Читать книгу SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten - Joachim Gerlach - Страница 6

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Ich heiße Gabriel. Wer mir diesen Namen gab, tat dies nicht ohne Grund.

Einen anderen Namen habe ich nie getragen. Meine Person umrankte von Kind an der Schatten der Unbestimmbarkeit. Ohne jemand Besonderes sein zu wollen, fühlte ich schon früh, dass ich mich von den anderen, die zu meiner Welt gehörten, unterschied. Ich war mir meiner Besonderheit nicht genau bewusst. Aber auch wenn ich um sie gewusst hätte, würde ich zu gern nur gewöhnlich gelebt haben. Doch ich konnte nicht für mich leben, wie überhaupt niemand für sich leben kann. Wir rühmen uns, frei zu sein in unseren Entscheidungen, doch in Wahrheit machen wir uns abhängig von dem, was alle tun. Noch nicht einmal in Gedanken sind wir frei. Das Diktat der Masse bestimmt jeden einzelnen von uns. Und wer andere nicht spiegelt, wird zum Außenseiter und oft genug erwarten ihn Häme, grausame Verfolgung und Unfreiheit.

Genau dies ist mein Schicksal gewesen und wäre es auch geblieben, wäre meine Besonderheit nicht so von Licht durchflutet gewesen, dass sie mir und den Menschen in der großen uns umgebenden Dunkelheit einen Weg hatte weisen können.

*

Es war ein sehr heißer Sommer gewesen. Ein sehr heißer Sommer in jener längst vergangenen Zeit. Das einstmals große Spanien hatte das Mittelalter, das auch dort ungeachtet allen Lichtes so dunkle, so erbarmungslose und nur selten aufgehellte, überwunden. Sein Volk aber war unter der Herrschaft Karl III. trotz der besser gewordenen wirtschaftlichen Bedingungen von den aufgeklärten Zeiten weit entfernt und fristete ein Schattendasein.

»Was ihm fehlte, habe ich ihm gegeben. Das Volk mag still sein. Es soll sich an meiner leuchtenden Herrschaft erfreuen.«

Ein ungewöhnlicher Sommer, dem aber eine noch viel ungewöhnlichere Zeit folgen sollte.

Und wenn von dieser Zeit bald schon nicht mehr erzählt wurde und in der Geschichte kein Widerhall zu finden ist, so liegt es darin begründet, dass es der alten Kirche mit ihrer umspannenden Macht und der abstrusen Fähigkeit, Wahrheiten, höchst unangenehme Wahrheiten, rasch in Vergessenheit geraten zu lassen, in der Folge exzellent gelungen war, dieses Kapitel aus dem Gedächtnis der Menschen zu bringen.

»Wer glaubt zu wissen, neigt zu gottloser Überheblichkeit. Wer aber um seinen Glauben weiß, über den, liebe Brüder, erhebt sich Gott und nimmt ihn in seine ewigliche Obhut!«

Und dennoch ist die Saat dieser so besonderen Zeit prächtig aufgegangen und hat sie die Welt im Zusammenleben der Menschen wesenstief verändert.

Die Luft flirrte. Erbarmungslos die Hitze. Die wenigen Menschen, die in Andalusien in der Provinz Cadiz, der südlichsten Provinz des Festlandes, lebten und sich von jeher mühsam von der rückständigen Landwirtschaft, die nur den kärgsten Lebensunterhalt abwarf, oder dem Fischfang ernährten, hatten jeden Schatten, diesen so ruhigen und doch flüchtigen, nicht zu fassenden Begleiter alles Existierenden, noch öfter aufgesucht als sonst, sie hatten ihn geliebt wie nie zuvor.

»Hat es je solch einen Sommer gegeben, Luis?«

»Die Hitze ist so sengend wie die Glut der Hölle.«

»Will der Herr sie uns auf Erden schon spüren lassen?«

»Dann schenkte er uns keinen Schatten, Margarita!«

Stille Dankbarkeit, wenn sie sich zur erzwungenen Unterbrechung der harten Arbeit oder nach ihrer Verrichtung im Schutze einer Hauswand oder unter der Krone eines vom Klima gedrückt dastehenden Baumes dieser Kostbarkeit der Lichtlosigkeit hingeben konnten.

Der Regen, er war ein Segen der Natur, aber der Schatten, la sombra, stand ihm nicht um vieles nach.

Und wenn die Wolken ausblieben wie in jenem Jahr, wussten die Menschen um den großen Wert von beidem.

So vieles, oft unbeachtet, in dieser Welt, in welchem sich wahrer Reichtum auszudrücken vermag.

Dann nach Monaten erbarmungsloser Hitze war der Herbst gekommen und legte seine langen Schatten auf die verdorrte Landschaft. Regen war noch immer nicht abzusehen.

Die Menschen, die sich seit jeher darauf verstanden, die Natur mit ihren Launigkeiten zu ertragen und ihr das für ein Dasein Unerlässliche dennoch abzugewinnen, schauten zum Himmel und warteten mit der ihnen angeborenen Geduld.

Erst im milden Dezember zogen von Westen her endlich die ersten Wolken auf und brachten den ersehnten Regen.

»He, betet zum Herrn für dieses Wunder.«

»Hola’! Betet schnell und lasst die Arbeit ruhen. Das müssen wir feiern.«

Wie die Kinder tollten die Menschen in dem prasselnden Regen herum.

Die Wasser hörten nicht mehr auf zu fließen, endlos offen standen die Schleusen des Himmels. Rinnsale, Bäche, Ströme, die er entstehen ließ.

Dann von einer auf die andere Stunde an einem bestimmten Tage hörte es auf zu regnen; wie als folgte die Natur einer geheimen Weisung.

Die Wolken zogen über den weiten Horizont dahin und alle Wasser flossen ab.

Die Sonne, die hohe Spenderin und unerreichbare Feindin in einem, übernahm wieder die Regentschaft, tauchte, auch wenn sie die ihr untergebene Landschaft an diesem Tage nicht mehr erbarmungslos zu bedrängen vermochte, diese wieder in Licht und Schatten.

In der Nacht leuchteten die Sternenkette der Andromeda, Cassiopeia und die Sterne des Pegasus durch die klare Luft mit ungewohnter Helligkeit.

Als die Mondschatten sich auflösten und das frühe Sonnenlicht wie an Millionen Tagen zuvor die Welt ihrer in der Nacht geborenen Rätselhaftigkeit beraubte, war es noch kühl.

In einem nah an der Costa der la Luz, der Küste des Lichts, gelegenen Dorf, einem kleinen Flecken abseits großer Handelspunkte, der gerade mal wenigen hundert Seelen Heimat gewährte, war das Leben noch nicht weiter erwacht, als dass seine Fischer bereits hinaus auf das ruhige Meer gefahren waren.

Und doch richteten sich schon Schritte auf ein schäbig kleines Haus, das windschief auf einer kleinen Anhöhe zum Wasser hin stand.

Es waren bedachte Schritte, von einer großen Zielstrebigkeit geleitet, während die Augen der ankommenden Person auf einen weißen Punkt weit draußen auf dem Meer geheftet waren.

Eine Unternehmung einer neuen, nie da gewesenen Rätselhaftigkeit, die nicht durch den leisesten unschuldigen Schrei durchkreuzt wurde.

*

Angespannt ließ Pablo, der Fischer, die knorrige Eichentür zur Küche des Herrenhauses ins Schloss fallen.

Soeben hatte er in Erfüllung seiner täglichen Pflicht das Beste seines Fanges abgeliefert. Auf dem Anwesen seines Herrn, das im Ort nur »El fortín«, die Festung, genannt wurde, fühlte er sich immer unwohl.

Der Sohn des alten Marqués, Sion de Albanez, war früh schon auf gewesen.

Zufällig zwar, aber mit scharfen Augen hatte er Pablos Beklemmung, die sich in seinem Gesicht und in seinem Gang ausdrückte, bei seiner Ankunft vom Fenster des Schlafgemachs aus bemerkt.

Nachdenklichkeit, die sich einstellte, die sich nicht verflüchtigen wollte, der keine Beiläufigkeit innewohnte.

Ein Schatten fiel neuerlich in seine Seele. Warum konnte es nicht endlich vorbei sein?

Hätte ich etwas sagen müssen?

Pablo war in Gedanken vertieft, sah mit seinem auf den Boden gerichteten Blick noch nicht einmal, wie die junge Maria, die in der Küche des Herrenhauses beschäftigt war, ihm mit einem Korb voll Obst entgegenkam und wäre grußlos an ihr vorbeigelaufen, hätte sie ihm nicht doch noch ein zögerliches »Buenos dias« zugeworfen.

Auch Maria hatte Pablos Anspannung bemerkt, doch ihre natürliche unbefangene Art ließ sie nicht schweigend an dem alten Fischer vorbeigehen. Pablo erwiderte den Gruß mit entschuldigendem Blick, der sich gehoben hatte.

Einen Augenblick lang schien er nach weiteren Worten zu suchen. Dann lief er mit einem hörbaren Seufzer weiter.

*

»Pablo, ich mache mir Gedanken um dich! – Warum bist du heute Morgen nicht auf dem Markt erschienen?«

Pablo schaute seinem alten Freund Luis in die Augen, unsicher, was er ihm entgegnen sollte. Eine Unsicherheit, die es so noch nicht zwischen ihnen gegeben hatte.

Sekunden wie Ewigkeiten. Die Sonne schien noch heißer geworden zu sein.

Mit einem kurzen Wegdrehen seines Kopfes bedeutete er ihm, ihm ins Haus zu folgen.

»Ist etwas mit Margarita?«

Margarita, die gebrochen schweigsame Frau Pablos, die sich den Leuten des Dorfes seit langem kaum mehr zeigte.

Pablo blieb die Antwort schuldig und ging, gefolgt von Luis, gerade da er sein Weib ausgemacht hatte, mit langsamen Schritten auf Margarita zu, die still und mit gesenktem Kopf in der dunkelsten Ecke des kargen Wohn- und Küchenraumes verharrte und noch nicht einmal aufschaute, als die beiden Männer in das Haus eintraten.

»Was um Himmels Willen ist mit euch?«, fragte Luis mit einer Ungeduld, die seinem Alter nicht entsprechen wollte, und einer Unsicherheit, als wäre er jener schrecklichen Wahrheit ansichtig geworden, dass das Tor zur Hölle sich einen Spaltbreit geöffnet hätte.

»Ich verstehe nicht!«

»Wir auch nicht, Luis«, antwortete Pablo.

Wieder trat langes Schweigen in den Raum ein.

»Woher habt ihr …?«

Pablo hätte Dutzende von Erklärungen liefern können, selbst harmlose. Allein die ihm anzumerkende Beklemmung sagte Luis, dass hier etwas Unerhörtes geschehen war. Das ganze Haus schien von einer dunklen Macht gepackt zu sein. Und die mit diesem Empfinden in ihm aufsteigende Spannung ließ nur knappe Äußerungen über seine Lippen kommen.

Alle drei schauten sie auf das in einem kleinen Bastkorb liegende Kind, das im Widerspruch zu der bedrohlichen Atmosphäre, die sie empfanden, ruhig da lag und mit weit geöffneten Augen ihre Blicke erwiderte.

Luis suchte nach einer Erklärung, aber die Stille war ihm gespenstisch und heilig fast zugleich, so dass er sie nicht unterbrechen konnte und wollte. Und er verstand auch ohne Worte, dass sein Freund keine Antwort dafür hatte, wie dieses Kind, das seit seinem Auffinden noch keinen Laut von sich gegeben hatte, zu ihnen gelangt war.

»Er ist für Frederico gekommen!«, äußerte Margarita plötzlich in die Stille hinein.

Madre de Dios! Pablo schreckte zusammen. Auch Luis fühlte seinen Puls noch weiter steigen.

Frederico – dieser Namen war schon lange nicht mehr in diesem Haus gefallen.

Tiefer Schmerz, der auf immer mit ihm verbunden war und in jeder der verletzten Seelen weiter schwärte. Hoffnung auf die Unsterblichkeit, die mit der Geburt eines jeden Kindes in die Innerlichkeit seiner Eltern einzog und hier so jäh ausgelöscht worden war.

*

Zweiundzwanzig grausam lange Jahre lag dieser Tag nun zurück, an dem nicht nur Fredericos noch junges Leben beendet war, sondern auch das in wenige Träume eingebettete Dasein von Pablo und Margarita.

Keinen unbeschwerten Tag hatten sie seitdem mehr gehabt. Verbitterung war ihr Los gewesen. Der Tod von Frederico hatte sich auf alle, die ihm nahe gestanden hatten, wie ein mächtiger Schatten gelegt, der nicht aufzulösen war.

Pablo belastete das Unglück in besonderer, seine Seele vernichten wollender Weise, da er nicht verhindert hatte, dass Frederico mit ihrem Boot, dieser Winzigkeit im Kampf gegen die grenzenlosen Naturgewalten, hinaus auf das Meer gefahren war.

»Ich werde auch rechtzeitig vor dem Sturm zurück sein.«

Pablo hatte daran geglaubt, nachdem seine väterliche Autorität nicht unangetastet geblieben war, dass Frederico die Tücken der Natur gut einzuschätzen wusste, dass er zu bedenken in der Lage war, wie schnell das Wetter umschlagen konnte, wie schwer es war und wie lange es dauerte, bei aufkommendem Sturm zurück an die sichere Küste zu gelangen.

Er hatte ihn schon oft genug bei ungünstigem Wetter aufs Meer mitgenommen, denn ihre Armut erlaubte es nicht, groß Rücksicht auf die Widrigkeiten durch Kälte und Nässe und von Wind und Wellen zu nehmen.

Mit den Jahren war Frederico dann auch mit gewachsener Erfahrung und Kraft öfter allein hinaus gefahren, während Pablo mit anderen Arbeiten, dem Flicken alter Netze oder dem Verkauf des vortägigen Fanges etwa, beschäftigt gewesen war.

Vor jenem verhängnisvollen Tag vor 22 Jahren war Pablo neben vielen anderen, als hätten sie sich nicht mit ihren eigenen Misslichkeiten genug an Sorge gehabt, nach einem heftigen Unwetter, das auch den Besitz seines Herren, die Wohnhäuser, Stallungen und Zaunanlagen, heimgesucht hatte, auf Weisung des alten Marqués zu frondienstlichen Arbeiten verpflichtet worden.

Weitere Stürme hatten sich abgezeichnet. Der letzte Rest der Ernte war auch noch zu retten. Die Fischer und Bauern, verärgert zwar über die anbefohlene Arbeit, machten ihrem Ärger kaum Luft, ganz wie es ihrem kargen Wesen entsprach, und drückten ihn nur still mit ihren Blicken aus.

»Soll das schlechte Wetter doch erst einmal abgezogen sein!«

Das war der einzige Widerspruch, der kaum hörbar sich auf den Lippen eines Einzelnen formte.

Der junge Sion de Albanez, für seine Hartherzigkeit bekannt, war dem aus dieser Äußerung herauszulesenden Wunsch barsch und mit kaltem Blick entgegengetreten.

»Morgen vor Tagesanbruch seid ihr zur Stelle! Basta!«

Unerbittliche Befehlsgewalt, seit jeher praktizierte und nie überdachte oder in Frage gestellte, ließ jede Diskussion im Keim ersticken.

»Trete den Leuten mit Härte gegenüber und sie werden es dir angesichts der sicheren Führung, die sich in ihr spiegelt, danken!«

Dieser mitleidlose Satz seines Vaters hatte sich im Herzen von Sion de Albanez zu seiner eigenen festen Überzeugung eingebrannt.

Die Männer standen durchnässt in dem scharfen Wind und warteten ab.

Pablo hatte gezögert, doch nachdem ein anderer den gleichen Wunsch kundgetan hatte, sagte er: »Ja, kann auch mein Sohn die Arbeit verrichten. Nur ich bin in der Lage, bei diesem Wetter allein hinaus aufs Meer zu fahren und den Fang, den ich und die meinen zum Leben brauchen, nach Hause zu bringen!«

Die Antwort von Sion de Albanez war kühl und menschenverachtend gewesen.

»Nichts da! Es werden Männer gebraucht und keine Knaben!«

Sein harter Ton und seine versteinerte Miene hatten für augenblickliche Ruhe gesorgt.

Wo aber die Männer wirklich gebraucht wurden, war auf dem Meer, auf den Gischt schäumenden Fluten, die sich durch den Levante, den tückischen, gerade in den Sommermonaten gefahrvoll anschwellenden Ostwind, türmten und der Küste mit wütender Macht entgegenbrandeten. Niemand aber hatte es gewagt, Sion de Albanez entgegen zu treten oder zu versuchen, sich beim alten Marqués Gehör zu verschaffen.

Erst in der Sicherheit seiner armseligen Behausung hatte Pablo seinem Verdruss freien Lauf gelassen.

»Unsere Herren mögen hart sein«, hatte Margarita knapp entgegnet, »doch Gott will, dass wir uns fügen!«

»Will er auch, dass wir wieder keinen Peso in der Tasche haben?«

Pablo fühlte tiefen Groll in seiner Brust sitzen.

Gott, ja, er zeigte sich ihm und den anderen einfachen Seelen an jedem Tag, den sie zu leben und zu überleben in der Lage waren, aber er blieb ihnen auch so fern, dass er seit Menschengedenken ihre Misere nicht zu bessern half und sie darben ließ.

»Lass mich allein hinausfahren!«, hatte Frederico dann zur Verblüffung von Pablo geäußert.

Diesem Satz hatte keine Ernsthaftigkeit innewohnen können.

»Schlag dir das aus dem Kopf!«

Pablo war zum Fenster gegangen und hatte durch die kleine Öffnung auf das aufgewühlte Meer geblickt.

»Ich werde auch rechtzeitig vor dem Sturm zurück sein.«

Da war er ausgesprochen, dieser eine, dieser letzte Satz, den Pablo von seinem Sohn zu hören bekommen hatte. Dieser so viel Selbstsicherheit ausdrückende Satz, die von den haushohen Wellen so erbarmungslos zerschmettert worden war. Dieser Satz, der sich tief in seinem Gedächtnis eingegraben hatte.

Ein Blick des Vaters, der deutliche Missbilligung ausgedrückt hatte, war die einzige Antwort gewesen.

Und doch hatte Pablo, seiner Befürchtung zum Trotz, irgendwo auch den Glauben an Fredericos Fähigkeiten gehabt.

Diese Zerrissenheit in ihm, die Not vor Augen, hatte Pablo nicht mehr sprechen lassen. Kein einziges Wort hatten Vater und Sohn in der Sache noch miteinander gewechselt. Und allein darum schon hatte Pablo seither keine Ruhe mehr gefunden, sich so viele Male mit Selbstvorwürfen traktiert, auf dass es ihn nahezu auffraß, und war er so oft mit Fredericos Namen auf den Lippen schweißgebadet in der Nacht aus unruhigem Schlaf hochgefahren.

Warum hatte er nicht zu klaren Worten gefunden? Warum hatte er es zugelassen, dass Frederico aus seiner Halbherzigkeit eigenen Mut abgeleitet hatte und vielleicht sogar die Verpflichtung, den Fang alleine einzubringen?

Wohl hatte Pablo auch seine eigene Bewährungsprobe vor Augen gehabt, als er damals, im gleichen Alter wie Frederico, sich alleine in der tosenden See behauptet hatte.

Aber nichts konnte seine Schuld von ihm nehmen. Er war verantwortlich für den Tod des geliebten Sohnes. Tiefe Bitterkeit im Empfinden bei jedem Gedanken an ihn.

Als Pablo am Morgen des unseligen Tages das Haus verlassen hatte, war ihr Boot, das Frederico liebevoll auf den Namen »Santa Maria« getauft hatte, weg gewesen. Er hatte es stumm zur Kenntnis genommen, seinen vom Wetter gegerbten Mantel wegen des heftigen Windes fester um sich gepackt und war ohne zum Meer zu schauen zu den nahen Besitzungen des alten Marqués aufgebrochen.

Über die weiteren Geschehnisse dieses Tages und der nachfolgenden Zeit hatte sich eine kalte Finsternis gelegt, aus der nur bruchstückhaft Bilder einer fieberhaften Suche und eines kieloben treibenden Bootes und das Klagegeschrei der Frauen herausdrangen.

*

»Was wollt ihr tun?«

Es war Luis, von Natur aus redseliger als Pablo, der das Schweigen durchbrach.

Er und der Freund waren wieder vor dem Haus angelangt. Sie saßen auf der alten Eichenbank neben dem Eingang, auf der auch schon Frederico vor langer Zeit gesessen und so oft gespielt hatte und derer sich um diese Zeit der vor der Sonne unaufhörlich flüchtende Schatten noch bemächtigte.

Die beiden fassten sich nicht in den Blick, sonst hätte Luis bemerkt, dass sein alter Freund keinen ratlosen Eindruck machte.

»Wir werden den Jungen behalten!«

So lange wenigstens, bis er gehen musste.

Die Antwort kam bedacht. Dennoch fühlte Luis Zweifel in sich aufsteigen.

»Überlegt es euch gut. Das Ende wartet doch schon mit offenen Armen auf euch.«

Bevor Pablo entgegnete, dachte er an die wenige Worte umfassende Botschaft, die zusammen mit einigen Oliven in einem kleinen Ledersäckchen in dem Bastkorb gelegen hatte.

Mühsam nur und widerwillig hatte er vor vielen Jahren durch den Ehrgeiz seiner jüngsten Schwester Felipa, die in einem nah beheimateten Orden lebte und zum Auskurieren eines hartnäckigen Hustens für längere Zeit in ihr Dorf zurückgekehrt war, die Kunst des Lesens erlernt und sich jeher gefragt, wozu es gut sein mochte. Jetzt endlich wusste er es.

»Es muss einen Sinn haben!«, sagte er dann. »Sonst hätten sie ihn in Cadiz den Nonnen übergeben können.«

Worte, denen keine Erwiderung folgte.

Erst als er sich auf den Heimweg machte, den er viel früher hatte antreten wollen, fragte Luis: »Wird unser Herr von ihm erfahren?«

»Ich weiß nicht. Irgendetwas hindert mich …«

Sich in Schweigen zu hüllen, schien ihm das Richtige zu sein.

*

Die Jahre gingen dahin.

»Er ist ein stiller und sonderbarer Junge, aber Pablo und Margarita haben mit ihm ihren Frieden gefunden. Ich brauche nicht mehr über ihn zu wissen.«

Diesen Satz sprach Luis zu sich selbst.

Das sich vielerorts wegen der rätselhaften Herkunft des Kindes entfachende Gerede des einfachen Volkes und das offene, aber in keine Bestrebungen laufende Interesse der immer präsenten Kirche und der weltlichen Macht, die über die bewährten Kanäle ebenso Kenntnis von dem Jungen erlangten, hatten sich verflüchtigt.

Der Junge war auf den Namen Gabriel getauft worden und entwickelte sich auf den ersten Blick unauffällig, sah man von seinen fast blonden Haaren einmal ab. Etwas Seltsames lag dennoch in jedem Erscheinen von ihm.

Die Menschen hörten auf zu reden, wichen ihm ohne böse Gesinnung aus und vertieften sich in ihre Arbeit. Sie vermieden es, ihn anzuschauen. Als sei es ein Gebot von höherer Macht, den Jungen unangetastet zu lassen und ihn nicht mit ihren Blicken zu belasten.

Gabriel begann seine Außergewöhnlichkeit zu begreifen, ohne eine Erklärung dafür zu haben. Ein sich in der Tiefe nur bewegendes Wissen.

»Warum bin ich nicht so wie sie? Ich fühle, dass ich anders bin.«

Wenn die Kinder des Dorfes miteinander spielten oder sich sonst wie begegneten, stand er oftmals abseits da und schaute zu und schwieg. Bisweilen wurde er wegen seiner besonnenen Art dazu bestimmt, die Entscheidung über eine Streitigkeit zu treffen. Und immer wurde sie ohne Murren anerkannt. Wirken auf der Ebene des Unbewussten.

In die Gegebenheiten und das Leben mit Pablo und Margarita, die für ihn eher eine Mischung aus Eltern und Großeltern und nicht nur Eltern waren, hatte er sich gut eingefunden.

Gabriel freute sich, wenn Pablo ihn mit zum Fischfang hinaus aufs Meer nahm. Dass dies nicht bei ungünstigem Wetter geschah, blieb von ihm auf Dauer nicht unbemerkt. Fragen stellte er deshalb keine.

Lieber schaute er sich dann bei Pablos Heimkommen schweigend mit kindlicher Neugier und Forschergeist den Fang an, musterte jeden einzelnen Fisch, jede Makrele und jeden Wolfsbarsch, der mit ausgehauchter Seele in dem Korb am farblosen, Salz zerfressenen Bug des Bootes lag und der Ewigkeit, wie er an der Reglosigkeit der offen stehenden Augen ausmachen konnte, um das entscheidende Stück näher gekommen war.

Doch wurde ihm das Wasser, so ruhig wie er es bei seinen Fahrten auch kennenlernte, nicht so zum Freund wie es dies bei seinen Alterskameraden vermochte. Gabriel blieb stets zurückhaltend. Ihm wohnte eine andere Art inne, als die Welt durch Aktivität zu ergründen.

Er blieb überall der stille Beobachter und sah nachdenklich den Wolken nach, wenn er manchmal die Einsamkeit suchte und Stunde um Stunde am Strand sich aufhielt. Nie kam Böses über seine Lippen noch nistete es sich in seiner Seele ein.

Pablo ließ ihn gewähren. Er ahnte, dass das Schicksal noch Besonderes vorhatte mit ihm.

Deshalb zwang er ihn nicht samt und sonders in die zermürbenden Notwendigkeiten des Alltags, hielt ihn zwar zur Entwicklung seines Wesens, zu seiner Reife, zur Erledigung seiner Pflichten an, obwohl dies eher selten geschah, weil Gabriel für sein Alter bemerkenswert eigenständig und verantwortungsbewusst war, ließ ihm aber auch genügend Freiraum, damit er seine Seele dort zur Vollkommenheit brachte, wo Pablos Vermögen zurückbleiben musste.

Pablo war ein einfacher und ehrsamer Mann, aber unter seiner dicken rissig-braunen Haut wohnte ein wacher Verstand, der ihn mit mehr Fortune zu mehr befähigt hätte als zum Führen eines Lebens als gemeiner Fischer.

Doch das Schicksal hatte es nicht anders für ihn bestimmt. Seine Anspruchslosigkeit, die er mit der Muttermilch aufgesogen hatte, ließ ihn sein Geschick annehmen und nicht sonders unzufrieden werden.

Für Frederico hatte er große Hoffnungen gehabt, die Hoffnung, dass er der Beschwerlichkeit des Lebens an diesem einsamen Ort entfliehen und in das Geschehen der weiten Welt Einzug halten konnte, etwa als in leichte und helle Stoffe gekleideter Kaufmann in Cadiz oder als Kapitän einer jenen unzählig vielen Handelsschiffe, die gen Amerika segelten, dem Glück des Goldes und des Geldes immer auf der Spur.

Früher hatte er manchmal, wenn er auf dem Wasser gewesen war, diesen Schiffen nachgesehen und sich dann in seinen wenigen, immer wiederkehrenden Träumen verloren.

Als Frederico groß wurde, träumte Pablo diese Träume für ihn.

Frederico war ein so ein wunderbarer Junge gewesen, ein Geschenk des Himmels – und Gabriel war es auch.

Ein Geschenk mit einem unerklärbaren innewohnenden Reichtum, den er nicht der Auszehrung des Alltags opfern durfte.

»Auch er wird gehen!«

Diese leise zu sich selbst gesprochenen Worte, diese Empfindung legte Pablo über all die Jahre nicht ab.

Und so entwickelte sich zwischen ihnen ein starkes Band, aber nicht ein als unvergänglich empfundenes wie zwischen Vater und Sohn. Gabriel gehörte ihm nicht, er gehörte Gott und den Mächten des Himmels.

Auch Margarita, Pablos Weib, sah Gott im Spiel. Anders als Pablo jedoch schaute sie Gabriel als ihr eigenes Kind an.

»Der Himmel lässt Wunder geschehen und bahnt ihnen den Weg in die Welt.«

Gott hatte ihnen Frederico genommen, warum er dies getan hatte, war ihr nie zu Verstand gekommen, und eben dieser Gott hatte ihnen nun, da er seinen Fehler eingesehen haben mochte und sie zu alt geworden war, um eigene Kinder zu bekommen, Gabriel als Findelkind geschenkt.

Der Junge gehörte ihnen, dies ihre unumstößliche Gewissheit, wie sie sich sonst nur einer Mutter bemächtigen konnte. – Wem auch sonst, da nie sich irgendjemand nach ihm erkundigt hatte, hätte das Kind gehören sollen? Genauso wie Pablo, nur leiser, hatte sie sich gefragt, wer die leiblichen Eltern des Kindes waren, ob sie überhaupt noch lebten, aber sie fragte sich nicht, warum sie das Kind vor die Tür gelegt hatten oder hatten legen lassen, und fragte sich auch nicht, ob sie jemals noch einmal Anspruch auf es erheben würden.

Nein, Gabriel war ihr Kind, ihr Kind allein, und sie würde es nie aus ihren Händen geben.

Pablos Geist war forschender gewesen. Margarita hingegen sah es zu ihrer großen Überzeugung als gottgegeben an, dass Gabriel an die Stelle von Frederico gerückt war. Sie würden ihn behalten, bis sich aus ihm ein stattlicher junger Mann entwickelt hatte.

Und wenn er ein gutes Wesen haben würde, und davon war Margarita überzeugt, dann würde er, so ihr mütterlich gefärbtes Denken, nie weit von ihnen gehen und sich bis zum Ende ihrer Tage um sie kümmern.

*

»Es passt alles zusammen. Nichts war für meine Augen und Ohren bestimmt.

Und dennoch kann ich alle Teile zu einem Ganzen zusammenführen.«

Sion de Albanez, der neue Herr, nachdem der alte Marqués vor Jahren alt und unruhig gestorben war, hegte dunkle Gedanken. - Gabriels Existenz wühlte ihn auf. Eine passende Erklärung war ihm möglich, aber er wollte sich die Wahrheit nicht eingestehen.

Zum Vorteil für sein Befinden passierte es nur selten, dass er an den Jungen denken musste, am ehesten noch, wenn er Pablo zu Gesicht bekam. Und diese Seltenheit in der Verwirrung seiner Seele, gepaart mit einer seltsamen Schwäche, verleitete ihn nicht zu grausamen Plänen und ihrer Ausführung.

Die Unruhe, die Sion de Albanez erfasste, wenn er sich der Gegenwart des Jungen bewusst wurde, grenzte an eine unbestimmte Angst. Angst, sie war sonst im Alltag, der keine Geheimnisse barg, und in der Begegnung mit den untertänigen Menschen kein Begleiter seines Lebens.

Umso mehr beschwerte ihn diese unliebsame Empfindung.

So überraschend, wie Gabriel in das dörfliche Leben gekommen war, so überraschend sollte er auch wieder gehen.

Diesen Wunsch, der an Naivität grenzte, hegte Sion de Albanez – wie zuvor sein Vater schon, was sein Geheimnis geblieben war – meist unbewusst, manchmal jedoch heiß in seiner unfreien Seele, auch wenn er nichts für seine Verwirklichung tat. Er, der Herr, der gebieterische und Respekt einflößende, von Kindheit an auf diese Wirkung hin streng erzogene, verspürte eine eigenartige Machtlosigkeit, wenn sich dieses aus dem Reich des Unbewussten aufsteigende Gefühl seiner bemächtigte. Einen Anflug von wissender Verantwortlichkeit gegenüber Pablo und seiner Frau konnte er dabei nicht unterdrücken.

Eine Regung freilich, die immer nur von kurzer Dauer war und keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. Ein kaltes Herz hinter regungsloser Miene.

Wenn sein Herz auch bei Gabriel nur kalt geblieben wäre.

Aber es reagierte mit Abwehr, schlug höher und besorgte ihn. – Fatal! Eine Schwermut an Gedanken, die ihn belastete. Ablenkung zwar durch die täglichen Anforderungen, doch der Nachhall der Schicksalsglocke verstummte nicht.

*

So ging die Zeit dahin, über die Küste des Lichts und die dahinter liegende Landschaft und die Menschen hinweg, und formte sie, das Land unmerklich, die anderen aber mehr oder weniger deutlich. Vor dem Ablauf der Naturkreisläufe, vor dem ewigen Wechsel von Tag und Nacht, vor dem immer währenden Zug der Sterne über den immer gleich anmutenden Nachthimmel, vor dem nie enden wollenden Rhythmus der Gezeiten und vor dem immer gleichen Ablauf des Alltags der Menschen schien deren Entwicklung, ihr Erwachsenwerden und ihr Dahingehen die einzige Veränderung in diesem von Gott nur wenig besuchten Zipfel der großen Welt zu sein.

Und doch hatte sich schon eine Veränderung eingenistet, die mit wachem Blicke längst zu bemerken gewesen wäre und die nach ihrer Offenbarung für ein Entflammen nie gekannter und nie gelebter Empfindungen sorgen sollte.

Gabriel war eben um die acht Jahre alt, als sein kleines Leben, die Winzigkeit seiner Welt, jäh von einem Augenblick zum anderen eine tiefe Wandlung erfuhr und er die vorgezeichnete Bahn seines Daseins endlich betrat.

Ein Aufschrei auf dem sonnenüberfluteten Marktplatz, auf dem sich zu der späten Vormittagszeit viel Volk aufhielt, beendete alle Beschaulichkeit und seine Kindheit.

»Mutter, schau! Gabriel hat keinen Schatten!«

»Was redest du da, Junge?«

»Doch schau, es ist wahr!«

Ein Blick, der Aufschrei der Mutter, das Herumfahren der Menschen und die Feststellung von Gabriel, dass er betroffen war, das alles dauerte nur wenige Momente. Er schaute die Frau mit ihren verschreckten Augen an, dann Ramon, den Jungen, der sein Geheimnis, um das er selbst nicht wusste, entlarvt hatte, sah vor sich auf den Boden, blickte zu den Seiten, schaute hinter sich, aber er konnte keinen Schatten von sich ausmachen. Erst Verwunderung, dann schon der Anfang von Verzweiflung, die in ihm aufstieg. Der Abgrund einer Hölle begann sich in Sekundenschnelle aufzutun. Ein Abgrund, der ihn in die Tiefe reißen würde, sich anschickte, ihn zu verschlingen, ohne dass er aus der Welt verschwand. – Wie konnte das sein?

Die Frage stellten sich ebenso alle, die in befremdender Neugier herbei eilten.

Behäbiges Dorfleben unter südlich heißer Sonne, das von einem Moment zum nächsten einem Aufruhr gewichen war.

Um Gabriel herum bildete sich ein Kreis, türmte sich eine unüberwindbare Mauer aus Leibern, die immer bedrohlicher wurde, weil die Hinzukommenden die vor ihnen Eingetroffenen nach vorne drängten.

Die magische Linie, gut drei Schritte zu Gabriel mochte sie betragen, wurde aber unter heftiger Gegenwehr der von hinten Bedrängten, die all ihre Körperkraft zum Abstand halten aufwenden mussten, nicht überschritten.

Nur nicht von dem Jungen berührt werden. Nur nicht zu nahe kommen.

All das, was ihnen in ihrer Lebenszeit über den Satan und die dämonischen Mächte beigebracht worden war, dem sie sich in dem sicheren Glauben, dass sie wohl nicht heimgesucht würden, so gerne schaudernd überlassen hatten, war jetzt präsent, so unglaublich, zum tiefsten Fürchten nah.

Schau, er hat tatsächlich keinen Schatten! Welche Ungeheuerlichkeit! Er steckt sicher mit dem Teufel im Bunde!

Das Seelenheil war in Gefahr. Diese Befürchtung gesellte sich instinktiv zu ihrer Neugier. Alles Fremde, alles nicht Erklärbare wurzelte in Satans Reich.

Gabriel, dieser so weiche, so empfindsame Junge mit seinen mädchenhaften Zügen, er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte Angst vor der Menge, die ihn mit ihren augenblicklich finsteren und gereizten Blicken ausgrenzte. Und er hatte Angst vor sich selbst. – Er war anders als die anderen.

Tiefe Scham überkam ihn, heißes Blut durchströmte ihn, sein Herz hämmerte, so als würde es zerspringen wollen.

Würde es das doch tun, dachte er flehentlich. Er hatte kein Recht zu sein. Eine schmerzliche, rasch sich einstellende Empfindung.

Sekunden, Augenblicke, in die sich die Ewigkeit eingrub. Die Zeit hörte auf zu fließen, war in diesen Augenblick gemündet und schien ihn nicht überwinden zu können.

Erste Feindseligkeiten waren zu vernehmen.

»Ich hab es mir immer schon gedacht. Der Junge ist mit der Finsternis im Bunde. In unsere Mitte gebracht, um uns alle zu verderben!«

Cisco, der Metzger des Dorfes, war schnell seine Meinung losgeworden.

Die Alten schwiegen. Niemand ergriff das Wort für Gabriel. Die Kinder des Dorfes, seine Freunde, die bis eben noch ein Teil seiner kindlichen Seele gewesen waren und jetzt aus ihr heraus stürzten, blickten ihn ängstlich an, als fürchteten sie, auch von dieser Krankheit ergriffen zu werden. Einige, darunter auch Ramos, der Gabriels Makel entdeckt hatte, sahen nach, ob sie selbst noch einen Schatten warfen.

Die Situation wird unerträglich für Gabriel. Er will nur noch fort, fort von diesem Platz, fort von allem Vertrauten, was zu verschwimmen begonnen hat, fort in die ewige Fremde.

»Was habe ich euch getan? Lasst mich gehen!«

Leise formen sich diese Worte einer plötzlich einschießenden Gegenwehr auf seinen Lippen, ohne dass sie eine Reaktion bedingen.

Erst als er höchst unsicher zwei Schritte nach vorne geht, bricht der Kreis der Menschen auf. Furchtvolles Zurückweichen unter dem Aufraunen der Menge, welches Gabriel einen Weg ebnet, pure Angst, die ihm eine Gasse schlägt.

Selbst nie von derartig großen Ängsten heimgesucht, setzt er einen Fuß vor den anderen. Wenn er strauchelt und Schwäche zeigt, werden sie über ihn herfallen, werden sie ihn töten. Er spürt es und umso konzentrierter werden seine Schritte, obschon sich auch sein Geist mit der neu eingetretenen Situation auseinander setzt.

Welch eine Schande, ohne Schatten da zu stehen, welch ein schmerzhafter Stich, welch eine unheilvolle Ahnung, all die Menschen jäh verloren zu haben, die ihm so sicher gewesen waren und ihm – auch wenn er um seine Besonderheit weiß – eine tiefe Geborgenheit für das Leben geschenkt hatten.

Seine Schritte werden schneller, ohne dass er fortzukommen scheint, sie gehen ins Laufen über, ohne dass er das Gefühl hat, entfliehen zu können. Er beginnt, vor sich selbst fortzulaufen, den Halt seiner Seele zu verlieren, der einsamste Junge der Welt zu werden.

Zuhause – hat er überhaupt noch eines? –, nahezu unwissentlich haben ihn seine Schritte dorthin geführt, verkriecht er sich in den kleinen fensterlosen Ziegenstall, der an das Haus angebaut ist, aber die älteren Jungen, die ihm mutig mit Abstand gefolgt sind, gönnen ihm keine Zuflucht und verraten der nachkommenden Menge den Verbleib.

Immer lauter werden die Stimmen der auflaufenden Menge, sie dringen in Pablos Gehör, in seine Siesta, die er vor seinem Hause abhält, und endlich in sein Bewusstsein. Er öffnet die Augen. Auch sein schweigsamer Mund öffnet sich.

Ehe er einen Gedanken formen kann, ehe er etwas zu sagen in der Lage ist, sieht er die Leute des Dorfes, die entschlossen heranmarschieren, darunter viele Freunde, diese bedrohlich näher rückende Menschenmenge, aus der auch schon Forderungen an ihn gerichtet werden.

»Sag ihm, dass er aus dem Stall kommen soll!«

»Ja, treib den kleinen Teufel aus seinem Versteck!«

Das größte Befremden, das seine Seele heimsucht.

*

Am Abend war eine gefährliche Stille eingekehrt.

»Sie werden wiederkommen …«

»Ich begreife das alles nicht.«

»Sie werden wiederkommen und sich hinter dem Rücken von unserem Herrn, von Sion de Albanez, postieren.«

»Warum haben wir nicht …?«

»Ihr müsst ihm und der Menge zuvorkommen!«

»Es hätte uns doch …«

»Unmöglich, bis morgen zu warten!«

»Er ist uns doch geschenkt worden!«

»Hört ihr mir eigentlich zu?«

»Aber von Gott, wie ich immer dachte, oder vom Teufel …?«

Sie schauten mit Sorge auf Gabriel, der sich in unruhigem Schlafe hin und her wälzte.

»Pack seine Sachen, Margarita, und dann weck ihn! Ich nehme ihn mit. Hier ist er in großer Gefahr!«

Die Worte stammten von Luis, dem äußerlich nur ausgezehrt wirkenden, innerlich aber noch so vehementen Freund. Er war der Menge am Nachmittag gefolgt und kurz von ihr aufgesogen worden. Dann aber war er aus ihr herausgetreten und hatte sich von ihr entfernt … auch mit seinem Verhalten. Er hatte sich schützend vor Pablo gestellt und den bedrohlichen Blicken und den hasserfüllten Wortattacken standgehalten.

»Lasst sie in Ruhe«, hatte er gebrüllt, »und schert euch fort!«

Nach einigen Momenten gefahrvollen Schweigens hatte er weitere Gegenwehr folgen lassen.

»Es gibt hier für euch nichts zu tun. Also verschwindet!«

Eine am gestrigen Tage noch undenkbare Situation war eingetreten. Luis stellte sich gegen die Gemeinschaft des Dorfes.

Gegen die Gemeinschaft, die einzige, in die er je in seinem eintönigen und armseligen Leben hinein gewachsen war, die viel mehr noch als die vertraute Landschaft, die Nähe der Felder, die Nähe der Küste, die Nähe des Meeres und die Nähe des Himmels Heimat für ihn verkörperte. Ein Vorfall, ein einziger, der auch ihn beunruhigt hatte, war ausreichend gewesen, die festgezurrten Bande aufzulösen. Diese Gemeinschaft, war sie nicht mehr als ein Trugbild, eine vermeintliche Antwort auf die Schwäche der einzelnen, ein Schutzschild, das, wenn es darauf ankam, keines war? Stand in Wahrheit nicht jeder, der sie nicht genau spiegelte, alleine da?

Schmerzliche Fragen, von schmerzlicher Erkenntnis geformt.

Die Welt war so einfach zu erklären gewesen. Jeder hatte seinen angestammten Platz im großen Gefüge.

Alles war bestimmt – jeder Tag und jedes Kommen und Gehen.

Dies alles in dem ein Leben lang ungetrübten Bewusstsein der Gleichheit mit all den Menschen, die sich hier unter der heißen südlichen Sonne mühsam ihr Überleben verdienen mussten. Von heute an war diese so vertraut gewordene Welt zerstört und nicht mehr herzustellen.

Die Schattenlosigkeit des kleinen Gabriel schon, derer er selbst nicht ansichtig geworden war, ließ die Sonne eines einfachen Glaubens untergehen. Und das sich anbahnende Zerwürfnis mit dem Dorf schleuderte seine schlichte Welt endgültig in das Dunkel der Nacht.

Dennoch musste dieses Wagnis, dessen Luis sich sofort bewusst gewesen war, für etwas Größeres als die Gemeinschaft mit den Menschen des Dorfes, für die unzerstörbare Freundschaft mit Pablo eingegangen werden, eine Aufgabe, von der es aus Luis tiefster Überzeugung keine Befreiung geben konnte.

Die Menge hatte auf seine Worte hin unschlüssig reagiert. Niemand wollte weichen, aber keiner ging auch nur einen Schritt mehr vorwärts. Nach einer Zeitspanne endlich, die Luis und auch den anderen wie eine Ewigkeit vorgekommen war, murrten die Ersten und gingen ins Dorf zurück. Gehässige Kommentare, da und dort aus der Menge kommend, von Cisco, dem Metzger geschürt, begleiteten sie.

Nach und nach setzte Schweigen ein. Die davongingen, immer mehr an der Zahl, redeten nichts, und die noch verharrten und ihre Augen auf sie richteten, schwiegen auch, um dann gleich wieder mit ebensolchem Schweigen ihr Augenmerk auf Luis zu richten und den Ziegenstall, worin Gabriel sich aufhielt und der insoweit nur vor Übergriffen geschützt war, als dass nicht wenige zu glauben geneigt waren, dass gleich der leibhaftige Teufel aus ihm herausfahren und sie alle ins Verderben stürzen würde.

Luis registrierte den Erfolg seiner Aufforderung mit gespannter Empfindung.

Noch war ein Umschlagen der Situation möglich. Ein erklecklicher Haufen Männer, Cisco allen voran, stand weiter vor dem Haus. Doch auch wenn sie Tag für Tag enorme körperliche Leistungen vollbrachten, unermüdlich rackerten und schufteten, wohnte ihnen doch keine eigentliche Tatkraft aus einem freien eigenen Willen heraus inne.

So blieben sie unentschlossen und zerstreuten sich schließlich in alle Richtungen, was freilich eine gute Stunde an Zeit in Anspruch nahm.

Luis fühlte keinen Triumph in seiner Brust sitzen. Nein, es war nur das vorübergehende Weichen einer ungeheuren Anspannung.

Die Lage würde sich wieder zuspitzen. Er wusste es, und dies ließ ihm keine große Erleichterung zufließen.

Und Pablos und Margaritas Unschlüssigkeit machte ihn noch besorgter.

Schließlich nahm er die Dinge selbst in die Hand und den noch schlafenden Gabriel an sich. Vorsichtig wickelte er eine auf dem Lager von Pablo und Margarita ausgemachte Wolldecke um ihn.

Der Junge schlief weiter. Luis richtete seine Schritte zur Türe. Doch Pablo versperrte ihm den Weg. Es war kein Gefahr heraufbeschwörendes Dazwischentreten, sondern nur ein ängstliches.

»Wo gehst du hin, Freund?«

»Zu einem für den Jungen sicheren Ort. Mehr müsst ihr zunächst nicht wissen.

– Wissen zu haben, bedeutet Gefahr. Also fragt nicht weiter!«

Sagte es und schob sich mit dem Jungen auf dem Arm an Pablo vorbei. Doch die Absicht reifte nicht zur Tat. Gerade da Luis die Tür öffnen wollte, wurde sie mit einem heftigen Tritt aufgestoßen. Vor ihm stand Juan, die rechte verhasste Hand von Sion de Albanez, so nah, dass Luis seinen Schweiß und seinen schlechten Atem riechen konnte. Hinter ihm hatten sich einige Männer postiert. Ein Moment des Erschreckens, ein Moment des Überraschtseins.

»Aha, sind gerade rechtzeitig noch erschienen, wie mir scheint.«

Juan zeigte sich wissend. Ein Blick nur, der ihm alles sagte.

»Wo wolltest du mit dem Jungen hin?«

Luis schwieg und blickte unter sich.

»Los, her mit ihm!«

Juans Stimme klang unerbittlich. Dann überschlugen sich die Ereignisse.

Margarita schrie auf und wollte Gabriel an sich bringen. Juan aber griff eher zu und zerrte an dem Jungen. Luis hielt dagegen, Gabriel fing an zu wimmern und unruhig zu werden und als er aufwachte, schrie auch er.

Dann plötzlich peitschte ein Schuss durch die nachtkühle Luft. Einer der mitgekommenen Männer hatte ihn vor der Tür in den Nachthimmel abgegeben. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Augenblicklich hörten das Schreien und alle Gegenwehr auf.

Luis, Pablo, Margarita, auch der kleine Gabriel, alle waren sie wie gelähmt und erstarrten, so als hätte der Schuss jeden einzelnen von ihnen tödlich getroffen.

Juan hatte den Einsatz des Gewehres für den Fall des Widerstandes angeordnet und nutzte den Augenblick der Entschlusslosigkeit.

»Her jetzt mit dem Jungen!«

Er riss Gabriel an sich und trug ihn eilig aus dem Haus. So schnell wie die Männer in Erscheinung getreten waren, so schnell waren sie auch wieder außer Sicht. Mit Gesichtern, welche Verzweiflung spiegelten, starrten Pablo und Luis durch die offen stehende Tür in die Nacht, während Margarita vor Schmerzen zusammengekrümmt nach Luft rang.

»Nehmen sie ihn wie verabredet, Padre, und bringen sie ihn so schnell wie möglich zur Kongregation nach Cadiz! Sollen die sich mit dieser Ausgeburt der Hölle befassen und das Geständnis aus ihr rauspressen!«

Sion de Albanez, er übte zwar die Gerichtsbarkeit aus, aber bei Fällen wie solchen, zwischen Himmel und Hölle angesiedelt, überließ er der Kirche gerne das Feld. Anflüge von Angst vor dem unberechenbaren und nicht zu fassenden Bösen, das in diesem Kinde angesiedelt war, hatten zudem Einzug in seine Seele gehalten. Anflüge von Angst, die ihn Abstand halten ließen.

Überhaupt waren Kurie und Inquisition noch immer die heimlichen Herrscher des Landes. In der Zeit nach Philipp V., der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anfänglich mit königlicher Macht ihren Einfluss eindämmen wollte, dann aber unrühmlich dem Werben seiner starken zweiten Frau für die alten Konstellationen erlegen gewesen war, hatten sie allen neuerlichen Strömungen zum Trotz weiter ihre Macht behauptet.

*

Gabriel hätte schon die größten Ängste um sein Leben ausstehen können und war auch nicht in jedem Augenblick von Tapferkeit und Hoffnung durchdrungen, doch hatte er sich angesichts der sich überschlagenden Ereignisse einigermaßen in seine Lage eingefunden.

Der erste Schrecken war tief in seine kindliche Seele eingefahren, nun jedoch harrte er ruhig und gefasst, wenn auch mit fühlbarem Schlagen seines Herzens, der Geschehnisse, die auf ihn warteten.

Welcher übermächtige Schatten nur hatte sich auf ihn gelegt? Noch gestern war die Welt, wie sie ihm nun begegnete, nicht denkbar für ihn gewesen.

Die Leute, seine Freunde auch, waren ihm nie feindselig begegnet, jetzt hatte er ihre dunkle Seite, ihren Hass und ihre Zerstörungswut, kennengelernt. Und dennoch ließ ihm die Stille des kargen Raumes in dem Haus des Padre ein wenig Zuversicht zuströmen.

Weg von zu Hause, aber auch weg von den aufgerissenen Mündern und Augen der Menschen, weg von jeder Begierde, ihn in seiner Misslichkeit anzustarren oder ihn gar anzugreifen.

Er wusste nicht, was hier mit ihm geschehen sollte. Aber er hatte die Kirche als einen Ort der Gerechtigkeit und der Milde und des Vergebens von Sünde in Erinnerung – zumindest nach ihrer eigenen fortwährenden Bekundung.

Hier konnte ihm doch nichts Übles widerfahren. Ein Glaube, der seine kindliche Seele zunächst noch stärkte.

Gabriel aber ahnte nicht um den Unterschied zwischen Predigen und Tun, zwischen Gerechtigkeit verlangen und Gerechtigkeit selbst walten lassen, zwischen Vergebung ankündigen und Vergebung praktizieren.

Der Padre, kleinwüchsig, bucklig, ein sich einsilbig gebender, durchtriebener Geselle, den es aus städtischer Ferne wegen eines vorwerfbaren Vorkommnisses in diese Landschaft verschlagen hatte, sprach kaum ein Wort mit ihm.

In der Nacht zur Schlafenszeit, als er in das Haus des Kirchenmannes gebracht worden war, hatte Gabriel es noch verstehen können. Doch auch über den Tag änderte sich daran nichts. Der Padre erschien bisweilen an der Tür, übersah kurz mit weit aufgerissenen Augen, in denen Anspannung sich spiegelte, die Situation, stellte zwischendurch etwas zu essen hin, ein wenig Obst, vorgestriges Brot und bisschen Speck, und war jedes Mal schnell wieder verschwunden.

Dennoch fühlte Gabriel sich zusehends von ihm beobachtet, ohne dass seine Augen den Beweis dafür lieferten. In der Tat hatte der Padre die Möglichkeit, einen versteckten Blick in einen Teil des Zimmers zu werfen. Durch ein Loch in der Wand, abgedeckt von einem Bild, das zufällig über dieser Öffnung in der Wand ebenfalls ein kaum zu bemerkendes Loch aufwies, konnte der Kirchenmann in den Raum spähen, um festzustellen, ob Gabriel heimlich die Gestalt des Teufels annahm oder Vorbereitungen für einen Ausbruch oder für einen feigen Überfall traf.

Und immer, wenn dem Padre die Stille in dem Raum zu schaffen machte und er aus seinem Versteck heraus Gabriel nicht beobachten konnte, erschien er an der Tür, um den Jungen und sein Treiben kritisch zu mustern.

Für den Padre bedurfte es von Beginn an schon keiner aufwändigen Klärung mehr. Der Junge steckte mit dem Satan im Bunde. Die Berichte, die er vernommen hatte, waren Beweis genug.

Einzig Gabriel noch bei der Gelegenheit zu überführen, wie er die Teufelsgestalt annahm, seine Gestalt aus inner Urkraft anschwoll, wie ihm Hörner aus der aufplatzenden Haut auf die Stirn traten, Haare auf dem ganzen Körper sprossen, sich zu einem Fell verdichteten, sein Gesicht zu einer Fratze verkam und ein klumpiger Fuß sich formte, danach dürstete ihn trotz allem Schrecken bei der bloßen Vorstellung seine Gier.

Doch der Junge tat ihm nicht den Gefallen, sich zu verwandeln und weiter zu entlarven. Der Priester sah darin nur die Verschlagenheit des bösen Engels, dass Gabriel ruhig sein Geschick erwartete.

»Na, warte, du kleiner Teufel! Bald schon wird Gott, unser aller Herr und Gebieter, ja auch deiner, dich richten … sehr bald sogar!«

Die gütliche Befragung, die Territion, die Schreckung, das Zeigen der Foltergeräte, die noch die Blutspuren der sündhaften Seelen trugen, und die peinliche Befragung, wenn alles andere nicht gefruchtet hatte, würden die Wahrheit enthüllen und das, was dann zu tun war, vorbereiten.

*

»Wir müssen den Jungen befreien, so lange er sich hier vielleicht noch aufhält, und uns auch selbst in Sicherheit bringen!«

Luis hatte sich als erster von dem nächtlichen Überfall erholt und wieder die Fähigkeit erlangt, klar zu denken. Pablo jedoch schien nicht ansprechbar zu sein. Mit teilnahmslosem Blick hielt er Margarita, die noch immer ohne Fassung war, in seinen Armen.

Ihr Kind, was war mit ihm geschehen? Gestern noch war Gabriel all ihre Aussicht und Hoffnung gewesen.

Und jetzt, einen Tag von so vielen nur weiter, war alles, seine Unbeflecktheit, ja, sein ganzes Leben, in den Schmutz getreten worden.

Wie sollte er je wieder ein normaler Junge sein können? Wie nur sollte sie selbst ihn je wieder als normal ansehen können?

Ein tiefer Schrecken war in sie eingefahren, als sie gesehen hatte, dass Gabriel keinen Schatten warf. Ja, sie hatte gesehen, wie der Teufel sie im Schein der Kerze anlachte, welche sie vor dem schlafenden Jungen kreisen ließ.

Nichts, rein nichts … nicht die Spur eines Schattens.

*

»Nicht die Spur eines Schattens!«

Sion de Albanez nahm die Kerze zurück. Des Priesters Furcht, die sich auf seinem abgemagerten Gesicht ausmalte, spiegelte sein eigenes Entsetzen, das freilich nur seine Seele heimgesucht hatte. Äußerlich wirkte Sion de Albanez ruhig.

Eigentlich hatte er nicht geplant, des Jungens ansichtig zu werden. Doch innere Aufgewühltheit hatte ihn nicht zu Schlaf kommen lassen.

Ich muss ihn sehen. Dieser Wunsch hatte sich schließlich auf seinen Lippen geformt und zu einem finsteren Verlangen verdichtet.

Und jetzt, nachdem er Gabriel gesehen hatte, spürte er die Gefahr.

Ein Schatten, nicht irgendeiner, ein bestimmter, ein aus der tiefen Vergangenheit herkommender Schatten, legte sich auf sein Leben. Er fing an, ihm die Luft zum Leben zu nehmen, und er wusste, dass das Schicksal ihn einzuholen begann.

Frederico, der Tod von ihm war nicht vergessen. Er hatte ihn verdrängen wollen, aber der Tag der Abrechnung war von einer Macht bestimmt worden, von welcher, wusste er zu ahnen.

Dieser schmächtige Junge hier vor ihm, dessen Anblick ihn jeher beschwert hatte, und das, was ihm widerfahren war, standen im Zusammenhang mit den damaligen Ereignissen.

Der Stein war ins Rollen gekommen, die Mühlen des Schicksals hatten zu mahlen begonnen. Es waren die Mühlen des Allmächtigen. Diese Ahnung reifte in ihm zur Gewissheit.

Er aber musste es dem Teufel zuschieben, konnte nichts anderes in die Welt entlassen und hatte die Wahrheit im Verborgenen zu halten.

»Das Weitere geschieht wie besprochen!«

Der Padre nickte, schlug das Kreuz und wusste wieder nicht zu verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief.

Als Sion de Albanez weg war, näherte er sich noch einmal mit der Kerze dem Antlitz des Jungens. Er leuchtete ihm furchtvoll in die Augen, um den Teufel in den Pupillen von Gabriel zu erblicken, die unüberwindbare Neugier und die gleichzeitige Bereitschaft zur Flucht trieben ein böses Wechselspiel in ihm.

Draußen vor dem Haus standen zwei von Sion de Albanez Männer, die sein Schreien nach Hilfe, so er sie benötigen würde, vernehmen und sofort reagieren würden. Doch der Teufel musste doch auch vor dem Kreuz, das er in seiner rechten Hand trug, zurückweichen. Sicher aber war der Padre sich nicht.

*

In der Nacht, da kein Geräusch an sein Ohr drang, träumte er von einem hellen Licht, das ihn geleitete und wärmende Sicherheit schenkte. Alle Finsternis, in die er sich vorgetastet hatte, verschwand und ermöglichte ihm einen sicheren Gang.

Aus dem Licht drang eine warme Stimme, offenbarte ihm den Sinn, den höheren, der in dem Geschehnis des Tages steckte.

»Sei ohne Angst!«

Die Erfüllung seines Geschicks stand bevor, wenn auch noch große Prüfungen auf ihn warteten. Das Licht aber überwand jedes Hindernis, und er, er folgte ihm in die Welt hinaus.

Zwischen Bewusstlosigkeit und Halbschlaf träumte Gabriel den Traum weiter.

Die Wirklichkeit schien die Phantasie immer mehr an sich zu ziehen. Und sie zog auch an Gabriel. Der Traum wurde immer eindringlicher.

Dieses Licht, es war dabei, ihn von diesem Ort wegzuführen.

Endlich schlug Gabriel die Augen auf und sah das Licht. Und hinter diesem Licht stand nicht wie Stunden zuvor der Padre, sondern Joaquin, der Sohn von Luis. Zeichen des Lebens und der Veränderung.

Was war geschehen? Was würde geschehen? Zeit für zu fragen schien keine da zu sein.

Was war mit dem Padre passiert?

»Schnell, Junge! Komm mit!«

Gabriel wusste nichts und wusste alles, wusste um seinen Traum und seine Bestimmung. Und die führte ihn fort von hier wie es auch das Licht getan hatte, fort von der Heimat seiner ersten Jahre, fort von der alten Vertrautheit hinein in eine unbestimmt neue Vertrautheit, die hinter einem dünnen Schleier an Fremdheit schon fühlbar war.

Er sah die beiden Soldaten, die bewusstlos vor dem Haus des Priesters lagen, blickte sich unsicher auch nach dem Padre selbst um, diesem unheimlich gewordenen Mann der Kirche, vermochte ihn aber nicht zu entdecken und beeilte sich, um Schritt mit seinem Befreier zu halten, der kraftvoll und schnell voranging.

*

Sion de Albanez drehte unablässig den aus dem Erbe seines Vaters stammenden Goldring an seiner linken Hand. Er hatte, so sich nicht die Tür öffnete, keine Teilhabe an der Gesellschaft, die ihn umgab.

Wenn es ein Wunschring gewesen wäre, dieser Ring, den er da fortwährend über das Fleisch seines Fingers rieb, dann wäre nichts mehr mit Schwierigkeit verbunden gewesen, dann hätte niemand mehr nach diesem Jungen gefragt, so wie man es jetzt tat, ob in offener Unterhaltung oder hinter vorgehaltener Hand.

Er ahnte um die Zeit der ungeheuren inneren und der nachfolgenden äußerlichen Veränderung. Das gemeine Volk war nur einer ersten äußerlichen Veränderung ansichtig geworden, von der es sich in Unruhe hatte bringen lassen, die ihm aber durch das Anführen und das verkündete Bezwingen des Teufels wieder auszutreiben sein würde. Der tiefe Wandel, der anstand, würde es bald schon aber erfassen und in eine nicht mehr stillbare Unruhe und in einen bedingungslosen Aufstand gegen das alte Gefüge drängen.

Dieser Tag, der gestrige, war der erste in einer langen Reihe von Tagen, an deren Ende nur ein Wandel stehen konnte, dem auch er sich – mehr als alle anderen es tun mussten – zu stellen haben würde.

Festungen würden geschliffen, Mauern, solche aus Stein wie jene aller Gedankenwelten, zum Einsturz gebracht, eine neue Welt mit eigener Ordnung offenbarend und die alte unter sich begrabend und der Vergessenheit zuführend.

Er hatte von der Revolution in Frankreich gehört, von den umstürzlerischen Kräften, von der Erhebung des gemeinen Volkes, von dem Geschwür, das sich durch Europa zu fressen begann.

Wo sollte sein Platz in dieser neuen Welt nur sein? Es gab ihn nicht in seinem engen stolzen Denken, das in der bloßen Fortführung alter Traditionen verwurzelt war. Deshalb musste er, wie aussichtslos es vielleicht auch war, sich gegen diese neue Welt stemmen und ihrem Anbeginn kämpferisch gegenüber treten.

Und der Schlüssel zu dieser neuen Welt war dieser Junge.

Verdammt, wo steckte er nur?

Sion de Albanez drehte weiter den schmalen Ring an seiner linken Hand und wartete auf die Kundschafter, die er ausgesandt hatte.

Aus allen Richtungen strömten sie, teilweise erschöpft, bis tief in die Nacht herbei. Keiner aber trug die erlösende Nachricht auf seiner Zunge. Der Junge war wie vom Erdboden verschwunden. Für Sion de Albanez das untrügerische Zeichen, dass hier Mächte zugange waren, gegen die er vergeblich zu Felde zog.

Wenn der Junge in spätestens zwei Tagen nicht zu finden war, würde er sich vielleicht schon an einem Ort aufhalten, bis wohin sein langer Arm nicht mehr reichte. Jede Stunde, in der die Suche nicht erfolgreich war, führte ihm die Notwendigkeit klarer vor Augen, dass es vorrangiges Tun der heiligen Kirche mit ihrem weiten Netz an Spitzeln und Informanten werden musste, die Rolle des Jägers zu übernehmen.

In die Rolle des Handlangers hatte sie sich trotz des Wissens um ihre Gewichtigkeit schon längst eingefunden.

Die Wege waren geebnet. Missliebige Personen verschwanden, sie wurden urteilslos der ihnen gebührenden Gerechtigkeit zugeführt und verdient für alle Zeiten aus ihrem gewöhnlichen Leben gerissen … an einen Platz, an dem sie nur noch auf den Himmel hoffen durften.

Hinter schweren unüberwindbaren Klostermauern hatte die Kirche sich schon mancher armen Seele angenommen und ihr den Weltenbezug genommen.

Auch Gabriels Spur hätte sich nach der Vorstellung von Sion de Albanez in einem weit entfernten Kloster unter der Obhut schweigsamer Mönche, von einem milden Segen der Weltlichkeit in ihrer Überzeugung gestärkt, bis in die Ewigkeit hinein verlieren sollen.

*

Eine Stimme aus der Ferne drang durch das stickige Dunkel zu ihm vor.

Eine Stimme, die ihm vertraut war.

Eine Stimme aber, die hier an diesem Ort nicht wenig ihre Vertrautheit eingebüßt hatte.

Eine Stimme, die sich gegen die bedrohliche Lage stemmte.

Eine Stimme, aus welcher er den ungebrochenen Willen heraushörte.

Eine Stimme aber auch, die an Kraft eingebüßt hatte.

»Sag, wie sich alles zugetragen hat!«

»Es war das Letzte, was ich für ihn tun konnte.«

Die Antwort fiel leise aus; ungehört erstarb sie fast auf den Lippen. Sie musste auch nicht laut sein, denn der, der sie verlangte, hatte sie so oft schon abverlangt.

Bilder, abgespeicherte, stiegen ins Bewusstsein auf.

Bilder, neue, ohne das Fundament des Geschehens, kamen hinzu, überlagerten die anderen und halfen, die Furcht zu unterdrücken.

Dieser Ort hier war einer der einsamsten in ganz Spanien. Wem er zuteil wurde, der sah kein Licht und keine Welt. Umso dringlicher, das Licht einer hohen Vorstellung den traurigen Ereignissen entgegenzustellen. Gewandet in Weiß, von gleißendem Licht umhüllt, die Welt all ihre Schatten verlierend und dann auch ihn durch seinen Ritt zum Himmel hin.

Diese Geburt an Phantasie, tiefen Frieden verströmend, war sie des Glaubens nicht wert? Oder sollten ihn weiter die Bilder von Blut und Gewalt heimsuchen und ihn in einen noch tieferen Abgrund stoßen?

Das Dahinvegetieren in diesem dreckigen, von Ratten behausten Loch war die Hölle. Und diese Bilder stammten auch aus ihr.

Und das nagende Gewissen, die Hoffnungen nicht erfüllt und versagt zu haben, war mehr noch die Hölle.

*

Auch ein anderer Ort war fern des Lichts und aller Welt.

Auch er war ein Gefängnis, ein Gefängnis der besonderen Art. Ein Gefängnis, aus dem es keine Rückkehr geben sollte. Ein Grab zu Lebzeiten schon.

Chorgesang aus der Hölle angestimmt, reinster Stimmen sich bedienend, drang aus der Ferne schwach in das Dunkel ein.

Doch aller Feindlichkeit der ihn umgebenden und seine Freiheit beschränkenden Welt zum Trotz gingen ihm immer und immer wieder warme Bilder voller Einbildungskraft und Glück durch den Kopf.

Nicht in Worte zu fassen, was er dort sah.

Helle Farben, lichtdurchflutet, öffneten sich tief in einem Abgrund, überwanden ihn in großer Eile, strömten einem Himmel von fliehenden dunklen Wolken entgegen und zerbarsten, um im selben Augenblick das Firmament und alles Land in einen gleißenden Schein zu tauchen, durch den von einem nahen Gipfel ein noch viel helleres Licht durchzustechen vermochte.

Und er fühlte sich von diesem Lichte angezogen und überwand alles an irdischen Kräften und schwebte ihm, einem Engel gleich, schwerelos zu.

*

Pablo atmete bedrückt die gefährliche Stille und den schweren Duft des Raumes ein, den er noch nie zuvor betreten hatte.

Eine Welt nah der seinen und dennoch so viele Welten entfernt. Da schienen selbst die Inbegriffe aller Fremdheit für ihn, die menschenüberlaufenen Viertel der Altstadt von Cadiz, El Pópula, La Vina und Santa Maria, mit ihren schmalen dunklen Gassen vertraute Orte zu sein. Nah dem Erwachsensein hatte er sie ein einziges Mal besucht, nach der für ihn weitesten Reise seines Lebens zu den religiösen Festen in der heiligen Woche vor Ostern, zu den Dutzenden von Prozessionen, die von den Nazarenos mit ihren schwarzen, unheimlichen Spitzkapuzen angeführt worden waren.

Pablo saß mit unheilvoller Empfindung im Privatgemach von Sion de Albanez.

Es war ein Ort, den er sich nie im Leben vorzustellen bemüht und den zu betreten er niemals sich gewünscht hatte.

Diesen seinen Herren, den von ihm geachteten aber nicht geliebten, den so hoch über ihm stehenden und herzlosen, hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen. Er hatte ihn allerdings hören können, mit seiner unverwechselbaren Stimme, so laut sogar, dass es ihm durch Mark und Bein gegangen war.

Draußen vor der mächtigen zweiflügeligen Türe war er mit seiner Dienerschaft, die in livrierten Uniformen einherging und durch demonstrierte Gleichgültigkeit Pablo gegenüber die Geringschätzung seiner Person mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, hart ins Gericht gegangen. Dies machte Pablo für sein Verhör, was anderes konnte auf ihn nicht warten, noch unsicherer.

Was Sion de Albanez da laut schimpfend äußerte, überhörte er, wie wenn in seiner Furcht alle seine Kanäle zur Welt verstopften. Der wachsende Druck in ihm war das einzige, was ihm bewusst wurde. Das Geschrei seines Herrn ging ihn einfach nichts an. Werk einer einsilbigen Erziehung. Und so nahm er auch nicht auf, dass es um ihn ging, um ihn, den bedeutungslosen, alten Fischer in seinen Lumpenkleidern.

Pablos Blick irrte unsicher durch den weiten, mit fein geschliffenem Palisanderholz getäfelten Raum, der mit Bodenfliesen aus weißem Marmor von Ronda ausgelegt war, streifte die wertvollen Tapeserien, die Perlenstickerei, die unter das Glas des vor ihm stehenden Rundtisches eingelassen worden war, vermochte ob aller Fremdheit an nichts festzumachen und heftete sich dann an das kleine Stück Meer, an die große Vertrautheit, die er beim Blick aus dem Fenster auszumachen in der Lage war.

Dort draußen war die Freiheit. Immerwährende Verbundenheit, die ihn wärmte, auch wenn das ihn zeitlebens ernährende Wasser sich ein einziges Mal zum schlimmsten Feind aufgeschwungen und er ihm lange, lange Zeit mit stillem Vorwurf und großer Bitternis in der Seele gegenüber gestanden hatte. Und doch hatte seine Seele aus dem Hass herausgefunden und Liebe und Vertrauen zurückerhalten.

Das Meer war wie das Leben … es musste ihm alles im ewig harten Kampfe abgetrotzt werden. Doch ohne das Meer gab es für ihn kein Leben und kein Überleben.

Unvorstellbar, an einem anderen Ort weit weg von ihm und dieser Küste, der Küste des Lichts, das Dasein sichern zu müssen, unvorstellbar, es nicht mehr in seinem Blick und in seinem Gehör zu haben und seine raue, salzhaltige Luft nicht mehr in seinem Gesicht zu spüren. Das Meer hatte Macht. Es hatte auch Macht über ihn und bestimmte ihn tagein, tagaus, von früher Kindheit an bis gewiss zu seinem letzten Tag. Trotz seiner Mächtigkeit aber stand es für ihn fühlbar in der Macht einer noch viel größeren Gewalt.

Nein, die See hatte ihm nicht Frederico genommen. Dahinter steckte eine größere Macht, ein anderer Wille.

So seine mühsam mit der Zeit gefundene Erklärung, die es ihm gestattete, an ihrer kargen Küste weiterzuleben.

Endlich hatte Sion de Albanez den abgekühlten Raum betreten. Hatte schon sein Erscheinen die Bedrückung, die Pablo verspürte, noch einmal gesteigert, so ließ der Herr durch sein weiteres Verhalten die Anspannung nahezu unerträglich werden.

Er ging, ohne von ihm Notiz zu nehmen, zum Fenster, nahm ihm Sicht und Licht und schaute eine Ewigkeit schweigend nach draußen. Pablo fühlte sich so unwohl wie selten in seinem Leben zuvor.

Warum redete sein Herr nicht mit ihm? Er wusste doch um seine Anwesenheit in dem Raum.

Wieso musste dieser hochgeborene Mensch sich überhaupt mit ihm einlassen? Pablo suchte nach einer Erklärung und fand den Mangel, warum keine Worte an ihn gerichtet wurden, allein bei sich.

Er war ein Nichts, ein Niemand. Mit solchen Leuten verkehrten die Edlen nicht. Die Erfahrungen in seinem Leben bestätigten das.

Noch nie hatte Sion de Albanez persönlich mit ihm gesprochen. Wenige Befehle nur, aus der Distanz an ihn und andere gleichsam gerichtet, mehr war für ihn nicht in all den Jahren über die Lippen seines Herren gekommen.

Der geringe Wert seiner Person, den herauszustellen Sion de Albanez eindrucksvoll verstand, ließ Pablos Kopf nach unten sinken.

»Warum hat er seinen Herrn nicht längst unterrichtet? Soll er nicht sagen, er hätte nichts gewusst und geahnt!«

Nach langen Minuten des Schweigens waren endlich die ersten Worte gefallen.

Die harte Stimme von Sion de Albanez schnitt ihm ins Fleisch. Pablo spürte, dass keine Antwort von ihm verlangt war, und wartete auf die Anklage.

»Hat sein Herr nicht immer Geduld mit ihm geübt? Haben er und sein Vater ihm über all die Jahre hinweg nicht die Gnade erwiesen, sein Nichts von Leben ihrem Schutz anheim zu stellen? Sag, ist er sich nicht darüber bewusst, sein Dasein durch diesen ungeheuren Vertrauensbruch verwirkt zu haben?«

Fragen auf Fragen ohne die Not der Erwiderung, jene Not aber schürend, dass sein Leben in Gefahr geraten war. Pablo hatte seinen Kopf gehoben, vermochte aber nicht dem Blick von Sion de Albanez standzuhalten.

»Wer steckt mit im Bunde? Auch diese räudige Kreatur, die dein Freund sein soll … dieser Luis?«

Sion de Albanez zeigte sich darüber unterrichtet, wer zu den Menschen gehörte, die Pablo nahe standen. Endlich regte sich in ihm der Wille, das Wort zu ergreifen, doch Sion de Albanez erstickte schon das erste auf seinen Lippen.

»Du musst mir keine Lügen verkaufen! Also schweig! Ich weiß, wer dein schändliches Tun unterstützt hat.«

Sion de Albanez wandte sich von Pablo ab, nur den Geruch von süßem Parfum, das seinen Körper umgab, ihm hinterlassend, durchschritt den Raum und postierte sich wieder am Fenster, den Blick nach draußen gerichtet. Es war an der Zeit, dass er seinen Plan in die Welt entließ. Noch einmal durchdachte er ihn.

»Weißt du, wo Luis steckt? Und hüte dich, mir Unwahres zu berichten!«

Pablo wusste nichts über den Verbleib seines alten Freundes zu sagen. Seit sechs Tagen hatte er ihn nicht mehr gesehen. Er sei auf der Suche nach seinem Sohn, hatte man ihm hinter vorgehaltener Hand gesagt. Pablo konnte das nicht glauben. Sein alter Freund wäre nie auf diese Suche gegangen, ohne ihn in diese mit einzubinden. Große Sorge erfüllte ihn aufgrund seines Ausbleibens.

Das Drohende, zwei ihm so nah stehende Menschen zu verlieren, und noch dazu in so kurzer Zeit, war das Erlebnis der Hölle in irdischer Zeit. Und was war mit Luis Sohn, mit Joaquin?

Genau diese Frage hatten sich die von ihm bestellten Häscher und hatte sich dann auch Sion de Albanez im Zuge seiner Suche nach dem Kind gestellt. Er hatte Luis, diesen gemeinen Hund, bespitzeln lassen, damit dieser ihn womöglich zu dem Versteck von Gabriel führte.

Luis war alt, aber noch voller Kraft. Und ein Unruhegeist dazu. Und der Freund von Pablo. Sofort hatte Sion de Albanez den Verdacht gehegt, dass er was mit der gewaltsamen Befreiung von dieser schattenlosen Ausgeburt des Teufels zu tun haben könnte.

Luis gleichwohl hatte sich unauffällig verhalten, war seiner Arbeit nachgegangen und nicht auf ungewohnten Wegen unterwegs gewesen. Auch hatte er zur Vermeidung jeglichen Argwohns für sich entschieden, in der ersten Zeit nicht zu Pablo zu gehen und mit ihm zu reden, obwohl er ihm so viel zu sagen gehabt hätte und den Freund wissen lassen wollte, dass er ihm beistand.

Seine mit der Überwachung beauftragten Leute hatten aber Luis Sohn Joaquin ein, zwei Tage nicht zu Gesicht bekommen und ihren Herrn entsprechend informiert.

Jetzt war der junge Mann noch immer nicht zurückgekehrt und dazu waren Luis, sein Vater, und auch der Junge nicht mehr da.

Sion de Albanez war nicht länger mehr rastlos und suchend. Er verspürte grimmige Genugtuung. Die Geschehnisse der vergangenen Tage hatten sich ganz in seinem Sinn vollzogen. Doch wegen der verräterischen Umtriebe saß ihm noch tiefer Groll in der Brust.

Pablo hatte er nicht zur Aufklärung, sondern zum bloßen Schein einbestellt.

Was den Verbleib der Vermissten anbelangte, wollte er ihn über seine Ratlosigkeit nicht im Unklaren zu lassen. Sollte ihn in den Reihen dieser Gemeinen ja keiner bezichtigen können, etwas mit dem Verschwinden dieses unliebsamen Gesindels zu tun zu haben. Alle Mutmaßungen gehörten im Keim erstickt.

So fragte er mit beschwörender Mimik, wo der Junge, den er als den leibhaftigen Teufel bezeichnete, und seine Verbündeten abgeblieben waren, genau wissend, dass nur er die Antwort kannte.

Pablos Andeutung eines Achselzuckens und sein weitergehendes Schweigen waren der Auslöser von neuerlichen Wutausbrüchen seines Herrn.

»Glaub er mir ja nicht, dass er so davon kommt!«

Sion de Albanez erging sich in wüsten Drohungen, die den endgültigen Zusammenbruch von Pablos Welt ankündigten, in weiteren in den Raum geschleuderten Fragen, auf die keine Antwort erwartet wurde, und schließlich in gereizten langatmigen Ausführungen ob der von Herrschern wie ihm so oft schon geübten Gnade und der nicht auslöschbaren Undankbarkeit aller Generationen von Untergebenen. Es war eine rigorose Abrechnung mit dem niederen Stand, mit Pablo insbesondere, ein Schuldspruch, dem allein die Verhängung tödlicher Strafe entsprechen konnte.

Endlich hatte sich Sion de Albanez sichtlich verausgabt, war er an die Stelle gelangt, wo eigentlich alles zum Erreichen des Zieles gesagt war, wo nur noch das weitere Vorgehen zu skizzieren war, um seinen Triumph, seinen Sieg über Verrat und Niedertracht, vor der nachfolgenden Tat schon zu vollenden. Pablo spürte, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Sein Zerreißen schien unausweichlich.

Wenn er jetzt nichts unternahm und seinen Herrn die weiteren Worte, die zu erwarten waren, formen ließ, würde es zu spät sein.

Eine einzige Karte hatte er noch. Aber er zweifelte, ob sie zum Vorteil gereichen konnte. Es würde der Versuch sein, der Rätselhaftigkeit, die Gabriel umgab, den Mantel einer göttlichen Bestimmung umzuhängen.

Pablo kramte in ungewohnt schneller Abfolge seiner Bewegungen aus dem Umschlag seiner Kutte den abgegriffenen Lederbeutel mit den Oliven und dem Papierfetzen, den er so oft schon hervorgeholt hatte, ohne die darauf vermerkte Botschaft jemals in sein Verständnis aufnehmen zu können.

Ein kleines inzwischen vergilbtes Paperstück mit einer Schrift darauf, die, so geschwungen und flüssig sie war, von einem geübten Schreiber stammen musste. In das kleine Bastkörbchen, in dem sie Gabriel aufgefunden hatten, als Beigabe gelegt.

Er hielt das Stück Papier seinem Herren entgegen.

»Diese Worte hatte er bei sich.«

Wer damit gemeint war, bedurfte keiner Erklärung.

Die Miene von Sion de Albanez drückte Befremden aus. Einen Moment lang wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Dann riss er den Fetzen Papier an sich. Pablo hatte den Blick wieder gesenkt und wünschte sich ein Wunder herbei.

Augenblicke der Stille. Die Zeit schien stillzustehen.

Endlich schaute Pablo auf. Was er sah, machte ihn in dem einen Moment noch stutzig und jagte ihm in dem nächsten einen tiefen Schrecken ein. Die Bestürzung im Gesicht seines Herrn, das Unvermögen, die Herrschaft über sich zu behalten und die Anklage fortzusetzen oder das Urteil zu sprechen, das Zittern seiner noch weißer gewordenen Hände bis dass noch nicht einmal das Papierstück von ihm zu halten war und dieses zu Boden fiel, nein, damit hatte er nicht gerechnet.

»Woher …?«

Sion de Albanez fand nicht zu weiteren Worten. Mühsam stützte er sich mit einem Arm auf den Schreibtisch und langte nach dem Glöckchen, welches alle Worte ersetzte.

Ein mächtiger Hieb musste ihn getroffen haben. Pablo hatte keine Erklärung dafür.

In einem Augenblick noch der Allgewaltige, der Herr über Leben und Tod, und im nächsten schon von dem ersten weltenweit entfernt.

Selbst das kraftlose Läuten wusste die Dienerschaft von Sion de Albanez zu befleißigen. Sofort tauchten mit gespreizten Gesten zwei seiner Männer auf, um jeden Befehl ihres Herrn entgegenzunehmen und aus seinem Wollen Wirklichkeit werden zu lassen.

Mit einer Handbewegung deutete Sion de Albanez an, dass er Pablo nicht mehr in seiner Gegenwart duldete. Seine Männer fassten den alten Mann stumm an, bereit, ihn fortzubringen. Doch Pablo setzte sich zur Wehr und befreite sich aus ihren Griffen. Er beugte sich zum Boden hinunter, nahm den Zettel auf und packte ihn wieder in den Lederbeutel. Dann stand er seinem Herrn gegenüber. Er wagte es nicht, ihn anzusehen, und nahm Demut an.

Sion de Albanez gab seinen Männern ein weiteres Mal das Zeichen, Pablo wegzubringen. Dann sah er ohnmächtig zu, wie seine Anweisung erfüllt wurde.

Die Männer hatten keine augenblickliche Order erhalten, was sie im Weiteren mit Pablo tun sollten. Als er nach draußen vor die Eingangspforte gebracht worden war und die Tür sich hinter ihm schloss, hätte er sich denken können, dass dies vorher schon bestimmt sein musste. Pablo aber war verwirrt und hatte tausend Gedanken und hatte keinen. Auch wusste er im Moment nichts mit seiner wieder gewonnenen Freiheit anzufangen. Er ging ein paar Schritte von der Eingangspforte weg, blieb stehen und drehte sich um, Ratlosigkeit in seinem Blick.

Er hatte nicht die geringste Erklärung für das Vorgefallene.

Sion de Albanez saß gebückt mit kaltem Schweiß auf seiner Stirn an seinem Schreibtisch. Der Schock, der ihm eingefahren war, hatte ihn nahezu bewegungslos gemacht. Seine Körperhaltung war gebrochen.

Die neue Zeit hatte schon angefangen, etwas Ungeheuerliches steuerte unaufhaltsam auf ihn zu.

Der Schlund der Hölle hatte sich zu öffnen begonnen, um ihm das Los des Untergangs zuteilwerden zu lassen, und er, er wusste nicht, wie seinem Schicksal zu entkommen war.

Die Worte auf diesem Papierfetzen, wer konnte sie nur verfasst haben?

Diese eine Frage, immer wieder formulierte sie sich auf seinen Lippen.

Wer hatte diese Worte geschrieben? In wessen Sinn nur war dieser geheimnisvolle Satz eingedrungen.

Woher stammte das Papier? Wie nur hatte es in diese Welt finden können? Wie hatte dieser ärmliche alte Mann es in seine Hände bekommen?

Diese Worte hatte er bei sich.

Sion de Albanez dachte an Pablos Äußerung. Wie aber konnte es sich zugetragen haben, dass dieses schattenlose Teufelskind zusammen mit diesem Papierfetzen in das Haus des Fischers gekommen war?

Die Worte, die auf ihm standen, waren Jahre vorher gesprochen worden.

Worte, die nur er vernommen und an niemand weitergegeben hatte.

Worte, die ein einziges Rätsel waren, welches zu lösen er sich nicht im Stande sah.

Worte, die nicht zu seinem Vater passten.

Worte, die nicht im Angesicht des Todes zu sprechen waren.

Und doch war es geschehen. Und doch hatte sein Vater sie gesprochen. Und auch waren es die letzten Worte, die er vor seinem Tode sprach.

Leise, aber klar verständliche Worte … wie ein schleierhaftes Vermächtnis ihm mit auf den Weg gegeben, während er noch darauf harrte, dass ihm eine ehrenvolle Aufgabe aufgetragen wurde.

Seinem Nachfragen, Unverständnis darüber ausdrückend, was das Gesagte betraf, war nur noch Schweigen gefolgt.

Nein, diese Worte würde er nie vergessen.

Und jetzt hatte er sie gelesen, in einer Handschrift, die er nicht kannte, Wort für Wort in der Reihenfolge, wie sein Vater sie auf dem Totenbett gesprochen hatte. Gelesen auf einem zerfransten, aus einem Brief heraus gerissenen Papier, welches ein alter bedeutungsloser Mann mit sich herumtrug.

Es gab sie also doch – konnte es einen Zweifel nur geben? –, diese Verbindung, um die er lang schon ahnte, die er aber nicht wahrhaben wollte und die nie in das Wissen aller reifen durfte.

Der Teufel musste seine Hand im Spiel haben.

Allmählich dämmerte es Sion de Albanez, dass er Pablo nicht hätte gehen lassen dürfen.

Was würde sein, wenn er überstürzt aufgebrochen war, um sein Heil in der Flucht zu finden? Wenn seine Männer ihn nicht wieder einfingen, würde er nie etwas über die Herkunft dieses Papiers erfahren.

Eigentlich hatte er Pablo nur schärfste Strafe androhen und ihn dann laufen lassen wollen. Die Menschen sollten zu hören bekommen, dass er, der Herr von Albanez, nicht mehr als sie über den Verbleib der Verschwundenen zu berichten wusste.

Kraft seiner Geburt war er ihnen keine Antwort schuldig. Aber er wollte es auch vermeiden, dass im Volk Gerede aufkam. Über die ganze Geschichte würde, wenn niemand der Verschleppten mehr auftauchte, und dafür wollte er sorgen, nach bestimmter Zeit Gras wachsen.

Jetzt aber bekamen sie vielleicht zu hören, dass ein einziger Satz auf einem vergilbten Papier ausgereicht hatte, ihn, den hohen Herren, der Schwäche und der Furcht auszuliefern.

Er musste Ordnung schaffen, musste zeigen, wer oben und wer unten stand.

Ein sich einstellender Sinneswandel, dem die entsprechenden Taten folgten.

Noch am Nachmittag wurde Pablo auf den Marktplatz geschleift, dort an einem Strafgerüst festgebunden und ausgepeitscht.

Erklärungen hierzu gab es nicht. Eine Tat der Einschüchterung auch.

Pablo würde niemand mehr erzählen wollen, dass er im Herrenhaus gewesen war und wie sein Besuch dort verlaufen war. Er hatte seine Lektion gelernt und wusste, dass sein Leben einzig von der Gnade des Herrn abhing. Er hätte ihn auch totschlagen lassen können und wäre doch für sein Tun nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Also würde kein Wort über seine Lippen kommen.

Und niemand von denen, die Pablo nahestanden, würde an ihn herantreten, um die Hintergründe zu erfahren, weil die Gefahr, sein Schicksal zu teilen, spürbar war.

Sion de Albanez lag nicht verkehrt in seiner Einschätzung.

Pablo schleppte sich aus eigener, wenn auch gebrochener Kraft mühsam nach Hause. Mit jedem Peitschenhieb hatte sich das Gebot des schweigen müssen in ihm eingebrannt.

Die Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten und die der erbärmliche Zustand des alten Fischers nicht kalt ließ, äußerlich aber kalt lassen musste, wichen ihm aus und nur Margarita, die zu Hause mit größter, kaum auszuhaltender Sorge zugewartet hatte, lief ihm stumm und mit Tränen in den Augen aus dem Haus heraus entgegen und legte den seinen linken Arm über ihre Schulter, um ihm behilflich zu sein, den Rest der Strecke zu bewältigen.

Nur eine Denkpause hatte Pablo eingeräumt bekommen.

»Morgen erzählst du uns alles, was du weißt!«, rief der verhasste Juan ihm nach.

*

Die Schläge spürte auch er in seiner Seele. Er spürte sie so deutlich, dass sie ihm körperliche Schmerzen bereiteten. Auch die Leiden aller sonst mit ihm verbundenen Menschen hatten ihren Weg zu ihm gefunden, über alle Entfernung und über hohe, undurchdringbare Mauern hinweg.

Er stand mit der Welt, mit seiner Welt, in Verbindung und ihre jetzige Not war seine und aus seiner ersten, so unvermittelt hereingebrochenen, war die ihre erst heraus geboren worden.

Leben, welches auf allen Wegen und an allen Plätzen dem Untergang entgegen zu gehen schien, das Leben in dem kargen Raum, der seine erste Heimat war, das Leben in den dunklen Löchern des Gefängnisses unweit von ihm und das Leben, seines, hier in diesem Gemäuer, welches zwei Tagesreisen entfernt von seiner Heimat lag.

Er hörte in die Dunkelheit hinein, in dieses zeitlose Nichts, schaute auf den blinden Spiegel seiner Seele und vernahm nicht einmal seine eigene innere Stimme. Seine Sinne, so weit sie auf diese aufgelöste Gegenwart gerichtet waren, betäubten sich an seiner Ohnmacht. Augen, in die ein spärlicher Rest an Licht floss, die an seelenlosen Konturen festmachten, ohne bewusstes Erleben.

Allein die Schmerzen, die ihm aus der Ferne her zuteil wurden, erlebte er bewusst und sie steigerten sich in seiner Ohnmacht.

Jedes Tun wäre ein Schritt zur rettenden Gegenwehr gewesen, hätte Hoffnung geschaffen und dem Mut das Tor geöffnet, zu dem auch aller Schmerz hätte hinaus eilen können. Doch die Verurteilung zum nicht enden wollenden Ausharren, das Anketten seiner kindlichen Seele an die Trostlosigkeit des Nichtstunkönnens, riss ihm nur noch größere Wunden. Selbst der standhafteste Mann, auch ein alter Greis ohne einen Anspruch noch an die Welt, wären in dieser Lage ihrer Verzweiflung entgegengeeilt.

Und wie nur sollte ein Kind hier eine lediglich begrenzte Zeit allein seinem Schicksal trotzen können? Minute um Minute, wie Stunden zu empfinden, Stunde um Stunde, wie Tage sich ziehend, und Tag auf Tag einer unerträglichen Ewigkeit zugleich verging die Zeit, dem Stillstand nah.

Aber die Zeit war fern von jeglichem Stillstand, sie hatte sich erhoben, um die Geschehnisse aneinander gereiht in den großen Fluss des Schicksals zu bringen. Und der Lenker des großen Flusses arbeitete ihm, diesem scheuen, aber angstlosen Knaben, zu und nicht gegen ihn. Die Bestimmung, die er für ihn erwählt hatte, sollte sich auf das Schicksal der Menschen auswirken. Begegnungen nah und zugleich fern aller Schattenwelt, Begegnungen im Lichte einer höheren Wahrheit, die sich gerade auch den Ärmsten erschließen sollte.

Die Geschicke hatten es eingerichtet, dass im Nachbarlande Spaniens, auf einer Insel, die den Namen Korsika trug, einige Jahre vor Gabriel ein Junge geboren worden war, von dem die Welt früh schon zu hören bekommen sollte, und der die alten Konstellationen mit ihren großen Ungerechtigkeiten angehen und überwinden und dabei doch nur andere Ungerechtigkeiten in die neu von ihm geformte Welt setzen würde, die einen Flammensturm an Gegenwehr entfesseln sollte, der sich endlich zu seinem eigenen Schicksal auswachsen würde.

Und Gabriel, er wuchs dafür heran, in seinem Lande, an den Küsten des Mittelmeeres und des großen Ozeans, in den heißen Landschaften im Inneren, in den großen und kleinen Städten und in den viel tausenden Dörfern des Reiches seiner stolzen Väter dem Licht und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

In den frühen achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts hatte die Welt nichts geahnt von dem großen Blutvergießen, welches auf sie wartete, nichts geahnt von Revolutionen und Schlachten und Befreiungskriegen, die die Menschen, egal welchen Standes, heimsuchen sollten und ihrem armseligen oder feudalen Leben vielfach ein Ende setzen würden, alle Ordnung über den Haufen werfend und ein niemals so da gewesenes Verlangen nach Freiheit gebärend. Nun schwärte in Frankreich die Revolution, das große Räderwerk hatte zu laufen begonnen. Aber in Spanien herrschte weiter die alte Zeit.

Gabriel, er würde erst seine eigene Knechtschaft überwinden müssen, ehe er mit dafür einstehen konnte, sein Vaterland aus der Knechtschaft zu entlassen.

Prüfungen, die für drei Leben ausgereicht hätten, standen an.

Erst musste er sie bestehen, um sich für die letzte große Prüfung wappnen zu können.

Ein von einem fernen Licht geleiteter abenteuerlicher Ritt auf schmalem Grat, von tiefen Abgründen umgeben.

*

Hier am Ende dieses dunklen Ganges würde er ihn finden.

»Bringt ihn nicht in die Nähe der anderen«, hatte der stets misstrauische Prior besorgt geäußert.

Es hatte selbst bei der Größe des Kartäuserklosters nicht lange gedauert, bis er den Verbleib des Jungen herausgefunden hatte.

Vor kurzem noch war der Zugang zu dem Ort nur ein dunkles, durch Spinnweben verhangenes Loch gewesen, jetzt waren die Spinnweben weg und im vorderen und hinteren Bereich des schmales Ganges, über den man zu den Zellen des früheren Gefängnisses, des Klosterkarzers, gelangte, brannten Fackeln, sichtbares Zeichen dafür, dass der Gang ständig aufgesucht wurde.

Eine Sichtbarkeit der anderen Art war, dass der Schein der Fackeln nicht den kleinsten Schatten auf der Wand, an der sie hingen, abmalte. Ein Licht der Reinheit. Ein heiliges Zeugnis, zu wem dieses Licht den Weg doch bahnte.

Doch die Schergen in ihrem weißen Habit mit dem ebenso weißen, die Schultern bedeckenden Skapulier, gingen achtlos vorbei, wie wohl die Menschen an tausenden von Wundern in ihrem Leben achtlos vorbeigehen.

Die Zellen waren weit abgelegen, und jeder Schrei in ihnen erstickte ungehört.

Früher hatte man die Zellen neben der Bestrafung auch dafür benutzt, sich der Präsenz der Brüder, die im Geiste arm geworden waren, zu entledigen. Gottes Herrlichkeit duldete im Verständnis seiner so unvollkommenen Diener keinen offenkundigen Fehler in seiner Saat. Die letzte Inanspruchnahme eine dieser Zellen lag aber einige Zeit zurück, so dass viele Novizen noch nie von ihrer Existenz gehört hatten.

Selbst jetzt wurde es fast niemandem bekannt, dass ein neuer Insasse, ein in der Heimlichkeit der Nacht dahergebrachtes Kind sich dort aufhielt. Gottes Wahrheit wurde in hohen Gesängen gepriesen, aber selbst in diesen heiligen Mauern beherrschte ein kaltes Schweigen die Menschen. An wenigen Menschen aber, die mit der Sorge für das Kind betraut waren, konnte die Wahrheit nicht vorbeigehen und von einem von ihnen hatte auch er sie erfahren.

Doch auch noch andere Diener Gottes, die dem Kloster nicht angehörten, verhaftet in ihrer blinden Suche nach allem Frevel der Gotteslästerung, waren informiert und hatten sich auf den Weg gemacht, um dem fortwährenden Treiben des Teufels in dieser Welt ansichtig zu werden und ihm grausam Einhalt zu gebieten.

Er musste handeln, wissend um die Stunde ihrer Ankunft. Gott ließ kein Wunder geschehen, damit es an diesem Platze christlicher Einöde verdorrte und endlich gar unter Folter und Bestrafung ausgemerzt wurde.

Sein ganzes Leben hatte er Befremden darüber verspürt, dass unter dem Deckmantel der Gottesliebe und unter Unterdrückung aller Liebe zu den Menschen in ihren Herzen durch die eigentlichen Antichristen, die sich in feine Gewänder hüllten, um der Reinheit ihres Tuns Ausdruck zu verleihen, unschuldiges Blut vergossen wurde.

Blut in solcher Menge, dass es endlos aus den Himmeln hätte regnen und in wahren Sturzbächen hätte daherströmen können.

Sein Glaube hatte lange Zeit darunter gelitten, welch eine Ohnmacht seines Herrn, doch dann eines Tages, den er bis in die Gegenwart pries, war es ihm bewusst geworden, dass Gott ihm die Augen geöffnet und ihn dazu erkoren hatte, gegen die gottlose Aggression im Zeichen des Kreuzes vorzugehen.

Zwölf Jahre waren seit seinem ersten Tun vergangen. Und er war in der ganzen Zeit noch nicht von den Mächten des Bösen in seinen eigenen Reihen ergriffen worden. Gott hielt schützend seine Hand über ihn und über all die, denen er hatte helfen können.

Und in dem Glauben, dass er und Gott ein festes Bündnis miteinander eingegangen waren, würde er um das Heil aller armen Seelen willen und auch um das Heil seiner eigenen Seele willen den eingeschlagenen Weg fortsetzen und im Stillen Rettung bringen, wo immer es ihm möglich war. Und vielleicht bediente Gott sich auch vieler anderer Helfer, um diesem groß und hinterhältig angelegten Werk des Teufels, nichts anderes war es in seinen Augen, entgegenzuwirken.

Und wenn er vielleicht schon lange nicht mehr war, konnte eine neue Zeit anbrechen, die dem dämonischen Treiben ein Ende setzte und endlich Vernunft in die Welt einströmen ließ. Licht für eine Welt, in welcher der Glaube eines jeden, und war er noch so gering von seinem Ansehen her, geachtet sein würde und in der einem Wunder wahre Göttlichkeit innewohnte und in ihm nicht ein Zeichen Satans gesehen wurde. Nieder mit der Herrschaft dieser grausamen Tyrannen, die von Gott berufen zu sein nur vorgaben und aus ihren vergifteten Herzen heraus für ein gutes Denken zum Wohle der Menschen kein Fundament besaßen.

Bruder Manuel hatte lange schon überlegt, wie und wann sein Werk zu verrichten war.

Es galt, sich unter einem Vorwand Zutritt zu der Zelle zu verschaffen, in welcher man den Jungen untergebracht hatte, um herauszufinden, in welcher Verfassung er war und ob er, falls seine kindliche Seele nach Freiheit verlangte, überhaupt körperlich in der Lage sein würde, einen Schritt vor den anderen zu setzen und das nicht nur so lange, bis er das Kloster, dieses weltabgewandte Bollwerk des Bösen, überwunden und hinter sich gelassen hatte, sondern für lange Zeit weiter, bis er endlich, vielleicht erst nach Jahren, eine sichere Zuflucht erreicht hatte.

Oft schon, das war seine Erfahrung gewesen, waren die Bedingungen allein, unter denen die in Verdacht Geratenen bis zu ihrer peinlichen Befragung festgehalten wurden, so lebensfeindlich, dass sie schon dauerhaft an ihrer Gesundheit Schaden genommen hatten, und alles Weitere mehr eine Erlösung als ein Richten und Vollstrecken war.

An einem Abend endlich schien die Zeit gekommen zu sein. Bruder Benicio, für die Gesundheit der Mitbrüder an diesem Ort in die Mission berufen, weilte, was für einen Brudermönch der Kartäuser höchst ungewöhnlich war, in einem aussichtslosen Unterfangen für zumindest eine Nacht außerhalb der Mauern, um einem im Sterben liegenden Grundherren mit seinem Wissen zwar keine heilende Hilfe mehr, aber doch christlichen Beistand und eine letzte Linderung der Schmerzen zu gewähren.

Und er, der Gehilfe von Bruder Benicio, in all den Jahren seiner Zugehörigkeit zu diesem Kloster über seine mitgebrachten Kenntnisse hinaus noch weiter unterrichtet über die Misslichkeiten, denen der Körper und der Geist eines Menschen anheim fallen konnten, und wie ihnen zu begegnen war, genoss als Vertreter das begrenzte Vertrauen seiner Mitbrüder.

Eine geraume Zeit, nachdem das aus einem Stück schwarzen Brot, einer kaltwässrigen Gemüsesuppe und etwas Wein bestehende karge Abendmahl an alle Brüder zum gemeinschaftslosen Verzehr, so auch an den Jungen in seiner Zelle, ausgegeben worden war, setzte er ein besorgtes Gesicht auf und seine Planung in die Tat um.

Die ihm inne sitzende Aufregung nicht in seine Bewegungen und seinen Ausdruck münden lassend erschien er bei der Wache, die in dem dunklen Winkel des Klosters eher gelangweilt auf ihre Ablösung wartete.

»Bruder, es ist mir zugetragen worden, dass die Gesundheit des Kindes, welches ihr hier beaufsichtigt, Schaden genommen hat.«

»Wie, was? – Wer hat euch das gesagt?«

Die Frage war weniger darauf gerichtet, wer davon erzählt hatte, dass der Junge krank geworden sei, sondern mehr darauf, wer sich überhaupt über seine Existenz ausgelassen hatte.

Bruder Manuel bemerkte den Argwohn und musste, damit seine Absichten nicht durchkreuzt wurden, ihm rasch entgegenwirken.

»Zur Unterstützung des Werks von Bruder Benicio ist es meine heilige Aufgabe, in Demut und Gewissenhaftigkeit die Gesundheit und den Geist aller hier befindlichen Kreatur in Beobachtung zu halten. Und eben, da ich im Vorbeigehen an der Küche vernahm, dass das hier befindliche Kind, das eurer Aufsicht untersteht, einer Krankheit, vielleicht auch nur einem bald wieder endenden Unwohlsein anheim gefallen sei, richtete ich meine Schritte gen diesen Ort, um meiner Verantwortung gerecht zu werden.«

Die Wache seufzte auf, bedeutete Bruder Manuel mit einem Handzeichen zu warten, schloss die Tür zur Zelle auf, hielt noch einmal inne, um die Sache zu bedenken, warf einen Blick hin zu dem Kind, zwei Schritte noch näher gehend, um sich über seinen Zustand ein Bild zu machen.

Die Stille in dem Raum, der Umstand, dass der Junge sich ruhig verhielt und nicht den Kopf erhob, um sich Gewissheit über den Besucher zu verschaffen, sondern unablässig die Decke anstarrte, wie er es in dem Halbdunkel schwach bemerken konnte, ließ den Mönch Unheil erahnen. Vielleicht würde der Prior, wenn mit dem Jungen tatsächlich etwas nicht stimmte, ihm eine mangelnde Aufsicht vorwerfen und ihn zur Rechenschaft ziehen.

Die Angst ob der Gerüchte, dass das Kind dem Teufel verfallen sei, die ihn weitestgehend von der Tür zur Zelle weg gehalten hatte, sie konnte er unmöglich eingestehen. Auch würde sie ihn nicht von Schuld befreien.

»Bruder, schau selbst, aber rasch!«

Bruder Manuel ging entschlossen in die Zelle hinein, beugte sich über das faulig werdende Strohlager, auf dem das Kind lag, fasste es in den Blick und signalisierte ihm mit dem Ausdruck seiner Augen, dass Hilfe zu erwarten war.

Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand fuhr er Gabriel über die Lippen, um ihm zu bedeuten, sie geschlossen zu halten und kein Wort an ihn zu richten.

Die Handbewegung, die einem kritischen Blick der Wache ausgesetzt war, ließ sich mit der Prüfung des Zustandes des Kindes erklären, diente aber entscheidend der Verwirklichung seines Plans.

»Der Junge ist fast ausgetrocknet. Seine Lippen sind spröde und hart. Schnell, holt frisches Wasser herbei!«

Die Wache war unsicher, aber nur einen Moment lang. Der Gedanke, Bruder Manuel nach draußen zu bitten und die Zelle während seiner Abwesenheit verschlossen zu halten, war rasch verworfen.

»Wartet hier, Bruder Manuel! Ich bin sofort zurück!«

Die Schritte, die sich rasch entfernten, waren bald nicht mehr zu hören.

»Hör mir jetzt zu, mein Junge! Wir haben kaum Zeit.«

Gabriel öffnete die Augen und sah die Anspannung von Bruder Manuel.

»Ich bin gekommen, um dir zu helfen! Wirst du in der Lage sein, dich von diesem Ort zu entfernen und mit Geduld all das auf dich zu nehmen, was der Weg, der für dich bestimmt ist, an Entbehrung bietet?«

Gabriel nickte schwach. Bruder Manuel schlug die klamme Decke zurück, unter der Gabriel lag, und prüfte mit wachen Augen den körperlichen Zustand des Kindes. Keine Misshandlung und keine Auszehrung feststellbar.

»Hör zu, Junge! Wir dürfen keine Zeit verlieren! Du musst schnellstens an einen sicheren Ort gebracht werden! Du wirst jetzt keine Nahrung mehr zu dir nehmen und nur noch Schmerzen haben. Wir müssen es schaffen, dass man dich in die Krankenstation verlegt. Alles Weitere findet sich dann.«

Gabriel begegnete Bruder Manuel mit wachem Blick und verschlossenen Lippen. Es waren keine Fragen nötig. Er wusste, dass ihm an diesem Ort Unrecht angetan wurde, und ahnte, dass die Ungerechtigkeit sich mehren würde, wenn er hier blieb.

Da er aber Gott vertraute und auf seine Gerechtigkeit baute, war es absehbar gewesen, dass Hilfe, auf welche Art auch immer, kommen würde.

Und jetzt war der Mensch da, durch den Gott ihm zur Seite stand. Was sollte er noch fragen? Er wusste um das, was er zu erwarten und zu tun hatte.

Die Wache hatte sich trotz aller Beleibtheit beeilt zurückzukommen. Schon waren Schritte zu hören. Eine kurze Weile noch, in der sich der Junge und Bruder Manuel schweigend im Blick behielten, dann waren sie nicht mehr allein. Bruder Manuel ging auf die Wache zu.

»Gebt mir bitte das Wasser, Bruder!«

Er ließ sich nichts anmerken, nahm den Krug an sich, setzte sich auf den Rand des Lagers und flösste dem Jungen etwas Wasser ein.

»Der Junge muss trinken! Werdet ihr künftig darauf achten wollen?«

Die Wache verspürte Unbehagen.

»Und wenn er einfach nichts zu sich nimmt? – Die ganze Zeit, nur eben gerade nicht, steht ein Krug voller Wasser hier neben der Tür auf der Erde. Es ist seine Sache, die Notwendigkeiten für sein Leben zu erfüllen!«

»Wenn ich euch darauf aufmerksam machen dürfte, Bruder: es ist auch unabdingbar eure Verpflichtung, die Notwendigkeiten zu erfüllen, um das Weiterleben des Kindes gewährleistet zu sehen.«

Kein Widerspruch. Die Wache konnte sich ihre Verantwortung ausrechnen.

Den Zusatz, den Bruder Manuel machte, hätte er sich sparen können.

Dieses Kind, das ein Werk des Teufels war und Zeugnis für seine Existenz abgab, war für die wichtigsten Menschen der Kirche von enormer Bedeutung, sehr wohl auch für die Vertreter der Inquisition, die er hier schon manches Mal zu seinem eigenen Erschrecken ihr Werk verrichten hatte gesehen und um deren Kommen er auch dieses Mal ahnte. So durfte ihm also zu seiner Verantwortung nichts geschehen und durfte es nicht vor der Zeit, ehe alle Wahrheit aus ihm herausgepresst war, vom Leben zum Tode hin scheiden.

Und so es doch geschehen würde, konnte es ihm zum Vorwurf gereichen, mit ihm im teuflischen Bunde gestanden zu haben.

Nein, er brauchte wirklich keine Belehrung. Dass sie dennoch ergangen war, machte ihn noch unruhiger.

Bruder, du hast dich teuflischen Vergehens schuldig gemacht und die göttliche Offenbarung ob der Existenz Satans zu durchkreuzen versucht. Darauf steht die gleiche Strafe wie sie die Kreatur zu erwarten hatte, deren Natur du zu verschleiern gedachtest.

Derart konnte der Richtspruch der Heiligen Inquisition über ihn ergehen, wenn ihr verwehrt blieb, über das Kind zu richten, und sie nur noch seinen Leichnam in Augenschein nehmen konnte. Bruder Manuel blieb die Befindlichkeit der Wache nicht verborgen.

»Ich rate an, sollte der Zustand des Kindes sich nicht bessern, den Prior darum zu bitten, es auf die Krankenstation zu verlegen!«

Mehr sprach er nicht, um keinen neuerlichen Argwohn zu wecken. Ein Kreuz mit den Händen noch über dem Jungen schlagend erhob er sich und verließ die Zelle, das Kind sicher und die Wache unsicher zurücklassend.

*

Ein Missgeschick, ein gebrochenes Rad an dem von ihm benutzten Wagen, durch die immense Last der hölzernen Aufbauten zumindest mit bedingt, hatte sie zurückgeworfen. Die Reparatur ging nicht so schnell vonstatten, wie es sein Anliegen verlangte. Zwei der Soldaten, die ihn begleiteten, hatten erst Hilfe aus dem Dorf herbeischaffen müssen, das auf dem Wege vor ihnen lag. Stunden an wertvoller Zeit waren schon vergangen.

Die Sonne schien durch das Geäst der Steineiche, an deren Stamm er sich niedergelassen hatte, und brannte wie Feuer.

Aber schlimmer noch brannte die Glut der Ungeduld. Unablässig schoss ihm der Vortrag des Boten, von dem er vor Wochenfrist aufgesucht worden war, durch den Kopf. Der Teufel leibhaftig erschienen in der Gestalt eines Kindes, das keinen Schatten warf.

Konnte es einen besseren Beweis als diesen geben, dass überall dämonische Kräfte die von Gott gegebene Ordnung beseitigen und dem seelenlosen Fürsten der Dunkelheit den Weg zur immerwährenden Herrschaft auf Erden bahnen wollten?

Die Diener des wahren Herrn, zu denen auch er gehörte, sie mussten alle Tage, alle Stunden wachsam sein und durften weder ruhen noch sich blenden lassen und keinen Kampf scheuen, und sei es um das Opfer des eigenen Lebens. Es ging um das Heil der ganzen Christenheit, so auch um das seine, um das Heil seiner Seele und um das Seelenheil aller Aufrechten, es ging um den Einzug in die Seligkeit des Ewigen, um das Höchste, das ein Menschenleben erreichen konnte.

In diesen Dienst der heiligen Sache hatte er sich voller Überzeugung gestellt, vom frühesten Mannestum an bis eben jetzt zu dieser Zeit, die ihn als mächtigen und gefürchteten Diener für den wahren und rechten Glauben kannte.

Landauf, landab eilte ihm sein Ruf voraus, warfen sich die Gläubigen bei seinem Erscheinen in den Schmutz der Straße oder versuchten die Brüder und Schwestern des satanischen Bundes, diese elendigen Kreaturen, die wie Pilze aus der Erde sprossen, ihr Leben in der Flucht zu retten, um selbiges dennoch durch seine Entschlossenheit um aller Gerechtigkeit willen in den reinigenden, zum Himmel hin züngelnden Flammen einzubüßen.

In seinen glühenden Visionen sah er ein Feuer, das die ganze Welt überkam und sie von allem Unrat befreite. Nur wer den rechten Glauben in sich trug, der musste keine Angst in sich reifen lassen.

Ich, Alfonso de Torquemada, werde durch die Flammen gehen, aufrecht und sicher, und noch nicht einmal die Spitze meines Mantels wird versengt sein.

Alle anderen jedoch, dieses faulig eitrige Geschwür der Menschheit, diese Ketzer gegen den Herrn und seine einzig wahre Lehre, würden ausgebrannt und ausgemerzt werden.

O ja, es musste solch ein Feuer kommen, ein verheerender Sturm, der allem Unwerten das unverdiente Leben nahm.

Bis Gott diesen Feuersturm sandte, war seine Aufgabe aber noch nicht erfüllt und hatte er den Glauben, wie die Väter ihn seit Anbeginn lehrten, zu verteidigen und Härte gegen sich einzufordern, um alle ihm sich offenbarende Sünde auszulöschen und gleichsam auch die, die sie hervorbrachten.

Ein vom Mittelalter an schon über Jahrhunderte gehender Kampf der Kirche war zwar siegreich beendet worden.

Die Conversos, die Bekehrten, die nur zum Schein vom Judentum oder vom Islam zum Christentum übergetreten waren und im Verborgenen weiter ihre zersetzenden Kräfte einzusetzen gedachten, waren niedergeworfen worden oder hatten ihr unwürdiges Leben durch Flucht gerettet. Doch unverändert war das Böse ein Feind mit hundert Köpfen, hinterhältig sich verbergend und gierig sich vermehrend, eine gefährliche Wurzel, unaufhörlich aus der Erde sprießend und von der schwarzen Lust getrieben, das Gute an seinem Stamme zu packen und zu ersticken.

Überall trieb es sich um und lauerte es. Ein endlos langer Kampf weiterhin, der sich abzeichnete. Die Welt, sie war schlecht, noch immer fest in Satans Hand.

Er musste kämpfen und stürmen, musste für die heilige Sache ganze Städte und Landschaften in Blut tauchen und je mehr Schuldige er bekam, desto mehr wuchs die Gewissheit um den Beistand des göttlichen Herrn. Auch dieses Kind gehörte gerichtet um der Reinheit der Erde willen, die Gott den Menschen anvertraut hatte.

Aufgegangene Satansfrucht, ich werde Deine Fäulnis kenntlich machen und Dich zertreten.

Hass stieg in ihm auf. Hass gegen ein Menschenleben, das er erst in ein, zwei Tagen kennenlernen würde. Hass ohne Unterschied … selbst gegen ein Kind.

Hass in ihm geboren, ihm in ständiger Begleitung zusetzend und ihn und seine Sinne allmählich zersetzend.

»Beeil er sich«, rief er ungeduldig dem mit seinem Knecht an dem geborstenen Rad arbeitenden Wagner zu, »wenn er nicht auch noch brennen will!«

Das Ende der grausamen Despotie nahte, aber es nahte unmerklich und noch verrichtete der Inquisitor ungestört trotz fehlender päpstlicher Billigung seine Blutarbeit.

Doch neue Zeiten würden über das Land kommen, fremde Besatzer bringen und Altes in den Abgrund der Vergangenheit stoßen.

Seine heilige Arbeit, sie würde bald schon der Verdammnis ausgeliefert und unter Strafe gestellt sein. Das Schicksal würde es jedoch zum einen so gut noch mit ihm meinen, dass er den Anbruch der neuen unseligen Zeit nicht miterleben musste und sich nicht um sein Lebenswerk gebracht sehen würde. Zum anderen wartete es geduldig auf ihn, um seinem Leben mit besonderer Grausamkeit zu begegnen. Das, was er auszumerzen gedachte, würde sich aus dem Staub erheben und über ihn und über die fremde Macht gleichermaßen triumphieren und dem Volk die wahre Freiheit bringen.

Dafür aber musste jetzt und fortan das kleine Leben aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz ob der riesigen Mächte, die ihm gegenüberstanden, unversehrt bleiben. Ein Atemstoß des Schicksals nur, ein einziger, und das Licht dieses Lebens war erloschen und eine immerwährende Dunkelheit die Folge.

*

Gabriel wälzte sich in schweren Träumen. Auch wenn er nicht um sein Leben fürchtete, wie es fraglos hätte sein müssen, wenn er alles nach seinem Dasein Trachtende zu bedenken in der Lage gewesen wäre, so nahm doch die Veränderung, die neue Zeit, seine kindliche Seele, die Schöpferin seiner Traumwelt, gefangen.

Tagein, tagaus, auf Wochen schon von der Welt, von seinem gewohnten unbeschwerten Leben getrennt, um das Rätsel seiner Schattenlosigkeit weiter nicht wissend, das Gefühl des Bewachtwerdens bleiern auf ihm liegend, konnte er trotz seines ungebrochenen Willens und trotz der Hilfe, die so nahe war und der er sich sicher sein durfte, nicht unbelastet sein.

Was war aus Mutter und Vater geworden? Würde er sie noch einmal wiedersehen? Würde er sein Dorf noch einmal wiedersehen? Hier, wo er jeden Busch und jeden Winkel kannte, wo seine Kindheitsjahre trotz aller Armut und Entbehrung so verlaufen waren, dass er mit keinem anderen Jungen, und wäre sein Vater selbst ein König gewesen, hätte tauschen wollen.

Würde er je wieder mit seinen Freunden zusammen sein? Würden sie ihn wieder in ihren Kreis einlassen, mit ihm spielen und ihm ihre Freundschaft zurückschenken? Und wer hütete jetzt die Ziegen, mit denen er Tag für Tag über Stunden so gerne unterwegs gewesen war? Und ob ihr Nachwuchs schon da war?

In den Stunden und Tagen und Wochen seines Aufenthalts hier an diesem dunklen Ort sehnte er sich, obwohl er keine Zweifel hatte, dass alles sich zum Guten wendete, zunehmend nach der Freiheit.

Freiheit, wie sie ein an dieser Küste geborenes Kind verstand, der Welt an jedem Tag, in jeder Minute gar, neu begegnen zu dürfen, neu erworbenes Wissen, neue Erfahrungen und Empfindungen in seine so offene Seele einzuspeichern und sie mit dem gleißenden Licht, das während des Tages aus dem weit gespannten Himmel unaufhörlich floss, dem unduldsamen Brausen des Meeres und den rauen Winden zu einem unvergesslichen Augenblick seines Lebens zu verschweißen, geborgen sich wissend unter dem Schutz der hohen Mächte, auch wenn sein Wesen so besonders war und kein Schatten den Boden, den er beschritt, bedecken konnte.

Hatte er nicht doch vielleicht etwas falsch gemacht, dass Gott ihn so anders gemacht hatte?

Gabriel dachte nach, ließ die Zeit, die sein Geist festgehalten hatte, in die Erinnerung fließen, holte ein Ereignis nach dem anderen aus dem Schattenreich der Vergangenheit, aber es drängte sich ihm keine Antwort auf. So verharrte er in der Empfindung, dass ihm hier keine Gerechtigkeit widerfuhr, aber eine letzte Unsicherheit blieb.

*

Ich muss los. Keine Minute mehr darf ich warten. – Alles schmerzte.

Es war keine Flucht, obwohl sein Aufbruch so ausgelegt werden würde. Die Pflicht, aus der Liebe und ihrer Verwurzelung geboren, sie allein rief, und das von Stunde zu Stunde lauter. Viel zu lange schon hatte er unschlüssig abgewartet.

Aber an diesem frühen Morgen, nachdem er mühsam eine knappe Erklärung für seinen Plan aufgebracht hatte, brach er aus seinem Leben aus. Alles an bisheriger Veränderung in seinem Dasein, Verlust und Zugang, war von außen hereingebracht worden, nun erfuhr sein Leben eine Veränderung, die von innen heraus, aus eigenem Willen und Streben erfolgte.

Nie hätte er sich vorstellen können, seine Heimat zu verlassen, nun aber musste es sein für die Suche nach einer größeren Heimat, die in der Seele dieses Kindes wurzelte, das Gott ihnen geschenkt hatte.

»Du und Gott, ihr werdet mich begleiten. Ich fürchte mich nicht.«

Müde alte Augen, die seinen Aufbruch verfolgten. Das Gesicht, das zu ihnen gehörte, blieb reglos, der Mund geschlossen. Aber flammende Liebe, aus tiefstem Herzen geboren und in all den Jahrzehnten dort aufbewahrt, strömte ihm zu und begleitete ihn.

Es war ein Abschied für immer. In diesem Moment wussten sie es nicht. Nie wieder aber würden sie sich sehen.

Ein letzter Blick zurück, auf das Dorf, seine Heimat, aber eine andere Heimat, die des Meeres, sie blieb ihm.

Sein Weg führte ihn an der sonnengebleichten Küste entlang. Es war der einzige Weg, der ihm richtig erschien. Wohin hätten die anderen Wege ihn bringen sollen? Er wusste nicht, wo anzufangen war mit seiner Suche.

Die Hand, seine rechte, glitt unentwegt in die Tasche, die Finger berührten wie so unzählige Male zuvor den kleinen abgegriffenen Lederbeutel.

Überall war nur die Fremde spürbar, jeder Schritt hätte sie verstärkt.

Allein das Meer mit seiner Gegenwart, das Rauschen der Brandung, das Spiegeln der Sonne in der weiten Wasserfläche bis hin zum Horizont, die Unendlichkeit des Raumes, das Verschweißen von Himmel und Wasser, das Verschweißen der Ewigkeit mit der Wirklichkeit des Augenblicks, schenkten ihm ein Stück Geborgenheit und Zuversicht für den nächsten Tag.

*

»Wenn du mit Pepa nicht sprechen willst, dann spricht sie auch nicht mit dir!«

Die Worte drangen an Gabriels Ohr, ohne dass sie eine Reaktion auslösten.

Mit offenen Augen lag er in einem Bett der Krankenstation des Klosters. Wie er hierhin gekommen war, er konnte es nicht sagen. Genauso wenig wusste er, wie lange er jetzt schon so da lag … mit offenen Augen und dennoch nicht wach.

»Pepa wird noch böse!«

Wer war Pepa?

Gabriel versuchte den Kopf zu heben, wollte schauen, zu wem die Stimme gehörte. Der erste Versuch aber schlug fehl. Eine große Kraftlosigkeit hatte sich seiner bemächtigt. Er wartete ab, ließ die Bilder, die seine Augen aufnahmen, bewusst in sein Inneres fließen.

Das Mädchen, bei dieser Stimme musste es ein Mädchen sein, war nicht zu sehen. Aber er spürte, dass es da war.

Pepa notierte, dass in dem Jungen eine Veränderung vor sich ging. Sie ging um das Bett herum, schaute ohne Unterlass nach ihm, nahm ihre Katze, die um ihre Beine herumstrich, auf und setzte sich direkt vor ihn auf den Rand des Bettes. Ihre Blicke begegneten sich. Gabriel schaute in warme braune Augen, in ein leuchtendes, gebräuntes Gesicht, in dem die Sonne sich mit der Erde vermählte. Es gehörte einem Mädchen, das vielleicht ein, zwei Jahre älter sein mochte als er. Der Blick des Mädchens wollte gar nicht zu dem von ihm Gesagten passen.

»Wo bin ich?«

Gabriel musterte seine Umgebung, bemerkte den grau getigerten Kater auf dem Schoß des Mädchens. Dann schaute er es wieder an. Ein Lächeln ließ ihm Geborgenheit zuströmen. Von dem Mädchen durfte er sich eine Antwort erhoffen.

Pepa war ein Wesen, das eigentlich nicht existierte … zumindest nicht nach den strengen Regeln des Ordens, der innerhalb dieser mächtigen Mauern seit langer Zeit sein gottgefälliges Werk verrichtete.

Pepa war hier zur Welt gekommen, die Mutter, jung zwar, aber ausgezehrt, war im Wochenbett gestorben. Eigentlich hätte sie sich nie hier aufhalten dürfen.

Aber sie befand sich schon dem Tode näher als dem Leben, als sie vor der Pforte der Kartause gefunden wurde, wahrscheinlich von irgend einer gerührten Seele dort abgelegt, und fand Einlass, von den Padres, den Priestermönchen durch eisiges Schweigen missbilligt. Der Prior forderte die schnelle Entfernung des Kindes aus dem heiligen Bezirk. Barmherzigkeit war fehl am Platze, wo das christliche Heil in Gefahr geriet, noch dazu die Kartäuser kontemplativ und nicht der Welt zugewandt waren.

Pepas Leben hing aber auch schon so am seidenen Faden. Zu früh war sie wegen der maßlosen Überanstrengung der Mutter, die bis zuletzt von niederer Arbeit zum Erhalt des erbärmlichen Daseins nicht ablassen konnte, geboren worden.

Pepa atmete schwach, ihr Körpergewicht war viel zu gering, die Überlebensreife kaum erreicht.

Die herbeigerufene Hebamme aus dem am Fuße des Klosterbergs gelegenen Flecken weigerte sich, das Kind mitzunehmen.

Auch fand sich keine Amme. Schnell war das Gerücht im Umlauf gewesen, der Teufel sei schon im Besitze der Seele des Kindes. Deshalb wäre es nicht verwunderlich, dass es schon dem Tode näher als dem Leben sei.

Wäre Bruder Manuel nicht für sie aufgestanden, wäre Pepa zum Tode verurteilt gewesen.

Er vermochte das Interesse seines Meisters an dem Erhalt des winzigen Lebens zu wecken, päppelte Pepa mit Milch und geschmolzener Butter auf, schaffte es, so gut es ging, die Existenz des Kindes außerhalb des Augenmerks des Priors zu halten, wozu auch die nachhaltige Beteuerung gehörte, einen neuen Aufenthaltsort für Pepa finden zu wollen. Und doch wunderte er sich nach all seinen Erfahrungen, dass ihm das Kind nicht mit Gewalt genommen wurde, noch nicht einmal anlässlich der alle zwei Jahre stattfindenden Überprüfungen der Kartause durch jeweils zwei andere Prioren.

Oft hätte er in der Folge Gelegenheit gehabt, seine Worte in die Tat umzusetzen. Es gab genügend reisendes Volk, das ein Kind mitzunehmen bereit gewesen wäre, sei es zur Gewinnung seiner Arbeitskraft, sei es zu einem Zwecke schlimmer Art.

Bruder Manuel aber wollte Pepa, nachdem sie schon so unglücklich in die Welt gekommen war, jeden Schutz, den zu leisten er im Stande war, zukommen lassen. Vielleicht vermochte er sich auch nicht von ihr zu trennen, weil er für das Leben eines Mönches in tiefster Seele nicht geboren war, weil er nicht über das viele Unrecht, das im Namen Gottes von der Kirche verübt wurde, hinwegsehen konnte. Das wirtschaftliche Auspressen der Menschen, das Erpressen von ihnen im herrischen Glauben, alles an Seelenheil sei nur über die Kirche zu erlangen, das Zerpressen aller Kreatur, die diesem Glauben nicht blindlings zu folgen bereit war, weil sie andere Erkenntnisse und Wahrheiten gefunden hatte.

Die Existenz Pepas in diesem Kloster war ein stiller Protest gegen all die im Namen Gottes praktizierte und geduldete Ungerechtigkeit, ein Vorführen der selbst sich erhebenden Macht, welche das Volk unablässig in den Schmutz drängte und selbst doch über und über besudelt war.

Pepa hatte sich der Eintönigkeit und der Unmöglichkeit der räumlichen Entfaltung zum Trotz zu einem bemerkenswert fröhlichen und aufgeweckten Kind entwickelt. Sie litt nicht darunter, den Kranken- und Küchenbereich des Klosters nicht verlassen zu können, half entschlossen bei der Krankenpflege mit, holte das Essen ab, kümmerte sich um die Wäsche, die Reinigung der ärztlichen Utensilien und der Verbände, brachte die Notdurft weg, fegte und putzte den Boden und war, was sie mit der größten Freude erfüllte, da sie die helle Sonne und Luft zu spüren bekam, bei der Bewirtschaftung des Klostergartens behilflich.

Dazu war Bruder Manuel ihr ein guter Lehrer und Erzieher und obendrein ein väterlicher Freund. Pepa musste viel entbehren, fraglos, aber es hätte schlechter, viel schlechter um sie stehen können … bis hin zum Verlust ihres für die Welt so unbedeutenden Lebens.

Bruder Manuel musste ebenso viel entbehren, aber in der Obhut, die er dem Mädchen von Geburt an angedeihen ließ, fand er Glück und Lebenssinn.

Ein Glück freilich, das vergehen würde. Pepa bewegte sich mit großen Schritten auf die Zeit zu, in welcher sie nicht mehr als Kind, sondern als junge Frau wahrgenommen würde. Dann spätestens musste sie das Kloster verlassen, selbst der so schwächliche und zaudernde Prior würde keinen Tag mehr ruhen, egal was aus dem Mädchen werden sollte.

Vielleicht würde auch er das Kloster zu dieser Zeit verlassen. Diese Möglichkeit hatte sich seit längerem in Bruder Manuels Überlegungen als ein in Betracht zu ziehendes Tun festgesetzt. Und das obwohl er sich durch sein Gelübde auf ewig an den Orden gebunden hatte. Aber die innere Begeisterung der früheren Jahre war dahin.

Je näher die Zeit der Entscheidung rückte, desto stärker verspürte er den Wunsch, Pepa, den Lichtquell seines bescheidenen Lebens, bei sich behalten zu wollen, sie in die Ferne zu begleiten.

Die Kirche gab ihnen ein fragliches Obdach. Das würden sie beide auch ganz sicher anderweitig erlangen können. Sie würden keine Ansprüche stellen und irgendwo unterkommen. Ein unausgesprochener Hoffnungsschimmer.

Dass alles ganz anders kommen sollte, und dies unter dramatischen Geschehnissen, davon ahnte Bruder Manuel an diesem Tage noch nichts, da er vergnügt und mit Ernst zugleich zusah, wie Pepa und Gabriel sich miteinander bekannt machten.

»Einen Jungen hatten wir hier noch nie!«

»Wo bin ich?«

Gabriel wiederholte seine Frage, sah sich wieder um, erblickte Bruder Manuel im Hintergrund und schien eine Idee zu bekommen.

»Ich mache dich gesund!«

Bruder Manuel kam hinzu.

»Seit dem vorgestrigen Tage, mein Junge, bist du hier, damit wir dir besser helfen können!«

Gabriel entging nicht der Doppelsinn des Gesagten. Er dachte an die Worte, die Bruder Manuel in der Zelle zu ihm gesprochen hatte.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren. Du musst schnellstens an einen sicheren Ort gebracht werden!«

»Danke!«

Gabriel schaute ihn, aber auch Pepa an. Sein Dank galt beiden.

Zwei gute Menschen an seiner Seite, inmitten des großen düsteren Schweigens, das von diesem unheimlichen, gottlosen Ort und seinen übrigen Bewohnern ausging.

Bald darauf war Gabriel wieder eingeschlafen. Er kam den ganzen Tag nicht mehr zu sich, und auch die Nacht schenkte ihm weiter den so dringend benötigten Schlaf.

Andere Menschen, die zu seiner Welt gehörten, in freundschaftlicher, in feindlicher Gesinnung, fanden nicht in den Schlaf.

Ein rastloser Diener Gottes, getrieben von dem hohen Fieber, den Teufel in der Gestalt eines Kindes zu stellen und zu richten, ein unruhiger Gutsherr, der seine Leute nach diesem finsteren Richter ausgesandt hatte und ihn gleichermaßen auch wie eine böse Heimsuchung erwartete, ein Prior, der ob der Beheimatung des Dämons in seinem Hause kaum noch ein Auge zubekam, ein alter Fischer, der seine Gebrechen vergaß und sich auf die Suche seines Lebens begeben hatte, um nicht wieder einen Sohn zu verlieren, ein Herz, das ihn begleitete und schließlich ein der wahren Lehre Gottes verschworener, der Nächstenliebe anbefohlener Mönch im einfachen Habit, der wusste, dass die Zeit gegen diesen Jungen arbeitete, der hier bei ihm auf der Krankenstation lag und nur mühsam wieder zu Kräften kam.

Als er, nachdem er dieses Mal zu ihm gerufen worden war, ihn neuerlich gesehen hatte, war er vom Schrecken getroffen worden.

Gabriels Zustand hatte sich verschlechtert, ob mit seinem Zutun, dass er nichts mehr aß und trank, oder ohne dieses, wusste Bruder Manuel nicht zu sagen. So konnte der Junge unmöglich auf die gefährliche Reise gehen. Ein Wunder bald musste geschehen, sonst war er verloren. Die Küche hatte schon die Order erhalten, nahrhafte Brühen zu kochen. Auch die streng rationierten Kartoffeln, die unter der Obhut des an sich geizigen Cellerars, des Verwalters des Klosterguts, standen, würden dem Jungen gereicht werden. Von den Schinken, die er für die Flucht des Kindes unerlaubt zu horten angefangen hatte, von mit Eicheln von Steineichen voll gefütterten iberischen Schweinen stammend, wollte Bruder Manuel dicke Scheiben abschneiden. Es waren wohl die ersten Schinken, die es hierhin ins Kloster geschafft hatten. Die Kartäuser nämlich waren strenge Vegetarier. Ein Bruch der Ernährungsregel war ein Verbrechen an der Heiligkeit.

Um Himmels Willen, was würde mit Pepa geschehen?

Bruder Manuel fasste sich mit einer fahrigen Bewegung an den Kopf, das Blut durchströmte ihn heiß.

Mochte ihn die Eintönigkeit des Klosterlebens, die ewige Betrachtung, das ewige Beten, so einfältig gemacht haben, dass er ihr Schicksal angesichts des nahenden Inquisitors nicht bedacht hatte und nur das des Jungens?

Der Priester der Finsternis würde herausfinden, dass Pepa hier lebte. Er wie seine vielen Brüder im rachsüchtigen Geiste hatte tausend Augen. Und natürlich auch tausend Ohren. Man würde ihm die Schafe, die schwarzen, nennen, die die Herde störten. – Befleißigung, viel tausendfache, um das eigene Licht zu erhellen und den Einsatz für den rechten Glauben zu bekunden.

Er würde zu den Denunzierten gehören. Bruder Manuel spürte und wusste es.

Um Pepas Dasein an diesem tristen Ort würde trotz ihrer Nützlichkeit Aufhebens und Geschrei gemacht.

Und wenn der Inquisitor seiner Beute nicht habhaft wurde und er von der Flucht des Jungen erfuhr, würde er andere Opfer suchen.

Pepa und auch er würden keine Möglichkeit mehr haben, mit heiler Haut davon zu kommen.

Warum hatte er dies bislang nicht so deutlich gesehen? Er hätte sich dafür ohrfeigen mögen, doch noch resultierte aus seiner Gedankenlosigkeit kein Schaden, war noch keine wertvolle Zeit vertan worden.

Die Rettung des Jungen, sie stand zuerst an. Danach erst konnte er an Pepa und sich denken und wie geboten handeln.

Über den Tag hinweg musste er herausfinden, wann genau mit dem Erscheinen des Inquisitors zu rechnen war. Vielleicht gab es irgendeine Neuigkeit. Die ihm bislang vorliegenden Meldungen waren allesamt nur vage gewesen.

Es hatte sich, obwohl der Prior um Geheimhaltung bemüht gewesen war, herumgesprochen, dass die Inquisition wegen des Kindes benachrichtigt worden war.

Wenn es vielleicht auch neue Nachrichten gab, Bruder Manuel wurde sie nicht gewahr.

Die Angst, die alle Mitbrüder wegen des anstehenden äußerst unangenehmen Besuchs in Beschlag genommen hatte, lähmte ihre ohnehin nicht ausgeprägte Gesprächigkeit zusehends.

»Memento mori.« Sei eingedenk, dass Du sterben musst.

Viel mehr als diesen Wahlspruch bekam er nicht zu hören. Bruder Manuel blieb ohne Aufschluss. Er musste sich darauf verlassen, dass ihm noch ein wenig Zeit verblieb.

Über den Tag hatte er ein Treffen für die Zeit des ersten nächtlichen Silentiums vereinbart, der ersten Schlafenszeit, die kurz vor Mitternacht endete. Er konnte sicher sein, dass ihn dann niemand behelligte.

Es war Alberto, dem er begegnete. Alberto war der Ausfahrer der klösterlichen Notdurft, insofern damit vertraut, dass das Kloster ein nur allzu menschlicher Ort war. Auch ansonsten wusste er um die Gewöhnlichkeit der hier beheimateten Menschen, um ihre Bedürfnisse und zuweilen unchristlichen Anliegen.

Alberto schaffte alles ins Kloster und alles aus ihm heraus. Hauptsache, seine Auftraggeber waren zufrieden und es sprang für ihn etwas heraus, damit er sich und die Seinen durchbekam.

Immerhin war er so gläubig, dass er bei Erhalt jeder über den üblichen Lohn hinausgehenden Gabe eifrig das Kreuz schlug.

Der liebe Gott musste mit ihm sein, sonst hätte er ihm keine so schöne Möglichkeit verschafft, auf vielfache Weise wenig zwar, aber genügend hinzu zu verdienen. Und wenn manches Geschäft auch nicht sauber war, sein Hauptgeschäft war es auch nicht und gehörte doch zum Alltag und selbst zur heiligen Welt.

Diesen Reim machte er sich zu dem Ganzen und blieb so ohne Gewissensnot.

Bruder Manuel, dem hatte er schon einige Male geholfen, und alles war bei pünktlicher Bezahlung still vonstatten gegangen und still geblieben. Deshalb nahm er von ihm nun auch gerne einen weiteren Auftrag an.

Zwei Kinder herauszubringen, darunter Pepa, die er kannte. – Kein Problem!

»Mich dann auch noch.«

»Oho!«

Ein Mönch selbst, ein weiterer Bruder, der sich aus dem Kreis der Erleuchteten verabschiedete, und das unerlaubt. Das würde sicher mit einer Befragung enden. Er konnte natürlich nichts zu dem Verschwinden all der Brüder sagen.

Brauchte nur sein alltägliches Gesicht aufzusetzen, in dem sich von früh an eine große Ahnungslosigkeit von dem Lauf der Welt bemerkbar machte.

Nein, er würde nichts mit dem Verschwinden des Mönches und auch nichts mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben. Nein, er würde auch nichts gesehen und gehört haben, das im Zusammenhang mit den Geschehnissen stand.

Alberto meinte es erst einmal gut mit all denen, die ihn für eine Unternehmung in Anspruch genommen hatten, und die, die ihn hinterher vielleicht für eine Befragung in Anspruch nahmen, die mussten zurückstehen.

Alles Tun hatte schon irgendeine Berechtigung, und all die Fragerei hinterher kam doch eh zu spät und brachte nichts.

Das war seine einfache Denkart. Keine Worte, einfach nur machen! So würde er es jetzt auch halten.

Bruder Manuel hatte seine Gründe, diesen Ort zu verlassen, und dass er Pepa mitnehmen wollte, das leuchtete ihm ein.

Um das andere Kind machte er sich keine Gedanken. Es war alles in Ordnung, so wie Bruder Manuel es sich ausgedacht hatte.

Schnell waren die notwendigen Absprachen getroffen. In zwei Tagen bei Neumond sollte es so weit sein.

Wie immer schaute Alberto auch bei diesem Gespräch treuherzig drein, um alle etwaigen Zweifel, was seine Zuverlässigkeit anbelangte, zu zerstreuen.

Alberto hielt, was er versprach. Stets und immer! Es würde ihm nie jemand etwas Schlechtes nachsagen können.

Das war das Versprechen, das heilig gehaltene, für seinen toten Vater Felipe.

Ihm verdankte er alles. Auch sein Vater war schon Ausfahrer der klösterlichen Notdurft gewesen und hatte sich geehrt gefühlt.

Von ihm hatte Alberto alles, was er für sein Leben wissen musste, gelernt und abgeschaut.

Nicht fragen, nichts sagen, nur tun!

Albertos Abfahrt vom Kloster wurde von gierigen Augen, die alles genau verfolgten, begleitet.

Alberto träumte von saftigen Schinkenbeinen mit schwarzen Füßen dran, die er unter die Decke seines kleinen Hauses hängen würde. Die Unruhe eines Pferdes, das sich ganz in der Nähe aufhielt, holte ihn aus seinem Traum. Er hielt sein Gespann an und lauschte in die nahezu stockfinstere Nacht. Nichts war zu hören und doch spürte Alberto, dass eine Wahrheit sich vor ihm verbarg.

»Alberto ist hier! Wer etwas von ihm will: er wartet gern!«

Tat es, aber alles blieb still.

»Dann nicht.«

Mit einem Seufzer setzte Alberto seine Fahrt fort und träumte bald schon wieder von saftigen Schinken.

Es war die letzte Fahrt in seinem Leben vom Klosterberg hinunter ins nah gelegene Dorf.

*

»Du hast gesagt, du machst mich gesund!«

»Ja, das hab ich gesagt. Ich habe schon viel gelernt. Im Klostergarten wächst für jede Krankheit ein Kraut!«

»Auch für meine?«

Gabriel hatte schnell Vertrauen zu Pepa gefasst. Ihre Unbekümmertheit und ihre Zuneigung hatten ihm die Scheu genommen.

Er hatte es selbst an sich bemerkt, dass er wieder gesprächig geworden war.

Wie lange hatte er schon nicht mehr richtig geredet?!

Keiner, der mit ihm sprechen wollte, keiner, mit dem er sprechen wollte. Bis dieses Mädchen sich einfach an den Bettrand zu ihm gesetzt und mit ihm zu reden angefangen hatte.

Ein wenig hatte Gabriel noch gezögert … gezögert, ihr von dem Fehlen der einfachsten Fähigkeit, die jedem belebten und unbelebten Wesen gegeben war und ihm allein auf der ganzen weiten Welt fehlte, zu erzählen.

Nur zu gerne ließ er sich von spielerischen Aktivitäten, die freilich an die Bedingung der weiteren Bettruhe geknüpft waren, ablenken. Dabei vergaß er auch schnell die ständig am Eingang zur Krankenstation präsente Wache, die alles im Auge behielt.

»Wir haben schon vielen Schwachen geholfen!«

»Ich meine etwas anderes, Pepa!«

Gabriel verspürte große Unsicherheit. Er wollte Pepas Nähe nicht verlieren; sie musste aber auch erfahren, wie es um ihn stand.

Eine Zeit lang hatte er noch gedacht, sie würde selbst herausfinden, dass er keinen Schatten warf, dass kein Licht den dunklen Kumpanen zu erschaffen vermochte.

Gerade am Abend, wenn sie sich mit der Kerze ihm näherte, um nach ihm zu sehen, hätte sie es doch bemerken müssen.

Manchmal forschte er auch in ihrem Beisein nach seinem fehlenden Begleiter, aber selbst dies hatte ihr die Augen nicht aufgehen lassen.

Der Himmel oder aber auch der Teufel mochten dies noch nicht zulassen.

»Von welcher Krankheit sprichst du?«

Pepa schaute Gabriel mit großen Augen an.

»Schau!«

Gabriel führte seine Hand nah an den Schein der Kerze heran, die auf dem Hocker neben seinem Bett stand und ihnen das Licht für ihre abendliche Begegnung spendete.

Er achtete auf seine Bewegung, gleichzeitig auf Pepas Blick und darauf, wie sie sich verhielt, ob sie zuckte oder in Stille verharrte.

»Siehst du es?«

Es war wie wenn alle Gesetze der Welt von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr gelten sollten.

»Uihh!«

Gabriel notierte überrascht, dass Pepas Erstaunen sich nur in dem einen Laut ausdrückte und sie ansonsten ganz still blieb.

Sie hatte die Kraft, sich das Unglaubliche weiter anzusehen.

Gabriel selbst war auch von dem Moment fasziniert. Es war jemand da, der weiter an seiner Seite blieb, der ihn nicht alleine ließ, der nicht in Angst und Schrecken verfiel.

Er wurde auch eines Wunders gewahr. Pepa und er, wie gebannt schauten sie auf die Fläche, welche seine Hand durch das züngelnde Licht der Kerze mit ihrem Schatten hätte bedecken müssen. Aber sie lag genau so hell da wie der sie umgebende Bereich.

Gabriel hörte auf zu atmen. Er war gespannt auf Pepas weitere Reaktion. Aus den Augenwinkeln notierte er, wie sie den Kopf zu ihm hindrehte.

»Du bist ein Wesen des Lichts, Gabriel! Du bist ein Engel!«

Da war sie ausgesprochen, die kindliche Ansicht, in der aber doch so viel Glaube, vielleicht sogar Erkenntnis lag. Eine Erkenntnis, wie sie sich vielleicht nur einem Kind erschließen konnte.

Und dieser Glaube, dieses Wissen womöglich, hatte genauso viel Berechtigung wie die schon hundertfachen Äußerungen, dass der Teufel seine Finger im Spiel haben musste.

Gabriel wurde von seinen Empfindungen überflutet.

Er, ein Engel, von Gott direkt beauftragt, mit Botschaften, um die er selbst noch nicht wusste, ausgestattet, er, das kleine um alles beraubte Kind ein so wichtiges Wesen im Wirken der himmlischen Mächte.

Er war unvorstellbar schön, dieser Gedanke.

Eine so einfache, aber alles überstrahlende und übertreffende Erklärung.

Eine Erklärung aber auch, die ihm den Boden unter den Füßen wegzog, die ihm in dem gleichen Augenblick, wie sie ihn beglückte, das tiefe schmerzliche Gefühl zuströmen ließ, nicht mehr zu den Menschen zu gehören, die Heimat aller Heimaten zu verlieren, und wenn er sie auch nur gegen eine größere, höher angesiedelte eintauschte, die zu spüren und zu begreifen er aber nicht in der Lage war.

»Ich kann kein Engel sein.«

Gabriel stemmte sich gegen die schmerzliche Empfindung, ausgegrenzt zu sein.

»Engel werden bestimmt nicht krank!«

»Dir fehlt nur Kraft!«, erwiderte Pepa. »Auch Engel brauchen Energie!«

In dieser Nacht, am Vorabend weiterer abenteuerlicher Geschehnisse, schlief Gabriel sehr unruhig, die widerstrebenden Gefühle des Tages hatten sich Zutritt zum Reich seiner Träume verschafft.

Allein Pepe, der grau getigerte Kater von Pepa, ließ sich nicht beeindrucken und lag zu seinen Füßen als Knäuel fest schlafend auf der Schlafdecke von Gabriel. Pepa hatte ihn zurückgelassen, damit er sich nicht einsam fühlte.

Auch Bruder Manuel war von Unruhe ergriffen und nutzte sie, um in seiner Zelle ein langes Gespräch mit Gott zu führen.

Allein Pepa, die unmittelbar davor stand, all das, was sie mit dem Begriff Heimat verband, zu verlieren, schlief tief und fest.

Das Kloster stand einsam auf kahler Anhöhe unter einem sternenübersäten Himmel, der die Großartigkeit der Welt verriet.

Doch der Frieden trog.

Schon hatte sich ein dunkler Ring um die heiligen Mauern gelegt.

Ein Ring aus finsterer Entschlossenheit.

Die Santa Casa hatte ihn geschmiedet.

*

Der Tag, der für die Rettung des Kindes ausgewählte, war angebrochen. Das erste Stundengebet zur Prim im Kreise seiner Mitbrüder verrichtete Bruder Manuel mit tiefer Nachdenklichkeit.

Über zwanzig lange Jahre hatte er hier nun gelebt und bis vor wenigen Tagen noch keinen Gedanken an das Verlassen des Klosters zu dieser Zeit verloren.

Eine Station von nur wenigen auf seinem einfachen Weg.

Wie viele Stationen würde es noch geben? Welche weiteren Pläne hatte der Herr mit ihm?

Die Ungewissheit der Zukunft breitete sich über ihm aus. In seinen Gliedern fröstelte ihn.

Aber der Glaube an Gott richtete ihn wieder auf.

Auch war noch vieles zu bedenken, damit der erste aller Pläne aufging und ihnen die Flucht gelang.

Die Wache am Eingang der Station zu überlisten, erschien ihm nicht als sonderliches Problem. Längst schon war es in Bruder Manuels Absicht gereift, ihr ein Pulver, aus Schlafmohn und der Baldrianwurzel gewonnen, in den Becher Wein zu schütten, der schon zur täglichen Gewohnheit geworden war.

Am ersten Abend bereits, als Gabriel verlegt worden war und die Wache sich in Blickweite postiert hatte, war Bruder Manuel mit einem Becher Wein auf sie zugegangen.

»Hier, nimm! Diese Arznei erhält jeder hier!«

Die anfänglichen Zweifel waren schnell gewichen, da es immer nur bei diesem einen Becher Wein am Tage blieb – die spanischen Mönche hassten entgegen anderweitiger Gebräuche den Vollrausch – und sich wegen der Pflichtwidrigkeit des Nachgebens und Schwachwerdens keine nachteiligen Folgen eingestellt hatten.

Den ganzen Tag versuchte Bruder Manuel, seine Aufregung zu unterdrücken.

Er kümmerte sich um die Brüder, die auf der Station lagen, wie er es immer tat, mit ein wenig Zeit zum Zuhören, mit ein wenig Zeit zum gemeinsamen Beten und zum Erteilen des Segens, und verabschiedete sich im Stillen von jedem einzelnen.

Am Nachmittag nach dem Chorgebet zur neunten Stunde, als er nach Alberto Ausschau hielt, wurde er noch unruhiger.

Alberto kam für gewöhnlich im Laufe des Vormittags. Bruder Manuel hatte eine Erklärung dafür gestreut, warum Alberto heute erst am Nachmittag erscheinen würde, hatte etwas von einem anderen Geschäft berichtet, von dem Alberto erzählt habe.

Der Vikar, der Vertreter des Priors, hatte ihn bei diesen von ihm aufgeschnappten Worten nur ungläubig angeschaut. Bruder Manuel hatte darum kein gutes Gefühl.

Die Sonne hatte längst schon ihren Gang ins tägliche Grab angetreten, die Schatten, je mehr es sich für sie öffnete, wurden immer länger und mächtiger und die Luft immer kälter. Alberto war noch immer nicht da.

Wo steckte er nur? Es musste etwas vorgefallen sein!

So kannte Bruder Manuel ihn nicht.

Es gab keine schlimmere Pein als die Ungewissheit. – Mit Gott an seiner Seite war sie Bruder Manuel nicht vertraut.

Aber war Gott jetzt noch an seiner Seite oder hatte er sich abgewendet, weil ihm das, was er vorhatte, missfiel?

*

»Ich habe Angst, Gabriel!«

Spät am gestrigen Abend hatte Pepa von Bruder Manuel erfahren, dass es notwendig geworden war, dass er und damit auch sie und Gabriel dazu das Kloster verließen.

»Aber warum denn?«

Pepa hatte sich vehement gesträubt, sich mit dem Gedanken an den Verlust ihrer Heimat anzufreunden. Sie hatte im Klostergarten frisch ausgesät und die kleinen Triebe schon durch die dunkle Erde, die sie feucht hielt, schimmern gesehen.

Was sollte jetzt aus ihrem Werk werden? Und was sollte aus Pepe werden?

Bruder Manuel hatte es unterlassen, Pepa den Ernst der Lage überdeutlich vor Augen zu führen, und deshalb verschwiegen, dass ihr Leben in höchste Gefahr geraten war.

»Was hast du nur getan?«

Bruder Manuel war mehr als ein Vater für sie. Sie sah ihn fast als Heiligen an, vielmehr als andere hätte er solch eine Ehre verdient gehabt, als den besten Menschen, den Gott ihr schicken konnte, mit den Jahren zunehmend begreifend, dass sie ohne ihn nicht mehr am leben gewesen wäre.

Umso schlimmer nun die Überraschung, dass man ihm hier nicht mehr gut gesinnt war, dass er sich vielleicht etwas Böses zu Schulden hatte kommen lassen.

»Du musst nicht traurig wegen mir werden!«

Bruder Manuel hatte Pepa mit Augen angeschaut, die sich still mit Tränen füllten.

»Ich will Gabriel helfen, weil er ein guter Junge ist und Gott ihn liebt!«

»Ich habe ihn auch lieb!«

»Das weiß ich, Pepa, und deshalb musst du mir jetzt vertrauen, dass ich das Richtige tue, und mithelfen, dass wir Gabriel in Sicherheit bringen!«

»Aber sag, Bruder Manuel, es kann ihm doch keiner böse sein! Er ist doch ein Engel!«

Wenn Bruder Manuel noch die letzte Sicherheit für sein Tun gefehlt haben mochte, nun hatte er sie.

»Was erzählst du da, mein Kind?«

»Vielleicht glaubt es mir endlich jemand: Gabriel ist ein Engel. Er muss ein Engel sein, denn die werfen keinen Schatten!«

Das naive Gedankengebilde von Pepa hatte etwas grandios Überzeugendes, so als sei das Kind auf den Kern einer großen Wahrheit gestoßen.

»Es ist nicht zu glauben, was du da sagst, kleine Pepa, aber ich will es trotzdem tun!«

Bruder Manuel rang nach Fassung … vergebens. Er fing zu schluchzen an, ließ den Tränen endgültig freien Lauf.

Ein Wunder, das Wunder seines Lebens!

Und er hatte es nicht bemerkt. Es war nicht in Worte zu fassen.

Er war auch von einem Wunder ausgegangen, aber mehr von einem Phänomen und nicht von einem göttlichen Wunder in Gestalt eines kleinen Engels.

So also konnte solch ein Himmelswesen zu den Menschen kommen. Er hatte sich Engel immer so vorgestellt, wie die großen Maler der Renaissance sie dargestellt hatten und es überliefert war.

Und doch hatte Gott den richtigen Weg gewählt.

Nur die, die reinen Herzens waren, wie dieser Junge selbst, würden ihn als Engel erkennen. Alle anderen, die den wahren Glauben zu besitzen vorgaben, aber doch nur den Teufel in ihren Herzen trugen, sie würden diesen Engel nicht erkennen, sondern lediglich ein dunkles Werk des Satans.

Endlich vermochte Bruder Manuel wieder die Lage, in welcher sie sich befanden, mit durchdringender Schärfe seiner Gedanken zu vergegenwärtigen.

Er löste sich von Pepa, die er umschlungen und fest an sich gedrückt hatte.

»Mit wem hast du schon darüber gesprochen?«

»Nur mit Gabriel selbst. – Aber ich versteh es nicht. Hier, so nah bei Gott, muss ein Engel doch willkommen sein!«

»Es wäre schön, Pepa, wenn es so wäre. Aber was weißt du um die Kirche und um die Menschen, die ihr dienen? Viele hier und anderenorts denken, dass Gabriel böser Mächte Werkzeug ist. Und wenn sie herausfinden, dass ich ihm geholfen habe, in Sicherheit zu gelangen, werden sie wütend sein. Deshalb muss auch ich gehen, und du kommst mit!«

Noch immer hatte Bruder Manuel es unterlassen, Pepa aufzuzeigen, dass auch sie selbst vom Tode bedroht war.

Eine weibliche Seele in einem Mönchskloster, undenkbar. Und dazu noch bei den Kartäusern, einem Orden, der keine Verbindung mit der Weltlichkeit suchte, der abseits der Weltenlichts das Licht der Göttlichkeit aufspüren wollte und hier jedoch nicht fand. Ein Frevel ohnegleichen, ein Frevel gegen den Ordensglauben, wie so viele andere ungesühnte Frevel, ein Frevel dieser aber, der unabdingbar verfolgt und gesühnt werden musste.

Nicht nur der Inquisitor, auch der Prior würde sich erheben und die Anklage formulieren.

Pepas junges unschuldiges Leben würde in einem hell leuchtenden Flammenmeer, auf einem Scheiterhaufen von Holz enden … auf einem Scheiterhaufen auch, der durch die engstirnige Lust auf Rache fernab aller so oft bekundeten Nächstenliebe aufgebaut war.

*

Von Alberto war noch immer nichts zu sehen. – Der Vikar! Was wusste der Vikar?

Er hatte ihn mit einem auffälligen Blick bedacht, als er geäußert hatte, Alberto würde heute erst später zur Verrichtung seines Geschäftes erscheinen.

Bruder Manuel mochte den Vikar nicht, der dem alten, der ihn noch selbst zum Brudermönch ausgebildet und eine gute Seele hatte, gefolgt war.

Unter seiner Leitung und der des Priors war die Geborgenheit, die Aufnahme seiner Seele und seines Geistes, die er früher hier vorgefunden hatte und die ihn erst das Gelübde der immerwährenden Ordenszugehörigkeit, die ewige Profess, hatte ablegen lassen, verloren gegangen. Alles Augenmerk im Kloster schien sich nur noch auf die Zucht von Andalusiern zu konzentrieren. Sogar Maria Theresia hatte schon Interesse signalisiert, die hier gezüchteten edlen Pferde in ihren Besitz zu bekommen.

Der Gemeinsinn jedoch war abhanden gekommen, alle Begegnungen wirkten nur noch wie leere Rituale.

Der Prior und der Vikar hatten in ihrer elitären Eigensucht fast nur noch mit sich selbst zu tun und versäumten es zunehmend, den Pflichten nachzukommen, die ihnen das Amt aufgab. Der Pferdehandel, er nur schien noch das Einzige zu sein, wofür sie lebten.

Kein Geleit mehr verspürend war er vielleicht gerade dadurch auf seinen eigenen Weg geraten.

Bruder Manuel hatte viel darüber nachgedacht, warum er zum Abweichler geworden war. Sicher, ganz sicher, war das auch gottgewollt, um ein kleines Licht, ein Hoffnungslicht, für die Welt zu entzünden.

Der mangelnden Verbindung zu der Bruderschaft, der verschuldeten greifbaren Distanz zu ihr verdankte Pepa aber auch überhaupt erst die Möglichkeit, hier in dieser Kartause ihre Heimat zu finden.

Ein Schweigen, ein eisiges Schweigen, und kein gottgefälliges, erfüllte die Räumlichkeiten des Klosters. Gewinnsucht stand in der vorderster Reihe.

Vorgegebene Verhaltensweisen ohne inneren Halt, mechanische Verrichtung aller Pflichten und Gleichgültigkeit, was die Bedürftigkeit der Brüder anbelangte, vornehmlich die seelische. Und was diese außerhalb ihres Pflichtenkreises für ein Leben führten, war nicht von Interesse und blieb unbeachtet.

Eine unsägliche Diskrepanz aufgrund der unterschiedlichen Herkunft auch.

Der Prior entstammte einer hochwohlgeborenen Familie. Chancenlos, ein besonderes Erbe antreten zu können, war ihm eine Kirchenlaufbahn angetragen worden.

Eine Fehlstellung seines rechten Fußes hatte ihn darüber hinaus, was das Weltliche betraf, zum Außenseiter gemacht. Sein Weg war geebnet.

Aus kühler Berechnung, aus nichts anderem, hatte er den Weg ins Kloster gewählt und gut protegiert es mühelos verstanden, nach oben zu kommen.

Und er hatte es auch verstanden, an der Macht zu bleiben und das Amt des Priors über die vorgesehenen zwei Jahre zu behalten.

Ein eklatanter, seit Menschengedenken nicht vorgekommener Verstoß gegen eine wichtige Ordensregel der Kartäuser. Begründet mit der Besonderheit, dass just zu der Zeit, als der Wechsel anstand, niemand sonst sich für die Nachfolge im Amte hatte finden lassen und das Abweichen von der Regel auch nur vorübergehender Natur sei.

Eine die Grenze zur Lächerlichkeit überschreitende Begründung.

Tatsächlich war es nur die Folge der Einflussnahme der edlen Familie des Priors. Reliquienbeschaffung, zugesicherte, und persönliche Annehmlichkeiten für die Bruderschaft hatte die Fortführung des Amtes für den Prior leichthin möglich gemacht.

Bei der Visitation des Klosters durch andere Prioren floss der Missstand, wenn sie nicht auch käuflich waren, freilich mit in die Liste der Beanstandungen ein, aber es änderte sich nichts, weil andere, noch höher Gestellte im Orden sich kaufen ließen.

Wenigstens hätte bei der Auswahl des Stellvertreters mehr Geschick an den Tag gelegt werden können. Doch enttäuscht wurde, wer darauf gehofft hatte, ein Mann des Ausgleichs, der in der Lage gewesen wäre, der Herde ein guter Hirte zu sein, würde das Amt des Vikars anvertraut bekommen.

Und wer glaubte, dass die dunkle Zeit begrenzt war und endlich nach zwei Jahren einer anderen weichen würde, wurde erneut enttäuscht.

Ebenso der Vikar, von dem Prior hochgebracht und weiter unterstützt, klebte unter demselben Vorwand an seinem Amt. Weltliche Bestrebungen zudem hielten ihn dort sicher in der Position. Auch er war ein Spross aus adligem Geschlecht, und so wurde mit Protektion von außen die Ordensregel ebenso für ihn ausgesetzt.

Es hätte dem Kloster zum spirituellen Vorteil gereicht, wenn ein einfacher Mönch aus den Reihen der Brüder das Amt des Vikars besetzt hätte. Damit hätte die Unzulänglichkeit des hochgestochenen Priors, der allem entrückt war, abgemildert werden können. Durch die getroffene Auswahl aber zeigte sich diese Unzulänglichkeit umso mehr.

Längst schon stand die Kartause nicht mehr in religiöser Blüte und wenn man sich auch bei der Zucht der Kartäuser-Pferde anschickte, in der Weltlichkeit Beachtung zu finden, so harrte doch das Kloster immer auffälliger der Erneuerung im Geiste.

Mehr als ein Zufall war es, ohne dass Bruder Manuel darum hätte wissen können, dass Gabriel hier gefangen gehalten wurde.

Ebenso wie die Sippschaft des edlen Sion de Albanez gehörte auch die Familie des Priors zu der Linie des Herzogs von Medina Sidonia. Ein Netzwerk, ein gut funktionierendes. Alle Schaltstellen der Macht waren in dieser Provinz miteinander verknüpft.

Die Familie der Medina Sidonia war die erste, die in Spanien zu einem Herzogstitel gelangt war. Vor Hunderten von Jahren fand ihr Name zum ersten Mal Erwähnung. Durch die Reconquista war sie zu steigendem Einfluss gelangt. Der 7. Herzog von Medina Sidonia war sogar Kommandeur der berühmten Spanischen Armada gewesen, die dem Katholischen Glauben zum Sieg verhelfen wollte und gen England segelte, um dort von den seefahrenden Männern Elisabeths der Großen vernichtet zu werden.

Auch diesmal war die Kirche in Gefahr, nicht durch eine ketzerische Hure auf einem Königsthron außerhalb des Landes, sondern durch eine Ausgeburt des Satans, die als unschuldig daherkommendes Kind im Innern des Landes ihr zersetzendes Werk zu verrichten gedachte.

Wenn ihr Tun und Handeln damals auch nicht von Erfolg gekrönt gewesen war, so musste es doch diesmal sein, ehe das Land abermals verloren ging.

Muslime, aber auch Juden hatten viel zu lange über die Provinzen geherrscht, nun durften sie nicht mehr aus der Hand gegeben werden. Der Heilige Krieg war noch lange nicht gewonnen, die Inquisition, die Santa Casa, hatte noch lange nicht ihr Ziel erreicht. Es musste noch viel Blut fließen und noch viel verdorbenes Fleisch den Flammen geopfert werden.

*

»Du bist spät dran!«

Auf Bruder Manuels Gesicht spiegelte sich bei diesen Worten ein Anflug von Verärgerung. Er hatte sich jedoch so gut unter Kontrolle, dass kein Wort des Vorwurfs über seine Lippen kam. Einen prüfenden Blick aber konnte er sich nicht ersparen. Zu viel stand auf dem Spiel.

»Vergeben sie mir, Bruder! Albertos störrischer Muli hat seinen Plan zerstört.«

Alberto mühte sich zu einer Demutsgeste, aber Bruder Manuel wandte sich ab und richtete schleunig seine Schritte zu dem Ort, wo die Bruderschaft sich Erleichterung verschaffte. Alberto fuhr mit seinem Gespann hinterher und nahm von den ihn passierenden Mönchen wie immer keine Notiz. Sie lebten, auch wenn er von ihnen profitierte, in einer anderen Welt. Eine Welt, zu der er nur von Geschäfts wegen, sonst aber keinen Zugang hatte.

»Hast du auch daran gedacht, drei saubere Fässer mitzubringen?«

Bruder Manuel hielt es nicht für ausgeschlossen, dass auch weitere Dinge nicht nach Plan verliefen.

Alberto schien seine Verspätung schon vergessen zu haben.

»Sie wissen doch, Bruder: auf Alberto ist Verlass! Er hat sie von allem befreit, das die Sinne beleidigt! Sie stehen ganz hinten!«

»Gut, an die Arbeit!«

Bruder Manuel bekreuzigte sich und ließ Alberto allein.

Für gewöhnlich war die Arbeit in weniger als zwei Stunden verrichtet. Heute aber sollte Alberto sich Zeit lassen. Die Abfahrt würde erst im Dunkeln stattfinden.

Vor dem Komplet wurde zwar das Tor für die Nacht geschlossen, doch Bruder Manuel hatte vorgesorgt. Der Ort, wo Alberto seine Arbeit erledigte, war nur wenig frequentiert. Darum sorgte sein Aufenthalt im Kloster bei Anbruch der Dunkelheit auch für kein Aufsehen.

Bruder Manuel nahm am Komplet und am Abendgesang teil. Dann ging er in die Krankenstation, wo Pepa und Gabriel warteten. Pepa war dabei, sich von Pepe, ihrem Kater, zu verabschieden. Dies war mit Wehmut verbunden. Bruder Manuel gab den Kindern ein Zeichen, dass sie sich noch gedulden sollten.

Erst musste Bruder Benicio sich für die erste Schlafenszeit vor Mitternacht zurückgezogen haben. Pünktlich war er darin nicht immer. Zu groß war oft sein Wissensdurst.

Sich um einen Kranken noch kümmern zu müssen, war ein Vorwand, den er leicht hätte gebrauchen können, um sein längeres Wachsein zu begründen.

Heute aber war alle Arbeit auf der Station getan und kein Heilmittel zur Verstärkung des Blutflusses oder zur Senkung eines Fiebers noch zusammenzubrauen. Zeitig zog Bruder Benicio sich in seiner leisen Art in seine Zelle zur Nachtruhe zurück.

Bruder Manuel atmete auf. Er sah ein letztes Mal nach den Kranken. Für kurze Zeit wurde ihm schwer ums Herz. Dann ging er zu den Kindern. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, bereit, jede Order, die Bruder Manuel erteilen würde, zu erfüllen.

Kurzes Innehalten noch einmal. – Machte er wirklich alles richtig? Abrufen aller Antworten, die er sich schon hundertmal auf diese und ähnliche Fragen gegeben hatte.

»Kommt!«

Gabriel zog die Decke vom Körper weg. Wie von ihm verlangt, war er bereits angezogen. Sogar das alte schäbige Schuhwerk hatte er schon an den Füßen.

Ein folgsamer Junge, der wusste, dass es jetzt auf jede Kleinigkeit ankam.

*

»Halt!«

Er fuhr, obwohl er im Bilde war, in seiner Zelle zusammen. Die scharfe Stimme des Wachmannes der Inquisition erschreckte sein furchtsames Gemüt. Es entstand Stimmengewirr. Eine verzerrte Stimme, die eine Anweisung gab.

Dumpfe Geräusche wie von einem Kampfe herrührend drangen an das Ohr des Priors.

Er hörte ein Knarren, das ihm vertraut war, ihn in diesem Augenblick aber befremdete. Das Tor! Jemand hatte das Tor in dem großen, der Stadt zugewandten Portal geöffnet. Dies sollte auf keinen Fall geschehen!

Das Gespann von diesem verdammten Bauern, dem er noch nie über den Weg getraut hatte, polterte über das Pflaster des Innenhofes und rollte zum Tor hinaus. Jäh aber wurde der Lärm unterbrochen. Das Gespann schien zum Stillstand gekommen zu sein. Der Prior hastete an das Fenster, von wo er die Situation überschauen konnte.

Er konnte sehen, dass zwei mit Hellebarden bewaffnete Männer, es mussten die des Inquisitors sein, sich vor dem Gespann aufgebaut hatten, entschlossen – falls notwendig –, das schnaubende Muli dieses gemeinen Verräters im nächsten Moment abzustechen. Auf dem Gespann stand Bruder Manuel in einer Haltung, die äußerste Spannung verriet. Sehr wohl war er aus einem der Fässer geklettert, die zum Abtransport der Notdurft bestimmt waren. Er konnte jetzt den Inquisitor erblicken. Dieser kam mit herrischem Schritt aus dem Innenhof heraus, den Bruder, der das Tor geöffnet hatte, mit einem vernichtenden Blick bedenkend. Auch über ihn würde gerichtet werden. Keiner dieser Verbrecher würde seinem Urteil und der gerechten Strafe entgehen.

Der Inquisitor nahm eine Fackel, die einer seiner Männer entzündet hatte, an sich und hielt sie in die Höhe, um die Personen auf dem Gespann besser ausmachen zu können. Alberto vergrub seinen Kopf noch mehr unter seinen fleischigen Händen, presste das Kinn noch fester auf seine Brust und zitterte am ganzen Körper.

»Bauer, du! Bei der Allmacht des Herrn befehle ich dir: steig ab von deinem Wagen!«

Alberto zögerte einen Moment. Im nächsten bereits bemerkte er die Kälte des Metalls der Hellebarde, die einer der Männer des Inquisitors auf ihn richtete.

Alles war verloren. – Er war ein einfacher Mann. Aber was jetzt kam, dafür musste man nicht rechnen können.

Er stieg von seinem Bock herunter und legte die Hand an die Flanke seines Mulis, die Unruhe des Tieres verspürend.

»Guter, du! Unsere Wege müssen sich jetzt trennen. Danke für alles!«

Ein letzter Blick, dann ließ er sich mit inne sitzender Verzweiflung abführen.

»Und jetzt zu dir, Bruder! Steig auch du herunter und leiste keinen Widerstand gegen die Diener Gottes! Deine unchristliche Absicht hat sich zerschlagen.

Gottes Urteil wartet auf dich!«

In Bruder Manuels Augen stieg das Feuer der Leidenschaft empor. Gottes Urteil! Was weißt du, du reißender Wolf der Hölle, vom Richten unseres Herrn?

Nein, ihm leiste ich keinen Widerstand, wohl aber dir!

Von tausend Ängsten übermannt hockten Pepa und Gabriel in ihren engen Verstecken, die keine mehr waren. Sie ahnten es. – Gleich würden sie entdeckt werden!

Es gab kein Entkommen!

Bruder Manuel bemerkte, wie nah sich das Gefährt am Abhang des Klosterhügels befand. Einen Augenblick überlegte er noch. Dann packte er das erste Fass, in dem Pepa steckte, und warf es den Abhang hinunter.

Im nächsten Moment bohrte sich eine Hellebarde durch den schwarzen Chorrock und seine übrige Kleidung in seine Seite. Bruder Manuel stöhnte auf vor Schmerz. Doch noch hatte er die Kontrolle über seinen Willen und seinen Körper. Er riss die Hellebarde aus seinem Körper, packte entschlossen das nächste Fass, in dem Gabriel hockte, und warf es ebenso den Hang hinunter.

Gott musste darüber wachen, dass die Kinder unverletzt blieben. Wieder spürte er, wie die Hellebarde sich ihn bohrte.

»Du Hund!«

Der Inquisitor schritt hastig um den Wagen herum. Seine gierigen Augen funkelten in die Dunkelheit, konnten aber nichts erspähen. Die mondlose Zeit gebar eine totale Finsternis. Nur das Poltern der Fässer war zu hören.

»Hinterher!«

Einer der Wachleute, den der Inquisitor in den Blick gefasst hatte, beeilte sich, den Abhang hinunter zu laufen.

»Schneller! Oder du brennst auch!«

Der Inquisitor war außer sich. Er sah nach Bruder Manuel, der zusammengebrochen war und gekrümmt vor Schmerz auf dem Wagen lag. Sein Habit begann sich mit Blut zu tränken.

»Kümmert euch um ihn! Er darf nicht sterben! Er soll Gottes Richtspruch erfahren … durch mich!«

Nein, Herr! Nimm mich jetzt zu dir! Ich hab alles an Aufgabe getan!

*

Der Höllenritt den Abhang hinunter dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Gabriel wurde in dem Fass umhergeschleudert, unfähig etwas zu seinem Schutze zu verrichten. Er wusste nicht mehr, wo oben und unten war, und war der Ohnmacht nahe.

An einem Felsbrocken kam das Fass zum abrupten Stillstand und zersplitterte.

Gabriel lag wie tot im Gras, die Schatten der Nacht umhüllten ihn und auch seine Seele. Unzählige Prellungen, die er sich zugezogen hatte.

Nicht lange dauerte es, da drang von fern eine Stimme durch seine Benommenheit. Es war die Stimme des Soldaten, den der Inquisitor auf die Suche geschickt hatte.

Ungeduldig sprang Alfonso de Torquemada unterdessen auf der Höhe herum und rief fortwährend in die Tiefe.

»Nein, ich habe noch nichts gefunden, Herr!«

Die Stimme war jetzt keine dreißig Schritte entfernt.

Gabriel kam zu vollem Bewusstsein.

Pepa! Was war mit Pepa?

Und Bruder Manuel, wo war er?

Gabriel versuchte sich zu erinnern.

War auch Pepa mitsamt dem Fass, in dem sie steckte, von dem Wagen geworfen worden? Gabriel konnte sich an nichts erinnern.

Er hörte keine Worte mehr, dafür aber Schritte, die genau auf ihn zukamen.

Noch schützte ihn die mondlose Dunkelheit. Aber er musste etwas tun. Entweder ohne Bruder Manuel und Pepa die Flucht antrete oder sich verstecken und sodann die beiden suchen.

Er entschied sich dafür und umschlich mit Schmerzen den Felsbrocken, um an seiner Rückseite der Entdeckung zu entgehen.

Jetzt ist der, der ihn finden will, bei ihm angelangt. Keine fünf Schritte mehr sind sie voneinander entfernt.

»Herr, hier ist eines der Fässer! Es ist zerbrochen! Ich suche die Umgebung ab!«

Die Worte kamen nicht mehr bei dem Inquisitor an. Zu groß schon war der Abstand.

Alfonso de Torquemada befehligte, da sie ihre Arbeit verrichtet und Alberto und Bruder Manuel dingfest gemacht und weggebracht hatten, noch drei der ihn begleitenden Männer den Abhang hinunter.

»Wagt es nicht, mir ohne Erfolg wieder unter die Augen zu treten!«

Ein, zwei Minuten schon hatte Gabriel keinen Laut mehr gehört.

Sein Jäger verhielt sich geräuschlos wie eine Eule.

Endlich vernahm Gabriel weitere Stimmen. – Die Sache wurde immer gefährlicher.

Leise entfernt er sich von dem Felsbrocken. Plötzlich aber wird es noch dunkler vor seinen Augen. Einen einzigen Augenblick noch, da greift eine Hand nach ihm, um ihn festzuhalten, und eine andere hält seinen Mund zu, um zu verhindern, dass er nach Hilfe schreit oder auf seine Lage aufmerksam macht.

»Hab ich dich, Bürschlein! Einem alten Kämpen machst du nichts vor! Wag nicht, dich zu wehren!«

Gabriel gerät in Panik und versucht sich aus der Umklammerung zu lösen. Er strampelt mit den Füßen in der Luft. Die Hand seines Widersachers, die seinen Mund nahezu zum Ersticken zuhält, verrutscht. Es gelingt ihm, in diese Hand zu beißen.

Ein Schmerzensschrei des Soldaten, ein gepresstes Einatmen, ein Schrei von Gabriel in die Dunkelheit, die nicht länger mehr auf seiner Seite zu sein scheint. Dann hat sein Gegner ihn wieder ganz unter seiner Kontrolle.

»Kommt hierhin! Ich habe ihn! Schnell!«

Er wartet auf die nötige Hilfe. Gabriel wehrt sich weiter mit aller Kraft. Der Griff des Soldaten jedoch bleibt unüberwindbar.

»Wo bleibt ihr denn?«

Es ist das Einzige noch, was er sagen kann. Wie von einer unsichtbaren Macht gefällt sinkt er plötzlich zu Boden. In seinem Fallen wird eine andere Gestalt sichtbar. Gabriel mag es nicht fassen.

Pepa!

Sie lässt den Stein fallen, den sie soeben dem vor ihr stehenden, scheinbar übermächtigen Gegner auf den Kopf geschlagen hat. Zu sehr ist er mit Gabriel beschäftigt und ihr gegenüber deshalb unachtsam, gar ahnungslos gewesen.

Noch nie hat sie sich zu solch einer Tat hinreißen lassen. In ihr toben die Empfindungen von Erschrecken und Staunen. Allein die Gefahr, in welcher sie Gabriel angetroffen hat, hat sie mutig und stark werden lassen. Dieser Mann durfte Gabriel nichts antun.

Nein, es war ungerecht, was er tat. Er durfte Gabriel nicht wehtun und ihn auch nicht festhalten.

Über die Wirkung ihres Hiebs konnte sie nur einen Moment lang verblüfft sein. Schon eilten die anderen Soldaten des Inquisitors herbei.

»Komm, Gabriel! Rasch!«

Wenige Augenblicke später trafen die Verfolger am Ort des Geschehens ein.

Sie fanden nur ihren bewusstlosen Kameraden vor und auch das zersplitterte Fass.

»Einer bleibt hier! Der Rest macht sich auf die Suche! Der Herr bringt uns auf den Scheiterhaufen, wenn wir den Jungen und den, der in dem anderen Fass gesteckt hat, nicht finden!«

Die Suche nach den Flüchtigen dauerte die ganze Nacht, aber sie waren nicht dingfest zu machen. Im Hellen allerdings würden sie keine Chance haben, ihrer Entdeckung zu entgehen. Darauf setzte Alfonso de Torquemada, der Gift und Galle hätte speien können, seine ganze Hoffnung.

Er war nah dran, den Prior aufs Schärfste anzugehen und ihn zur Rede zu stellen, wie es zu dieser Flucht nur hatte kommen können und ob er das Mindeste zu seiner Unschuld vortragen konnte. Doch der Inquisitor war ein durchtrieben schlauer Mensch, der längst schon wusste, dass der Prior sicher war vor seinem Zugriff. Er wusste um seine verwandtschaftlichen Bande zu seiner Obrigkeit, dem Herzog von Medina Sidonia, in dessen Diensten er selbst schon so lange stand.

Wenigstens erwartete Alfonso de Torquemada genaue Auskunft darüber, wer in dem zweiten Fass gesteckt hatte, nachdem er die vage Hoffnung, dass der Satan in Kindsgestalt doch im Kloster zurückgeblieben war, nach erfolgloser Durchsuchung aller Räume hatte begraben müssen. Dass auch in dem zweiten Fass ein Mensch gesteckt haben musste, war in dem Zeitpunkt offensichtlich, als die Soldaten des Inquisitors es leer vorgefunden hatten.

»In dem Fass wird der Novize gewesen sein«, log der Prior, »der Bruder Manuel so nahe gestanden hat.«

Hoffentlich spielte Bruder Manuel, wenn er überhaupt noch mit dem Leben davon kam, bei dieser Lüge mit. Er wollte Pepa unerwähnt lassen, um weiteren Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen, und verschaffte ihr damit ungewollt einen Vorteil bei ihrer Flucht.

»Wir können auch ihn nicht auffinden!«

Die Antwort befriedigte den Inquisitor keineswegs.

»Warum hat er nicht bei Tag den Weg durchs Tor gewählt. Er hatte keinen Grund, sich bei Nacht davon zu stehlen. Oder legen schon eure Novizen die ewige Profess ab?«

Der Prior bemerkte, dass seine Erklärung wirklich nicht überzeugend war.

»Vielleicht war es die Scham vor den Mitbrüdern, die ihn zu diesem Entschluss gebracht hat. Vielleicht wusste er, dass er den hohen Anforderungen unseres Ordens nicht gerecht werden konnte und dass er sich nicht über die ewige Profess an unsere Gemeinschaft würde binden können. Vielleicht fürchtete er auch, dass die Flucht von Bruder Manuel, dem er, wie ich sagte, sehr nahe stand, ein schlechtes Licht auf ihn werfen würde.«

Vielleicht, vielleicht!

Der Inquisitor hasste den Prior für sein dünnes Gerede. Er brauchte Fakten und wenn er sie mit kurz überlegten Erklärungen selbst in die Welt bringen musste.

Bruder Benicio war voller Sorge. Geweckt durch ein heftiges Schlagen gegen die Tür seiner Zelle, hatte er schlaftrunken aus seinem Lager gefunden und geöffnet, die schlimme Mitteilung aus dem schnell sprechenden Mund eines Mitbruders hatte ihn jedoch zu eiligem Tun veranlasst.

»Kommt schnell herbei! Bruder Manuel ist schwer verletzt worden und dem Tode näher als dem Leben!«

Das waren die Worte, die ihn alarmiert hatten.

Bruder Benicio brauchte nichts zu richten, all seine Utensilien befanden sich auf der Krankenstation. Dort lag Bruder Manuel auf einer Trage, die von seinem Blut schon durchnässt war.

»Um Himmels Willen, was ist geschehen?«

Konnte er hier überhaupt noch helfen? So etwas hatte er noch nicht zu Gesicht bekommen.

Knappe Sätze, weiterer Erklärung bedurfte es nicht. Geahnt hatte er es, dass Bruder Manuel eines Tages in große Schwierigkeiten kommen würde, doch Bruder Benicio hatte sich lieber um Salbei, Fenchel, Liebstöckel und Minze draußen im Garten und um seine Tinkturen und Salben und Destillate gekümmert anstatt schwierige Gespräche zu führen.

Jetzt war die Sorge da.

Er hatte sie um Bruder Manuels Leben und auch um das seinige. Würde man ihn irgendwelcher Mittäterschaft beschuldigen?

Die Inquisition stand ins Haus. Es ging um den Jungen, der bei ihm unter Bewachung auf der Station lag. Auch er hatte davon gehört.

Musste er nun vielleicht büßen für seine Gleichgültigkeit Bruder Manuel und seinem Tun gegenüber?

Alfonso de Torquemada erschien, einen langen Schatten vor sich auf den Boden werfend und immer noch damit hadernd, dass seine Pläne nicht aufgegangen waren. Dabei war alles gründlich durchdacht und vorbereitet worden.

Zwei Tage schon hatte er – sich nicht dem Lichte des Tages offen darbietendbeobachtet, wer das Kloster aufsuchte, wer es mit welchem Ziel verließ und was alles raus und rein geschafft wurde. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass in der Zeit vor seinem Erscheinen noch vieles geschah, dass gegen sein heiliges Werk gerichtet war.

Unter Todesandrohung hatte er in dieser Zeit ganz in der Nähe bei einem ausgesuchten Gutsbesitzer für sich und seinen ganzen Tross an Notaren, Schreibern und Wachleuten Quartier geordert.

Eine absonderliche Angst bemächtigte sich aller, die des Inquisitors und seines Gefolges ansichtig wurden. Wieder zeigte es sich, dass die Verbreitung von Schrecken seinen Erfolg zum Wesentlichen begünstigte. Seine Rechnung schien aufzugehen. Niemand im Kloster bekam einen Wink, noch dazu nicht feststand, gegen wen sich das Sinnen des Inquisitors richtete.

An diesem bewussten Tage hatte er lange warten müssen. Das war absehbar gewesen. Die Hinterhältigkeit suchte die Nacht.

Und auch dieser Bauer hatte sie gesucht.

Verdächtig, sehr verdächtig, zu dieser Zeit unterwegs zu sein, noch dazu hier an diesem Ort. Der ehrliche Mann saß zu dieser Zeit daheim bei den Seinen oder sprach in der stillen Kammer zu Gott.

Mit wem dieser Bauer da nahe dem Kloster redete, blieb ihm zunächst noch verborgen. Aber die Antwort ergab sich am übernächsten Tag, als der Bauer erneut zum Kloster hinauf fuhr und bis in die Dunkelheit darin verblieb.

Er war alarmiert. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Jetzt galt es.

Er hatte den Prior über einen Boten von seiner Ankunft unterrichtet, Stillschweigen darüber verlangt und die Order erteilt, das Tor auf keinen Fall mehr zu öffnen.

Die Feinde saßen in der Falle. Es konnte kein Entkommen für sie geben.

Nach Anbeginn der Dunkelheit hatte er sich über den Nebeneingang unauffällig Zutritt zu der Kartause verschafft und dort mit einem Teil seiner Wachleute die weiteren Geschehnisse abgewartet. Die anderen lauerten vor der Pforte.

Dass der Torwächter zu den Abtrünnigen zählte, war nicht vorhersehbar.

Dass es ihm möglich gewesen war, das Tor noch zu öffnen, das verzieh er sich jedoch nicht.

Er hätte früher eingreifen müssen – in dem Moment, in dem die Verräter an Gottes Sache allesamt in ihren Verstecken auf dem Wagen hockten und er noch nicht losgefahren war.

»Ich verlange von euch, das Leben dieser von Gott anderweitig zu richtenden Kreatur zu erhalten!«

Der Inquisitor fasste Bruder Benicio scharf in den Blick, nicht sonderlich überzeugt von seiner ärztlichen Kunst. Allein das Zittern seiner Hände bestärkte ihn in seinem Eindruck.

»Was schneidet er dem Kerl so tief ins Fleisch?«

Bruder Benicio nahm all seinen Mut zusammen und schwieg. Der Inquisitor witterte Verrat.

»Santo Dios! Weiß er, was er tut?«

Bruder Benicio fuhr unbeirrt fort. Es ging hier um Leben und Tod! Zwar vielleicht auch für ihn, aber diese Gefahr war jetzt nicht so drastisch einzuschätzen als diejenige, die sein ärztliches Können auf die Probe stellte.

De Torquemada war nahe daran, Bruder Benicio das Messer zu entwenden.

Dieser bemerkte die halbe Absicht aus den Augenwinkeln.

»Herr, bitte! Ich muss versuchen, die Blutung zu stillen! Und dazu muss ich mir den Weg zu den verletzten Gefäßen frei schneiden!«

Der Inquisitor richtete sich auf, sein Blick aber blieb misstrauisch und voller Verachtung.

*

»Unmöglich, dass ich dich gefunden hätte; so dunkel ist es! Zum Glück hat der Soldat dann zu rufen angefangen.«

»Bist gerade noch rechtzeitig gekommen!«

Gabriel spürte, dass er noch immer nicht wieder richtig atmen konnte, und schaute Pepa mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Bewunderung an.

»Weißt du, was mit Bruder Manuel geschehen ist? Konnte er auch noch vom Wagen runterkommen?«

Gabriel betastete die dicke Beule an seinem Kopf und versuchte sich zu erinnern.

»Ich weiß nicht, Pepa! Hat er uns den Hang hinuntergeworfen?«

»Ja, es war die einzige Möglichkeit, uns zu retten!«

Bruchstücke des Geschehenen gelangten in Gabriels Bewusstsein.

Ein Aufstöhnen vor Schmerz war da gewesen. Es stammte von Bruder Manuel. Dann das Aufheben des Fasses, in welchem er versteckt war.

Alles Weitere lag im Dunkeln.

»Wir können jetzt nicht nach ihm suchen! Gott wird ihm helfen, bestimmt tut er es. Wir müssen uns erst in Sicherheit bringen!«

Eine ganze Zeit schon hatten sie nichts mehr von ihren Verfolgern gehört.

Trügerische Sicherheit!

Da, was war das? Kam da nicht ein Geräusch von nah her?

In der Stille verharren. Tonlose Momente. Klopfende Herzen. Angst.

Jetzt kam ein Laut von der rechten Seite. Eben das Geräusch war von vorne gekommen. Merkwürdig!

»Achtung, Pepa! Sie umkreisen uns und kommen von überall her!«

Welch eine Nacht! Zerborstene Pläne. Ihrer Freiheit beraubte Menschen. Ein Medicus, der mit nicht ausreichenden Mitteln um das Leben eines Bruders kämpfte. Ein Vorsteher, der das Eintreffen der Inquisition wie den Anbeginn der Hölle wahrnahm. Zwei Kinder auf der Flucht, bemüht, die kleine Flamme ihres Lebens am Leuchten zu halten. Und ein alter Mann, der sich von der Küste entfernt und eben den Weg zu diesem Kloster eingeschlagen hatte.

Die Soldaten des Inquisitors waren erprobte, am Leben allesamt gereifte Männer. Es hätte nur wenig Sinn gemacht, leise durch die Nacht zu pirschen, um den Flüchtenden nachzuspüren. Zu groß wäre ihr Vorsprung geworden, wenn diese sich eilig hätten entfernen können.

Stattdessen teilten sich die Soldaten auf und liefen zielsicher in die Nacht hinein, einen großen Kreis dabei bildend. Zurück blieb nur der von ihnen, den sie niedergeschlagen vorgefunden hatten und der sich mühsam wieder aufgerappelt hatte.

Nach einigen Minuten begannen sie, auf ihren guten Orientierungssinn vertrauen könnend, aufeinander zuzugehen.

Der Kreis wurde enger, die Falle schloss sich.

»Was sollen wir jetzt machen? Sag, Gabriel! Ich habe so große Angst!«

Gabriel legte seinen Arm um Pepa. Eine andere Antwort hatte er nicht. Ihre krausen Locken kringelten sich noch mehr.

Wortlos blieben sie unter den fleischigen Blättern einer Agave hocken und warteten die Geschehnisse ab, währenddessen die Dornen an den Blattspitzen ihnen zu schaffen machten.

Die Männer arbeiteten sich planmäßig durch das Gebiet. Zum Glück für Gabriel und Pepa waren sie nicht viele in der Anzahl, so dass der Ring viele Lücken aufwies, durch die vielleicht hindurchzuschlüpfen war. Immer näher kamen die Soldaten an ihr Versteck heran. Von überall her drangen, da die Männer nicht sonderlich um Lautlosigkeit bemüht waren, Geräusche von knackenden Zweigen und raschelnden Blättern an Pepas und Gabriels Ohren.

Jetzt sind die Männer auf ihrer Höhe angelangt.

Keine zehn Meter links von ihnen schleicht eine Gestalt vorbei.

Von der rechten Seite nähern sich auch Schritte.

Zusammengeduckt erwarten Gabriel und Pepa ihr Schicksal. Jeden Moment können sie entdeckt werden. Jetzt bloß keinen verräterischen Laut von sich geben. Das kleinste Geräusch kann ihr Verderben sein.

Die Männer ziehen vorbei. Weitere Anspannung. Noch sind sie nicht in Sicherheit.

Ein, zwei Minuten später aber konnten sie aus ihrem Versteck herauskriechen, ohne Gefahr zu laufen, gehört zu werden.

»Rasch fort jetzt!«

So brachen sie in eine unbekannte Welt und in eine ungewisse Zukunft auf: ein zehnjähriges Mädchen, das in ihrem ganzen Leben nur den Innenhof eines Klosters als die Welt da draußen erlebt und kennengelernt hatte und ein geschwächter Junge, der furchtsam ahnte, dass der Weg zur Heimat ein endlos langer sein würde. Zwei Geschicke, miteinander verwoben, mit nichts ausgestattet, dem Untergang näher als dem Dasein und deren einziger wohlwollender Begleiter die kindliche Hoffnung sein konnte.

Die Hoffnung, die schwache, die Geborgenheit zurückzufinden, mit welcher sie aufgewachsen waren.

*

Der Tag brach ohne Dämmerung an, so als müssten die Spuren von allem, was in der tiefen dunklen Nacht geschehen war, sehr rasch bei hellem Lichte betrachtet und geprüft werden.

Das Kloster lag in der aufsteigenden Sonne wie eine unerschütterliche Festung.

Allein das herrenlose Gespann von Alberto, das nahe dem Tor im Innenhof stand, störte das gewohnte Bild. Die Mönche verrichteten ihr Gotteswerk wie an jedem anderen Tag.

Unmenschlichkeit unter dem Deckmantel der Frömmigkeit.

Alfonso de Torquemada, der die ganze Nacht mit Beten und Grübeln zugebracht und kein Auge geschlossen hatte, durchschritt das Tor und schaute unablässig von der Stelle, an der dieser verräterische Mönch sein teuflisches Werk vollbracht hatte, bis hinüber nach Jerez de la Frontera in die Weite der Landschaft, die jetzt zu dieser frühen Stunde klar war und nicht in der flirrenden Hitze verschwamm.

Geieraugen, die sich in die tote Landschaft bohrten und sie verschlangen, nicht aber den geringsten Funken menschlichen Lebens aus ihr herauszupressen in der Lage waren.

*

Joaquin, der Sohn des alten Luis, kam trotz seiner nachlassenden Kräfte aus dem Staunen nicht heraus.

Soeben hatte er seine tägliche Mahlzeit erhalten. Eine kalte Suppe, auf der ein paar Fettaugen schwammen, mit hartem Brot dabei, das erst durch Einweichen genießbar wurde. Er hatte sich schon gewundert, warum so lange an der Tür gearbeitet wurde, bis sie sich endlich geöffnet hatte.

Die Erklärung hierfür war einfach, aber nicht zu begreifen.

Die Wache, welche das Essen gebracht hatte, war, das hatte er selbst in seinem geschwächten Zustand bemerkt, total betrunken und tat sich mit allem schwer.

Obendrein war sie redselig, was den Alkoholgenuss noch umso mehr offenbarte.

Das hatte Joaquin so noch nicht erlebt. Er war es gewohnt, dass kein Wort gewechselt wurde, ein hartes Schweigen herrschte, und dass die Stille nur durch das Knarren der aufgehenden und sich schließenden Tür und durch die Betätigung des schweren Riegels unterbrochen wurde.

Und dass hier in dieser strengen Hölle eine Nachlässigkeit solch einer Art Einkehr fand, damit hatte Joaquin schon gar nicht gerechnet. Alles was sich ihm bisher dargeboten hatte, war militärische Genauigkeit.

Jeder Schritt und jede Bewegung schienen vorgegeben.

Tagtäglich hatten sie sich wiederholt.

Und nun kam die Wache betrunken daher. Unglaublich!

Und was noch eklatanter war und seinen Puls zum Rasen brachte: die Wache hatte vergessen, den Riegel wieder vorzuschieben.

Konnte das überhaupt sein?

Spielten seine Sinne ihm vielleicht einen bösen Streich?

Er ließ sich die Ansammlung der Geräusche, die eben seine Ohren erreicht hatte, mehrmals durch den Kopf gehen. Keine Frage: Das Geräusch, welches das Vorschieben des Riegels verursachte, war nicht dabei gewesen.

Er schlich zur Türe und lauschte in die Stille.

Nichts zu hören? – Oder etwa doch? Ein Schnarchen vielleicht?

Er lauschte noch angestrengter an der Zellentür. Ja, es war ein Schnarchen.

Offensichtlich schlief die Wache da draußen auf dem Gang ihren Rausch aus.

Vorsichtig schob er seine Finger zwischen das Gemäuer und die Zellentür, um zu prüfen, ob sie offen stand.

Welch ein Wunder? Sie bewegte sich.

Unfassbar! Die Tür war offen!

Joaquin bekreuzigte sich und dankte allen Heiligen, insbesondere dem heiligen Rochus, dem Schutzpatron der Gefangenen, der vor Hunderten von Jahren selbst im Gefängnis gestorben war.

»Heiliger Rochus, danke für dieses Wunder!«

Was aber tun?

Er würde mehr als eine Tür und mehr als eine Wache überwinden müssen.

War das Ganze vielleicht auch nur eine Falle?

Er konnte sich nach allem, was geschehen war, keine Erklärung geben. Er hatte doch ein Geständnis abgegeben. Sie hatten das zu hören bekommen, was sie wollten.

Wochenlang, eine gefühlte Ewigkeit, hatte er in diesem dunklen Loch verbracht, und niemand hatte sich um ihn und seinen Vater gekümmert, außer dass man ihnen durch Wasser und karge Mahlzeiten das Leben erhielt. Die ersten Tage schien er allein in diesem Trakt des Gefängnisses, der unmittelbar am Ozean liegenden Burg des Heiligen Sebastian, untergebracht zu sein. Für einen jungen Mann, der gerne unter seinesgleichen war und schon immer die Gemeinschaft geschätzt hatte, die pure Hölle.

»Man wird dich totschweigen, Amigo! Ganz langsam wird es geschehen!«

Diese Worte, die einer der Wachleute herablassend an ihn gerichtet hatte, verstärkten sich rasch zu einer ihn immer mehr beherrschenden Empfindung.

Stück für Stück verlor er sein Leben.

Er vermisste die Wärme der andalusischen Sonne, selbst die bisweilen unerträgliche Hitze, die Helligkeit des aus der Höhe kommenden Lichtes, die Geborgenheit seiner Heimat, die Nähe seiner Freunde, das Gefühl der Freiheit, auch wenn sie beschränkt und von der Willkür seines Gutsherren immerzu bedrängt war. Ja, er vermisste sogar seine harte Arbeit, die gerade das zum Überleben Nötige abwarf.

Hier fand er nichts vor, das ihm das Überleben sicherte, am wenigsten die Hoffnung.

Sie würden ihn, obwohl er nach seinem Empfinden gerecht gehandelt hatte, mit dem Tod dafür bestrafen, dass er Gabriel befreit und ihm zur Flucht verholfen hatte. Und doch würde er das Selbe wieder tun. Es war eine Frage der Ehre.

Er war erstaunt gewesen, wie schnell ihm die Männer von Sion de Albanez auf die Spur gekommen waren.

Als er den Jungen nach seiner Befreiung Essen und frisches Wasser in sein Versteck gebracht hatte, waren sie aufgetaucht. Er konnte Gabriel gerade noch aufsitzen lassen und das Pferd zum davongaloppieren antreiben.

Der verräterische Staub, den es in seinem Lauf mit dem verzweifelt um sein Gleichgewicht bemühten Jungen auf dem Rücken verursachte, hatte sich erst gerade wieder verzogen, da waren sie auch schon da. Eine Übermacht, gegen die er trotz seiner wenig ängstlichen Natur keine Chance hatte.

»Wo ist der Junge?«

Für Joaquin waren keine Fragen mehr offen, außer wie sie es herausgefunden hatten, an der richtigen Stelle zu suchen.

Er fühlte, wie sich der Strick um seinen Hals legte. Ihm würde kein Leugnen helfen. Dennoch versuchte er es, auch um Gabriel einen Vorsprung zu verschaffen, der ihm Sicherheit brachte.

»Von wem sprecht ihr?«

Noch nie hatte Joaquin mit diesen Männern, auch wenn er ihre Gesichter kannte, ein Wort gewechselt. Sie waren ihm immer fremd geblieben wie fast alle Menschen im Dunstkreis des Gutsherrn.

Einen Augenblick später schon war der Anführer vom Pferd gesprungen und hatte ihn am Hals gepackt.

»Das weißt du zu gut, verfluchter Bengel!«

Joaquin schwieg und versuchte, sich in die Situation einzufinden.

»Und dein Pferd ist auch fort!«

Der Anführer kam schnell zu dem einzig möglichen Schluss.

»Du hast den Jungen damit wegreiten lassen!«

Joaquin entgegnete nichts.

»Hängen wirst du dafür, Sohn des Luis, wenn nicht gar die Santa Casa dir die verdammte Seele aus dem Leibe brennt!«

Kurze Anweisungen, dann teilte sich die Gruppe auf.

Zwei der Männer wurden abgestellt, um Joaquin zu fesseln und wegzubringen.

Die anderen, darunter der Anführer, machten sich auf, das Kind zu verfolgen.

Was aus Gabriel anschließend geworden war, hatte Joaquin nicht erfahren.

Einem ersten Verhör durch seinen Herrn hatte er widerstanden. Mit Schlägen und Tritten übel zugerichtet, war er aber nah am Aufgeben gewesen.

Sion de Albanez wandte sich ungeduldig ab und sah sich die Gewalt nicht an.

Diese sturen Bauernsöhne, man hätte sie totschlagen können und dennoch nichts aus ihnen herausbekommen.

So hart und trocken wie der Boden dieser Landschaft.

Schließlich war, für Joaquin überraschend, nachdem er wieder zu denken und zu begreifen in der Lage war, von ihm abgelassen worden, gerade da ein Reiter Sion de Albanez eine Nachricht überbracht hatte.

»Schafft ihn mir aus den Augen. Wenn er schweigen will, dann soll er es richtig tun. Die Mauern, die sein Heim werden, werden es ihm abverlangen. Er wird ihnen viel zu klagen haben, aber sie antworten ihm nicht.«

Mit diesen Worten hatte der Gutsherr Joaquin seinem für ihn bestimmten Schicksal überlassen.

Nachdem er einige Tage bei vollkommener Dunkelheit und Geräuschlosigkeit in seinem Verließ verbracht hatte, war es draußen auf dem Gang laut geworden. Stimmengewirr, was er zunächst wie durch einen Schleier hörte. Metallene Geräusche. Irgendwer sonst vielleicht, der auch in diesem Trakt des Todes, wie es ihm schien, eingesperrt werden sollte, schien sich dagegen zu wehren.

»Bastardo!«

Joaquin fuhr ein Schrecken in die Glieder. Mit einem Mal war er hellwach.

Er kannte diese Stimme.

Papa!

Es war die Stimme seines Vaters!

Papa! Wie können Sie dir das nur antun?

»Ich bin hier, Papa! Hörst du?«

Luis hörte die Stimme seines Sohnes und wehrte sich noch mehr gegen seine Widersacher und gegen sein Verbringen in eines dieser dunklen, nassen Löcher hier.

»Lasst mich zu ihm! Joaquin, mein Junge …«

Das Stimmengewirr erhob sich zu einem fürchterlichen Radau.

Jetzt waren sie vor seiner Zelle angelangt.

»Papa!«

Joaquin trommelte mit Wucht gegen die Tür.

Wenn er nur die Kraft gehabt hätte, sie aufzubrechen. Er hätte seinem Vater beigestanden und ihn aus den Händen seiner Gegner befreit. So aber musste er sich dem deprimierenden Gefühl der Ohnmacht hingeben.

Die Stimmen entfernten sich etwas.

Endlich hörte er, wie eine Zelle aufgesperrt wurde. Kurze Zeit danach wurde die Tür wieder zugeschlagen und der Riegel mit dem gleichen Geräusch wie bei seiner Zellentür vorgeschoben.

Die Schritte der Wachleute kamen wieder näher.

Joaquin hätte schreien müssen. Aber er biss sich auf die Lippen und wartete ab.

Schließlich kehrte Stille ein. Aber es war eine ganz andere Stille als die, die ihn hier empfangen hatte.

Was war mit Vater?

»Papa?«

Joaquin hatte sich auf den feuchtkalten, modrig riechenden Boden geworfen.

Er rief durch den Schlitz zwischen Tür und Boden hindurch.

»Papa, bist du heil?«

Nach endlos langer Zeit erst eine schwache Erwiderung.

Luis hatte Mühe, Kraft für seine Stimme zu finden.

*

Die Unterbringung von Vater und Sohn in nahe beieinander liegenden Zellen geschah nicht ohne Grund. Rund um die Uhr waren tonlose, lautlos wie Schatten dahergekommene Spitzel postiert, die jedes Wort zwischen den beiden mitbekommen sollten.

Eine Zeit lang noch vermochten Luis und Joaquin ihren Mund über die Sache gut im Zaum zu behalten. Sie witterten diese lautlose Gefahr, die sich draußen auf dem Gang zwischen ihren Zellen niedergelassen hatte. Aber irgendwann wird selbst die größte Gefahr, die doch nur im Verborgenen bleibt und sich nicht zeigt, als solche nicht mehr wahrgenommen.

Die List der Gegner, sie ging auf.

Erst nur erfolgte eine zaghafte Andeutung darüber, was ihnen widerfahren war. Dann aber wurde der Austausch, noch dazu irgendeine Reaktion auf den Anfang ihrer Unterhaltung ausgeblieben war, immer klarer und verständlicher.

Die Spione in der Dunkelheit blieben still und schrieben weiter mit.

Letztlich hatten sie so viel notiert, dass es für zehn Anklagen gegen beide gelangt hätte.

Umso überraschter zeigte sich nach Tagen Enrique Lopez, der Kommandant des Gefängnisses, als er Weisung erhielt, Joaquin vorzuladen und ihm zu signalisieren, dass sein Vater unbestraft bleiben würde, wenn er nur ein Geständnis unterzeichnete.

»Das verstehe, wer will. Beide haben sie den Tod verdient!«

Joaquin setzte kein Vertrauen in die Worte von Lopez. Und was für ein Geständnis sollte er überhaupt unterschreiben?

Es war seinem Gegenüber anzumerken, dass ihm der Glaube an die eigenen Worte fehlte.

Vorsicht! Manch ein Wortbruch, von dem er gehört hatte, manchen, den er schon miterlebt hatte.

Die Oberen, die vorgaben, sich allem verpflichtet zu fühlen, die vorgaben, von Gott persönlich die Gnade ihrer Macht erhalten zu haben, sie fühlten sich weder ihm noch irgendeiner Gerechtigkeit verpflichtet und noch nicht einmal dem von ihnen Geäußerten.

Wer die Macht hatte, lieferte sie der Freiheit ihrer Launen aus. Was gestern noch festen Bestand haben sollte, galt am nächsten Tag mitunter nichts mehr, Bündnisse, Verträge oder noch mehr einfache Zusagen gegenüber Untergebenen inbegriffen.

Und für wen sie sich erst einmal interessierten und wen sie verfolgt und festgenommen hatten, den ließen sie doch nicht einfach wieder laufen.

Nur warum mussten sie einen alten Mann noch bedrängen, einen Menschen der immer seine Pflicht getan und alle Zeit für seinen Herrn gearbeitet und sich abgemüht hatte? Warum mussten sie ihn bestrafen für etwas, das keiner Strafe wert war.

Dass sein Vater sich für Gabriel eingesetzt und ihn zu schützen versucht hatte, war aller Ehre Genüge getan.

Konnte es sein, dass ihre Einsicht so weit gediehen war?

Joaquin rätselte.

»Was soll ich unterschreiben?«

Er versuchte die Stille zu beenden, die nur ihn unter Druck setzte. Enrique Lopez blickte angestrengt auf das vor ihm ausgebreitete Schreiben. Das Lesen des auch ihm unbekannten Textes fiel ihm offensichtlich schwer. Schließlich ließ er es sein.

»Hier, lies selbst, wenn du es kannst!«

Barscher Befehlston zur Wiederherstellung der Autorität.

Zögerlich nahm Joaquin das Papier an sich und überflog es. Sehr rasch verengten sich seine Augen. Schrecken in die Starre des Gesichts geschrieben, während der Kommandant ungerührt einen Flecken eingetrockneten Blutes auf seinem Hemd musterte.

»Gabriel ist tot?«

Joaquin wollte nicht glauben, was er da las.

»Wie ist das passiert?«

Der Kommandant erinnerte sich an die Worte, mit denen er das Papier erhalten hatte.

»Vom Pferd gefallen und das Genick gebrochen. – Und du hast ihn wegreiten lassen!«

Eine grausame Antwort, lapidar ihm entgegnet.

Joaquin schluckte und starrte den Kommandanten an, blickte ihm auf die Lippen, so als müsse eine Veränderung der Mimik oder ein Wort, ein Satz die enge Situation auflösen und allen Schrecken von ihm nehmen. Doch der Gesichtsausdruck von Lopez blieb gleich, seine Lippen bewegten sich nicht.

Vom Pferd gestürzt!

Er sah das letzte Bild von Gabriels Flucht vor seinen Augen. Seine Unsicherheit auf dem Rücken des Tieres.

Ja, es konnte so sein, wie es der Kommandant geäußert hatte. Und wenn es so war, dann traf ihn die Schuld allein.

Nicht mehr verlangte dieses Schriftstück, als dass er diese Schuld eingestand.

Egal, ob er es gut gemeint hatte und Gabriel retten wollte.

Langsam nahm er den auf dem Tisch bereit liegenden Federkiel an sich und tauchte ihn in das Tintenglas, das geöffnet für das Leisten seiner Unterschrift bereit stand. Ein letztes Nachdenken, dann räumte er ein, am Tod von Gabriel schuld zu sein.

Enrique Lopez nahm das Geständnis an sich, warf einen Blick auf den Namensschriftzug mit dem Kreuz an seinem Ende, sagte nichts und verließ den Raum. Zugleich trat die Wache wieder ein und brachte Joaquin zurück in seine Zelle, die ihm nun fast wie eine Zuflucht vorkam. Er wollte niemanden sehen, wollte seine Schuld mit sich selbst ausmachen.

Auch seinem Vater verschloss er sich und antwortete ihm den ganzen Tag nicht auf seine unablässigen Fragen, die er verwirrt durch das Dunkel stellte.

*

Und jetzt plötzlich, da er mit nichts mehr als mit seiner Bestrafung rechnete, nach drei Tagen an Qual, in denen er nur den Wunsch verspürt hatte, einem Priester seine Schuld zu beichten und um göttliche Vergebung zu bitten, ein Wunsch, der ihm mit höhnischen Worten abgeschlagen worden war, da stand die Tür zu seiner Zelle auf und lockte ihn, alles auf eine Karte zu setzen und zu versuchen, in der von Soldaten überlaufenen Festung auf unbekannten Gängen und in den vielen Abzweigungen den Weg in die Freiheit zu finden.

Er öffnete die Tür.

»Heiliger Rochus, steh mir bei!«

Immer noch schwankte er in seinem Vorhaben. Er konnte nicht ausschließen, sein Tun jederzeit abzubrechen und in die Zelle zurückzulaufen und auf seinem Lager zu warten, dass die Wache ihren Rausch ausgeschlafen hatte und das Missgeschick vertuschte.

Die ersten Schritte auf dem Gang waren wie der unberechtigte Zutritt zu einer neuen, nie gekannten Welt.

Luis sah sich von allem Bösen heimgesucht, als er die Stimme von Joaquin so nah an seinem Ohr hörte.

Tatsächlich trennte nur die Zellentür Vater und Sohn.

Eine einzige Tür, eine einzige verdammte Tür.

»Du musst gehen!«

»Ich kann es nicht, Vater! Ich kann dich nicht hier zurücklassen!«

Luis war zu alter Stärke erwacht. – Dieses Geschenk des Himmels musste genutzt werden. Er hatte beide für verloren angesehen. Jetzt zum Glück war das Tor zur Freiheit einen Spaltbreit geöffnet. Ganz öffnen musste es Joaquin aber selbst.

»Mich werden sie bald frei lassen. Der Kommandant selbst hat gesagt, dass ich frei komme, wenn du das tust, was sie wollten. Und du hast es getan. Also …!«

Luis ahnte, was das Wort des Kommandanten noch wert sein würde, wenn er erfuhr, dass der Sohn getürmt war statt die für ihn bestimmte Strafe zu erhalten.

Nein, dann würde er nie mehr die Freiheit wiedersehen.

Doch Luis wusste auch, dass Joaquin dem Tod geweiht war, wenn ihm die Flucht nicht gelang oder er sie erst gar nicht antreten wollte.

Dazu hätte es nicht einmal des Geständnisses bedurft.

Aber da es von ihm abgefordert war und er es abgegeben hatte, stand es sicher fest, dass sein Tod fest beschlossene Sache war.

»Verliere jetzt keine Zeit, mein Sohn!«

»Vater!«

Luis stand vom Boden auf.

»Ich segne dich, mein Sohn! Erweise dich meiner und unserer Ahnen würdig und geh! Wir werden uns wiedersehen! Es wird so sein!«

Und wenn es im Himmel sein wird!

Joaquin wusste, dass sein Vater keine weiteren Worte folgen ließ. Noch einmal prüfte er, ob die Zellentür zu öffnen war. Am Türriegel war ein Schloss angebracht, so dass er gesichert war.

Warum dieses zusätzliche Tun bei einem alten Mann, bei dem man keine Angst haben musste, dass er ausbrechen wollte und konnte?

Der Riegel, der seine Zelle absperrte, war nicht gesichert. – Merkwürdig!

Luis hörte, wie Joaquin sich zögerlich entfernte. Er war angespannt, aber auch erleichtert.

Doch den anderen Sohn, den hatte er verloren. Die Nachricht schmerzte und erfüllte sein Herz mit unendlicher Trauer. Die Nachricht von Gabriels Tod, von Joaquin überbracht.

In Joaquins Gegenwart hatte er sich noch zusammennehmen können, doch nun ergriff die Trauer vollends den Geist und seine Seele.

Ja, Gabriel war auch ihm ein Sohn gewesen. Das Glück, das sein Freund Pablo mit ihm erlebte, hatte auch sein Herz mit Freude erfüllt.

Armer, armer Pablo! Das zweite helle Licht, um welches das Schicksal ihn beraubt hatte.

Herr, wo nur bist du mit deiner Gnade? Wie kann deinem Diener nur solch ein Los zuteilwerden? Welche grausame Prüfung mutest du ihm zu?

Wer nur konnte Pablo die furchtbare Nachricht überbringen und wer nur konnte dem Freund und auch Margarita zur Seite stehen, da er hier lebendig begraben war und die Freiheit ihm verwehrt wurde?

Luis faltete die Hände und begann zu beten. Für Gabriel, für Pablo und Margarita und natürlich auch für Joaquin.

Luis betete ohne Unterlass. Das war alles, was er tun konnte. Es war wenig, aber der Herr in seinem Entschluss gab ihm keine andere Möglichkeit.

All das, was sein Leben ausmachte, war in fürchterliche Bedrängnis geraten.

Wahrheiten, unabänderliche, lasteten auf ihm, und die Mächte des Schicksals schickten sich an, weiteres Unheil zu senden und weitere Last auf ihn zu laden.

Wenn nur Joaquin die Flucht gelingen würde, dann würde er kein Wort der Klage gegen den Herrn erheben.

Das schwor er in seinem Gebet mit Gott. – Alles lag nun in seiner Hand.

Er musste hoffen, dass der Heiland sie jetzt nicht verließ.

Luis betete weiter, betete so viel wie nie in seinem Leben zuvor.

Der lehmigfaulige Geruch in dem Dunkel des Ganges wurde nur kurz durch den Gestank von Alkohol unterbrochen, als Joaquin den betrunkenen, auf dem Boden zusammengesunken da liegenden Wachsoldaten erreichte. Ohne Erfolg verlief die eilige Suche nach einem Schlüssel für das Schloss an der Zellentür seines Vaters.

Jetzt tastete Joaquin sich weiter vor. Bald erreichte ihn das Schnarchen des Soldaten nicht mehr.

Noch einmal dachte er sich zu seinem Vater zurück. So schlimm die Empfindung, ihn einem ungewissen Schicksal zu überlassen.

»Dafür werde ich dich büßen lassen!«

Die Worte waren an Sion de Albanez, seinen Herrn, gerichtet.

Da, ein Licht! Der schwache Schein einer Fackel, der sich an eine der nasskalten Wände geheftet hatte.

Äußerste Vorsicht nun! Jeden Augenblick konnte er auf weitere Wachen stoßen.

Wo Licht brannte, fanden Menschen ihren Weg.

Joaquin atmete gepresst, unfähig einen geordneten Plan zu fassen. Vielleicht musste er sich augenblicklich entscheiden, was zu tun war.

Jetzt war er dem Schein der Fackel sehr nahe gekommen. Sie war dazu bestimmt, einen Raum zu erhellen, von dem vier Gänge in verschiedene Richtungen abzweigten.

Joaquin erreichte den Raum mit sehr langsamen Schritten. Durfte er sich diese Langsamkeit überhaupt erlauben? Es konnte keine Stunden dauern, bis entdeckt sein würde, dass er sich nicht mehr in seiner Zelle befand.

Niemand da! Kurzes Durchatmen.

In welche Richtung sollte er jetzt weitergehen? Er steckte den Kopf in jeden Gang. Durch eines der Gewölbe kam von weither Lärm. Lärm wie von einer ausschweifenden Feier.

Joaquin konnte sich auf das Ganze keinen Reim machen.

Wochenlang diese lähmende Stille und nun dieser von Ausgelassenheit zeugende Lärm. Wenigstens erklärte sich jetzt der Zustand der Wache, die ihm das Essen gebracht hatte.

Es ist eine Falle! Es kann nur eine Falle sein!

Die Nachlässigkeit, welche die Wachmannschaft an den Tag legte, war einfach zu auffällig. Er verstand es noch immer nicht. Mehr als dass sie ihn gefangen hielten, konnten sie doch gar nicht erreichen.

Aber auch wenn sie ihn in eine Falle locken wollten, musste er es nutzen, dass er sich außerhalb seiner Zelle aufhalten und bewegen konnte.

Einen offenen Kampf kann ich nicht suchen.

Dies schien ihm das Schlechteste in dieser Situation zu sein. Er war waffenlos.

Seine Gegner hatten die Übermacht.

Also durfte er nicht auffallen, musste er untertauchen und es zu Wege bringen, dass man ihn nicht wahrnahm, schon gar nicht als den Gefangenen aus dem unteren Bereich des Gefängnisses.

Er brauchte eine Uniform. Ja, das war der Weg zur Rettung. Ja, er brauchte eine Uniform, so wie sie hier alle trugen.

Sofort dachte Joaquin an den betrunkenen Soldaten vor seiner Zelle. Schnell zurück zu ihm!

Kaum, dass er in dem Gang zurück war, nahm er Schritte wahr. Wem gehörten sie? Er hatte die ganze Zeit niemanden bemerkt.

Joaquin lief in die entgegengesetzte Richtung, immer weiter von dem Ort weg, wo man ihn gefangen gehalten hatte. Und auch immer weiter von der Zelle seines Vaters weg.

Es war alles durchdacht. Joaquin hatte nicht den Hauch einer Chance.

Sion de Albanez war ein Mann mit einer gefährlichen Intelligenz. Die Vorkommnisse der letzten Tage hatten ihn zu einem weiteren dunklen Plan verleitet.

Alles hatte damit angefangen, dass Pablo, dieser den Teufel beherbergende Fischer, aus dem Dorf verschwunden war.

Am Tag nach der Bestrafungsaktion waren Sion de Albanez Männer erschienen, um ihn zu einem Verhör abzuholen. Doch sie fanden ihn nicht, und sein Weib war starr vor Schreck gewesen, wie sie ihrem Herrn berichtet hatten, und hatte kein Wort über ihre Lippen gebracht.

»Wir kommen morgen wieder! Wenn dein Mann dann nicht da ist, brenne ich euer Haus nieder!«

Mit dieser Drohung hatte Juan es an diesem Tag bewenden lassen.

»Was glaubt dieses Weib, wie sie mit mir umgehen kann?«

Am nächsten Tag in aller Frühe, die Sonne stand noch bleich am Himmel, waren sie wieder vor Pablos Haus erschienen, Brandfackeln mit sich führend.

Sion de Albanez selbst führte seine Männer an. Er würde Pablos Weib schon zum Sprechen bringen.

Eine seltsame Stille empfing sie. Der Wind strich leise und kaum spürbar vom Meer herbei. Juan ritt um das Haus herum. Alle Türen und Fenster waren geschlossen. Er stieg vom Pferd und ging zum Eingang, der verschlossen war.

Mit einem gezielten Tritt, der die Tür aufspringen ließ, verschaffte er sich den Zugang zum Haus.

Sion de Albanez folgte ihm.

Im ersten Moment konnten die beiden Männer nicht viel erkennen.

Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Dann aber bemerkte Juan den auf dem Boden liegenden Körper.

Es war der leblose Leib von Margarita.

»Seht, Herr!«

Juan beugte sich über den Körper, im nächsten Augenblick schon bemerkte er, dass Margarita tot war.

»Sie ist hin, Herr!«

Madre de Dios!

Sion de Albanez ahnte, dass Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden.

Dieser Pablo und sein Weib … der eine verschwunden, die andere aus dem Leben. Das würde für Unruhe sorgen, für große Unruhe möglicherweise.

Die Leute würden damit beginnen, wenn sie es nicht schon längst taten, ihn zu hassen. Sie würden ihn mit ihren Blicken anklagen.

Sie hatten das Strafgericht mit verfolgt. Manche würden es für ungerecht gehalten haben. Dies mochte ihm noch egal sein.

Aber dass jetzt Pablos Frau tot war, dafür würden sie ihm die Schuld zurechnen.

Sion de Albanez fing an, sich im Haus umzuschauen. Er brauchte einen Einfall.

Sein Blick streifte ein scharfes Messer, auf den ein Lichtstrahl fiel, eines von der Art, wie die Fischer es bei ihrer Arbeit gebrauchten. Er trat näher heran und nahm das Messer mit der Klinge in die Hand, den Griff, auf dem wenig kunstvoll ein P, das für Pablo stehen mochte, eingeritzt war, unablässig auf die andere Handfläche schlagend.

Juan kannte seinen Herrn, wusste, dass er nachdachte und Schweigen die Pflicht war.

*

Am Mittag, als die Schreckensnachricht vom Tode Margaritas von Ohr zu Ohr eilte und die Sonne am höchsten Punkte stand und selbst die Schatten sich von ihr zurückzogen, formierte sich ein langer Zug.

Wenige Worte hatten ausgereicht, dass Fischer und Bauern und ihre Familien, die Frauen, selbst viele Kinder, die Siesta, die tägliche, die heilige, vergaßen und sich in der größten Hitze aufstellten, um wortlos ihren Protest gegen den Herrn zu erheben. Ein Vorgang unerhörter Art. Noch nie hatte es dergleichen gegeben.

Als der Zug noch weit von den herrschaftlichen Besitzungen entfernt war, wurde Sion de Albanez auf ihn aufmerksam gemacht.

Es passierte nichts an Außergewöhnlichkeit, dass nicht schon vor seiner Ankunft bekannt war.

»Herr, die Leute vom Dorf! Es sind so viele …!«

Sion de Albanez, in der Seele aufgeschreckt, ließ sich mit knappen Worten berichten, was im Gange war. Dann sandte er Juan, den Mann, auf den er sich in jeder Situation verlassen konnte, mit seinen Männern los. Doch was so oft gefruchtet hatte, war dieses eine Mal vergebliche Bemühung.

»Wo wollt ihr hin, ihr verdorbenes Pack? Geht an eure Arbeit!«

Im harten Ton, den er so oft gebrauchte, ging Juan die Anführer des Zuges an.

»Wo wollt ihr hin?«

Noch einmal stellte er mit bedrohlicher Ausstrahlung dieselbe Frage. Sein Pferd, einen mächtigen schwarzen Hengst, hatte er quer auf dem Weg zum Stehen gebracht.

»Lasst uns unseres Weges ziehen!«

Worte, die Entschlossenheit zum Ausdruck brachten.

Selbst als Juan sein Gewehr in Position brachte, blieb er unbeachtet. Die Menschen liefen an ihm vorbei, die Augen nur auf den Weg, der vor ihnen lag, gerichtet.

Ich kann nichts tun. Ich habe keinen Einfluss auf sie.

Eine schmerzliche Erkenntnis.

Ein Einsatz der Waffe unmöglich. Resignierende Gedanken.

Eine geraume Zeit danach hatte die aus dem Dorf herausgelaufene Menge sich vor dem imposanten Herrenhaus aufgestellt. Manche sahen es zum ersten Mal.

Juan verschwand über einen Nebeneingang in ihm und meldete sich nervös bei seinem Herrn zurück.

Von der Übermacht der Leute, Sion de Albanez wollte nichts davon hören.

»Warum habt ihr ihnen keinen Einhalt geboten? Wofür bezahle ich euch? Und warum statte ich euch mit den besten Waffen aus?«

Er ließ seiner Verärgerung freien Lauf.

»Herr, wie sollten wir …? Es sind so viele!«

»Schweig! Es ist nur ein Haufen zerlumpter Bauern, begleitet von ihrer unbedeutenden Brut und deren Müttern, die nur ins Haus und aufs Feld gehören!

Sie alle haben nichts zu sagen und zu fragen!«

Augenblicke angespannter Stille. Sion de Albanez strich sich wieder und wieder über den dünnen schwarzen Oberlippenbart. Dünner Ausfluss inne sitzender Unruhe.

Er ging zum Fenster des Salons, mehr war es ein Herantasten, schob den Vorhang ein wenig nur zur Seite, um sich ein Bild zu machen. Der Blick auf die Menschen, die schweigend da standen und nichts weiter unternahmen, als ihre Augen auf das Haus zu richten.

Unheimlich, dies seine Empfindung.

Sie schwiegen, ja, aber in ihrem Schweigen noch sagten sie genug. Zu viel sogar!

Es war eine Belagerung, eine Belagerung durch den Pöbel.

In ihren Blicken entdeckte er Feindseligkeit und Angriffslust. Und Fragen dazu. – Fragen, auf die er allein ihnen eine Antwort geben sollte.

Wo war Pablo? Was war mit seiner Frau geschehen, dass sie nicht mehr am leben war?

»Sag ihnen augenblicklich, dass sie gehen sollen! Ich dulde das nicht länger!

Wenn mein Vater dies sehen würde. Unfassbar!«

»Ich fürchte, Herr, dass sie nicht weichen werden!«

»Befiehl es ihnen, Juan! Drohe ihnen den Einsatz eurer Waffen an. Sag ihnen, dass ich die ersten verhaften lasse, wenn sie nicht sofort gehen! Alle müssen sie gehen … jetzt und augenblicklich!«

Einschüchterung als Fundament der Macht.

Die Leute aber blieben. Nicht einmal in die Luft abgegebene Warnschüsse konnten sie vertreiben. Schweigend zeigten sie die Schwäche ihres Herrn auf.

Innerlich stand Sion de Albanez vor dem Zusammenbruch. Mit Mühe nur konnte er die Fassade des mächtigen Mannes aufrecht halten.

Nachdem, was vorgefallen war, durfte kein Blutvergießen stattfinden. Diese Einsicht wenigstens hatte er, zugleich das schmerzliche Empfinden, dass ihm die Autorität abhanden gekommen war.

Hatte je einer seines Geschlechtes eine solche Demütigung erfahren? Von den eigenen Untertanen belagert und vorgeführt. Schimpf und Schande über ihn!

Wie sollte er jenen, die heute hier waren, zukünftig begegnen? Wie sollte er ihnen je wieder gebieten? Wie sollte er je wieder seine Ansprüche gegen sie rechtfertigen?

Und wie sollte er mit ihren stummen Anklagen, die sie fortsetzen würden, umgehen? Für alle Zeit würden sie ihn beschuldigen, das Leben von Pablo und den Seinen zerstört zu haben.

Sein Vater hatte schon den Tod des Sohnes zu verantworten.

Sion de Albanez war sich sehr wohl um diese seit langem unausgesprochen im Raum stehende Anklage bewusst. Und diese Anklage kam jetzt gänzlich zum Tragen. Jetzt, da dieser kleine schattenlose Teufel und Pablo verschwunden waren und seine Frau nicht mehr lebte, lastete sie zusätzlich auf ihm.

Häufig war in diesen Tagen der Name Frederico wieder gefallen. Die Erinnerung an ihn war aufgelebt.

Wie nur konnte er sich von allen Anschuldigungen befreien, wie nur?

Sion de Albanez fand in seiner Anspannung zu keinem klaren Gedanken. Er dachte nur an die Leute da draußen. Die Empfindungen, die ihn heimsuchten, die ihn gar überfluteten, waren unerträglich.

Endlich in der größten inneren Verzweiflung bahnte sich der Ansatz eines finsteren Plans den Weg vom kalten Herz in seinen Geist.

*

Wenige Tage später konnte Joaquin aus der Ferne sein Dorf sehen. Dahinter das Meer mit seiner bekannten lauten Brandung, die noch hier oben zu hören war und ihn zu begrüßen schien.

Seine Seele, in der Einsamkeit und Finsternis des Verlieses vollkommen entleert und stumpf geworden, begann sich wieder zu füllen. Doch es fehlte die Freiheit. Er sah auf seine gefesselten Hände.

Die Überlegung, noch einmal die Flucht zu wagen, war nicht beiseite zu schieben. Doch würde er keine Chance auf ein Entkommen haben.

Mit der Schwäche seines Körpers und der Unfähigkeit, seine Arme einzusetzen, würde es ihm nicht gelingen, sich von seinen Begleitern, darunter der verhasste Juan, entscheidend abzusetzen. Warum nur hat man mich hierher gebracht?

Die Aussage, seine unmittelbare Schuld am Tode von Gabriel prüfen zu wollen und in der Örtlichkeit das Geschehene noch einmal nachzustellen, konnte mit der Wahrheit nicht viel zu tun haben. Die verstohlenen Blicke der Männer, die mit ihm ritten, sie sagten ihm etwas anderes als ihre Münder.

Er musste es noch einmal wagen! Was konnte er sich schon damit vergeben?

Seine Flucht aus dem Gefängnis war auch gescheitert und doch lebte er noch.

Für den Ausbruchversuch war ihm entgegen seiner Erwartung auch keine Gewalt zuteil geworden, ausgenommen, dass er mit rabiater Gewalt in eine andere Zelle zurückgebracht worden war.

»Da, sieh dir dein Dorf an, und dann fangen wir an, über alles zu reden!«

Joaquin vermochte sich von den Umständen nicht frei zu machen.

Der Blick hinunter auf sein Dorf und auf das im noch tiefen Licht silbrig glänzende Meer waren grandios. Doch er konnte ihn nicht so verinnerlichen wie tausendmal zuvor, wo er hier oben gestanden hatte.

Er musste weiter an die mögliche und doch auch unmögliche Flucht denken.

Was wollen sie jetzt mit mir anfangen? Mit mir reden? Wozu soll das führen?

Egal! Er würde sich anhören, was sie zu sagen hatten. Vielleicht war es auch gut, auf Zeit spielen zu können. Zudem war hier, wo er jetzt stand, nicht an Flucht zu denken.

Joaquin schaute sich um.

Nein, das Gelände war zu flach. Eben noch waren sie an einer für ihn günstigeren Stelle vorbeigekommen. Auf dem Rückweg würde er dort die Flucht versuchen.

Hier jetzt nicht! Nein, nicht hier!

Das Gelände musste steiler sein, musste so steil sein, dass ihm niemand zu Fuß folgen konnte.

Die Stelle, die er zuvor bemerkt hatte, war gut geeignet. Nur mit Rutschen würde man ihm vielleicht nachkommen können.

Die große Abschüssigkeit konnte ihm aber auch zum Verhängnis werden. Er hatte die Hände nicht frei, das Risiko, unkontrolliert abzurutschen und sich zu verletzen oder das Leben zu verlieren, war groß.

Doch er hatte keine andere Wahl.

In dem plötzlichen Wissen, etwas gegen seine Gegner ausrichten zu können, wurde er ruhiger. Er hielt den Blick weit nach draußen aufs Meer gerichtet, spürte den frischen Morgenwind, der die Klippen hinauf kam, auf seiner bleich gewordenen, unrasierten Gesichtshaut und hörte die lauten Schreie der Möwen von weit her. Die Welt war einzigartig schön und alle Entbehrung nicht im Stande, ihren Glanz zu unterbinden. Selbst diese Situation, in der er sich befand, konnte den Zauber nicht zerstören.

Wenn er diese Geschichte hier, gleich wie, überstehen würde, dann würde er an diesem Platze eine Kapelle, eine schöne weißgetünchte Kapelle zu Ehren der heiligen Jungfrau Mutter Gottes errichten. Eine große Statue von ihr würde dem Dorf den Schutz, den es brauchte, von hier oben zukommen lassen. Dieser Platz hier sollte ein Ort der Heiligkeit werden. Ein Ort, hoch über seiner Heimat, der die himmlische Heimat offenbarte.

Ein warmer Strom durchfloss Joaquin. Er spürte, wie ein helles Licht, stärker als das der Sonne seiner spanischen Heimat, seine Seele zum hellsten Strahlen brachte. Der warme Strom verstärkte sich zu einem Glühen.

Der Himmel war nah, doch noch einmal, das letzte Mal, trat das Irdische an ihn heran.

Das Glühen wurde ein heißer Schmerz. Es war der Schmerz eines starken Stiches, ausgeführt von Juan, der plötzlich hinter ihm stand.

Joaquin verstand nicht. Und es blieb ihm auch keine Zeit mehr, irgendetwas zu verstehen.

Die Sonne in seinem Innern stürzte ab.

Ein weiterer Stich, den Juan ihm versetzte, bekam er gerade noch zu spüren, aber er fühlte schon keinen Schmerz mehr. Eine tiefe Schwärze überzog seinen Horizont und trennte ihn vom Licht und vom Leben.

Er war tot, erstochen mit dem Messer von Pablo, das in seinem Leichnam stecken blieb, gestorben durch einen feigen, hinterhältigen Angriff und dafür, dass sein Herr, der edle Sion de Albanez, seine Autorität wieder herzustellen in der Lage sein würde.

Alles würde jetzt einen Sinn bekommen. Das Verschwinden von Pablo, nachdem er offenkundig Joaquin getötet hatte. Aus Rache, weil dieser Gabriels Tod zu verantworten hatte. Einer der mitgekommenen Wachleute, die völlig ungerührt den Mord an Joaquin verfolgt hatten, hatte dem Toten das von ihm unterschriebene Geständnis in die Kleidung geschoben. Es sollte weiteren Beweis liefern.

Jetzt erklärte sich auch, warum Margarita nicht mehr lebte. Die Scham und die Überforderung durch alles Geschehene hatte sie in den Tod getrieben.

Nach verrichteter Arbeit trennten sich die Wege von Juan und den Wachsoldaten.

Während diese nach Cadiz zurückritten, um Enrique Lopez, dem Kommandanten, den Vollzug der feigen Tat zu melden, tat Juan das Gleiche bei seinem Herrn.

Zurück blieb der tote Joaquin, der für sein ehrenhaftes Tun mit dem Leben büßen musste.

Es sollte so aussehen, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war. Von Beginn an war alles konstruiert gewesen, die offen stehende Zellentür, der betrunkene Wachsoldat.

Und der Vater sollte nichts anderes vorbringen können, als dass der Sohn geflüchtet war. Das Schloss an seiner Zellentür diente dazu, dass er nicht mit ausbrechen konnte und als Zeuge verfügbar blieb.

Dass man Joaquin nicht mehr in seine Zelle hatte zurückkehren lassen und ihn in einen entfernt liegenden Gang gedrängt hatte, diente dem Zweck, dass Luis nicht erfuhr, dass alles nur ein abgekartetes Spiel gewesen war.

Notfalls mit Gewalt würde man ihm die Zunge lösen und ihn zu der Aussage bringen, dass der Sohn sich zur Flucht entschlossen hatte.

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SIN SOMBRA - Hölle ohne Schatten

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