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Fünf Monate später

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Samstag, 9 Uhr

Ruhig, fast wie auf Schienen, flog das Flugzeug im langsamen Sinkflug über die spanische Küste. Leon lehnte mit dem Kopf an der Kabinenwand und wurde durch die Ansage der Stewardess munter. Von seinem Fensterplatz sah er die Großstadt Barcelona vorbeiziehen. Deutlich war der Hafen zu erkennen, unweit davon ein Grünstreifen, der sich durch das dicht besiedelte Stadtgebiet zog. Ein Stadtteil mit quadratischen Häuserblocks stach ebenfalls deutlich hervor. Aus diesem ragte eine gewaltige Kirche heraus. Die Sagrada Familia, die unvollendete Kirche, wie er aus seinem Reiseführer wusste. Für Leon war es der erste Besuch in Barcelona, der Urlaub war sehr kurzfristig zustande gekommen.

Julia hatte vor zwei Monaten ihren Job gekündigt und zu einer großen Hotelkette gewechselt. Gleich nach einigen Wochen hatte man ihr einen Auftrag in Berlin zugeschanzt. Deshalb war sie noch zwei Wochen in Deutschland. Bislang waren sie nie länger als ein paar Tage voneinander getrennt gewesen, nun aber waren es schon drei Wochen, die seine Frau in Berlin verbrachte. Eine Stadt, die Leon schon öfters besucht hatte, was ihn zuerst überlegen ließ, sie zu besuchen. Da sie aber meistens bis abends im Hotel zu tun hatte und von einer Sitzung zur nächsten dirigiert wurde, entschied er sich dagegen. Um dennoch nicht nur daheimzusitzen und auch wieder einmal alleine etwas zu unternehmen, suchte er nach einem billigen Städtetrip für mehrere Tage. Das günstigste Angebot, das ihm unterkam, war ein Aufenthalt in Barcelona für eine Woche. Zuerst sträubte er sich noch, aber als ein Kunde bei ihm seinen Barcelona-Trip, samt Besuch eines Fußballmatches des FC Barcelona im Champions League - Spiel gegen Bayern München, stornierte, nutzte er die Gunst der Stunde. Als großer Fußballfan wollte sich Leon nicht die Chance entgehen lassen, dieses hochklassige Aufeinandertreffen live mitzuerleben. Außerdem war er der Meinung, dass er lange genug, nur wegen seines Vaters, die Stadt gemieden hatte, von der er schon viel gelesen hatte und die für ihn immer interessanter geworden war. Und da war noch diese Holzschatulle, die er vererbt bekommen hatte. Er hatte sie, seit sie in seinem Besitz kam, nicht mehr beachtet, bis sie ihm, einen Tag vor seinem Abflug, wieder einfiel. Vielleicht würde er in der Stadt jemanden finden, der mit diesem Quadrat aus Gold etwas anfangen konnte, zum Beispiel diesen Pater Adrián.

Die Erde kam immer näher, inzwischen flog das Flugzeug nicht mehr über dem Meer. Er sah unter sich einen dunkelgrünen Fluss und war sehr glücklich darüber, dass sie in wenigen Minuten aufsetzen würden. Somit löste sich auch Leons Anspannung, die er auf jedem Flug spürte. Er bekam leicht Platzangst, weshalb er die Enge eines Flugzeuges als ziemlich anstrengend empfand. Mit einem kräftigen Rumpeln kam die Maschine auf der Landebahn auf. Im nächsten Moment war die Kraft der Bremsen zu spüren, die ihn gegen den Sicherheitsgurt drückten.

Nur noch ein paar Minuten, dann komme ich aus dieser Konservendose heraus, dachte er erleichtert und holte seinen Reiseführer aus der Ablage.

Leon war bei Nieselregen und kühlen Temperaturen abgeflogen, hier empfing ihn strahlender Sonnenschein. Keine Wolke war am Himmel zu sehen, und für Ende Oktober war es selbst für Barcelona sehr warm. Auf dem Weg zum Bus, der ihn mitten ins Stadtzentrum bringen sollte, streifte Leon seine Cordjacke ab und rollte die Ärmel seines Hemdes hoch.

Die halbstündige Fahrt durch den morgendlichen Stau nutzte Leon, um seine Reiseunterlagen zu sortieren und sich darüber Gedanken zu machen, womit er seinen Aufenthalt beginnen sollte.

Neben einem günstigen Flug hatte Leon auch eine sehr preisgünstige Unterkunft bekommen. Ein Hostel, keine fünf Gehminuten von der Sagrada Familia entfernt, einfach aber es genügte ihm. Von seinem Chef hatte er zusätzlich noch den Auftrag bekommen, sich ein, demnächst ins Programm aufgenommenes, Hotel genauer anzusehen. Das Luxushotel am Hafen von Barcelona sollte bei einer der nächsten Gruppenreisen als Unterkunft dienen und Leons Aufgabe lautete, sich zu versichern, dass die hohen Zimmerpreise dem Hotel gerecht wurden.

Zuerst aber wollte er sich die Stadt näher ansehen, die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten kennenlernen und alle Punkte seine „To-See“-Liste abhaken.

Inzwischen hatte er schon viel über Barcelona gelesen, unter anderem auch, dass das U-Bahn-System sehr zuverlässig war und nahezu überall hinführte. Einer der Knotenpunkte war der Plaça Catalunya, die Endstation des Flughafenbuses. Mit seinem Koffer im Schlepptau und einem kleinen Rucksack auf dem Rücken ging er los, ohne sich großartig umzusehen. Leon wollte zunächst sein Gepäck loswerden, bevor er durch die Straßen ziehen würde. Weder das große achtstöckige Einkaufszentrum „El Corte Inglés“, das direkt vor ihm am Plaza Catalunya stand, fand Beachtung, noch hatte er einen Blick für die Ramblas, die hier ihren Anfang nahmen. Nur ein rotes Schild mit einem großen, weißen „M“ interessierte ihn, es markierte den Abgang zur Metro. Die notwenige Wochenkarte hatte er sich schon in Wien besorgt. Selbst ohne die Erfahrung von unzähligen Städteurlauben war es einfach, sich in Barcelona zu orientieren. Das dichte U-Bahnnetz machte eine Sightseeingtour quer durch die Stadt zu einem Kinderspiel.

Wenige Minuten später fand sich Leon in einem nahezu menschenleeren Waggon wieder. Es war inzwischen 10 Uhr und die meisten Personen schon an ihren Arbeitsplätzen. Was ihm auffiel, war die Präsenz von vielen Polizisten. Am Eingang zur U-Bahn Station und im Waggon befanden sich Beamte, teils mit unterschiedlicher Aufmachung und Namen. Er las „Policia Nacional“, „Guardia Civil“ und „Mossos d’Esquadra“ auf den Uniformen.

Nach einem Umstieg und fünfzehn Minuten Fahrtzeit war er am Ziel, die Station „Sagrada Familia“. Auf der Rolltreppe in Richtung Straße stehend, spürte Leon seine Aufregung. Er war ein weltoffener Mensch, der es genoss, immer wieder neue Länder, Städte und Landschaften zu erkunden. Das war auch der Grund, warum ihm sein Beruf im Reisebüro so gut gefiel. Dort konnte er einerseits seine Eindrücke weitergeben und selbst auch, so oft es ihm möglich war, verreisen.

Die Rolltreppe führte zu einer Straße, die zu beiden Seiten mit noch immer grünen Bäumen bepflanzt war. Leon dachte noch, dass so eine große Kirche wie die Sagrada Familia wohl auffälliger sein müsste. Als er sich umdrehte, revidierte er seinen Gedanken und hob erstaunt seine Augenbrauen. Direkt vor ihm ragte die berühmte Kirche in den Himmel. Vier reichlich verzierte Türme, die scheinbar aus der Fassade herauswuchsen. Unzählige sakrale Motive, die überall an der Fassade und den Wänden zu sehen waren, der Anblick ließ ihn mit offenem Mund erstaunen. Wie er aus seinem Reiseführer wusste, sah er vor sich die Geburtsfassade, einen Teil, der schon zu Zeiten des ursprünglichen Architekten Antoni Gaudí vollendet wurde. Massen von Touristen befanden sich vor den Steinskulpturen, fotografierten und staunten wie Leon. Höher als die Türme waren nur die Baukräne, die große Betonblöcke über der Kirche schwenkten. Nachdem er sich von dem überwältigenden Anblick losreißen konnte, spazierte er an der Seite der noch unvollendeten Kirche entlang und suchte seine Straße. Vorbei an kleinen Lokalen, deren Gäste auf den Stühlen am Gehsteig saßen, und aneinandergereihten Souvenirläden zog Leon seinen Koffer in Richtung der Carrer de Sardenya, wo sich sein Hostel befand.

Die Hausnummer war schnell gefunden, doch es gab keine Werbetafel oder sonstige Informationen, dass es sich bei dem Haus vor ihm um ein Hostel handeln sollte. Erst als er die Gegensprechanlage genauer inspizierte, wurde er fündig. „Hostel Olé Barcelona - Rezeption“ stand neben einem der Knöpfe. Kaum gedrückt ertönt ein Summerton und die Eingangstür ließ sich öffnen.

Das Stiegenhaus wirkte nicht sehr einladend, alt, verschmutzte Wände und ein muffiger Geruch begrüßten ihn.

Vielleicht habe ich dieses Mal doch zu billig gebucht, dachte Leon skeptisch. Im ersten Stock fand er eine offene Tür. Eine junge Dame an der Rezeption erwartete ihn und hatte sein Einzelzimmer schon hergerichtet. Im Gegensatz zum Stiegenhaus war hier alles hell, sauber und einladend eingerichtet. Sie begleitete ihn ein Stockwerk höher, wo in einer weiteren Wohnung mehrere Zimmer zur Verfügung standen. Es handelte sich um zwei Einzel- und zwei Doppelzimmer, die sich zusammen ein Badezimmer teilten. Leons Zimmer war ein kleiner Raum, mit einem Fenster in den Innenhof, einem Metallbett und einem Stuhl. Mehr nicht.

Okay, das ist nun wirklich das kleinste Zimmer, in dem ich bisher übernachtet habe, stellte Leon fest. Aber er merkte auch, dass es sehr rein und nicht abgenutzt war, was für ihn das Wichtigste war. Es war ihm klar gewesen, dass bei einem Preis von fünfzehn Euro pro Nacht, nicht mehr verlangt werden durfte. Viel zu oft war Leon in übergroßen, luxuriösen Zimmern untergebracht, in denen er sich nicht besonders wohl fühlte. Hier hatte er einen sauberen Raum, der nur zum Schlafen gedacht war und mehr wünschte er sich nicht.

„Wir haben im ersten Stock einen Gemeinschaftsraum mit Fernseher, eine Küche, und falls Du etwas benötigst, die Rezeption ist rund um die Uhr besetzt. Wenn Du Frage hast oder etwas brauchst, komm einfach vorbei“, informierte ihn die junge Dame und verschwand wieder.

Leon benötigte nur sein Tablet, mit dem er sich sogleich daran machte, Julia eine Nachricht zu schreiben.

„Hallo, mein Schatz. Bin gut gelandet und schon im Hostel. Sehr klein, gemütlich und sauber. Jetzt werde ich einmal die ersten Sehenswürdigkeiten der Stadt besuchen. Viel Spaß weiterhin und arbeite nicht zu viel. Ich liebe Dich, Kuss.“

Im Koffer hatte er auch die Holzschatulle mit dem goldenen Quadrat. Leon überlegte, ob er sie schon mitnehmen sollte, entschied dann aber dagegen. Für einen Besuch bei Pater Adrián musste er erst herausfinden, wo sich die Kirche seiner Vorfahren befand.

Damit beschäftige ich mich nicht gleich am ersten Tag, ich habe noch Zeit, dachte er.

Am Weg an der Sagrada Familia vorbei war Leon aufgefallen, wie viele Personen bei den Kassen angestellt waren. Die Schlange reichte um den halben Häuserblock. Deshalb versuchte er sein Glück im Internet und tatsächlich war es ein Kinderspiel zu einer Eintrittskarte zu kommen. Er hatte Glück, das nächste Zeitfenster für eine Karte begann in fünfzehn Minuten. Sofort buchte er das Ticket und konnte sich somit das lange Anstellen ersparen. Ausgerüstet mit Kamera, leerem Rucksack, seinem Reiseführer und dem Ticket am Handy ging er bestens gelaunt zurück zur Sagrada Familia.

Die Menschenschlange stand inzwischen drei Straßenseiten der Kirche entlang. Beim Durchgang neben den überfüllten Kassen, der für vorreservierte Eintrittskarten bestimmt war, waren hingegen nur wenige Leute angestellt. Anstatt sich wahrscheinlich für ein bis zwei Stunden anzustellen, hatte Leon drei Personen vor sich und war binnen einer Minute am fast überfüllten Vorplatz der Kirche.

Laut seines Wissens stand er nun vor der Passionsfassade, die erst nach Gaudís Ableben vollendet wurde. Trotz der Motive rund um den Tod Jesus wirkte sie durch den hellgrauen Stein freundlicher. Die Statuen waren kantig, wenig detailliert und moderner als er es gedacht hatte.

Die hohe, massive Metalltür war mit unzähligen Worten übersät. Leon las über die Wörter, seine Vermutung war, dass es sich um einen lateinischen Text handelte. Neben den Worten waren auch einige Symbole in die Tür eingelassen. Besonders auffallend waren aber an der ansonsten schwarzen Tür zwei goldene Elemente. Zum einen der Name Jesus und ein kleines Quadrat, das gut erkennbar in der Mitte der Tür platziert war.

Die vier mal vier Zahlen darauf weckten Leons Neugier, doch sein Reiseführer verriet ihm nichts über die Bedeutung des Quadrats und der Zahlen. Die Zahlen selbst waren abgenutzt, aber noch lesbar.

An der Außenfassade fand er erneut das Quadrat. Größer und aus Stein, war es neben einem steinernen Paar positioniert, das Leon an eine Bibelstelle erinnerte.


Gab es da nicht etwas mit Jesus und Judas? Die Schlange zu deren Füßen würde auch gut dazu passen, überlegte Leon und fotografierte die Fassade aus mehreren Blickwinkeln.

Durch die Tür gelangte Leon ins Innere der Kirche, wo er nach wenigen Schritten stehen blieb und sich ergriffen umsah. Vor ihm waren hellgraue, glatt geschliffene Säulen, die bis zur hohen Kirchendecke reichten. Weit über seinem Kopf verzweigten sich die Enden der Säulen und sorgten dafür, dass er sich in einen modernen Steinwald versetzt fühlte. Im Gegensatz zur verspielten Fassade vor der Tür wirkte hier alles auf den ersten Blick schlichter, dennoch wirkte es monumental.

Der Altar kam ohne Verzierungen aus und war im Verhältnis zum sonstigen Raum sehr klein. Dafür stand dahinter eine gewaltige Orgel. Über dem Altar schwebte, unter einem beleuchteten Schirm, ein einfaches Kreuz mit dem Gekreuzigten aus Holz. Durch die großteils farblich eingekleideten Kirchenfenster strahlte die Sonne auf die bescheidenen Holzbänke und Stühle vor dem Altar. Leon war begeistert, alles wirkte viel imposanter als auf den Bildern, die er gesehen hatte. Vor lauter Staunen vergaß er fast darauf, seine Kamera zur Hand zu nehmen und einige Bilder zu machen.

Minutenlang ging er an den Seiten entlang, blickte immer wieder nach oben und konnte nur ergriffen auf die sternförmigen Säulenenden schauen. Gegenüber der Tür, durch die er eingetreten war, sah Leon eine Menschentraube, die vor dem Aufzug zu einem der Türme wartete. Er hatte weder Lust zu warten und schon gar nicht, in einen engen Aufzug gezwängt zu sein und ging ins Freie.

Nun konnte er die Geburtsfassade genauer betrachten.

Auch wenn er schon viele Bilder der Sagrada Familia gesehen hatte, als er nun direkt davor stand, war er fasziniert. Rund um den Haupteingang und den Seiteneingängen waren verschiedenste Szenen mit detaillierten Figuren in Stein gemeißelt. Eine deutsche Reisegruppe neben ihm bekam gerade eine ausführliche Erklärung, der Leon mit einem Ohr lauschte. So erfuhr er, dass diese Fassade den drei theologischen Tugenden gewidmet war. Die Liebe, der Glaube und die Hoffnung, dargestellt durch Jesus, Maria und Josef. Weiteres wurden die unterschiedlichen Musikengel beschrieben und einige Szenen genauer erklärt. Zum Beispiel die Verkündung der Maria, als der Erzengel Gabriel ihr eröffnet, dass sie die Mutter des Gottessohns sein wird. Manche Szenen konnte selbst er erkennen, unter anderem die Heiligen Drei Könige.

Leon war katholisch erzogen worden, aber mit der Zeit hatte die Religion immer weniger Stellenwert in seinem Leben eingenommen. Erst durch die Hochzeitsvorbereitungen kam er wieder mehr mit der Kirche in Kontakt, aber seitdem waren viele Jahre vergangen.

Leon konnte gar nicht alle Details aufnehmen, schoss unzählige Bilder und war verzückt über die vielen Einzelheiten, die diese Fassade verzierten. Von Säulen, die von einer Schildkröte getragen wurden und deren Enden Palmblätter aus Stein schmückten, bis zu den Inschriften aus Stein. Verglichen mit der Passionsfassade war das Material hier dunkler, was aber wohl daran lag, dass dieser Teil der Kirche um einiges älter war.

Sein nächstes Ziel war das Museum. Gleich beim Eingang zeigten mehrere alte Fotografien, wie der Bau dieser mächtigen Kirche angefangen hatte. Eine sehr detaillierte Zeichnung ließ erahnen, wie die fertiggestellte Kirche in vielen Jahren aussehen sollte. Ein noch weitaus höherer Turm mit einem leuchtenden Kreuz sollte diese Kirche zu einem unverwechselbaren Monument des Glaubens machen.

Im nächsten Raum standen Vitrinen mit Skizzen zur vorher gesehenen Passionsfassade, daneben blickte ein Steinkopf von Antoni Gaudí mit ernstem Ausdruck in den Raum. Leon blickte über die Vitrinen und sah erneut das Quadrat.


Dieses Mal war es aus Bronze mit einer Länge von ungefähr zwanzig Zentimetern. Die Zahlen und Linien waren in Schwarz eingekerbt. Endlich fand er eine Beschreibung, was es genau mit diesem Quadrat und den Zahlen auf sich hatte.

Es handelte sich um ein sogenanntes magisches Quadrat, bei dem die Summe jeder Spalte und auch jeder Zeile sowie die Diagonalen jeweils 33 ergab. Josep Maria Subirachs, der Bildhauer und Architekt der Passionsfassade hatte es sich erdacht. Die Zahl 33 bezog sich auf das Alter von Jesus, als er starb. Neben der Beschreibung hing noch eine Schautafel mit weiteren Kombinationsmöglichkeiten, die das Quadrat bot, um auf die 33 zu kommen.

Leon war gerade fertig geworden, den Text zu lesen, als er unsanft von zwei Männern zur Seite geschubst wurde.

„Hallo? Ich glaube es ist genug Platz für alle hier, oder?“, fauchte er. Die Männer beachteten ihn nicht und standen mit dem Rücken zu ihm. Kopfschüttelnd ging er einen Schritt zurück, als er stutzte. Die beiden Männer, beide von sehr muskulöser Statur, verdeckten die Sicht auf die Vitrine. Trotzdem konnte Leon erkennen, wie sich ein weiterer, junger Mann, sehr auffällig über den Schaukasten beugte. Er zwinkerte, sah noch einmal hin und stellte fest, dass die Hand des jungen Mannes in der Vitrine steckte.

„Wirklich?“, fragte er laut und überrascht. Sofort drehte sich einer der Männer um und blickte ihn mit bösem Blick an.

„Weg mit Dir, oder ich schlitze Dich auf“, keifte er ihn auf Spanisch an. Erst jetzt sah Leon das dünne, lange Messer in der Hand des Mannes. Der leicht dunkelhäutige Mann war einen Kopf größer als Leon, der immerhin ein Meter achtzig maß.

„Das kann jetzt aber nicht wahr sein?“, meinte Leon erstaunt, nun auch auf Spanisch und sah sich um. Außer ihnen waren nur wenige Leute im Raum und diese beachteten ihn nicht.

„Wenn Dir Dein Leben lieb ist ...“ wurde der Mann vor Leon deutlicher und machte einen Schritt auf Leon zu.

„Das ist keine gute Idee, wirklich keine gute Idee“, versuchte Leon, ihn zu beschwichtigen. Hinter dem Muskelprotz sah er, wie der junge Mann das bronzene Quadrat herauszog. Dieses Ding zog Leon aus unerfindlichen Gründen in seinen Bann.

„Verschwinde!“, keifte der Mann und fuchtelte mit dem Messer vor Leon.

Das Folgende hatte Leon zigmal geübt und immer wieder mit anderen Personen selbst einstudiert. Zur persönlichen Fitness und um die Motivation unter den Mitarbeitern zu verbessern, ging die Belegschaft von Leons Büro zweimal die Woche nach Dienstschluss in ein nahe gelegenes Fitnessstudio. Neben dem Spaß an den unterschiedlichen Geräten hatte die Büroleitung für sie alle auch einen Selbstverteidigungskurs organisiert. Die Frauen aus dem Büro, welche die Mehrheit ausmachten, waren für den Kurs dankbar. Und Leon in diesem Moment auch.

Das Messer kam ihm bedrohlich nahe. Blitzschnell machte Leon einen Schritt zur Seite. Er packte das Handgelenk des Mannes und riss die Hand zur Seite. Noch bevor sein überraschtes Gegenüber reagierte, schwang Leon sein Bein nach vorne und traf ihn seitlich am Knie. Der Mann knickte zur Seite und wollte mit der freien Hand nach Leon schlagen, doch dieser war eine Spur schneller. Immer noch hielt er die Hand fest, riss sie noch weiter nach hinten und brachte den Mann damit ins Wanken. Nun wurden auch die anderen Touristen im Raum auf sie aufmerksam. Eine Frau sah das Messer und quietschte schrill auf, ein älterer Mann rief auf Französisch nach der Polizei. Der junge Dieb rannte mit dem gestohlenen Quadrat in der Hand los, seine beiden Aufpasser wollten ihm nach. Doch Leon ließ den Mann mit dem Messer nicht los. Als dieser erneut mit der freien Hand ausholte, trat er erneut zu, wieder fest gegen das Knie. Der Tritt war härter, der Mann schrie schmerzvoll auf, als das Bein nachgab und er auf die Knie fiel. Inzwischen war die Aufregung rund um Leon gestiegen. Zwei Touristen eilten Leon zu Hilfe und hielten den knienden Mann am Boden fest. Leon hörte, wie es am Eingang zu einem Tumult kam und hoffte, dass die Diebe wohl nicht weit gekommen waren. Als ein weiterer Mann erschien und dem fluchenden Mann am Boden das Messer aus der Hand riss, stand Leon auf und rannte ebenfalls zum Ausgang. Dort sah er zunächst nur den zweiten breitschultrigen Mann, der von drei Sicherheitsbeamten umringt war. Von dem jungen Dieb war nichts zu sehen. Leon blickte sich um. Immer mehr Sicherheitskräfte und Polizisten kamen zum Museum gerannt. Touristen blickten zu ihm und zu dem festgehaltenen Mann. Als ein Polizist an ihm vorbei wollte, zog Leon ihn an der Schulter zu sich.

„Der Mann am Boden gehört dazu, aber es gibt noch einen, ein junger Bursche, der aus der Vitrine etwas gestohlen hat“, erklärte er dem Polizisten hektisch und sah sich erneut um. Dann plötzlich fand er den jungen Mann, nervös beim Ausgang stehend.

„Dort ist er!“, schrie Leon auf und rannte los. Der verdutzte Polizist winkte einer Kollegin zu, die Leon folgte. Der Dieb blickte Hilfe suchend auf die Straße, als er Leon auf sich zulaufen sah. Er schreckte auf und drängte sich durch eine Gruppe Japaner, die fluchend zur Seite sprangen. Leon sprintete, so schnell er konnte, neben ihm rannte eine Frau in Uniform, deren lange braunen Haare wild herumflogen. Vor ihnen kämpfte sich der Mann am Ausgang durch und stieß dabei ein Pärchen zu Boden.

„Bleib an ihm dran, ich nehme einen anderen Weg“, befahl die Polizistin Leon und bog hinter ihm ab.

Wie bitte? Was habe ich denn damit zu tun? Warum verfolge eigentlich ich diesen Typ?

Leon verstand selbst nicht wieso, aber das Quadrat hatte einen Reiz auf ihn ausgeübt, den er sich nicht erklären konnte. Er wusste nur, dass er nicht zulassen konnte, diesen jungen Kerl mit dem Ding verschwinden zu lassen. Leon umrundete die aufgebrachte Gruppe Japaner und sprang über den Bügel des Drehkreuzes am Ausgang. Die zwei Beamten, die dort standen, waren zu überrascht, um ihn aufzuhalten. Auch der Jugendliche hatte es auf die Straße geschafft und rannte entlang des hohen Zauns der Kirche auf die nächstgelegene Kreuzung zu.

Du bist wirklich ein schneller Hund. Wenn ich nur wüsste, was diese Polizistin gemeint hatte ..., dachte Leon und bekam im nächsten Moment seine Antwort.

Von der Seite, genauer vom Dach eines der kleineren Häuser innerhalb der Umzäunung, kam die Frau auf den Flüchtenden zugeflogen. Sie sprang von mehr als drei Meter Höhe auf ihn herab, erwischte ihn an den Schultern. Die beiden flogen durch die Luft und landeten hart auf dem breiten Gehsteig neben der Kirche. Die junge Polizistin war auf dem Mann gelandet, der unter ihr aufschrie und sich vor Schmerzen wand. Leon erreichte die beiden und reichte der Frau die Hand.

„Was war denn das? Nimmst Du nebenbei Flugstunden oder schaust Du zu viel Wrestling?“, fragte Leon keuchend. Er war zwar halbwegs sportlich, aber der Sprint, zusammen mit der Aufregung der letzten Minuten, kostete ihm viel Energie.

Die Polizistin ließ sich aufhelfen, kurz darauf klickten ihre Handschellen und der Dieb hatte seine Hände hinter dem Rücken gefesselt. Sie zog ihm das Quadrat aus seiner Hosentasche.

„Die ganze Aufregung wegen eines Souvenirs? So wertvoll kann das Teil wohl nicht sein“, stellte sie fest, blickte zu Leon und reichte ihm die Hand.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Hallo, ich bin Ramona Ortuno.“

„Leon Hochberger, hallo. Ich verstehe auch nicht wirklich, was das sollte.“

Sie blickten beide zu dem jungen Mann, der sie nur grimmig ansah und schwer keuchte.

„Ich glaube, im Moment ist ihm nicht nach Reden zumute. Aber das kommt schon noch. Spätestens, wenn meine Chefin kommt“, meinte Ramona und drehte das Quadrat in ihrer Hand.

Leon musterte die junge Frau vor ihm, die er auf maximal fünfundzwanzig Jahre schätzte. Ihre schulterlangen, braunen Locken waren wild durcheinander, ihr hübsches, etwas längliches Gesicht war rotleuchtend von der Aufregung und dem gewagten Sprung zuvor. Dennoch war ihre Haut sehr blass, vor allem für eine Frau, die in einer Stadt lebte, die sehr von der Sonne verwöhnt wurde. Sie war knapp einen Kopf kleiner als Leon, machte einen sportlichen Eindruck und ihre großen, blaugrünen Augen strahlten in ihrem Gesicht. Neben dem sympathischen Gesicht fiel Leons Blick auch auf ihre üppige Oberweite, was Ramona sofort auffiel.

„Wenn Du Dich sattgesehen hast, können wir ...“, tadelte sie ihn.

„Sorry, ich habe nur Angst, dass Deine Uniformbluse gleich gesprengt wird. Ansonsten tut es mir leid, ich wollte nicht ...“

„Schon okay, solange Du nicht auf die Idee kommst, mich hier anzubaggern. Sonst gibt es Probleme mit mir und meinem Freund.“

Leon lachte kurz auf.

„Erstens hast Du gerade eindrucksvoll bewiesen, dass Du Dich selbst sehr gut zur Wehr setzen kannst. Und zweitens, keine Sorge. Du bist zwar hübsch und scheinst recht sympathisch zu sein, aber ich bin gänzlich uninteressiert, trotz der imposanten Oberweite.“

Ramona sah ihn fragend an und schien falsche Schlüsse zu ziehen.

„Nein, nicht was Du glaubst. Ich bin glücklich verheiratet und für mich gibt es nur meinen Schatz, der leider nicht mit hier sein kann.“

Damit schien Ramona beruhigt zu sein. Sie blickte auf das Quadrat, das größer als ihre Handfläche war, und drehte es mehrmals herum. Als Leon einen kurzen Blick auf die Rückseite erhaschte, riss er die Augenbrauen hoch.

„Warte! Darf ich kurz?“, bat er sie und hielt die Hand auf. Ramona sah ihn skeptisch an, legte ihm dann aber das Quadrat in die Hand. Der Dieb blickte erschrocken auf.

Leon hatte auf der Rückseite eine Gravur erkannt, die er sich genauer ansehen wollte. Seine erste Vermutung war richtig, das eingravierte Symbol war ihm bekannt.


„Dieses Symbol kenne ich. Es ist auf einer Schachtel, die mir mein Vater vererbt hat“, meinte Leon und zeigte ihr die Rückseite des Quadrats. Ramona sah sich das mit Dornen umschlungene Herz genauer an und grübelte nach.

„Mir ist das Zeichen vertraut, aber ich komme nicht darauf, woher.“

„Mir sagt es nichts, aber ich hoffe, hier in Barcelona jemanden zu finden, der sich mit meiner Familiengeschichte etwas auskennt und ...“

„Deine Familiengeschichte?“, fragte Ramona verdutzt nach. Aber noch bevor Leon ihr antworten konnte, kamen einige Polizisten zu ihnen gelaufen. Eine kleine, ältere Frau mit mürrischer Miene und tiefen Falten im Gesicht, stürmte auf sie zu und blieb dicht vor Ramona stehen. Ihre ehemals hellbraunen Haare waren fast vollständig ergraut, aber sie machte alles andere als einen alten Eindruck. Ihre dunklen Augen blickten von Leon zu dem gefesselten Mann und schlussendlich zur annähernd gleich großen Ramona. Sie blickte nochmals zu Leon, musterte ihn genau und schüttelte kurz den Kopf. Dann wandte sie sich an Ramona und schnauzte sie mit energischer Stimme auf Katalanisch an. Leon verstand nur Bruchstücke, da sich die Sprache der Katalanen teilweise gravierend vom Spanischen unterschied.

„Und Sie verstehen mich, stimmt´s? Wie passen Sie in das Bild hier?“, sprach sie ihn plötzlich barsch und in Spanisch an.

„Ich war nur zufällig im selben Raum, als der Bursche das Ding klauen wollte. Mehr ...“

„Reicht schon“, unterbrach sie ihn, „Damit können Sie uns nicht weiterhelfen. Dennoch wird Kollegin Ortuno ihre Daten aufnehmen, falls wir noch Fragen haben.“

Sie wandte sich an Ramona und blickte sie abfällig an.

„Wie oft habe ich Ihnen gesagt, sie sollen ihre wilde Haarpracht zusammenbinden, Frau Ortuno? Wieso sind Sie überhaupt so aufgewühlt, war der kleine Lauf so anstrengend?“, fuhr sie Ramona an und vergaß dabei, in ihre zweite Muttersprache zu wechseln. Ramonas Freundlichkeit war wie weggeblasen, sie war von der Frau vor ihr eingeschüchtert und nickte nur schuldbewusst. Wer auch immer diese Frau war, sie musste eine hohe Position in der Polizeihierarchie haben, war sich Leon sicher.

Die mitgekommenen Polizisten führten den jungen Mann, der immer noch eisern schwieg, ab und auch die strenge Polizistin zog ab und ließ Ramona und Leon alleine stehen.

Ramona wirkte immer noch geknickt, als sie sich zu Leon drehte.

„Du hast Frau Martins gehört, ich benötige noch Deine Personalien.“

„Wer ist diese Frau Martins und warum werden alle in ihre Umgebung ganz klein, wenn sie auftaucht?“, wollte Leon wissen.

„Comissari Jasmina Martins ist eine Art Legende im katalanischen Polizeiwesen. Sie ist eine der besten und härtesten Beamtinnen, einige nennen sie auch den Bluthund der Mossos. Sie gilt als eiskalt und manche ... viele haben Angst vor ihr. Sie hat schon einige Kommissare mit ihren eigenmächtigen Ermittlungen in den Schatten gestellt, aber der Erfolg gibt ihr Recht. Deshalb habe ich mich auch auf ihr Revier versetzen lassen, um von einer der Besten zu lernen. Aber es ist nicht leicht. Noch dazu ist die Stadt zurzeit in einer Art Ausnahmezustand.“

„Das ist mir aufgefallen. Es ist wirklich viel Polizei unterwegs.“

„Genau Leon. In Barcelona findet das Treffen der europäischen Innen- und Verteidigungsminister statt. Sie beraten über eine gemeinsame Vorgehensweise gegen den Terror. Aber zurück zu diesem Zeichen auf dem gestohlenen Quadrat.“

Leon sah nochmals auf die Rückseite des Teils aus Bronze. Leon fiel auf, dass es für sein Alter sehr gut erhalten war.

„Ich kenne das Symbol, nur von der Holzschatulle, die mir mein Vater vermacht hat. Er hat nur vergessen, mir zu verraten, welche Bedeutung es hat und was für ein Familiengeheimnis er und seine Vorfahren aus Barcelona damit bewahren.“

„Aus Barcelona? Ich dachte, Du bist Tourist?“

„Das ist richtig. Ich bin gerade einmal ein paar Stunden in der Stadt ...“

„Und schon mittendrin in einer polizeilichen Ermittlung. Erlebst Du immer so viel in Deinen Urlauben?“

Leon grinste sie an.

„Nein. Normalerweise habe ich es auf Reisen eher ruhiger.“

„Und was verbindet Dich dann genau mit Barcelona?“, hakte Ramona weiter nach.

„Sagt Dir der Name Sagnier etwas?“

Ramona nickte.

„Ein nicht unbekannter Architekt, wenn auch nicht so populär wie Antoni Gaudí. Enric Sagnier hat zum Beispiel die Kirche Sagrat Cor am Tibidabo entworfen ...“

Plötzlich grinste sie und boxte Leon leicht gegen die Schulter.

„Natürlich! Dieses Symbol, jetzt fällt es mir ein. Es steht für das Herz Jesu. Es gibt nur eine Kirche in Barcelona, zu der dieses Symbol passt.“

„Bei dem Symbol, das meine Holzschachtel ziert, sind auch noch Mosaike eingearbeitet, wie man sie von Gaudís Werken kennt.“

Ramona verdrehte die Augen.

„Na herrlich. Da kannst Du Dich mit meinem alten Herrn zusammentun. Er ist von Gaudí besessen und hat einige abstruse Fantasien über den Mann.“

„Vielleicht kann er mir auch etwas über die Familie Sagnier verraten“, überlegte Leon laut.

Ramona kicherte.

„Er wird begeistert sein. Mein Vater liebt es, seine Theorien anderen zu erzählen. Pedro, mein Freund, kennt sie schon auswendig. Dem gefallen diese Legenden, ich persönlich halte wenig davon. Aber hast Du nicht gesagt, Dein Name wäre Hochgerber?“

„Hochberger. Das ist eine längere Geschichte.“

Ein vorbeifahrender Einsatzwagen der „Mossos d’Esquadra“, der Polizei von Katalonien erinnerte Ramona daran, dass sie aus dienstlichen Gründen hier stand. Spontan schlug sie Leon einen gemeinsamen Abend, zusammen mit ihrem Freund Pedro, vor. Leon musste nicht lange überlegen. Ebenso wie sein Interesse für andere Länder und Städte war er auch immer neugierig auf die Leute, die dort lebten. Eine Polizistin konnte ihm sicherlich einiges über Barcelona erzählen, was er bei einem reinen Sightseeing-Urlaub nicht erfahren würde. Sofort stimmte er zu. Nachdem Ramona seine Daten aufgenommen hatte, verriet sie ihm, dass Pedro im Fanshop des FC Barcelona, direkt beim Stadion Camp Nou arbeitete.

„Ich habe heute noch bis 19 Uhr Dienst. Wenn Du Lust hast, treffen wir uns um halb neun beim Einkaufszentrum Arenas, am Plaça Espanya. Neben mehreren Lokalen gibt es dort auch eine weitere Attraktion zu sehen.“

Mehr wollte Ramona nicht verraten und erklärte Leon, wo sie sich treffen würden. Währenddessen spazierten sie zurück zum Eingang der Sagrada Familia. Als Ramona einige ihrer Kollegen und auch Jasmina Martins sah, zuckte sie leicht zusammen.

„Na herrlich. Die haben schon auf mich gewartet. Jetzt darf ich mich wieder rechtfertigen.“

„Wofür? Für Deinen waghalsigen Sprung um den Dieb zu stellen oder weil Du so lange mit mir gesprochen hast.“

„Eher Zweites. Die haben mich sowieso im Auge, wegen Pedro ... egal, darüber können wir am Abend reden. Ich wünsche Dir noch einen schönen Tag und bis später.“

Sie reichte Leon die Hand und eilte dann zu den Kollegen. Leon blieb stehen und wartete, bis die letzten Beamten verschwunden waren.

Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es inzwischen schon nach dreizehn Uhr war.

„Ich habe mir wirklich viel erwartet von Barcelona, aber das eindeutig nicht“, murmelte er und begab sich zur U-Bahn Station.

Das Gespräch mit Ramona hatte ihn wieder beruhigt, die Aufregung rund um den Diebstahl legte sich langsam. Da er keinen Plan hatte, was er nun machen sollte, entschied sich Leon für die Ramblas. Immerhin war die Flaniermeile weltberühmt und ein absolutes Muss für einen Besuch der Stadt.

Am Plaça Catalunya herrschte reges Treiben. Die fast sommerlichen Temperaturen waren nicht nur für die Touristen ein Genuss. Am großen Platz saßen Männer im Anzug auf den Bänken, tippten auf ihren Laptops und Tablets, telefonierten entspannt und ließen sich dabei von der Sonne verwöhnen. Kinder liefen herum und spielten mit Bällen, auf denen meistens das Logo des FC Barcelona prangte. Die Mütter saßen beisammen und tauschten den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Leon fühlte sich in den Sommer zurückversetzt. Neben dem Einkaufszentrum „El Corte Inglés“ fiel ihm auch das „Hard Rock Café“ auf.

Ich habe noch bis Freitag Zeit, deshalb werde ich diesem Lokal erst einen Besuch abstatten, wenn das Wetter schlechter wird, beschloss er und überquerte die Straße in Richtung der Ramblas.

Die berühmteste Straße der Stadt war eine, etwas mehr als einen Kilometer lange, Promenade, die vom Plaça Catalunya bis zur Kolumbusstatue am Hafen von Barcelona führte. Ein breiter Weg, der auf beiden Seiten mit Bäumen abgegrenzt war, war den Fußgängern vorbehalten. Eine enge Straße zu beiden Seiten ließ Platz für den Verkehr. Leon spazierte langsam auf der Allee und versuchte alles aufzusaugen. Unzählige Lokale, Souvenirläden, Hotels und auch Wohnhäuser reihten sich aneinander, teils neu renoviert, teils wirkten sie aber auch wie aus dem letzten Jahrhundert. Die von den Ramblas abzweigenden Gassen waren schmal und voller Menschen, die sowohl den Gehsteig, als auch die Straße nutzten. Auf den Ramblas fand Leon in kurzen Abständen Zeitschriftenläden, die in einem rechteckigen Hüttchen untergebracht waren. Neben nationalen und internationalen Zeitungen, Ansichtskarten und Büchern, versuchten die Verkäufer auch Magnete mit unterschiedlichen Motiven und andere Kleinigkeiten an die vorbeischlendernden Touristen zu verkaufen. Eine Reihe von Blumenständen und sogar ein Stand mit Kleintieren waren zu finden. Dazwischen versuchten einige Straßenkünstler, die Blicke auf sich zu ziehe. Mit aufwendigen Verkleidungen standen sie die meiste Zeit über bewegungslos, bis ihnen entweder jemand zu nahe kam oder eine kleine Spende gab. Ein schwarzgoldenes Monster mit langen Klauen und Schwingen, einige Schritte weiter eine goldene Cowboystatue, die sich gegen etwas Kleingeld bewegte und von Touristen „erschießen“ ließ. Ein Künstler - ganz in Weiß - saß auf seinem Rad und strampelte auf Wunsch spontan los.

Einige Lokale hatten ihre Tische direkt auf den Ramblas aufgebaut. Aus seinem Reiseführer wusste Leon, dass diese Plätze bei der Rechnung einen nicht geringen Zuschlag hatten, auf den manche Kellner gerne vergaßen hinzuweisen.

Unterschiedlichste Leute kamen Leon entgegen. Touristen, die mit ihren Kameras alles festzuhalten versuchten, Einheimische, die keinen Blick mehr für die Besonderheiten der Ramblas hatten und viele mehr. Eine kleine Gruppe hatte sich um einen Mann versammelt, der auf dem Boden mit wellenförmigen Pflastersteinen saß. Leon blieb kurz stehen und erkannte sofort, was sich vor ihm abspielte. Ein Hütchenspieler versuchte, ahnungslose Passanten auszunehmen. Dieses Spiel kannte er gut aus Wien. Eigentlich war es ganz einfach: Es galt, die kleine Kugel unter der richtigen der drei Streichholzschachteln zu finden. Aber es ging dabei nicht mit rechten Dingen zu und die Gewinnchance war gleich null. Dennoch blieb Leon stehen und sah zu.

Wie er es erwartet hatte, gewannen zwar ein paar Leute, diese Personen verschwanden danach und kamen kurz darauf wieder um das Geld abzuliefern. Die richtigen Touristen, die an dem Spiel teilnahmen, hatten keine Chance zu gewinnen. Leon versuchte sich auf die Finger des Mannes zu konzentrieren, doch dieser beherrschte sein Handwerk perfekt. Er wurde mehrmals aufgefordert, mitzuspielen, winkte aber freundlich ab. Nach einigen Minuten hatte er genug gesehen und spazierte weiter. Vor ihm war das Kolumbus-Denkmal zu sehen, welches den Abschluss der Ramblas und den Beginn des Hafens markierte. Ein bronzener Kolumbus stand auf einer sechzig Meter hohen, verzierten Säule und deutete hinauf auf das Meer. Einige Meter unter ihm war eine zum Teil verglaste Kugel zu erkennen. Von dort bekam man einen schönen Ausblick über die Stadt, behauptete Leons Reiseführer. Beim Gedanken, wie schmal die Säule war und damit auch der Aufzug im Inneren, krampfte sich sein Magen zusammen. Deshalb ließ er diese Sehenswürdigkeit aus, überquerte den mehrspurigen Kreisverkehr und landete am Hafen. Vor ihm boten Ausflugsschiffe Rundfahrten an der Küste an. Links davon war der Jachthafen voller kleiner und großer Segel- und Motorboote und über den modernen Pier gelangte er zum Einkaufszentrum „Maremagnum“. Die Schmuck- und Modeläden ließ er vorerst aus, Leons vorrangiges Ziel war ein Platz im Freien bei einem der Restaurants. Bei Tapas, genauer bei Patatas allioli, kleine Kartoffeln in Knoblauchmayonnaise, und Bier blickte er über den Hafen. Er sah in einiger Entfernung den Strand von Barcelona und überlegte, wie schön es hier mit seiner Frau wäre. Leon vermisste sie und hoffte, dass ihr Ausflug nach Deutschland sich nicht allzu oft wiederholen würde.

Beim Blick auf ein Bild von Julia, dass in seiner Geldbörse war, ließ er seine Gedanken treiben und erinnerte sich, wie sie vor nun schon fast fünfzehn Jahren zusammengekommen waren. Damals, in Amsterdam, spielte auch Wasser eine Rolle.

Zusammen mit einer Gruppe von Kollegen aus verschiedenen Büros war er damals für drei Tage in Amsterdam unterwegs. Neben den obligaten Hotelbesichtigungen und Sightseeing-Touren lernte man sich auch untereinander schnell besser kennen. Als sein Zimmergenosse ihm erklärte, dass er die Nacht bei einer der mitgereisten Damen verbringen würde, stand plötzlich Julia in seinem Zimmer.

„Ich habe es mir nicht ausgesucht, aber eines sage ich Dir gleich: Deine Hände bleiben bei Dir!“, war das Erste, was er von ihr zu hören bekam. Sie war damals neu in seinem Büro und hatte ihm schon vom ersten Tag an gefallen. Ihre erste gemeinsame Nacht verbrachten sie damit, bis zum Sonnenaufgang auf dem Balkon zu sitzen. In dicke Decken eingewickelt, vertrauten sie sich gegenseitig ihre bisherigen Höhepunkte und auch Tiefschläge im Leben an.

Julia und Leon waren sich auf Anhieb sympathisch und fanden einen perfekten Draht zueinander. Die Zimmeraufteilung blieb für die folgenden Nächte bestehen. Leon erinnerte sich noch genau an das große Zimmer, mit dem luxuriösen Whirlpool, der nahe am Balkon stand und von dem aus man einen herrlichen Blick auf die Grachten gehabt hatte. Zusammen mit der inkludierten Minibar und vom anstrengenden Tag ermüdet, machten Julia und er es sich im Whirlpool gemütlich, teilten sich eine Flasche Sekt und kamen sich doch noch näher. Bei einer Grachtenfahrt bemerkte die Reisegruppe, dass sich zwei Paare gefunden hatten. Natürlich sorgten sie so für Gesprächsstoff, auch nach dem Aufenthalt in Amsterdam.

Wenig später galten sie als das Traumpaar des Büros, als unzertrennlich und wie füreinander geschaffen. Viele Kollegen waren Jahre später zu ihrer Hochzeit eingeladen, besagter Freund, der in Amsterdam Julia in Leons Zimmer verwiesen hatte, hielt bei der Trauung eine Rede, wo er diese Episode nochmals aufgriff.

Das Bild in Leons Geldbörse stammte vom August dieses Jahres. Julia hatte ein kurzes, sommerliches Kleid angezogen, das ihre ausladende Oberweite und auch ihre Rundungen deutlich hervorhob. Sie fand sich immer schon zu mollig, für Leon wiederum war ihre Figur perfekt. Er liebte ihren kleinen Bauch und trotz ihrer festeren Oberschenkel war sie alles andere als dick.

Bei einem weiteren kleinen Bier ging er in Gedanken durch, was er mit Julia in Barcelona besichtigen würde. Als er an die Sagrada Familia dachte, fielen ihm der Diebstahl und Ramona wieder ein. Er freute sich schon auf den Abend und hoffte, dass auch Ramonas Freund Pedro ihn sympathisch fand. Leichter würde er nicht an ein spanisches Paar kommen, die ihm mehr über das Leben in der katalanischen Großstadt erzählen konnten.

Pünktlich um halb neun war Leon beim vereinbarten Treffpunkt. Inzwischen war es schon dunkel, aber das Shoppingcenter vor ihm strahlte von den vielen noch immer geöffneten Geschäften. Die ehemalige Stierkampfarena hieß nun „Arenas“ und bot neben unzähligen Shops, ein Kino und natürlich jede Menge Lokale. Ein außen angebrachter Aufzug führte zum Dach des kreisrunden Gebäudes, wo weitere Restaurants einen Blick über die Dächer der Metropole boten.

Leon musste keine fünf Minuten warten, bis er Ramona erblickte. Statt ihrer Uniform in Dunkelblau trug sie nun helle Farben. Eine rote, figurbetonte Jeans, ein eng anliegendes, bauchfreies Top in Gelb und die Haare zu zwei Zöpfen zusammengebunden, winkte sie ihm lächelnd zu und deutete ihrem Freund. Dieser marschierte los und blieb vor Leon stehen, um ihn in Augenschein zu nehmen. Er hatte Leons Größe, wirkte ebenso durchtrainiert wie Ramona, sogar noch kräftiger, und seine dunkelbraunen Augen musterten Leon eindringlich. Seine lockigen Haare hielten mit viel Gel ihre Position. Im Gegensatz zur eher flippig angezogenen Ramona, trug er ein weißes Hemd, darüber ein dunkles, dünnes Jackett und eine schwarze Hose.

„Hi, ich bin Pedro“, grüßte er Leon und presste ihm fest die Hand zusammen. Leon musste grinsen, die Eifersucht stand Pedro ins Gesicht geschrieben.

„Hallo, Pedro. Ich bin Leon. Ramona hat Dir sicherlich schon …“

„Hat sie, ja. Ihr zwei habt heute einem Dieb die Hölle heißgemacht, es kam sogar in den Nachrichten. Aber lasst uns nicht hier auf der Straße bleiben. Ich habe einen Tisch reserviert, einen mit Ausblick.“

Sie zogen Leon mit zum gläsernen Aufzug. Da dieser keinen beengten Eindruck machte, blieb Leon entspannt und ließ sich seine Platzangst nicht anmerken. Auf der Aussichtsplattform angekommen, fragte er verwundert nach, wieso so viele Personen zu dem gegenüberliegenden Museum strömten.

„Das siehst Du in weniger als zwanzig Minuten, lass Dich überraschen“, meinte Ramona. Pedro hatte sich für ein Steak-House entschieden und dort einen Tisch, direkt am Fenster reserviert. Ramona und er saßen Leon gegenüber, der immer noch von Pedro gemustert wurde. Leon wollte ihn schon darauf aufmerksam machen, als sich Ramona erhob und entschuldigte. Kaum war sie verschwunden, lehnte sich Pedro vor.

„Ich möchte nur eines klarstellen, mein Freund …“, begann er, aber Leons breites Grinsen ließ ihn stoppen. Leon holte seine Geldbörse hervor und legte das Bild von Julia auf den Tisch.

„Darf ich vorstellen: Julia, meine Ehefrau, die ich über alles liebe. Du kannst gerne klarstellen, dass Ramona nur Dir gehört Pedro, aber von mir hast Du nichts zu befürchten. Es hat einen beruflichen Grund, weshalb ich ohne Julia in Barcelona bin. Der Zufall, genauer gesagt der Dieb heute, hat Ramona und mich zusammengeführt und ich bin ein neugieriger Mensch, der gerne mit anderen spricht. Natürlich ist Deine Freundin eine hübsche und sehr sympathische Person, keine Frage. Aber Deine Eifersucht ist unbegründet. Ich liebe diese Frau hier und das wird sich mit Sicherheit nicht ändern.“

Pedro blickte von dem Bild zu Leon und zurück. Von einer Sekunde auf die andere erhellte sich seine Miene, dann lachte er kurz und freundlich auf.

„Also, wenn das so ist, dann lass uns heute einen gemütlichen Abend haben, vielleicht auch eine lange Nacht!“

Er bestellte drei Cocktails, ohne Leon eine Chance zu geben, nachzusehen, was er zum Trinken bekam. Zusammen mit Ramona kamen die Getränke und Leon stellte schon beim ersten Schluck fest, dass es ein sehr starker Cocktail war, der ihm vorgesetzt wurde.

Leon wurde von Ramona und Pedro abwechselnd ausgefragt über den Grund seines Aufenthaltes, seinen Beruf und sein Privatleben. Erneut wurde Julias Bild hervorgeholt, Ramona fand, dass sie eine sehr attraktive Frau war. Leon erzählte ihnen auch von seinem Vater und weshalb er keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt hatte. Gleichzeitig zum Essen, einem übergroßen Steak mit Beilagen, die auf einem eigenen Teller gebracht wurden, begann auch die Überraschung für Leon. Pedro hatte sich ganz bewusst für diesen Platz entschieden.

„Was Du dort siehst“, meinte sie und deutete auf die andere Seite zum Fuße des Berges, „nennt sich Font Magica. Die Springbrunnenanlage auf der anderen Seite des Plaça Espanya bietet ein Schauspiel aus Wasser, Licht und passender Musikuntermalung. Lehn Dich zurück, genieß Dein Essen und die Show. Wir werden nachher weiterplaudern.“

Leon wurde nicht enttäuscht. Der hell erleuchtete Brunnen warf meterhohe, in unterschiedlichen Farben leuchtende, Fontänen in den Nachthimmel. Von Blau, rot bis zu weiß, untermalt mit klassischer und moderner Musik, gab es immer wieder neue Formationen, die nicht nur Leon bezauberten. Von seinem Sitzplatz aus konnte er das gesamte Areal übersehen und somit neben dem großen Becken auch die mehreren kleinen, die ebenfalls mit einem wechselnden Farbenspiel für ein unvergessliches Erlebnis sorgten. Fast eine Stunde lang sah Leon wie gebannt zu, unterbrach nur, um sein Steak zu essen und den Cocktail langsam zu leeren.

„Ich habe eine gute Wahl getroffen, oder Leon?“, meinte Ramona. Er nickte und bedankte sich mit einer Runde Creme Catalan als Nachspeise sowie einer weiteren Runde der starken, leckeren Cocktails. Währenddessen erfuhr er nun einiges über Ramona und Pedro.

Leon erinnerte sich an Ramonas Andeutungen bei der Sagrada Familia und fragte nach, wie sich das Paar kennengelernt hatte.

„Es ist jetzt schon mehr als vier Jahre her, ich war noch ganz frisch bei den Mossos d’Esquadra“, begann Ramona, „Pedro ist bei einer Schlägerei zwischen einigen seiner Freunde und einer Gruppe Betrunkener mit Kollegen von mir zusammengestoßen. Die Mossos haben es übertrieben, es gab damals einige Verletzte, darunter auch mein Hase. Nach seinem Krankenhausaufenthalt hat er die Abteilung verklagt. Das Ganze kam sogar in der Presse, Pedro und die anderen Verletzten bekamen eine ordentliche Entschädigung und zwei Polizisten wurden umgehend suspendiert. Bei einem Besuch von Pedro auf unserer Dienststelle sind wir uns das erste Mal begegnet und er hat ...“

„Ich habe sie gesehen und wollte sie unbedingt kennenlernen“, führte Pedro die Geschichte fort, „Am folgenden Tag habe ich den ganzen Nachmittag gewartet, bis Ramona ihren Dienst beendet hatte. Ich bin ihr nach, um herauszufinden, wo sie wohnt, doch das war keine besonders schlaue Idee.“

„Genau. Natürlich habe ich es bemerkt und Pedro in eine Sackgasse gelotst. Dort habe ich ihn mir geschnappt und wollte ihn ausfragen. Aber dann kam es zu einem, nennen wir es Missverständnis“, meinte Ramona und grinste.

„Ramona hat mich gepackt und gegen die Wand gedrückt. Ich wollte ihr gerade erklären, warum ich ihr gefolgt bin, als mir mein Taschenmesser aus der Hosentasche gefallen ist. Noch dümmer, dass es aufgesprungen ist. Mein Goldstück hier hat nur das Messer gesehen, Angst bekommen und gemacht, was sie gelernt hat. Und das war recht schmerzhaft.“

„Was hätte ich auch sonst tun sollen? Ein verdächtiger Mann verfolgt mich und als ich ihn zur Rede stellen will, hat er ein Messer bei sich. Heute weiß ich, dass mein Hase immer ein Taschenmesser bei sich trägt. Nachdem Pedro wieder zu Wort kam, hat er mich auf Knien mit seinen dunklen Augen angeschaut und mir versucht zu erklären, was er wollte.“

„Ich habe ihr gesagt, für diese Behandlung habe ich mir zumindest ein Abendessen mit ihr verdient und zu meinem Glück hat sie zugesagt. Inzwischen leben wir schon zwei Jahre zusammen, und auch wenn ihre Kollegen immer wieder gegen mich lästern, mein geliebtes Goldstück und ich sind unzertrennlich.“

Demonstrativ nahm Pedro Ramonas Hand und gab ihr einen Handkuss.

„Das war der Beginn unserer, immer noch sehr glücklichen, Beziehung“, bekräftigte Ramona, „Doch viele meiner Kollegen haben wegen Pedro, wenn auch zu Recht, hohe Strafen zahlen müssen, ein paar haben sogar ihren Job verloren. Das wird natürlich auch mir angehängt. Deshalb habe ich mich zu Jasmina Martins versetzen lassen. In ihrer Truppe zu arbeiten ist zwar ein harter Knochenjob, aber dort traut sich keiner so einfach, sich mit mir anzulegen. Jasmina trennt strikt Berufliches und Privates. Niemand weiß etwas über ihr Privatleben und sie will auch nichts wissen, im Dienst hat jeder von uns ein perfekter Polizist zu sein, sonst nichts.“

„Aber noch einmal zurück zu Dir Leon“, Pedro lehnte sich vor und grinste verschwörerisch, „Ich habe gehört, es gibt da ein Familiengeheimnis, dass mit Enric Sagnier und Antoni Gaudí zu tun hat?“

Leon nahm einen großen Schluck von seinem Glas.

„So genau weiß ich das auch nicht. Mein Vater, Joseph Sagnier, hat mir eine Holzschatulle vererbt. Auf dieser ist dasselbe Symbol abgebildet, wie auf der Rückseite des Quadrats, dass der Dieb heute gestohlen hat. In der Holzschachtel lag ein kleines Metallquadrat mit seltsamen Wörtern in Latein, die keinen Sinn ergeben. Dazu gab es noch einen Hinweis auf ein Bild, das mir weiterhelfen sollte und die Erwähnung eines gewissen Antoni.“

„Antoni? So wie Antoni Gaudí?“, unterbrach ihn Pedro.

„Ich habe keine Ahnung, vielleicht. Im Grunde liebe ich zwar Abenteuergeschichten, aber das alles klingt mir doch etwas zu …“

„Du solltest unbedingt mit Ramonas Vater darüber sprechen“, meinte Pedro.

Ramona stöhnte auf und verdrehte die Augen.

„Warum nicht, Honey? Dein Vater ist der Überzeugung, dass Gaudí entweder eine Ahnung von Zeitreisen hatte oder selbst so einer war.“

Leon starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

„Wie bitte?“

„Ja, ich weiß, was Du denkst und wahrscheinlich sagen willst. Ich finde es auch etwas weit hergeholt. Aber der alte Mann ist richtig besessen von Gaudí und seinen Werken. Ich habe schon viele Geschichten von ihm gehört und Enric Sagnier kam öfters darin vor. Vielleicht kann er Dir bei deinem Geheimnis weiterhelfen.“

„Zunächst muss ich einmal die Kirche unserer Vorfahren besuchen, wie mein Vater es nannte.“

„Das ist leicht, Leon. Dazu musst Du nur auf den Tibidabo fahren. Die Kirche Sagrat Cor ist das bekannteste Bauwerk von Enric Sagnier.“

„Außerdem passt das Symbol zur Kirche“, merkte Ramona an.

Zu dritt beschlossen sie, der Kirche einen Besuch abzustatten und Leon bei dieser Sache zu unterstützen. Obwohl Ramona wenig begeistert war, stimmte sie zu, auch ihren Vater in dieser Angelegenheit zu besuchen.

„Aber wenn wir Papa schon besuchen, dann werden wir ihm auch helfen. Er hat mich vor einigen Tagen gefragt, ob wir für ihn einige alte Kisten vom Dachboden entsorgen könnten. Er möchte nicht, dass Jason alles schleppen muss.“

Jason war der Butler von Ramonas Vater Salvatore und dessen Lebensgefährtin Isabella de Gonzales. Leon erfuhr, dass Ramonas Mutter nach der Scheidung nach Andalusien gezogen war und sich seitdem fast nicht mehr meldete. Sie hatte ein neues Leben mit ihrem zweiten Mann und zwei weiteren Kindern angefangen. Ihr Vater hingegen hatte sie stets unterstützt, und Isabella war für sie inzwischen wie eine Ersatzmutter geworden. Sie war die Tochter einer reichen Familie, die in Spanien mit mehreren Fabriken ihr Geld machte. Isabella selbst hatte sich schon vor Längerem aus den Geschäften zurückgezogen und lebte mit Ramonas Vater in einer großzügigen Villa. Da diese sich in der Nähe des Tibidabo befand, wollte Ramona den Besuch der Kirche mit einem Abstecher zu ihrem Vater verbinden.

„Das werden wir machen, Honey. Aber vorerst ist der Abend noch jung und wir sollten unserem netten Gast auch etwas vom Nachtleben Barcelonas zeigen, findest du nicht?“ Damit beendete Pedro die Fragestunde und das Thema rund um Gaudí, Sagnier und seltsame Mysterien. Das Paar bot Leon an, mit ihm durch einige Bars zu ziehen und ihm zu zeigen, was die Nacht in Barcelona zu bieten hatte. Leon musste nicht überlegen, das Angebot war zu verlockend für ihn.

Gut gelaunt, mit Ramona in der Mitte, die sich bei beiden Männern einhängte, verließen sie das Lokal und fuhren mit der U-Bahn in Richtung Strand. Das erste Lokal, das sie besuchten, wirkte auf den ersten Moment wie eine ganz normale Strandbar. Direkt an der Promenade gelegen, sommerliche Grooves aus dem Lautsprecher und Besucher, die scheinbar teilweise direkt vom Strand kamen. Pedro kam nach einem kurzen Gespräch mit der Barkeeperin mit drei Tickets zurück.

„Eine kleine Abkühlung gefällig?“

Noch bevor Leon antworten konnte, führten ihn die beiden zu einer dicken Metalltür in den hinteren Bereich der Bar.

„Die Tür erinnert mich an einen Gefrierschrank, einen sehr großen.“

Ramona reichte ihm eine dicke, silberne Winterjacke und Handschuhe.

Fragend blickte er das Paar an, doch sie grinsten nur und zogen sich ebenfalls die im Moment unpassend wirkende Kleidung an. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und sie gelangten in den hinteren Bereich der Bar. Nun erschloss sich Leon auch der Name der Bar: icebarcelona

Alles im Inneren des kleinen Raums mit einer Temperatur unter 0 Grad war aus Eis. Die Eisblöcke an den Wänden, die Sitzmöglichkeiten, der Tresen, die verschiedenen Skulpturen, die im Raum verteilt waren und sogar das Glas, das Pedro ihm reichte. Der grünliche Cocktail schmeckte Leon, aber nach dem Zweiten fing er an, den Alkohol zu spüren. Er lernte einige Freunde von Ramona und Pedro kennen, musste mehrmals von seinem ersten Treffen mit Ramona erzählen und zählte schon bald nicht mehr mit, wie viele Getränke er intus hatte. Noch bevor sie den Kühlraum wieder verließen, hatte ihn der Alkohol übermannt. Er bekam noch mit, wie er inmitten einer gut gelaunten Gruppe wieder auf der Promenade stand und das Meerrauschen hörte, danach versank die Nacht für ihn in einem heftigen Rausch.

Secret of Time

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