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Der Sinn systemischer Interventionen

Als »systemisch« wird heute ein Ansatz bezeichnet, der sich ab Mitte des vorigen Jahrhunderts zunächst als »Familientherapie« etablierte, dann aber zunehmend unabhängig vom Familien-Setting spezifische Konzepte und Methoden entwickelte. Heute findet man dieses Modell im psychotherapeutischen Bereich auch als Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen- und Multifamiliengruppentherapie (Ludewig 1992, 2002; von Schlippe / Schweitzer 1996; Boscolo / Bertrando 1997, Schiepek 1999; Kriz 2001; Schindler 2005) – im Jahr 2008 erfolgte nach langen Auseinandersetzungen die Anerkennung der systemischen Therapie als wissenschaftliches Verfahren (von Sydow / Beher / Retzlaff / Schweitzer 2007). Man findet das Modell im Erziehungs- und Sozialwesen als systemische Pädagogik (Voss 2005), in der Kindertherapie (Retzlaff 2008) bzw. in der sozialen Arbeit (Ritscher 2002). Besonders stark hat es sich in Profit- und Nonprofit-Unternehmen als systemisches Management und als systemische Führungskräfte-, Team- und Organisationsberatung (Trebesch 2000, Königswieser / Hillebrand 2004, Wimmer 2004) etabliert. Zudem ist eine Vielzahl von Methoden und Interventionsformen entstanden (z.B. Königswieser / Exner 2002; Schwing / Fryszer 2006; Hansen 2007; Caby / Caby 2009; Klein / Kannicht 2009).

Schlagwortartig lässt sich der Ansatz dabei mit folgenden Aspekten skizzieren:

1. Ein Problem – wie das psychosomatische Symptom eines erkrankten Menschen, die schlechten Noten eines Schülers, der Leistungsabfall eines Mitarbeiters oder die Korruptheit einer Behörde – wird als Geschehen gesehen, an dem viele verschiedene miteinander interagierende Menschen beteiligt sind, nicht als ein »Wesensmerkmal«, das eine Person oder ein soziales System »hat«. Es wird nach einem kontextuellen Verständnis von Störungen, Problemen und Interventionsanlässen gesucht (Nicolai et al. 2001). Der Fokus verschiebt sich damit von der Frage: Wer hat das Problem, seit wann und warum?« zu den Fragen: »Wer ist als bedeutsames Mitglied des jeweiligen sozialen Kontextes zu sehen und wer beschreibt das Problem wie?« und »Wer beschreibt das Problem und die damit verbundenen Interaktionen in welcher Weise?«

2. Eine besondere Rolle spielen dabei die Kommunikation und die von den verschiedenen Menschen erzählten Geschichten: »Wirklichkeit« wird als Ergebnis sozialer Konstruktion angesehen, nicht als etwas, das objektiv ist und ein für allemal Gültigkeit besitzt. Jede Beschreibung eines Gesprächspartners ist gleichermaßen bedeutsam. Ein wesentlicher Aspekt der systemischen Beratung unterstützt Menschen darin, zu ihrer Art zu kommunizieren und zu den von ihnen selbst erzählten Geschichten selbstreferente Positionen einzunehmen. Selbstreferenz bedeutet hier, dass jemand sozusagen der eigene Beobachter werden kann und so über mehr Wahlmöglichkeiten verfügt, indem er oder sie ein Bewusstsein dafür entwickelt, selbst für den eigenen Anteil am Kommunikationsmuster, für die eigene Tradition der Geschichtenerzählung verantwortlich zu sein. Hilfreich ist dabei die Nutzung der Beobachtungen Anderer (Fremdreferenzen), die dem sich selbst Beobachtenden angeboten werden.

3. Lebende und soziale Systeme werden als selbstorganisiert angesehen und dabei vor allem unter zwei Gesichtspunkten gesehen: Dynamik und Komplexität. Systeme zeigen sich zu unterschiedlichen Zeiten im Entwicklungsverlauf eher einfach oder komplex, stabil oder instabil. Veränderungsprozesse, die sich in Bereichen hoher Komplexität und großer Instabilität abspielen, sind nicht im herkömmlichen Sinn zu »steuern« (»Ganz genau so soll und muss das laufen!«), vielmehr geht es dort darum, die Randbedingungen für Musterveränderungen zu gewährleisten (Kruse 2004). Hilfe wird also eher als Rahmensteuerung oder Kontextsteuerung gesehen (Nicolai et al. 2001; Schiepek 2004 spricht in dem Zusammenhang von »Prozessmanagement«) und nicht als Verhaltenssteuerung. Anders gesagt: Eine systemische Praxis kann Gelegenheiten bieten, dass ein System »anregungsoffen für Zufälle ist« (Luhmann 1988, S. 132) und dafür sorgen, »dass die Gelegenheiten häufiger kommen, als sie von selbst kommen würden. Wie kann man von vornherein in der Kommunikation ein System so anlegen, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass irgendetwas so Nutzbares gesagt wird, obwohl man das nicht voraussehen kann?« (ebd.).

4. Es wird versucht, sensibel für die Möglichkeiten zu sein, die in dem jeweiligen System liegen. So wird vordringlich nach Ressourcen gefragt, danach, was gut funktioniert (»Wann haben Sie das letzte Mal erlebt, dass es gut lief?«) und gefragt, ob sich in diesen Qualitäten Ansatzpunkte für Lösungen finden. Die Suche nach neuen Ideen und neuen Bildern hat Vorrang vor dem Gespräch über das, was nicht funktioniert (Conen 2007).

5. Mit allen Beteiligten soll eine Kooperationsbeziehung entwickelt werden. Diese bezieht das fragliche soziale System, aber auch Außenstehende mit ein, etwa Kunden, andere Auftraggeber, Kooperationspartner, ja auch Konkurrenten usw. Kernfrage ist: Wie können die Beteiligten ihre Möglichkeiten so zusammenbringen, dass ein gutes Ergebnis erzielt wird?

6. Eine besondere Herausforderung für die systemische Beratung ist es, für alle Beteiligten in diesem Kooperationsnetzwerk wertschätzende Beschreibungen zu finden, also auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potenziell konstruktiven Beitrag zu suchen. Lösungen haben besonders dann Bestand, wenn »alle gewinnen«.

Was kann als »Gegenstandsbereich« systemischer Beratung verstanden werden? In der Familientherapie wird von der Erfahrungswelt einer Familie als gemeinsamer Konstruktion gesprochen, die auf einem »Familienparadigma« beruht (Reiss / Olivieri 1983), also einem Satz gemeinsam geteilter basaler Überzeugungen über die Welt. Diese Erkenntnis, dass soziale Systeme dazu tendieren, die Wirklichkeitserfahrungen der Systemmitglieder auf gemeinsam geteilte Prämissen zu beziehen, ist eine wesentliche Erkenntnis des Konstruktivismus. Stierlin (1988) spricht als Familientherapeut in diesem Zusammenhang von »Familiencredo«, Schneewind (1991) schlägt als Familienforscher den Begriff des »familienspezifischen internen Erfahrungsmodells« vor, in das das subjektive Wissen von der Familienrealität des jeweils Einzelnen einfließt. Gemeint ist dabei nicht, dass die Wirklichkeitserfahrungen der einzelnen Familienmitglieder homogen sind. Oft im Gegenteil: Vielen Konflikten in Familien liegen ja scheinbar unvereinbare Gegensätze zugrunde. Die Perspektiven der Einzelnen sind jedoch eng aufeinander bezogen, ja manchmal so sehr ineinander verschlungen, dass man als Berater nur staunend die Geschwindigkeit beobachten kann, in der die Familienmitglieder aufeinander reagieren, sich anklagen, beschuldigen und verteidigen, Aussagen »richtigstellen«, die doch so einfach zu sein schienen und sich im Gestrüpp der wechselseitigen Beschreibungen ihrer Wirklichkeiten oft heillos verirren. In Familien mit Symptomträgern zeigt sich dabei häufig, dass diese Beschreibungen nicht mehr angemessen rückgekoppelt werden, sondern dass die Erwartungen einer Person darüber, wie die andere »ist«, erstarren. Im Laufe der gemeinsamen Geschichte wurde eine Wirklichkeit erzeugt, die leidvoll und quälend erlebt wird. Der kommunikative Austausch der Familienmitglieder ist in Form starrer Muster ineinander verwoben – und genau diese Muster sind der Gegenstandsbereich systemischer Beratung. In der Sprache der Selbstorganisationstheorie kann man sagen, dass sich die beteiligten Personen auf eine bestimmte Art von Ordnung der Wirklichkeit, ein starres Muster festgelegt haben.

Kriz (1999) überträgt in diesem Zusammenhang das Konzept des Attraktors aus der Selbstorganisationstheorie auf den Bereich menschlicher Sinnerzeugung: Ein »Sinnattraktor« ist ein (relativ) stabiler kognitiver Zustand (»Schema«), den eine Person entwickelt hat – von sich selbst, von den sie umgebenden Personen, von ihrer Umwelt; es ist eine bestimmte Form, die Welt zu sehen. Diese Sinnattraktoren folgen einer Komplettierungsdynamik, die Julian Jaynes als »Narrativierung« beschrieben hat (1993): Einzelne, isolierte Aspekte der Wahrnehmung werden mit anderen isolierten Aspekten und mit Gedächtnisstücken zu zusammenhängenden Geschichten gefügt, »narrativiert«. Das Gedächtnis »schreibt seine Lebenserinnerungen« sozusagen selbst (von Foerster 1991, Kotre 1995). So benutzen die Interaktionspartner in manchen Fällen einander nur noch, um sich gegenseitig ihre Weltbilder zu bestätigen, die Neugier aufeinander geht verloren: »Sehen Sie’s? Das war mal wieder typisch!« Das sich in jeder Familie im Laufe der Zeit einschleichende »längst Bekannte« ist hier ins Extrem gesteigert: Reagiert wird nicht mehr auf das, was geäußert wurde, sondern auf das, was aufgrund einer bereits vorliegenden Geschichte erwartet wird. Die von einer Person gebildeten Sinnattraktoren entstehen aus der Tendenz menschlicher Kognition, zu ordnen, Kategorien zu bilden, und damit Komplexität zu reduzieren. Das Erzeugen von Ordnung als »fundamentale Operation alles Lebendigen« scheint ein bedeutenderes Motiv für Menschen zu sein als das Streben nach Glück. Menschen fürchten nichts mehr als das Chaos und darum wählen sie eine Ordnung auch dann, wenn sie quälend ist.

Beispiel

Ein trauriges Beispiel aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie: Ein 13-jähriger Junge mit extrem schlechtem Selbstwertgefühl zeigte sich auf der Station sehr schwer haltbar. Im Teamgespräch wurde vereinbart, diesem Jungen besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, kleinste positive Ansätze freundlich zu kommentieren und ihm immer wieder zu versichern, dass er von den Betreuern geschätzt würde. Die Reaktion auf eine Aussage wie: »Thomas, ich mag dich richtig gern!« bestand dann jedoch in einer massiven Steigerung seiner Spannung, die Augen flackerten und er wurde unruhig und fahrig, bis er eine Tasse so auf den Boden warf, dass sie zersplitterte. In dem Moment, wo die Betreuerin dann zu schimpfen begann: »Mensch! Kannst du nicht aufpassen!«, ging eine erkennbare Entspannung durch ihn: »Ich wusste doch, dass keiner mich mag!« – Die Welt war wieder in Ordnung, so unglücklich sie auch sein mochte.

So bestätigen sich einmal gefundene Sinnattraktoren kontinuierlich selbst, weil sie die einmal gefundene Ordnung aufrechterhalten: Die Welt ist zwar nicht schön, aber sie ist vorhersagbar, der andere »ist so und nicht anders«! Jedes Ereignis, das zu dem jeweiligen Attraktor passt, wird als »typisch« bezeichnet, Ereignisse, die davon abweichen, werden entweder ignoriert oder als »Ausnahme« gekennzeichnet. Simon / Rech-Simon (1999) sprechen in diesem Zusammenhang von der »Bestätigungslogik des Nichts-Neues-Syndroms«: »Was immer ein Familienmitglied auch tun mag, es ist immer schon klar, was das zu bedeuten hat… Jedes Familienmitglied nimmt nur bestimmte Verhaltensweisen der anderen wahr, es hat seine festgelegten Bewertungskriterien, urteilt dementsprechend und wendet die bereits früher erprobten Erklärungsschemata an« (S. 219).

Aus diesem Grund wird der Sinn von systemischer Beratung auch darin gesehen, »Ordnungs-Ordnungs-Übergänge« zu ermöglichen, also einen einmal gewählten »Sinnattraktor« dann verlassen zu helfen, wenn dieser für den oder die Beteiligten Leid erzeugend geworden ist, denn dieser – um noch einmal die Sprache der Selbstorganisationstheorie zu bemühen – »versklavt« als »Ordner« die Prozesse, die ihm untergeordnet sind: Denken, Gefühle und Verhalten werden durch den einmal gewählten Sinnattraktor (im Problemfall auch »Störungsattraktor« genannt) weitgehend bestimmt.

Der Begriff »Beschreibung« und der Bezug auf Sprache könnte nun nahelegen, es ginge nur um kognitive, verstandesmäßige Prozesse. Doch Sprache tritt nicht abstrakt, sondern in Form von Geschichten auf (dies wird besonders vom »sozialen Konstruktionismus« thematisiert, z.B. Gergen 2002, auch Deissler 1997, Anderson / Goolishian 1992). Menschliches Leben findet nicht abstrakt in Sprache, sondern in einer Welt von gemeinsam geteilten und mit-geteilten Bedeutungen statt, d.h. in ständiger Konversation, im Gespräch und im Erzählen von Geschichten, wodurch wir unsere Wirklichkeit stabil halten und uns unsere Identitäten wechselseitig bestätigen – und das Erzählen der Geschichte braucht den Zuhörer: »Ich glaube, wer Geschichten erzählt, muss immer jemanden haben, dem er sie erzählt, nur dann kann er sie auch sich selbst erzählen« (Eco 2001, S. 241).

Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Methoden geht es nun im Beratungsprozess immer wieder um die Frage, wie es möglich wird, sich in ein solches Geflecht von sich gegenseitig stabilisierenden Geschichten »einzufädeln« und Angebote zu machen, diese Geschichte anders zu sehen, die gewohnten Beschreibungen zu dekonstruieren. Denn das Geflecht aus Geschichten trägt die Einzelnen nicht mehr flexibel, sondern ist im Laufe der Zeit zu einem Gefängnis geworden, zu einem »Problem«: Es passiert »immer dasselbe«, der andere (Kollege, Mitarbeiter, Partner oder wer auch immer) ist »so« und nicht anders: »Menschen sind unverbesserliche und geschickte Geschichtenerzähler – und sie haben die Angewohnheit, zu den Geschichten zu werden, die sie erzählen. Durch die Wiederholung verfestigen sich die Geschichten zu Wirklichkeiten, und manchmal halten sie die Geschichtenerzähler innerhalb der Grenzen gefangen, die sie selbst erzeugen halfen« (Efran et al. 1992, S. 115).

Menschen entwickeln im Verlaufe ihres sozialen Umgangs mit anderen nicht nur ein Bild von sich selbst und eine Beziehung zum anderen, sondern auch Bilder davon, wie sie von anderen gesehen werden. Sie bilden nicht nur eigene Erwartungen an andere aus, sondern auch Erwartungen darüber, was andere von ihnen erwarten.

Beispiel

In einer klassischen Untersuchung befragten Laing et al. (1971) zwölf klinische und zehn unauffällige Ehepaare. Der zirkuläre Aufbau der Befragung war für die Zeit damals revolutionär: Jeder Partner wurde allein befragt, aber nicht nur darüber, was er oder sie von der Partnerschaft hielt, sondern auch dazu, was er dächte, wie sein jeweiliger Partner/seine Partnerin wohl diese Fragen beantworten würde.

Die Ergebnisse der komplexen qualitativen Analyse zeigten – hier in aller Kürze skizziert –, dass die Störung eines Paares nicht unbedingt bei der direkten Befragung erkennbar wurde. Beispielsweise bejahte ein Mann, allein befragt, die Frage, ob er seine Frau liebe, die Frau ebenfalls. Störungen zeigten sich auf einer anderen Ebene, nämlich, was die Partner jeweils vermuteten, was der andere wohl antworten würde. Wenn also der Mann befragt wurde, ob er dächte, dass seine Frau ihn liebe, dann begann er zu zögern: Er sei sich nicht sicher. Ähnliches antwortete die Frau. Eine Stufe weiter gefragt, ob er dächte, dass sie sich von ihm geliebt fühle (und vice versa), war die Antwort oft eindeutig negativ. Störung zeigte sich also auf der Ebene der »Metaperspektive«: Was der eine vermutet, was der andere über ihn/sie denkt und was der andere vermutet, was der eine von ihm/ihr denkt (von Schlippe 2001).

In der Systemtheorie Luhmanns (Luhmann 1984) findet sich in diesem Zusammenhang der Begriff der »Erwartungs-Erwartungen«: Eine Person bildet Erwartungen darüber aus, welche Erwartungen von anderen an sie gestellt werde. Und da eine Person nie für sich allein ist, greifen die Erwartungs-Erwartungen der verschiedenen Mitglieder eines Systems ineinander und bilden Muster, die wir (in heutiger Terminologie) als selbstorganisiert bezeichnen. Sie sind entstanden, weil sie entstanden sind – und nicht aufgrund von irgendwelchen psychopathologischen Vorgängen. Und sie halten sich aufrecht, weil sie sich aufrechterhalten. Es wird meist als wenig sinnvoll angesehen, bestimmte Ursachenkonstellationen dafür zu untersuchen. Dies ist eine ganz andere Beschreibung, als etwa soziale Situationen lerntheoretisch im Sinne wechselseitiger Verstärkung der einzelnen Familienmitglieder untereinander zu verstehen: »Erwartungs-Erwartungen veranlassen alle Teilnehmer, sich wechselseitig zeitübergreifende … Orientierungen zu unterstellen. Damit wird verhindert, dass soziale Systeme in der Art bloßer Reaktionsketten gebildet werden, in denen ein Ereignis mehr oder minder voraussehbar das nächste nach sich zieht… Die Reflexivität des Erwartens ermöglicht dagegen ein Korrigieren (und auch ein Kämpfen um Korrekturen) auf der Ebene des Erwartens selbst« (Luhmann 1984, S. 414).

Zitat

Menschen sieht man nicht wie Häuser, Bäume und Sterne. Man sieht sie in der Erwartung, ihnen auf eine bestimmte Weise begegnen zu können und sie dadurch zu einem Stück des eigenen Inneren zu machen. Die Einbildungskraft schneidet sie zurecht, damit sie zu den eigenen Wünschen und Hoffnungen passen, aber auch so, dass sich an ihnen die eigenen Ängste und Vorurteile bestätigen können. Wir gelangen nicht einmal sicher und unvoreingenommen bis zu den äußeren Konturen eines anderen … Und so sind wir uns doppelt fremd, denn zwischen uns steht nicht nur die trügerische Außenwelt, sondern auch das Trugbild, das von ihr in jeder Innenwelt entsteht. Ist sie ein Übel, diese Fremdheit und Ferne? Müsste uns ein Maler mit weit ausgestreckten Armen darstellen, verzweifelt in dem vergeblichen Versuch, die Anderen zu erreichen? Oder sollte uns sein Bild in einer Haltung zeigen, in der Erleichterung darüber zum Ausdruck kommt, dass es diese doppelte Barriere gibt, die auch ein Schutzwall ist? (Pascal Mercier 2004, S. 100f.)

Was hier in dichterischer Sprache anklingt, ist ein Phänomen, das eng mit den Erwartungs-Erwartungen verknüpft ist: das »Problem der doppelten Kontingenz«. Mit Kontingenz bezeichnet Luhmann (er folgt dabei Talcott Parsons) die Möglichkeit, dass etwas sein könnte oder auch nicht sein könnte. Im Gegensatz zum Tier haben Menschen die Möglichkeit, sich überraschend und unvorhersehbar zu verhalten. Doppelte Kontingenz bedeutet, dass dies für zwei Handelnde gleichermaßen zutrifft: Sie sind gegenseitig in ihren Handlungen nicht festgelegt. Für sich selbst erlebt jeder dies als Verhaltensspielraum, in Bezug auf den anderen als Erwartungsunsicherheit (Luhmann 1984, S. 148ff., Simon et al. 1999, S. 187). Menschen können in Bezug auf den anderen nie sicher sein. Sie müssen sich immer auf unsichere Prämissen stützen: Meint mein Gegenüber es wirklich ernst? Nur im Bereich der doppelten Kontingenz, so Luhmann, haben Begriffe wie Vertrauen und Misstrauen ihren Sinn: »Vertrauen muss kontingent, d.h. freiwillig erwiesen werden … Es hat den sozialen Funktionswert von Vertrauen nur, wenn es die Möglichkeit des Misstrauens sieht« (Luhmann 1984, S. 181). In Systemen, die um Rat nachsuchen, hat man es nun mit Prozessen zu tun, in denen gewohnte Abläufe aufgrund von Konfliktdynamiken nicht (mehr) funktionieren. Dann finden wir oft eine Situation vor, dass von den beteiligten Personen viel Zeit darauf verwandt wird, über die Beziehungen nachzudenken, nachzugrübeln. Man fragt sich, ob man geschätzt, geachtet, geliebt, zumindest noch einigermaßen akzeptiert wird – oder man geht sogar ganz sicher davon aus, dass dies nicht so ist: »Die Mitglieder einer Familie reagieren … nicht auf die Gefühle und Gedanken des jeweils anderen, sondern darauf, was sie denken und fühlen, das der andere denkt und fühlt« (Simon / Rech-Simon 1999, S. 32). Im Sinn selbsterfüllender Prophezeiung erzeugt das entsprechende Verhalten des einen beim anderen die Anspannung, die nötig ist, um die negativen Erwartungs-Erwartungen des einen zu bestätigen. Man könnte dies »Selbstorganisation zwischenmenschlichen Unglücks« nennen.

Beispiel

Die Geschichte mit dem Hammer

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er »Guten Tag« sagen kann, schreit ihn unser Mann an: »Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!«

Quelle: Watzlawick 1983

Systemische Interventionen

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