich ... drei kleine bunte Metallautos. Das konnte doch nicht Nathalies Ernst sein.

„Und?“, wollte sie wissen. „Hast du die schon? Ich habe neulich stundenlang auf einem Flohmarkt gesucht, bis ich die zusammenhatte!“

„Nein, ich ...“ Max schien vollkommen überwältigt und nahm vorsichtig einen grünen Miniwagen aus dem Karton, um ihn näher zu betrachten. „Wow, die sind ... einfach fantastisch. Die fehlten mir tatsächlich noch in meiner Sammlung. Ich danke dir.“

„Die Autos sind von Sandra und mir“, stellte meine korrekte Freundin richtig. „Ich habe sie nur ausgesucht, weil ich dich besser kenne und weiß, dass du sie sammelst.“

Die Türklingel unterbrach das Gespräch. Max deponierte den Karton samt Verpackung sorgfältig in einem Schrankfach, in dem sich anscheinend schon weitere Geschenke befanden, bevor er im Flur verschwand.

Kurz darauf kehrte unser Gastgeber mit einem sportlich wirkenden, dunkelhaarigen Mann zurück, der in Jeans und Jeanshemd gekleidet war und den etwa einen Meter siebzig großen Max um fast einen Kopf überragte. Von allen anwesenden Männern schien der neue Gast der attraktivste zu sein, doch er mischte sich unter die Anwesenden und war schnell in ein Gespräch vertieft, bevor ich Gelegenheit hatte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

Nathalie und ich standen etwas verloren herum. Das bemerkte anscheinend auch Max. „Darf ich euch meine Spezialmischung anbieten?“, sprach er uns an. „Um warm zu werden, meine ich.“

„Das ist lieb von dir, Max, aber ich muss noch fahren“, lehnte Nathalie freundlich ab. „Wenn du eine Cola für mich hättest?“

„Na klar.“ Er sah zu mir. „Und für dich die Spezialmischung? Du wirst es nicht bereuen, das verspreche ich dir.“

Ich wollte nicht unhöflich wirken und nickte daher. Dabei hatte ich seit dem Mittag nichts mehr gegessen und war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee war, den Abend mit einem alkoholischen Cocktail zu beginnen. Unser Gastgeber holte die gewünschten Getränke aus einem Fach in einem der beiden Wohnzimmerschränke, das zur Bar umfunktioniert worden war, und kehrte mit zwei gefüllten Gläsern zu uns zurück.

Mir fiel auf, dass sich die anderen Gäste einfach selbst bedienten, und ich fühlte mich ein wenig wie eine unbeholfene Außenseiterin. Wieder kam mir in den Sinn, dass ich den Abend nicht auf dieser Party hatte verbringen wollen. Max blieb bei Nathalie und mir erwartungsvoll stehen, als ich den ersten Schluck von dem orangefarbenen Getränk nahm. Es schmeckte fruchtig, nicht zu süß und kaum nach Alkohol.

„Na, was sagst du?“, wollte Max von mir wissen. „Der Drink ist ‛ne Wucht, oder? Habe ich selbst kreiert.“

„Ja.“ Ich nickte und nahm noch einen Schluck. „Ist dir gelungen.“

Max begann ein Gespräch mit Nathalie über seine Autosammlung. Ich hatte Mühe, der Unterhaltung, die mich sowieso nicht sonderlich interessierte, zu folgen, und trank hauptsächlich aus Langeweile immer wieder aus meinem Glas, bis es leer war. Ich gab es auf, dem Gespräch neben mir zu lauschen, und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Wahrscheinlich waren nun alle Gäste eingetroffen. Da wurde es doch Zeit, dass jemand die Musikanlage in Betrieb nahm.

Ich stellte mein Glas in einem Schrankfach ab und bahnte mir meinen Weg durch die Menschengrüppchen zur Musikanlage. Nacheinander nahm ich einige CDs, die ordentlich in einem Turm untergebracht waren, in die Hand und sah sie mir an. Die obersten enthielten Schlager und Volksmusik und gehörten vermutlich Max‛ Eltern. Weiter unten wurde es schon interessanter. Es war sogar eine CD meiner Lieblingsband dabei. Ich legte die CD ein, drehte die Lautstärke hoch und drückte „Play“. Eine Sekunde später dröhnte Hardrock durch die beiden Lautsprecher, und alle Augen waren für einen kurzen Moment auf mich gerichtet. Meine Musikwahl stieß anscheinend auf allgemeines Wohlgefallen. Einige der Anwesenden begannen wie ich, automatisch im Rhythmus der Musik mitzuwippen, doch ich war die Einzige, die kurze Zeit später tatsächlich ausgelassen tanzte.

Ich war ganz in die Musik vertieft und erschrak beinahe, als die Lautstärke nach einigen Songs durch Max gedrosselt wurde, der verkündete, dass das Büfett nun eröffnet sei. Daraufhin bewegten sich alle zu den beiden Tischen, auf denen diverse Snacks standen. Ich hielt es ebenfalls für eine gute Idee, etwas zu essen, da sich mein Kopf so unangenehm leicht anfühlte. Unter den Wartenden befand sich auch der attraktive Dunkelhaarige, der mich sogleich ansprach. „Eine gute Musikwahl.“

„Ja, finde ich auch“, gab ich zurück und musste lachen.

Der Mann lächelte. „Ich bin Torben Brandt.“

„Sandra Jordan. Hallo.“ Ich gab ihm die Hand. Seine Hand war schlank, trocken und warm.

„Sandra. Ein schöner Name.“

„Finden Sie? Da sind Sie aber der Erste, der dieser Ansicht ist.“ Ich merkte, dass mir erneut ein Lachen die Kehle heraufkroch. Ich musste dringend etwas essen. Was war nur in diesem verdammten Drink gewesen?

„Ich kenne Max vom Squash. Und Sie?“

„Keine Ahnung.“ Mir fiel beim besten Willen nicht ein, wo ich Max zum ersten Mal gesehen hatte. „Jedenfalls nicht vom Squash.“ Diese Bemerkung schien mir sehr komisch zu sein, und ich konnte ein ausgelassenes Lachen nicht unterdrücken.

Dem Mann gefiel meine heitere Art anscheinend, und er lachte ebenfalls. Vielleicht machte er sich auch insgeheim über mich lustig.

„Torben!“, hörte ich plötzlich Nathalies Stimme neben mir. „Schön, dich hier zu treffen!“

„Hallo Nathalie“, grüßte mein Gesprächspartner zurück. „Die Welt ist klein.“

„Ihr kennt euch?“, fragte ich verdutzt, obwohl es ja offensichtlich war.

Der Mann öffnete den Mund, um zu antworten, doch Nathalie kam ihm zuvor. „Ja, von einem Schulprojekt.“

Von einem Schulprojekt? Dann hatte der Kerl etwa Kinder im Schulalter? Ich geriet doch immer an den Falschen. Sofort war meine gute Laune dahin.

„Ich bin Gymnasiallehrer“, erklärte Torben Brandt zu meiner Erleichterung. „Wir hatten vor einigen Wochen die Polizei für Gastvorträge an unsere Schule geladen. Es ging um Gewaltprävention und Aufklärung über Drogen. Das war ein wichtiges Projekt und ist bei den Schülern sehr gut angekommen.“

„Das freut mich.“ Nathalie war sichtlich geschmeichelt. „Für mich war ...“

„Na, unterhaltet ihr euch gut?“, unterbrach Max sie und wandte sich sogleich an mich. „Ich fand es übrigens eben sehr cool von dir, dass du einfach die Musik angeschmissen und getanzt hast. Hat mich echt beeindruckt. Und die allgemeine Stimmung auf jeden Fall um einiges aufgelockert.“

„Danke.“ Ich fühlte die Blicke von Nathalie und Torben Brandt auf mir und war auf einmal verlegen. „Ich glaube, das lag nicht zuletzt an deiner Spezialmischung“, gab ich Max gegenüber zu. „Die hatte es in sich.“

„Ja, die ist nicht schlecht, oder? Soll ich dir noch ein Glas ...“

„Nein, nein“, lehnte ich schnell ab. „Ich brauche jetzt erst einmal etwas Festes im Magen.“

„Wie wäre es mit Roastbeef-Sandwich, Hackklößen und einem mit Mozzarella und Tomate gefüllten Wrap?“ fragte Torben Brandt, der sich bereits an dem Büfett bedient hatte, und reichte mir den von ihm gefüllten Teller.

Als Nathalie und ich Stunden später nach Hause fuhren, hatte ich beste Laune, während Nathalie ungewohnt schweigsam war. Ich hatte mich während des Essens gut mit Torben Brandt unterhalten, den ich zwar für etwas spießig, aber nett hielt, und anschließend mit einigen anderen Gästen geplaudert, die ich flüchtig kannte. Max hatte immer wieder meine Nähe gesucht, und auf sein Drängen hatte ich noch eine Spezialmischung getrunken, die dank meines vollen Magens keinen so starken Effekt wie der erste Drink gehabt hatte. Die Tanzfläche hatte sich wie von selbst gefüllt, als ich Max gebeten hatte, eine CD mit typischer Partymusik aufzulegen, und ich hatte großen Spaß beim Tanzen gehabt, nicht zuletzt wegen Max‛ roboterhaftem Tanzstil. Nathalie hatte uns Gesellschaft geleistet, doch hatte ich das Gefühl gehabt, dass sie nicht so recht bei der Sache war. Nach einer Weile hatte sich sogar Torben Brandt auf die Tanzfläche gewagt, und ich fragte mich, ob das an mir gelegen hatte. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass das an mir gelegen hatte.

Ich blickte verstohlen zu Nathalie hinüber, die sich ganz auf das Fahren konzentrierte. Es schneite leicht. Dennoch glaubte ich nicht, dass das der Grund dafür war, dass sie, seit wir uns vor etwa einer Viertelstunde bei Max verabschiedet hatten, kein Wort mehr mit mir gesprochen hatte.

„Was macht Max eigentlich beruflich?“, fragte ich schließlich, um das unangenehme Schweigen zu unterbrechen.

„Er ist IT-Spezialist“, antwortete Nathalie sachlich und ergänzte, als hätte ich daran gezweifelt: „Er ist ein sehr, sehr schlauer Kopf.“ Als ich nichts darauf erwiderte, fügte sie hinzu, als müsste sie Max vor mir verteidigen: „Nur weil jemand mit dreißig noch zu Hause wohnt, Spielzeugautos sammelt und etwas ungeschickt tanzt, heißt das nicht, dass derjenige ein Idiot ist, über den man sich lustig machen kann.“

Verwundert sah ich Nathalie an. So kannte ich sie gar nicht. „Das habe ich doch auch gar nicht behauptet“, rechtfertigte ich mich. „Und ich habe mich nicht über Max lustig gemacht. Ich habe ... mich einfach nur gut amüsiert.“

Meine Freundin blickte schweigend geradeaus.

Ich entschied mich für ein offenes Wort. „Du stehst auf Max, richtig? Es stört dich, dass ... er mich ein bisschen hofiert hat.“

Nathalie schüttelte den Kopf und sah, als wir vor einer roten Ampel hielten, zu mir herüber. „Ach was. Tut mir leid, wenn das, was ich eben gesagt habe, komisch geklungen hat. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir. Ständig so viele Überstunden ... und kein Ende in Sicht. Aber es ist nicht richtig, das an anderen auszulassen. Erst recht nicht an meiner besten Freundin.“

„Schon gut“, gab ich mich versöhnlich.

Den Rest der Fahrt über vermieden wir es, über den Abend zu sprechen, und redeten stattdessen über belanglose Themen. Doch als ich etwas später in meinem Bett lag und den Abend Revue passieren ließ, fragte ich mich, ob ich mit meiner Vermutung, dass Nathalie in Max verliebt war, nicht doch Recht hatte.

An einem Samstag Mitte März hatte ich Max‛ Geburtstagsfeier schon fast wieder vergessen. Ich war an diesem Tag verärgert, da meine Mutter mich schon am frühen Morgen angerufen hatte, obwohl sie, auch wenn sie selbst nur einige Stunden pro Woche in der Buchhaltung eines Warenhauses aushalf, sich doch denken konnte, dass jeder, der werktags zeitig aufstehen musste, froh darüber war, am Wochenende etwas länger schlafen zu können, zumal ich auch oft noch samstags im Küchenstudio sein musste. Die frühe Uhrzeit des Anrufs meiner Mutter war es allerdings nicht allein, die mir meine Laune verdorben hatte, sondern der Grund, weshalb meine Mutter mich anrief. Es war der Grund, der seit ungefähr Weihnachten ihr einziges Gesprächsthema zu sein schien: ihr sechzigster Geburtstag im Mai, den sie groß in einem Gasthaus feiern wollte. Anfangs hatte sie mich mit der Gästeliste und der Essensauswahl genervt, anschließend mit der Gestaltung der Einladungskarte, der sie als dezentem Hinweis für mögliche Geschenkideen eine kleine Wunschliste beifügen wollte. In letzter Zeit hatte sie mich dann fast täglich über den aktuellen Stand der Zu- und Absagen auf dem Laufenden gehalten. Es würde eine große Feier werden, denn es hatten sich bereits fast einhundert Gäste angemeldet, und es war noch mehr als ein Monat Zeit, um zuzusagen.

Nachdem mich meine Mutter an diesem Morgen über die neuesten Zusagen in Kenntnis gesetzt hatte, hatte sie vielsagend hinzugefügt: „Du kannst auch jemanden mitbringen, wenn du willst, Sandra. Dein Vater und ich würden uns freuen.“ Seit ich mich durch das ständige Fragen meiner Eltern, wann sie meinen angeblichen viel reisenden Verlobten denn endlich kennenlernen würden, vor etwa zwei Jahren dazu gezwungen gesehen hatte, ihnen von dem Aus der von mir erfundenen Beziehung zu berichten, hoffte insbesondere meine Mutter inständig, ich würde bald einen adäquaten Ersatz finden und ihnen diesmal auch persönlich vorstellen.

„Ja, mal sehen“, hatte ich leicht verschlafen gemurmelt. „Vielleicht bringe ich Nathalie mit, wenn das für euch in Ordnung ist.“

„Ach, Sandra!“, hatte meine Mutter in einem missmutigen Tonfall erwidert, als hätte ich ein wichtiges Spiel verdorben. „Ich hatte da ehrlich gesagt an eine männliche Begleitung gedacht. Wie sieht das denn aus, wenn du eine Frau an deiner Seite hast. Auf das Gerede kann ich wirklich verzichten.“

Ich bin eben nicht wie dein Liebling Caroline, die zusammen mit ihrem Mann in einem Labor Medikamente entwickelt, um die Welt zu retten, und nebenbei noch zwei Kinder großzieht, hatte mir auf der Zunge gelegen, doch ich hatte die giftige Bemerkung heruntergeschluckt und stattdessen geheimnisvoll geantwortet: „Lasst euch doch einfach überraschen.“

„Sandra, soll das etwa heißen ...“

Es war mühevoll gewesen, das unerfreuliche Telefonat mit meiner Mutter zu beenden. Ich ging es in Gedanken noch einmal durch, insbesondere ihre wissbegierigen Fragen nach einem potenziellen Schwiegersohn am Ende des Gesprächs, während ich meinen Wagen an einer Tankstelle volltankte. Vielleicht sollte ich eine meiner flüchtigen Bekanntschaften aus der Online-Singlebörse zur Geburtstagsfeier meiner Mutter mitbringen. Das wäre sicher eine Überraschung, die niemand so schnell vergessen würde. Ich stellte mir die schockierten Gesichter meiner Eltern, meiner Schwester und ihres Göttergatten Boris, der gewöhnlich zum Lachen in den Keller ging, vor, wenn ich wie selbstverständlich erklärte, dass ich ihnen über meinen Begleiter leider nichts erzählen könne, da ich ihn erst heute zum ersten Mal persönlich getroffen hätte, nachdem mir am Vortag sein Online-Profil in der Singlebörse zugesagt habe.

„Guten Morgen“, sagte plötzlich eine männliche Stimme neben mir. „Die Welt ist klein.“

Wo hatte ich diesen Satz kürzlich schon einmal gehört? Ich drehte mich um und sah in das lächelnde Gesicht von Torben Brandt. Torben Brandt, dem Gymnasiallehrer. Wie gut würde das meinem Vater, einem pensionierten Leitenden Regierungsdirektor, gefallen.

„Guten Morgen“, grüßte ich freundlich zurück und hängte den Zapfhahn zurück an die Zapfsäule. Wenn ich mich recht erinnerte, hatten Torben Brandt und ich uns auf Max‛ Party am Ende geduzt. „Hast du schon gefrühstückt?“, fragte ich ihn. „Ich lade dich ein.“

Am Ende bestand Torben darauf, die Rechnung in dem kleinen Café in der Nähe der Tankstelle, in dem wir frühstückten, zu bezahlen, doch das war mir egal, denn ich war mir sicher, es würden noch weitere Treffen folgen, bei denen ich mich dafür revanchieren könnte.

Ich sollte Recht behalten. Torben und ich sahen uns in der Folgezeit mindestens einmal wöchentlich. Er war, als wir uns kennenlernten, fünfunddreißig, zwei Jahre älter als ich, ein intelligenter, unterhaltsamer, liebenswerter Mensch. Aber er war nicht der Mann meines Lebens. Das war mir von Anfang an klar. Denn dafür war er zu bieder. Ich brauchte immer viel Spannung und Abwechslung in meinem Leben. Dennoch fragte ich Torben an einem sonnigen Tag Anfang Mai, den wir wie viele andere auf einer Wolldecke liegend am Ufer eines Sees in der Nähe der Großstadt verbrachten, ob er mich zu der Geburtstagsfeier meiner Mutter begleiten würde.

„Dann heißt das, dass wir jetzt ein festes Paar sind?“, fragte mich Torben erfreut.

Als Antwort küsste ich ihn. Ja, das hieß es dann wohl.

Schon ein halbes Jahr später zogen Torben und ich zusammen. Viel zu übereilt im Nachhinein. Oder auch einfach nur überflüssig. Das Haus, in dem ich meine Mietwohnung besaß, sollte umfangreich saniert werden. Die anschließende Mieterhöhung, die bereits angekündigt worden war, ließ mich schwindelig werden. Obwohl ich nicht schlecht verdiente, sah ich es nicht ein, so viel Geld für ein Dach über dem Kopf auszugeben. Auch Torben war in seiner derzeitigen Wohnung unglücklich. Eine Familie mit mehreren kleinen Kindern war kürzlich über ihm eingezogen, und obwohl Torben Kinder sehr gern hatte, war das ständige Geschrei und Getrampel eine Zumutung, wie ich selbst feststellen musste, wenn ich bei ihm war.

Torben hatte durch einen Bekannten seiner Mutter die Möglichkeit, an eine schöne, helle Drei- oder Vierzimmerwohnung mit Südbalkon in einem Neubau in einer ruhigen Straße in der Innenstadt zu gelangen. „Wieso machen wir nicht Nägel mit Köpfen und ziehen zusammen?“, wollte er von mir wissen. „Ich meine“, sprach er hastig weiter, „zwischen uns beiden läuft es doch sehr gut, und deine Eltern mögen mich, glaube ich, auch.“

Das taten sie allerdings. Der Auftritt mit Torben auf der Geburtstagsfeier meiner Mutter war ein voller Erfolg gewesen. Noch Monate später dachte ich mit Genuss an das beeindruckte Gesicht meines Vaters und seinen anerkennenden Kommentar: „Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, so so“, während meine Mutter zufrieden lächelte, und an die verdutzten Gesichtsausdrücke von Caroline und Boris, die mir zu sagen schienen, dass sie mir so einen guten Fang gar nicht zugetraut hätten.

„Was soll denn mit deiner Katze passieren?“, fragte ich etwas unbehaglich statt einer Antwort. Ich mochte Katzen nicht sonderlich und konnte mir nicht vorstellen, eine in meiner Wohnung zu halten.

Als ich Torben das erste Mal in seiner Wohnung besucht hatte, hatte er mir stolz Miezi präsentiert, eine weiße Katze mit grauen Pfoten und einem grauen Fleck auf dem Hinterkopf, der mich von dem Tag an immer an den hellblonden Fleck auf dem Hinterkopf von Philipp Hansen erinnerte. Torben hatte Miezi auf den Arm genommen und sie mir hingehalten, damit ich sie streichelte. Ich hatte es mit Widerwillen getan. Dennoch hatte Miezi bei der Berührung geschnurrt, und Torben hatte sich gefreut wie ein kleiner Junge. „Sie hat dich gern“, hatte er voller Überzeugung gemeint. Das hatte mich gerührt, und ich hatte mich gezwungen, die Katze noch ein wenig weiter zu streicheln. Ich hatte Torben nie gesagt, wie wenig ich Katzen mochte.

„Der neue Vermieter hat nichts gegen Haustiere“, erwiderte Torben, der meinen Einwand nicht verstanden hatte. „Von meiner Miezi würde ich mich auch nie und nimmer trennen. Das wird also kein Problem sein.“ Etwas ironisch fügte er hinzu: „Sonst noch irgendwelche Einwände gegen unser Zusammenziehen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Dann nehmen wir aber die Vierzimmerwohnung statt der Dreizimmerwohnung, ja? Du brauchst ein ruhiges Plätzchen für deinen Schreibtisch, und im vierten Zimmer bringen wir alles unter, was sich im Laufe der Jahre angesammelt hat und zu schade für den Keller ist.“

„Ja, ja, versteh schon“, lachte Torben. „Du denkst schon weiter und findest es praktisch, wenn ein Kinderzimmer vorhanden ist. Nicht, dass wir demnächst noch einmal umziehen müssen, weil die Wohnung zu klein wird.“

Ich ließ ihn in dem Glauben. Ich sagte ihm nicht, dass ich bei dem Gedanken an eine gemeinsame Wohnung ein ungutes Gefühl hatte. Dass ich befürchtete, meine Freiheit zu verlieren. Dass ich Alltagstrott nicht ertragen konnte und Torben nicht ständig um mich haben wollte. Dass ich wenigstens ein Zimmer brauchte, in das ich mich, wann immer ich es für nötig hielt, zurückziehen konnte.

Schon einige Tage, nachdem Torben und ich zusammengezogen waren, trat an den Innenseiten meiner Unterarme ein juckender Hautausschlag auf. Besonders bei Wärme machte mir das Ekzem zu schaffen, und durch das nächtliche Kratzen im Schlaf hatten sich schnell kleine, blutende Wunden gebildet. Ich war froh über die herbstliche Jahreszeit, die es mir erlaubte, meine kaputte Haut unter langärmeligen Oberteilen zu verstecken. Dennoch war mir schnell klar, dass ich eine Lösung für das Problem finden musste. Insgeheim hatte ich Miezi als Ursache des allergischen Ausschlags in Verdacht, denn dass es sich um eine Allergie handelte, stand für mich außer Frage. Torben, dem das Ekzem natürlich nicht verborgen geblieben war, drängte mich geradezu, einen Allergietest beim Arzt machen zu lassen. Seine verwitwete Mutter, die ebenfalls in der Großstadt lebte und der Torben am Telefon von dem Ausschlag erzählt hatte, empfahl Dr. Kandell, bei dem sie schon mehrfach in Behandlung gewesen sei. Obwohl es mich insgeheim störte, dass sich Torbens Mutter um meine gesundheitlichen Belange kümmerte, musste mich mein Freund nicht lange überreden. Zum einen war das ständige Jucken quälend, zum anderen wollte ich endlich Gewissheit darüber haben, was es auslöste. Außerdem benötigte ich ein ärztliches Attest, bevor ich Torben möglichst einfühlsam bitten würde, seine Katze wegzugeben. Die Vorstellung, wie er auf die notwendige Trennung von Miezi reagieren würde, war deprimierend.

Zahlreiche Pflaster mit potenziell allergieauslösenden Substanzen wurden in der Hautarztpraxis auf meinem Rücken aufgebracht, darunter Katzenhaar, da ich dem etwa sechzigjährigen, auf dem Kopf fast komplett kahlen, dafür aber vollbärtigen Dr. Kandell von meinem Verdacht berichtet hatte.

Am nächsten Tag suchte ich die Praxis erneut auf. Eine Arztgehilfin nahm alle Pflaster vorsichtig ab, bevor Dr. Kandell meinen Rücken begutachtete. Nachdem ich mich wieder angezogen hatte, setzte ich mich aufgeregt dem Arzt gegenüber vor seinen Schreibtisch und wartete gespannt auf seine Diagnose.

„Nun wissen wir wenigstens schon einmal, was den Hautausschlag nicht auslöst“, teilte mir Dr. Kandell ruhig mit. „Wir haben alle Substanzen, die am häufigsten Kontaktallergien auslösen, auf Ihrem Rücken getestet. Das Ergebnis ist negativ.“

„Keine Katzenhaarallergie?“, fragte ich verwundert.

„Nein. Ich schlage vor, dass Sie ein Tagebuch führen, in dem Sie aufschreiben, was Sie täglich zu sich nehmen und wie Ihre Haut darauf reagiert. Möglich, dass bestimmte Nahrungsmittel Ihre Beschwerden auslösen. Es kann eine Weile dauern, bis man den Übeltäter findet. Es empfiehlt sich außerdem, möglichst wenig Pflegeprodukte zu benutzen und wenn ja, nur sehr milde, um die Haut nicht noch weiter zu reizen.“

„Aber das Ekzem ist immer da!“, wandte ich entrüstet ein. „Seit ich mit meinem Freund in eine neue Wohnung gezogen bin! Vielleicht ist dort ja die Ursache zu finden! Gift im Gemäuer oder was weiß ich!“

„Möglich ist in der Tat, dass Schimmel der Auslöser ist. Wenn es sich also um eine schon ältere Wohnung handelt ...“

„Nein.“ Ich schüttelte bekräftigend den Kopf. „Es ist ein Neubau. Vor uns hat noch niemand in der Wohnung gewohnt. Und es gibt dort auch nirgends Schimmel.“

„Ob es an der Wohnung liegt, könnten Sie herausfinden, indem Sie ein Wochenende oder am besten mehrere Tage nutzen, um wegzufahren. Ein Tapetenwechsel kann im wahrsten Sinne des Wortes Wunder bewirken. Ich verschreibe Ihnen jetzt erst einmal eine Salbe, um den Juckreiz zu lindern.“ Dr. Kandell reichte mir das von ihm erstellte Rezept und schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr. „Ich kenne Ihre Lebensumstände nicht, Frau Jordan, aber bedenken Sie bitte auch, dass Stress, Trauer, Wut oder nicht gelöste Probleme über die Haut zum Ausdruck gebracht werden können. Denken Sie doch einmal darüber nach.“

„Eure Wohnung ist traumhaft“, lautete Nathalies bewundernder Kommentar einige Tage später, als sie sie zum ersten Mal besichtigte. Torben nutzte den milden Herbstabend, um mit Miezi im Korb eine Fahrradtour zu machen. Mein Freund und ich hatten bereits eine kleine Einweihungsfeier veranstaltet, doch Nathalie hatte kurzfristig absagen müssen, da sich ihr Dienstplan geändert hatte. „Was habt ihr mit den Möbeln gemacht, die ihr nicht unterbringen konntet?“

Ich öffnete die Tür zu dem vierten Zimmer, auf das ich bestanden hatte, obwohl wir dafür keine spezielle Verwendung hatten. Unter anderem beherbergte es die zwar schicke, aber schon etwas durchgesessene weinrot karierte Sitzgarnitur aus meinem ehemaligen Wohnzimmer, da Torbens schwarze Ledermöbel neuer waren und edler aussahen. Außerdem stand hier mein ehemaliger Küchentisch, auf dem ich an meinem Laptop im Internet surfte, mit einem Stuhl. Die anderen drei Stühle hatte ich in den Keller gestellt. Ich hatte mich von keinem meiner geliebten und mir vertrauten Möbelstücke trennen wollen, da ich nicht sicher war, ob und wie lange das Zusammenleben von Torben und mir funktionieren würde.

„Ich gratuliere euch von Herzen“, sprach Nathalie weiter, als sie alle Räume bestaunt hatte. Es war typisch für sie, dass sie wie jetzt neidlos ihre Begeisterung zeigte, obwohl sie selbst in einer günstigen, dafür aber sehr hellhörigen Altbauwohnung lebte, in der ich stets das Gefühl hatte, kein Wort sagen zu können, ohne dass die Nachbarn es hörten. Umgekehrt fand ich die Geräusche aus den umliegenden Wohnungen ebenfalls sehr störend, doch Nathalie war mit ihrer Unterkunft zufrieden und dachte anscheinend nicht einmal an die Möglichkeit eines Umzugs. „Wirklich, Sandra, es ist so schön, dass du endlich den Mann fürs Leben gefunden hast. Was wohnen denn noch so für Leute im Haus?“

„Ach, keine Ahnung. Hier ist alles ziemlich anonym wie überall in der Großstadt. Ein paar Gesichter kommen mir inzwischen bekannt vor, wenn mir Leute im Treppenhaus begegnen, aber die Namen kenne ich nicht.“ Lachend fügte ich hinzu: „Jedenfalls muss man noch rüstig sein, wenn man hier wohnt. Das Haus hat nämlich keinen Fahrstuhl, wie du sicher schon gemerkt hast. Wahrscheinlich ist der Architekt, der es entworfen hat, Fitnessfanatiker.“

„Oder Sadist“, ergänzte Nathalie mit ernstem Gesicht.

Ich vermutete, dass das als Scherz gemeint war, war mir aber nicht sicher und schlug daher, statt etwas darauf zu erwidern, einen gemeinsamen Kaffee in der Küche vor. Dabei ging mir durch den Kopf, dass meine beste Freundin und ich uns auseinandergelebt hatten und offensichtlich nicht einmal mehr denselben Humor teilten. Aufgrund ihrer Schichtarbeit und ihrer häufigen Überstunden sah ich Nathalie nach wie vor selten, seltener als andere Freundinnen, die mir nicht so viel bedeuteten und denen ich längst nicht so viel anvertraute wie Nathalie. Trotzdem wusste Nathalie jetzt nicht einmal etwas von dem Hautausschlag, der mir weiterhin zu schaffen machte, wenn die wunden Stellen aufgrund der von Dr. Kandell verordneten Salbe auch zurückgegangen waren. Als Nathalie und ich es vor einigen Monaten endlich einmal wieder geschafft hatten, uns zum Essen zu verabreden, hatte ich ihr erzählt, dass Torben und ich nun ein Paar waren. Nathalie hatte sich aufrichtig für mich gefreut. Etwas anderes hatte ich von ihr auch nicht erwartet. „Dann musst du dich jetzt ja nicht mehr in dieser Online-Singlebörse herumtreiben“, hatte meine beste Freundin gemeint. Es hatte belanglos klingen sollen, doch ich hatte gespürt, dass Nathalie tatsächlich Bedenken hatte, ich könnte mich weiterhin mit anderen Männern treffen.

„Ach was.“ Ich hatte den Kopf geschüttelt, als wäre der Gedanke völlig abwegig. „Diese Zeiten sind vorbei.“

Das war nur die halbe Wahrheit. Es stimmte, dass ich nicht mehr an der Online-Singlebörse teilnahm, ich hatte mein Konto dort sogar gelöscht. Aber das lag daran, dass ich den viel interessanteren Chat-Room „Dirty Flirty“ entdeckt hatte, in dem ich seit einigen Wochen aktiv war, wann immer ich die Zeit dazu hatte. Die Teilnehmer benutzten alle Nicknames und symbolische Profilbilder. Ich hatte mich für eine Frauenhand mit langen, rot lackierten Fingernägeln, die einen ebenso roten Apfel hielt, entschieden. Es war sehr aufregend, mich mit Männern über intime Details zu unterhalten, ohne ihre wahre Identität zu kennen. Zu persönlichen Treffen war es noch nicht gekommen, weil mir die Chats bisher ausgereicht hatten. Doch konnte ich nicht vollkommen ausschließen, dass sich in Zukunft etwas daran ändern würde. Black Tiger, dem ich einige Monate später in dem Chat-Room begegnen sollte und dessen Profilbild den Kopf einer schwarzen Raubkatze zeigte, war zum Beispiel ein Kandidat, bei dem ich nicht Nein sagen würde, sollte er mehr als eine Online-Bekanntschaft wollen.

„Noch Nachschlag?“, holte mich Torben in die Gegenwart zurück.

Ich blickte auf meinen leeren Teller. „Nein, danke. Ich bin vollkommen satt. Aber das Gulasch war wie gesagt köstlich.“

Zuvorkommend wie er war, nahm mir mein Freund den Teller ab, um ihn in die Küche zu bringen. Kurz darauf kehrte er mit einem Umschlag in der Hand in das Wohnzimmer zurück. „Hier.“ Er reichte mir den Brief. „Da stehen bestimmt gute Neuigkeiten drin, bei der farbenfrohen Aufmachung.“

Ich sah mir den Umschlag an, der mit lauter bunten Blumenaufklebern übersät war. Mein Name und meine Anschrift waren in ordentlicher Handschrift auf die einzig freie Fläche geschrieben worden. Der Brief war frankiert, und als Absender war eine Postfachadresse ohne Namen angegeben. Auf einmal hatte ich ein beklemmendes Gefühl. Wenn nun ein ehemaliger Typ aus der Online-Singlebörse ... Aber die kannten ja nicht meine neue Adresse. Ich blickte etwas unsicher zu Torben, der auf einem Sessel Platz genommen hatte, Miezi auf dem Schoß hielt und mich erwartungsvoll ansah. Entschlossen riss ich den Umschlag auf und faltete den weißen Papierbogen auseinander, der sich darin befand.

Der Abschlussjahrgang von 1990 gibt sich die Ehre!!!,

lautete die große, fett gedruckte, am Computer geschriebene Überschrift.

Ich atmete erleichtert aus. Das erste Abitreffen nach fünfzehn Jahren. Das hatte ich ganz vergessen. Dabei gehörte Nathalie zum Organisationskomitee. Sie war so herzensgut, ihre knappe Freizeit dafür zu opfern, damit ihre ehemaligen Mitschüler eine gelungene Jubiläumsfeier erlebten. Mein Herz begann aus mir unerklärlichen Gründen, schneller zu klopfen, als ich weiterlas.

Liebe Leute,

haltet Euch unbedingt Samstag, den 17 . September 2005 frei. Und wenn Ihr an diesem Tag schon etwas eingetragen habt, streicht es. Denn nichts geht über unsere ABIFEIER!!! Wir starten round about 17:00 Uhr mit lockerem Geplauder, zu späterer Stunde geht‛s weiter mit Essen und Tanz. Ach ja, Getränke gibt es natürlich auch - sogar für die Alkoholiker unter Euch wird genügend da sein. Ihr dürft eine Begleitung mitbringen (bitte nicht mehr als eine Person, also lasst Eure Großfamilie zu Hause, falls Ihr inzwischen eine habt). Und keine Angst: Wenn Ihr allein zu unserer geilen Party kommt, werden wir KEINE blöden Fragen stellen – VERSPROCHEN!!!

Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Wer hatte sich nur diesen dämlichen Einladungstext ausgedacht. Nathalie hatte damit sicher nichts zu tun. Ich hatte mich nicht sonderlich für das Abitreffen und dessen Vorbereitungen interessiert und mich daher nicht bei Nathalie erkundigt, wer die Feier zusammen mit ihr organisierte. Mit wenig Begeisterung überflog ich den Rest.

Zum Schluss noch das Wichtigste: DIE LOCATION!!! Nur so viel: Unsere geile Party findet bei demjenigen aus unserem Jahrgang statt, der es mit Abstand von uns allen am weitesten gebracht hat UND DER DIE GANZE FEIER AUS EIGENER TASCHE BEZAHLT!!! Wer der edle Spender ist, wird an dieser Stelle noch nicht verraten, nur seine Adresse. Merkt sie Euch gut.

Es folgte eine Anschrift in der Großstadt, die mir nichts sagte.

Wer absolut nicht teilnehmen kann, schickt eine E-Mail an die untenstehende Adresse, ansonsten zählen wir auf Euch! Und seid sicher: Wir werden KEINE Ausrede akzeptieren!

Bis zum 17 . September in alter Frische!

Euer Organisationsteam (Autogramme gibt‛s auf der Feier)

„Alles in Ordnung?“, fragte Torben mit besorgter Stimme. „Du wirkst wenig erfreut.“

Ich fühlte mich gezwungen, ihm den Briefbogen zu reichen, damit er selbst lesen konnte, was darauf stand.

„Das ist doch lustig“, fand mein Freund amüsiert. „Das wird bestimmt eine gelungene Feier.“

„Ja“, gab ich ernst zurück. „Aber ohne mich.“

„Was?“ Torben sah mich verwundert an. „Wieso willst du denn nicht hingehen? Ist nicht auch Nathalie im Organisationsteam? Das kannst du ihr doch nicht antun.“

Torben hatte ja keine Ahnung. Dass ich nicht an dem Jahrgangstreffen teilnehmen wollte, hatte mit Nathalie überhaupt nichts zu tun. Im Gegenteil, es tat mir leid, dass ich die Mühe, die sie und die anderen Organisatoren sich gegeben hatten, nicht würdigen konnte. Doch die Wahrscheinlichkeit war zu groß, einer Person aus meiner Vergangenheit auf der Feier wiederzubegegnen. Einer Person, die ich in meinem ganzen Leben nie mehr wiedersehen wollte.

Hinter seinem Rücken

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