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II

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Schenderlein öffnete im Morgenrock. Vor kurzem war der Platzwart des Anglervereins in Rente gegangen und genoss es, im Bett zu bleiben, bis in ein triftiger Grund daraus vertrieb, zumeist der morgendliche Hunger. Guten Morgen Leonard, sagte er und zeigte mit der Hand hinein in die gute Stube, wie er sein Atelier nannte. Als pensionierter Ingenieur konnte er sich nun ganz seinem Hobby widmen, der Malerei. Kaffee oder Tee, fragte er und hielt dem Besucher einen Kleiderbügel für den Anorak hin. Eigentlich weder noch, sagte Leonard, aber wenn es sein muss, dann Tee. Er zog die Schuhe aus, griff nach den ihm hingestreckten Pantoffeln und folgte dem Alten ins Atelier.

Während Schenderlein in der Küche Wasser für den Tee aufsetzte und mit Geschirr klapperte, warf Leonard einen Blick auf die Staffelei. Eine begonnene Winterlandschaft war da zu sehen, eine flache Welle verschneites Heideland. Im Vordergrund stemmte sich ein gedrungener Baum kahl gegen einen grauen Himmel, aus dem jeden Moment Schnee fallen musste. Neben der Staffelei lag auf dem Sitz eines Stuhles ein gerahmtes Foto. Der auf der Leinwand noch kahle Baum war mit dunklem Weiß überpudert. Wirr standen ihm die Äste vom Stamm ab, der sich kurz über dem Erdboden mehrfach teilte und so einem hoch aufragenden, dickarmigen Busch ähnelte. Neben ihm und in die Tiefe der Landschaft hinein zeigte das Foto zwei weitere derartige Büsche, geduckte Wesen in schmutzigem Schnee. Dazwischen ein dürrer Stamm mit schwindsüchtigen Ästen. Die wirken wie Ausgestoßene, dachte Leonard, vier Wanderer in einer verschneiten Wüste. Vielleicht eine Allegorie auf den Mensch der Moderne. Vielleicht auch ein Gleichnis auf Schenderleins Weg durchs Leben. Er wusste so einiges von diesem Leben, das drei Jahre nach dem Ende des Krieges in Eisenach begann. Als Schenderlein zum ersten Mal davon erzählte, lag die Stadt noch jenseits von Mauer und Stacheldrahtzaun. In Eisenach, das wusste man auch im Westen, wurde Bach geboren und auf der Wartburg hat Luther die Bibel ins Deutsche übersetzt. Manchmal gab Schenderlein Lehrstunden in Heimatkunde, draußen auf dem See, im Kahn und mit der Angel in der Hand. Thüringen im Wandel der Zeiten. Einwanderung der Slawen, Aufstand gegen die Franken, Feldzug gegen die Awaren, Christianisierung unter dem Benediktiner Bonifatius, Gründung eines Klosters in Ohrdruf. Der geächtete Martin Luther als Junker Jörg auf der Wartburg. Luthers Schmähschrift gegen die aufständischen Bauern und seinen Widersacher Thomas Müntzer. Müntzers Hinrichtung nach der Niederlage der Bauern bei Frankenhausen. Wenn Schenderlein so richtig in Fahrt kam, legte er die Angel beiseite und rief mit einem Fingerschnippen Zeitzeugen der Lokalgeschichte herbei. Wallenstein zieht als Heerführer des Kaisers mordend und plündernd durch die thüringischen Lande. Schwedens König Gustav Adolf rückt mit seiner Armee in Erfurt ein. Kurz darauf fällt er in der Schlacht von Lützen. Die Schweden gehen, die Schweden kommen zurück. Sie bleiben auch nach dem Ende dieses Dreißigjährigen Krieges im Land. Napoleon betritt die Bühne thüringischer Geschichte und brüstet sich mit seinem Sieg über die Preußen bei Jena und Auerstedt. Jena an der Saale. An seiner Universität wirkten Schiller und Hegel. Weimar an der Ilm. Herder und Goethe in Weimar. Liszt und Nietzsche in Weimar. Eisenach an der Hörsel. Schenderlein winkte ab, als Bach und Luther sich in den Vordergrund schieben wollten. Er rief einen Burschenschaftler herbei, der die Fahne Schwarzrotgelb zum Zeichen seiner patriotischen Gesinnung schwenkte. Bebel kam aus dem Gasthof Goldener Löwe herbei gerannt. Mit lauter Stimme verlas er das Protokoll der Verhandlungen zur Gründung einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei im deutschen Reich. Der Sozialdemokrat Baudert erschien und berichtete von der Gründung des ersten thüringischen Arbeiterrats in Eisenach infolge der Novemberrevolution. Die Schrecken des Weltkrieges staken ihm noch in den Knochen. Als Schenderlein ihn entließ, machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Weimar, wo die Nationalversammlung tagte und über die Verfassung einer nun endlich zu gründenden deutschen Republik beriet. Leonard wurde in solchen okkulten Momenten manchmal ganz schwindelig und dann war er froh, wenn Schenderlein wieder zur Angel griff. Irgendwann war der Platzwart auf sich selbst zu sprechen gekommen und auf das Eisenach seiner Kindheit. Geboren am Kupferhammer zwischen der Eisenbahnlinie und dem Flüsschen Hörsel einerseits und der Mühlhäuser Straße und dem Eisenacher Motorenwerk andererseits, wuchs er im Spannungsfeld zwischen einem evangelischen Vater und einer katholischen Mutter auf. Als Fünfjähriger hörte er von einem Streik im Motorenwerk. Es war der siebzehnte Juni dreiundfünfzig. Zehn Jahre später starb der Vater bei dem Versuch, den Grenzzaun nach Hessen zu übersteigen. Schenderlein faszinierten die alten Sprachen und hatte den Wunsch, Philologie zu studieren. Da war es sein Glück, dass es in Eisenach eine Schule gab, an der nicht nur Latein, sondern auch Griechisch unterrichtet wurde. Kaum das Abitur abgelegt, griff die Nationale Volksarmee nach dem Wehrpflichtigen. Im Herbst nach der Entlassung wollte Schenderlein sein Studium beginnen. Doch im Sommer dieses Jahres waren Panzer des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei eingerückt, um dort eine Konterrevolution zu verhindern. Es hatte Tote gegeben. Schenderlein glaubte an die sozialistische Idee. Er glaubte jedoch nicht an einen sozialistischen Internationalismus, mit dem die Intervention begründet wurde. Aus Sympathie mit dem überfallen Land heftete er dessen Flagge an einen Besenstiel und stellte ihn am Burschenschaftsdenkmal auf. In Eisenach war daraufhin der Teufel los. Schenderlein kam mit einem blauen Auge davon, doch mit dem Studium war es vorerst vorbei. Er musste sich in der Produktion bewähren, im Lausitzer Braunkohlerevier. Ein Knochenjob im Tagebau. Er durfte dann doch noch studieren, allerdings nicht Philologie. Also Studium des Maschinenbaus und schließlich ein Diplom als Ingenieur in der Tasche. Als solcher zurück in den Tagebau, später ins Gaskombinat Schwarze Pumpe. Auf Ulbricht folgte Honecker. Schenderlein meinte, es ginge nun aufwärts mit diesem sozialistischen Staat. Das Westfernsehen war nicht mehr verboten und in Kunst und Literatur sollte es keine Tabus mehr geben. Doch dann bürgerten die hohen Genossen einen Barden aus, der ihnen allzu frech erschien. Biermann durfte nach einem Konzert in Westdeutschland nicht in die Heimat zurückkehren. Daraufhin bekundeten einige der bedeutendsten Künstler und Schriftsteller des Landes ihre Solidarität mit dem Verfemten. Andere stellten Ausreiseanträge in dem Westen. Später auch der Ingenieur Schenderlein. Da war klar geworden, dass die Leute im Politbüro mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika nichts zu tun haben wollten. Als Schenderlein im Westen eintraf, fühlte er sich wie ein Ausgestoßener.

Der Platzwart hatte sich inzwischen angekleidet und trug auf einem Tablett Tee und Kekse herein. Wie lange die Ferien dauern, wollte er wissen. Bis kurz nach Ostern, antwortete Leonard.

Was er lieber unterrichte, fragte Schenderlein, Mathematik oder Chemie? Er ließ den Tee langsam in die zierlichen Tassen laufen.

Leonard zuckte mit den Schultern.

Kommt auf die Schüler an, sagte er. Mal das eine, mal das andere. Aber eigentlich Chemie. Wenn sie experimentieren, ist man näher an ihnen dran.

Schenderlein nickte. Was macht die Tochter?

Liegt faul im Bett herum. Hat auch Ferien. Ansonsten mal Berufsschule und mal im Labor. Hat noch anderthalb Jahre bis zur Gesellenprüfung.

Er nippte an dem heißen Tee und griff nach einem Keks.

Auf was er angeln will, fragte Schenderlein.

Auf Karpfen für Karfreitag. Doreen will Fisch essen. Soll angeblich ein christlicher Brauch sein.

Der Alte nickte.

Fisch heißt auf griechisch Ichthys, sagte er. Ist eine Art Kryptonym. Iesos Christos Theou Yios Soter. Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter. Am Tag der Kreuzigung des Herrn isst man kein Fleisch, sondern Fisch. Ob Doreen sehr fromm sei?

Nee, aber Fisch am Karfreitag war schon Brauch in ihrem Elternhaus wie die Gans zu Weihnachten. Leonard blickte auf die Uhr. Er müsse jetzt eigentlich zur Laube, das Angelzeug einpacken.

Schenderlein schüttelte den Kopf.

Bist selten genug hier, da bleibste mal ne Weile.

Leonard ging zur Staffelei. Ob der Baum etwas mit ihm selbst zu tun habe?

Der Alte blickte erstaunt auf. Wieso?

Nur so, sagte Leonard. Sieht aus wie der Exodus eines Widerborstigen. Ein Emigrant wider Willen. Er zeigte auf das gerahmte Foto. Trotzig widerstehen die Bäume dem Winter.

Der Platzwart schmunzelte. Er nahm das Foto aus dem Rahmen und dreht es um. Lies das mal, sagte er.

Dezember achtundsiebzig, Laßzinswiesen.

Na und? Leonard hob fragend die Schultern.

Schenderlein legte das Foto zurück in den Rahmen.

Du kannst nicht wissen, was das heißt. Dezember achtundsiebzig in den Laßzinswiesen heißt Schnee auf magerem Gras, der Anfang des Monats gefallen war. Nicht viel Schnee, aber die Wiesen waren weiß davon. Drüber ein Himmel grau und schwer wie Blei. Tagelang keine Sonne. Zu dieser Zeit entstand das Foto.

Der Alte zündete sich eine Zigarette an.

Am Heiligen Abend kam Tauwetter, sagte er. Eine Woche später fiel erneut Schnee. Am Sylvestermorgen war alles wieder weiß. Es schneite den ganzen Tag über und bis in die Nacht hinein. Die Flocken fielen nicht einfach vom Himmel, ein scharfer Wind riss sie zu Boden. Leonard, das heißt ein Meter Schnee auf den Laßzinswiesen und verwehte Straßen in der Lausitz und anderswo. Nicht einfach verweht, sondern zugeweht. Es gab keine Straße mehr. Im Norden war es noch schlimmer. Auf Rügen schickte die Armee Panzer in eingeschlossene Ortschaften, um die Menschen herauszuholen. Doch der Schnee war nur das eine. In dieser Sylvesternacht sackte die Temperatur auf minus zwanzig Grad ab.

Schenderlein goss Tee nach. Er griff nach der Hand seines Gastes, als müsse er ihn beruhigen. Leonard, sagte er, im Tagebau Jänschwalde war der Teufel los. Die Oberleitungen der Kohlebahnen vereisten und die Bahnen standen still. Weißt du, was das bedeutet? Nein, das kannst du nicht wissen. Ich sage es dir. Wenn diese Bahnen nicht fahren, bekommen die Kraftwerke keine Kohle und das bedeutet, sie können keinen Strom produzieren. Damals ging allen Kraftwerken in der Lausitz die Puste aus und auch denen im Leipziger Revier. Die Republik bekam keinen Strom mehr, es herrschte die Katastrophe. Ich war damals noch ein junger Ingenieur, grade mal dreißig. Da nimmt man so eine Katastrophe noch auf die leichte Schulter. In Jänschwalde wurde gerade die neue Förderbrücke eingefahren und ich sollte einen der beiden vorgelagerten Bagger testen. Die Kälte machte dem Abraum weniger zu schaffen als der Kohle, die noch auf der Brücke gefror. Soldaten und Polizisten wurden geschickt, um die Kohlebatzen mit Spitzhacken abzuhauen. Braunkohle ist an sich weich, aber weil sie auch feucht ist, gefriert sie leicht. Hart wie Stein hing sie an den Abstreifern fest und klumpte in den Waggons. Jeder Waggon ein einziger Klumpen Kohle. Die Stasi, Leonard, war nicht zu sehen im Tagebau. Jedenfalls nicht mit der Hacke in der Hand. Hilfe kam nach ein paar Tagen vom Klassenfeind, aus Westdeutschland trafen Bohrhämmer ein.

Mit einer kurzen Handbewegung wischte Schenderlein diesen Winter vom Tisch. Er drückte die Zigarette in den Aschenbecher und ging zu einer Kommode, die Leonard einst hergerichtet hatte. Kein wertvolles Stück, aber eine solide Arbeit aus heller Esche mit Einlagen von Wurzelholz im Furnier. Doch das wurde erst sichtbar, nachdem der Farbanstrich entfernt war. Auf der Platte mussten ein paar Dellen ausgeschliffen und zwei der Füße erneuert werden. Schenderlein war außer sich vor Freude, als er sein Schmuckstück aus der Laube abholte. Jetzt aber griff er aus dem untersten Schubfach ein Blatt Papier heraus und legte es auf den Tisch.

Tusche, sagte er, die Förderbrücke von Jänschwalde.

Leonard sah einen gewaltigen umgestürzten Gittermast, der ein Tal überspannte.

Kein Tal, erklärte Schenderlein, das ist die Grube. Aus der Grube wird der Abraum gefördert und abtransportiert, bis das Kohleflöz blank liegt. Etagenweise fressen sich die Bagger ins Deckgebirge und tragen es ab. Ist der Abraum beseitigt, rücken die Schaufelradbagger an. Sehen aus wie Saurier. Irgendwann ist der Tagebau ausgekohlt. Was bleibt, ist eine Landschaft wie auf dem Mond.

Leonard nickte. Ob er einen Blick in das Schubfach werfen dürfe? Na klar, sagte Schenderlein, im Fach darüber sind Aquarelle.

Ein dicker Fisch mit dem Maul eines Hechts und dem Schwanz eines Wals lag obenauf. Leonard musste lachen. Das Maul war zugenäht und im Bauch des Monsters stand ein Männlein mit weit nach oben gereckten Armen. Er nahm das Bild in die Hand. Der Jonas des Alten Testaments?

Nee, sagte Schenderlein, der Paulus des Neuen Testaments.

Ach, der Christenhasser, der sich zum Missionar wandelte?

Ja, genau der. Er wollte alle Welt mit dem Evangelium beglücken.

Schenderleins Augen begannen zu funkeln. Als Paulus auf einer seiner Missionsreisen von Griechenland zurück nach Syrien segelte, sagte er schmunzelnd, ließ ich im Saronischen Golf einen Sturm aufkommen wie einst Jahwe, der Jonas strafte. Zwei Tage und zwei Nächte lang tobte Sturm, dass die Seeleute fürchteten, ihr Schiff würde auseinanderbrechen. Es waren Griechen, die Zeus als den obersten ihrer Götter verehrten. Sie opferten Poseidon und beteten Demeter an und Aphrodite. Da kam dieser Eiferer aus Damaskus und wollte ihnen einen Gott aufschwatzen, der keinen anderen neben sich duldet! Zorn erfasste die Griechen angesichts der brüllenden See. Sie wähnten, Zeus selbst habe den Sturm geschickt und dass er wüten würde, solange dieser Kerl an Bord sei. Wie einst den Jonas warfen die Seeleute Paulus ins Meer und wie Jonas wurde er von einem großen Fisch verschlugen, von einem Ungeheuer halb Hecht, halb Wal.

Leonard zeigte auf das zugenähte Maul des Monsters. Schenderlein grinste.

Anders als den Jonas, sagte er, kann der Fisch den Paulus nicht wieder ausspucken. In seinem Bauch muss er eifern, dort hört ihn niemand bei seiner Litanei. Die Griechen bleiben bei ihren Göttern und es herrscht Frieden im Land. Es ist diese verfluchte Rechthaberei, die das Unglück über die Leute bringt, der fanatische Eifer der Missionare. Ob es um den Gott der Bibel geht, um Allah oder Krishna, um die Weltrevolution oder die Menschenrechte, stets schließt eins das andere aus. Die Leute werden verrückt an ihrem Glauben und ziehen in den Krieg für ihn. Für ihren Herrn Jesus Christus greifen sie zum Schwert, für Allah, für den Sieg des Proletariat und den der Menschenrechte. Leonard, warum ist Paulus nach Korinth gezogen, nach Athen und Rom? Weil er an einem Wahn litt. Er wähnte den Gekreuzigten gegenwärtig, auferstanden von den Toten. Er wähnte sich als sein Werkzeug. Die Worte Jesu, die uns die Bibel übermittelt, bezog er auf sich. Er ging in alle Welt, um das Evangelium zu verkünden. Wer zum Glauben kommt und sich taufen lässt, wird gerettet. Wer nicht glaubt, den wird Gott verwerfen.

Der Alte zeigte auf seinen ketzerischen Fisch. Ichthys, sagte er. Iesos Christos Theou Yios Soter. Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter. Aber wer soll denn da gerettet werden und vor wem oder was? Die Indianer im brasilianischen Urwald vor ihren animistischen Geistern? Die Schwarzen am Senegalfluss vor ihren Schamanen? Warum gehen koreanische Missionare scharenweise nach China, um dort das Christentum zu verbreiten? Weil sie sich als Rechtgläubige wähnen. Aber das tun die Moslems auch und die Juden. Sie alle fühlen sich im Recht, wenn sie im Namen ihres Glaubens dem anderen den Schädel einschlagen. Leonard, das war das Gute damals im Osten, dass die Kommunisten die Kirche klein gehalten haben.

Leonard wollte das Gespräch in eine andere Richtung bringen. Er legte den Paulus zurück in die Schublande und griff nach dem Porträt eines Vogels. Er hielt das Aquarell mit gestrecktem Arm von sich, um aus der Distanz heraus zu erfassen, was da zu sehen war.

Ein Reiher steht auf einer gemähten Wiese. Weit ist sein Kopf nach vorn gereckt. Der rötliche Schnabel zeigt abwärts, die langen Schopffedern scheinen vor Aufregung zu zittern. Fast schwanenweiß spannt sich der lange Hals. Im Gefieder sind kleinste Details zu erkennen, die Flügel dunkelgrau mit einem Schuss ins Blaue. Ein Bein vorgestellt, steht er wie auf dem Sprung. Über den Grasstoppeln der Ansatz der kräftigen Füße scheint wie mit dem Boden verwachsen.

Freddi, sagte Leonard bewundernd, da ist dir ein Meisterwerk gelungen. Der Alte lachte. Der Reiher stand auf einer der Wiesen draußen am See. Er lauerte auf Beute. Einen Moment später stieß er zu und hielt eine Maus im Schnabel. Er ließ die Maus eine Weile zappeln, bis er plötzlich ruckartig den Schnabel hob und sie verschluckte.

Was Leonard nun in die Hand nahm, ließ ihn erschaudern. Er blickte in das faltige und verkniffene Gesicht eines kahlköpfigen Greises. Der Hasser, sagte Schenderlein erklärend. Die Augen, dachte Leonard, passen nicht zu dem Greisengesicht. Kulleraugen wie bei einem fragenden Kind. Was fragen sie? Ein schmaler Mund, leicht geöffnete Lippen. Ihn traf ein kalter Hauch. Nein, diese Augen fragen nicht, diese Augen strafen. Er riss sich los aus ihrem Griff, mied den eisigen Mund, fuhr über das kantige Kinn und den viel zu langen Hals abwärts, bis er an einer kleinen Tätowierung unterhalb der Schlüsselbeine hängenblieb, die das weit geöffnete Hemd freigab. Vier Zeichen wie ein Strichcode, wie eine geheime Botschaft.

Runen, erklärte Schenderlein. Hass ist in diese Brust gebrannt. Hass regiert diesen Menschen. Wenn du ihm das Hemd aufknöpfst, siehst du die Brust schwarz vor Hass.

Leonard betrachtete die Runen, den Ansatz der behaarten Brust. Das Hemd in eine enge Hose gestopft, die das Geschlechtsteil betont. Die Hosenbeine enden kurz unter den Knien. Schnürstiefel bedecken die nackten Waden zur Hälfte.

Mensch Freddi, was hast du da gemalt?

Einen Nazi, antwortete der Alte. Als der Nationalsozialistische Untergrund aufflog, wollte ich begreifen, was das für Menschen sind, der Böhnhardt und der Mundlos. Überfallen Banken und lynchen türkische Krämer. Übrigens, sagte er, ihren letzten Raubzug unternahmen sie in Eisenach, oben am Nordplatz im Neubaugebiet. Ein Stück weiter setzten sie ihrem Leben ein Ende. Bin mal hingefahren, ist doch meine Heimatstadt. Hab im Hellgrevenhof übernachtet. Die Sparkasse am Nordplatz gibt es nicht mehr, dort hängt nur noch ein Geldautomat. Ich ließ mir die Stelle zeigen, wo die beiden von der Polizei gestellt wurden und sich umbrachten. Erst hat der Mundlos den Böhnhardt erschossen, danach sich selbst. Stammen aus Jena und sind dort zur Schule gegangen. Warst du mal in Jena? Ist immer noch eine schöne Stadt. Böhnhardts Mutter soll dort Lehrerin sein. Der Mundlos war bei den Pionieren und im Jugendverband, wie das so üblich war im Osten. Hat mir einer erzählt abends beim Bier im Hellgrevenhof. Falls du mal nach Eisenach kommst, der Hellgrevenhof ist was Historisches. Dort soll der Magier Klingsor die Geburt der Heiligen Elisabeth aus der Konstellation der Sterne vorausgesagt haben. Die hat viel getan für die Armen, obwohl sie doch mit dem Thüringer Landgraf vermählt war.

Freddi, sagte Leonard, bleib beim Thema. Hast mir genug über Thüringen erzählt draußen am See.

Der Platzwart nickte. Also, der Mundlos wurde noch vor der Wende Skinhead mit Glatze auf dem Kopf und Springerstiefeln an den Füßen. Hat Rudolf Heß verehrt und soll hier und da den Arm zum Hitlergruß gehoben haben. Beim Bier hört man dies und das. Nach der Wende wurde er militant und schmierte Hakenkreuze. Leonard, ich frage mich oft, ob ich damals im Osten was übersehen habe. Weder im Tagebau noch später in der Schwarzen Pumpe sind mir Leute mit Hitler im Kopf begegnet. Die Pumpe, musst du wissen, war ein Gaskombinat. Die Kohle, die wir im Tagebau aus dem Boden holten, wurde dort in Briketts und Koks umgewandelt und vergast. Vergast, sagte er, wie das klingt! Auch in Hoyerswerda, wo ich zu dieser Zeit wohnte, schien es keine Nazis zu geben. Doch plötzlich waren sie da und hetzten vietnamesische Vertragsarbeiter durch die Straßen. Sind doch in einem Land aufgewachsen, wo der Antifaschismus Staatsdoktrin war. Alle im Osten haben in der Schule von den Greuel der Nazis gehört und ihrer Ideologie vom deutschen Blut. Doch plötzlich ist das alles vergessen oder war gar nicht wahr und es werden braune Kameradschaften gegründet, die sich Heimatschutz nennen oder Nationaler Widerstand oder sonst wie. Schenderlein geriet in Erregung. In Jena, stieß er hervor, gehörten Mundlos und Böhnhardt zu so einer Clique, dem Thüringer Heimatschutz. Bei einer Durchsuchung der Wohnungen der beiden wurden Rohrbomben und Sprengstoff gefunden. Als man sie verhaften wollte, tauchten sie ab und begannen zu morden.

Leonard nickte. Er kannte diese Geschichte. Warum, fragte Schenderlein, brachten sie die Türken um? Weil sie hassten! Sie hassten jeden hier, in dessen Adern kein deutsches Blut fließt. Warum?

Vom Wohnzimmer her klingelte das Telefon und kurz darauf auch der Zweitapparat im Atelier. Ich rufe zurück, sagte Schenderlein in den Hörer hinein, als er sah, dass sich Leonard erhoben hatte. Ist mein Sohn. Außerdem muss ich dir noch die Schlüssel geben.

Er ging, um die Schlüssel zu holen. Bleibe noch einen Moment, sagte er. Jetzt als Rentner muss ich mich erst an die Einsamkeit gewöhnen. Er nahm wieder Platz am Tisch und erzählte von dem Sohn, der dreizehn war, als die Ehe geschieden wurde. Die Scheidung wäre damals auch ein Grund gewesen, den Ausreiseantrag zu stellen.

Der Junge wird im Herbst vierzig, sagte er. Ist im selben Jahr geboren wie der Mundlos. Hat Koch gelernt. Nach der Wende ist er nicht abgestürzt wie einige seiner Kumpels. Hat einen Halt gehabt in seiner Mutter, auch als sie die Arbeit verlor wie so viele. War eine schlimme Zeit für die Betroffenen. Was brach damals nicht alles zusammen, die Kammgarnspinnerei, die Fahrzeugelektrik, das Schaltgerätewerk. Also, der Junge hat Koch gelernt, und danach in Weimar und Meiningen malocht. In Meiningen hat er im Schlundhaus gekocht, feine Adresse am Markt. Einer der Kellner stammte aus Friesland, von der Insel Borkum, und wusste von einem Lokal dort, das zu übernehmen wäre. Hat nicht lange gezögert, der Junge, einen Kredit aufgenommen und die Kneipe gepachtet. Ist keine Kneipe, sondern ein richtiges Restaurant an der Straße zum Hafen. Der Chef steht in der Küche, Fischgerichte vom Feinsten, ein gepflegtes Bier im Ausschank.

Schenderlein leckte sich die Lippen. Einmal im Jahr besucht er den Sohn, fährt mit der Bahn bis Emden und lässt sich von der Fähre übersetzen.

Eine richtige Seereise, Leonard. Bist über zwei Stunden auf dem Wasser. Siehst die großen Pötte weit draußen, Tanker, Containerschiffe, auch mal ein Kreuzfahrtschiff. Stellst dir vor, du bist auf so einer Kreuzfahrt. Kommst gerade von Helgoland und läufst Borkum an. Fährst vom Hafen ein Stück mit der Kleinbahn und freust dich auf ein Bier beim Herrn Sohn. Aber dann raus und durch die Greune Stee zum Strand und auf der Promenade entlang spaziert. Die Greune Stee ist so ein Wäldchen in den Dünen, musst du wissen. Läufst also übern Strand und siehst bei Ebbe die Seehunde auf den Sandbänken liegen. Läufst weiter nach Hooge Hörn, dem östlichen Zipfel der Insel, oder durch die Dünen zum Ostland und lässt dir dort ein Bierchen kredenzen. Kannst auch an einer Wattwanderung teilnehmen oder den ganzen Tag faul im Strandkorb sitzen und aufs Meer starren. Also Leonard, nach vier oder fünf Tagen hast du genug von der Insel. Gehst immer dieselben Wege, siehst immer die gleichen Leute. Aber im nächsten Jahr freust du dich wieder drauf. Willste noch einen Tee?

Leonard schüttelte den Kopf. Muss jetzt los, sagte er. Erst mal zur Laube, wo das Angelzeug liegt. Doreen denkt, ich sitze längst auf dem Eis. Er nahm das Schlüsselbund, das ihm der Alte hinhielt. Bevor er das Zimmer verließ, warf er noch einmal einen Blick auf die Staffelei. Aus dem bleigrauen Himmel musste jeden Moment Schnee fallen.

Der Hasser

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