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Drittes Kapitel

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Der Angewöhnung des werten Publikums zu schmeicheln, welches seit geraumer Zeit Gefallen findet, sich stückweise unterhalten zu lassen, gedachten wir erst, nachstehende Erzählung in mehreren Abteilungen vorzulegen. Der innere Zusammenhang jedoch, nach Gesinnungen, Empfindungen und Ereignissen betrachtet, veranlaßte einen fortlaufenden Vortrag. Möge derselbe seinen Zweck erreichen und zugleich am Ende deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert scheinenden Begebenheit mit denjenigen, die wir schon kennen und lieben, aufs innigste zusammengeflochten worden. Der Mann von funfzig Jahren Der Major war in den Gutshof hereingeritten, und Hilarie, seine Nichte, stand schon, um ihn zu empfangen, außen auf der Treppe, die zum Schloß hinaufführte. Kaum erkannte er sie; denn schon war sie wieder größer und schöner geworden. Sie flog ihm entgegen, er drückte sie an seine Brust mit dem Sinn eines Vaters, und sie eilten hinauf zu ihrer Mutter.

Der Baronin, seiner Schwester, war er gleichfalls willkommen, und als Hilarie schnell hinwegging, das Frühstück zu bereiten, sagte der Major freudig: "Diesmal kann ich mich kurz fassen und sagen, daß unser Geschäft beendigt ist. Unser Bruder, der Obermarschall, sieht wohl ein, daß er weder mit Pächtern noch Verwaltern zurechtkommt. Er tritt bei seinen Lebzeiten die Güter uns und unsern Kindern ab; das Jahrgehalt, das er sich ausbedingt, ist freilich stark; aber wir können es ihm immer geben: wir gewinnen doch noch für die Gegenwart viel und für die Zukunft alles. Die neue Einrichtung soll bald in Ordnung sein. Da ich zunächst meinen Abschied erwarte, so sehe ich doch wieder ein tätiges Leben vor mir, das uns und den Unsrigen einen entschiedenen Vorteil bringen kann. Wir sehen ruhig zu, wie unsre Kinder emporwachsen, und es hängt von uns, von ihnen ab, ihre Verbindung zu beschleunigen."

"Das wäre alles recht gut", sagte die Baronin, "wenn ich dir nur nicht ein Geheimnis zu entdecken hätte, das ich selbst erst gewahr worden bin. Hilariens Herz ist nicht mehr frei; von der Seite hat dein Sohn wenig oder nichts zu hoffen."

"Was sagst du?" rief der Major; "ist's möglich? indessen wir uns alle Mühe geben, uns ökonomisch vorzusehen, so spielt uns die Neigung einen solchen Streich! Sag' mir, Liebe, sag' mir geschwind, wer ist es, der das Herz Hilariens fesseln konnte? Oder ist es denn auch schon so arg? Ist es nicht vielleicht ein flüchtiger Eindruck, den man wieder auszulöschen hoffen kann?"

"Du mußt erst ein wenig sinnen und raten", versetzte die Baronin und vermehrte dadurch seine Ungeduld. Sie war schon aufs höchste gestiegen, als Hilarie, mit den Bedienten, welche das Frühstück trugen, hereintretend, eine schnelle Auflösung des Rätsels unmöglich machte.

Der Major selbst glaubte das schöne Kind mit andern Augen anzusehen als kurz vorher. Es war ihm beinahe, als wenn er eifersüchtig auf den Beglückten wäre, dessen Bild sich in einem so schönen Gemüt hatte eindrücken können. Das Frühstück wollte ihm nicht schmecken, und er bemerkte nicht, daß alles genau so eingerichtet war, wie er es am liebsten hatte und wie er es sonst zu wünschen und zu verlangen pflegte. über dieses Schweigen und Stocken verlor Hilarie fast selbst ihre Munterkeit. Die Baronin fühlte sich verlegen und zog ihre Tochter ans Klavier; aber ihr geistreiches und gefühlvolles Spiel konnte dem Major kaum einigen Beifall ablocken. Er wünschte das schöne Kind und das Frühstück je eher je lieber entfernt zu sehen, und die Baronin mußte sich entschließen, aufzubrechen und ihrem Bruder einen Spaziergang in den Garten vorzuschlagen.

Kaum waren sie allein, so wiederholte der Major dringend seine vorige Frage; worauf seine Schwester nach einer Pause lächelnd versetzte: "Wenn du den Glücklichen finden willst, den sie liebt, so brauchst du nicht weit zu gehen, er ist ganz in der Nähe: dich liebt sie."

Der Major stand betroffen, dann rief er aus: "Es wäre ein sehr unzeitiger Scherz, wenn du mich etwas überreden wolltest, das mich im Ernst so verlegen wie unglücklich machen würde. Denn ob ich gleich Zeit brauche, mich von meiner Verwunderung zu erholen, so sehe ich doch mit einem Blicke voraus, wie sehr unsere Verhältnisse durch ein so unerwartetes Ereignis gestört werden müßten. Das einzige, was mich tröstet, ist die überzeugung, daß Neigungen dieser Art nur scheinbar sind, daß ein Selbstbetrug dahinter verborgen liegt, und daß eine echte, gute Seele von dergleichen Fehlgriffen oft durch sich selbst oder doch wenigstens mit einiger Beihülfe verständiger Personen gleich wieder zurückkommt."

"Ich bin dieser Meinung nicht", sagte die Baronin; "denn nach allen Symptomen ist es ein sehr ernstliches Gefühl, von welchem Hilarie durchdrungen ist."

"Etwas so Unnatürliches hätte ich ihrem natürlichen Wesen nicht zugetraut", versetzte der Major.

"Es ist so unnatürlich nicht", sagte die Schwester. "Aus meiner Jugend erinnere ich mich selbst einer Leidenschaft für einen älteren Mann, als du bist. Du hast funfzig Jahre; das ist immer noch nicht gar zu viel für einen Deutschen, wenn vielleicht andere, lebhaftere Nationen früher altern."

"Wodurch willst du aber deine Vermutung bekräftigen?" sagte der Major.

"Es ist keine Vermutung, es ist Gewißheit. Das Nähere sollst du nach und nach vernehmen."

Hilarie gesellte sich zu ihnen, und der Major fühlte sich, wider seinen Willen, abermals verändert. Ihre Gegenwart deuchte ihn noch lieber und werter als vorher; ihr Betragen schien ihm liebevoller, und schon fing er an, den Worten seiner Schwester Glauben beizumessen. Die Empfindung war für ihn höchst angenehm, ob er sich gleich solche weder gestehen noch erlauben wollte. Freilich war Hilarie höchst liebenswürdig, indem sich in ihrem Betragen die zarte Scheu gegen einen Liebhaber und die freie Bequemlichkeit gegen einen Oheim auf das innigste verband; denn sie liebte ihn wirklich und von ganzer Seele. Der Garten war in seiner vollen Frühlingspracht, und der Major, der so viele alte Bäume sich wieder belauben sah, konnte auch an die Wiederkehr seines eignen Frühlings glauben. Und wer hätte sich nicht in der Gegenwart des liebenswürdigsten Mädchens dazu verführen lassen!

So verging ihnen der Tag zusammen; alle häuslichen Epochen wurden mit der größten Gemütlichkeit durchlebt; abends nach Tisch setzte sich Hilarie wieder ans Klavier; der Major hörte mit andern Ohren als heute früh; eine Melodie schlang sich in die andere, ein Lied schloß sich ans andere, und kaum vermochte die Mitternacht die kleine Gesellschaft zu trennen.

Als der Major auf seinem Zimmer ankam, fand er alles nach seiner alten, gewohnten Bequemlichkeit eingerichtet; sogar einige Kupferstiche, bei denen er gern verweilte, waren aus andern Zimmern herübergehängt; und da er einmal aufmerksam geworden war, so sah er sich bis auf jeden einzelnen kleinen Umstand versorgt und geschmeichelt.

Nur wenig Stunden Schlaf bedurfte er diesmal; seine Lebensgeister waren früh aufgeregt. Aber nun merkte er auf einmal, daß eine neue Ordnung der Dinge manches Unbequeme nach sich ziehe. Er hatte seinem alten Reitknecht, der zugleich die Stelle des Bedienten und Kammerdieners vertrat, seit mehreren Jahren kein böses Wort gegeben: denn alles ging in der strengsten Ordnung seinen gewöhnlichen Gang; die Pferde waren versorgt und die Kleidungsstücke zu rechter Stunde gereinigt; aber der Herr war früher aufgestanden, und nichts wollte passen.

Sodann gesellte sich noch ein anderer Umstand hinzu, um die Ungeduld und eine Art böser Laune des Majors zu vermehren. Sonst war ihm alles an sich und seinem Diener recht gewesen; nun aber fand er sich, als er vor den Spiegel trat, nicht so, wie er zu sein wünschte. Einige graue Haare konnte er nicht leugnen, und von Runzeln schien sich auch etwas eingefunden zu haben. Er wischte und puderte mehr als sonst und mußte es doch zuletzt lassen, wie es sein konnte. Auch mit der Kleidung und ihrer Sauberkeit war er nicht zufrieden. Da sollten sich immer noch Fasern auf dem Rock und noch Staub auf den Stiefeln finden. Der Alte wußte nicht, was er sagen sollte, und war erstaunt, einen so veränderten Herrn vor sich zu sehen.

Ungeachtet aller dieser Hindernisse war der Major schon früh genug im Garten. Hilarien, die er zu finden hoffte, fand er wirklich. Sie brachte ihm einen Blumenstrauß entgegen, und er hatte nicht den Mut, sie wie sonst zu küssen und an sein Herz zu drücken. Er befand sich in der angenehmsten Verlegenheit von der Welt und überließ sich seinen Gefühlen, ohne zu denken, wohin das führen könne.

Die Baronin gleichfalls säumte nicht lange zu erscheinen, und indem sie ihrem Bruder ein Billet wies, das ihr eben ein Bote gebracht hatte, rief sie aus: "Du rätst nicht, wen uns dieses Blatt anzumelden kommt." — "So entdecke es nur bald!" versetzte der Major; und er erfuhr, daß ein alter theatralischer Freund nicht weit von dem Gute vorbeireise und für einen Augenblick einzukehren gedenke. "Ich bin neugierig, ihn wiederzusehen", sagte der Major; "er ist kein Jüngling mehr, und ich höre, daß er noch immer die jungen Rollen spielt." — "Er muß um zehn Jahre älter sein als du", versetzte die Baronin. — "Ganz gewiß", erwiderte der Major, "nach allem, was ich mich erinnere."

Es währte nicht lange, so trat ein munterer, wohlgebauter, gefälliger Mann herzu. Man stutzte einen Augenblick, als man sich wiedersah. Doch sehr bald erkannten sich die Freunde, und Erinnerungen aller Art belebten das Gespräch. Hierauf ging man zu Erzählungen, zu Fragen und zu Rechenschaft über; man machte sich wechselweise mit den gegenwärtigen Lagen bekannt und fühlte sich bald, als wäre man nie getrennt gewesen.

Die geheime Geschichte sagt uns, daß dieser Mann in früherer Zeit, als ein sehr schöner und angenehmer Jüngling, einer vornehmen Dame zu gefallen das Glück oder Unglück gehabt habe; daß er dadurch in große Verlegenheit und Gefahr geraten, woraus ihn der Major eben im Augenblick, als ihn das traurigste Schicksal bedrohte, glücklich herausriß. Ewig blieb er dankbar, dem Bruder sowohl als der Schwester; denn diese hatte durch zeitige Warnung zur Vorsicht Anlaß gegeben.

Einige Zeit vor Tische ließ man die Männer allein. Nicht ohne Bewunderung, ja gewissermaßen mit Erstaunen hatte der Major das äußere Behaben seines alten Freundes im ganzen und einzelnen betrachtet. Er schien gar nicht verändert zu sein, und es war kein Wunder, daß er noch immer als jugendlicher Liebhaber auf dem Theater erscheinen konnte. "Du betrachtest mich aufmerksamer als billig ist", sprach er endlich den Major an; "ich fürchte sehr, du findest den Unterschied gegen vorige Zeit nur allzu groß." — "Keineswegs", versetzte der Major, "vielmehr bin ich voll Verwunderung, dein Aussehen frischer und jünger zu finden als das meine; da ich doch weiß, daß du schon ein gemachter Mann warst, als ich, mit der Kühnheit eines wagehalsigen Gelbschnabels, dir in gewissen Verlegenheiten beistand." — "Es ist deine Schuld", versetzte der andere, "es ist die Schuld aller deinesgleichen; und ob ihr schon darum nicht zu schelten seid, so seid ihr doch zu tadeln. Man denkt immer nur ans Notwendige; man will sein und nicht scheinen. Das ist recht gut, solange man etwas ist. Wenn aber zuletzt das Sein mit dem Scheinen sich zu empfehlen anfängt und der Schein noch flüchtiger als das Sein ist, so merkt denn doch ein jeder, daß er nicht übel getan hätte, das äußere über dem Innern nicht ganz zu vernachlässigen." — "Du hast recht", versetzte der Major und konnte sich fast eines Seufzers nicht enthalten "Vielleicht nicht ganz recht", sagte der bejahrte Jüngling; "denn freilich bei meinem Handwerke wäre es ganz unverzeihlich, wenn man das äußere nicht so lange aufstutzen wollte, als nur möglich ist. Ihr andern aber habt Ursache, auf andere Dinge zu sehen, die bedeutender und nachhaltiger sind." — "Doch gibt es Gelegenheiten", sagte der Major, "wo man sich innerlich frisch fühlt und sein äußeres auch gar zu gern wieder auffrischen möchte."

Da der Ankömmling die wahre Gemütslage des Majors nicht ahnen konnte, so nahm er diese äußerung im Soldatensinne und ließ sich weitläufig darüber aus: wie viel beim Militär aufs äußere ankomme und wie der Offizier, der so manches auf seine Kleidung zu wenden habe, doch auch einige Aufmerksamkeit auf Haut und Haare wenden könne.

"Es ist zum Beispiel unverantwortlich", fuhr er fort, "daß Eure Schläfen schon grau sind, daß hie und da sich Runzeln zusammenziehen und daß Euer Scheitel kahl zu werden droht. Seht mich alten Kerl einmal an! betrachtet, wie ich mich erhalten habe! und das alles ohne Hexerei und mit weit weniger Mühe und Sorgfalt, als man täglich anwendet, um sich zu beschädigen oder wenigstens Langeweile zu machen."

Der Major fand bei dieser zufälligen Unterredung zu sehr seinen Vorteil, als daß er sie so bald hätte abbrechen sollen; doch ging er leise und selbst gegen einen alten Bekannten mit Behutsamkeit zu Werke. "Das habe ich nun leider versäumt!" rief er aus, "und nachzuholen ist es nicht; ich muß mich nun schon darein ergeben, und Ihr werdet deshalb nicht schlimmer von mir denken."

"Versäumt ist nichts!" erwiderte jener, "wenn ihr andern ernsthaften Herren nur nicht so starr und steif wäret, nicht gleich einen jeden, der sein äußeres bedenkt, für eitel erklären und euch dadurch selbst die Freude verkümmern möchtet, in gefälliger Gesellschaft zu sein und selbst zu gefallen." — "Wenn es auch keine Zauberei ist", lächelte der Major, "wodurch ihr andern euch jung erhaltet, so ist es doch ein Geheimnis, oder wenigstens sind es Arcana, dergleichen oft in Zeitungen gepriesen werden, von denen ihr aber die besten herauszuproben wißt." — "Du magst im Scherz oder im Ernst reden", versetzte der Freund, "so hast du's getroffen. Unter den vielen Dingen, die man von jeher versucht hat, um dem äußeren einige Nahrung zu geben, das oft viel früher als das Innere abnimmt, gibt es wirklich unschätzbare, einfache sowohl als zusammengesetzte Mittel, die mir von Kunstgenossen mitgeteilt, für bares Geld oder durch Zufall überliefert und von mir selbst ausgeprobt worden. Dabei bleib' ich und verharre nun, ohne deshalb meine weitern Forschungen aufzugeben. So viel kann ich dir sagen, und ich übertreibe nicht: ein Toilettenkästchen führe ich bei mir, über allen Preis! ein Kästchen, dessen Wirkungen ich wohl an dir erproben möchte, wenn wir nur vierzehn Tage zusammenblieben."

Der Gedanke, etwas dieser Art sei möglich und diese Möglichkeit werde ihm gerade in dem rechten Augenblicke so zufällig nahe gebracht, erheiterte den Geist des Majors dergestalt, daß er wirklich schon frischer und munterer aussah und, von der Hoffnung, Haupt und Gesicht mit seinem Herzen in übereinstimmung zu bringen, belebt, von der Unruhe, die Mittel dazu bald näher kennen zu lernen, in Bewegung gesetzt, bei Tische ein ganz anderer Mensch erschien, Hilariens anmutigen Aufmerksamkeiten getrost entgegenging und auf sie mit einer gewissen Zuversicht blickte, die ihm heute früh noch sehr fremd gewesen war.

Hatte nun durch mancherlei Erinnerungen, Erzählungen und glückliche Einfälle der theatralische Freund die einmal angeregte gute Laune zu erhalten, zu beleben und zu vermehren gewußt, so wurde der Major um so verlegener, als jener gleich nach Tische sich zu entfernen und seinen Weg weiter fortzusetzen drohte. Auf alle Weise suchte er den Aufenthalt seines Freundes, wenigstens über Nacht, zu erleichtern, indem er Vorspann und Relais auf morgen früh andringlich zusagte. Genug, die heilsame Toilette sollte nicht aus dem Hause, bis man von ihrem Inhalt und Gebrauch näher unterrichtet wäre.

Der Major sah sehr wohl ein, daß hier keine Zeit zu verlieren sei, und suchte daher gleich nach Tische seinen alten Günstling allein zu sprechen. Da er das Herz nicht hatte, ganz gerade auf die Sache loszugehen, so lenkte er von weitem dahin, indem er, das vorige Gespräch wieder auffassend, versicherte: er für seine Person würde gern mehr Sorgfalt auf das äußere verwenden, wenn nur nicht gleich die Menschen einen jeden, dem sie ein solches Bestreben anmerken, für eitel erklärten und ihm dadurch sogleich wieder an der sittlichen Achtung entzögen, was sie sich genötigt fühlten an der sinnlichen ihm zuzugestehen.

"Mache mich mit solchen Redensarten nicht verdrießlich!" versetzte der Freund; "denn das sind Ausdrücke, die sich die Gesellschaft angewöhnt hat, ohne etwas dabei zu denken, oder, wenn man es strenger nehmen will, wodurch sich ihre unfreundliche und mißwollende Natur ausspricht. Wenn du es recht genau betrachtest: was ist denn das, was man oft als Eitelkeit verrufen möchte? Jeder Mensch soll Freude an sich selbst haben, und glücklich, wer sie hat. Hat er sie aber, wie kann er sich verwehren, dieses angenehme Gefühl merken zu lassen? Wie soll er mitten im Dasein verbergen, daß er eine Freude am Dasein habe? Fände die gute Gesellschaft, denn von der ist doch hier allein die Rede, nur alsdann diese äußerungen tadelhaft, wenn sie zu lebhaft werden, wenn des einen Menschen Freude an sich und seinem Wesen die andern hindert, Freude an dem ihrigen zu haben und sie zu zeigen, so wäre nichts dabei zu erinnern, und von diesem übermaß ist auch wohl der Tadel zuerst ausgegangen. Aber was soll eine wunderlich-verneinende Strenge gegen etwas Unvermeidliches? Warum will man nicht eine äußerung läßlich und erträglich finden, die man denn doch mehr oder weniger sich von Zeit zu Zeit selbst erlaubt? ja, ohne die eine gute Gesellschaft gar nicht existieren könnte: denn das Gefallen an sich selbst, das Verlangen, dieses Selbstgefühl andern mitzuteilen, macht gefällig, das Gefühl eigner Anmut macht anmutig. Wollte Gott, alle Menschen wären eitel, wären es aber mit Bewußtsein, mit Maß und im rechten Sinne: so würden wir in der gebildeten Welt die glücklichsten Menschen sein. Die Weiber, sagt man, sind eitel von Hause aus; doch es kleidet sie, und sie gefallen uns um desto mehr. Wie kann ein junger Mann sich bilden, der nicht eitel ist? Eine leere, hohle Natur wird sich wenigstens einen äußern Schein zu geben wissen, und der tüchtige Mensch wird sich bald von außen nach innen zu bilden. Was mich betrifft, so habe ich Ursache, mich auch deshalb für den glücklichsten Menschen zu halten, weil mein Handwerk mich berechtigt, eitel zu sein, und weil ich, je mehr ich es bin, nur desto mehr Vergnügen den Menschen schaffe. Ich werde gelobt, wo man andere tadelt, und habe, gerade auf diesem Wege, das Recht und das Glück, noch in einem Alter das Publikum zu ergötzen und zu entzücken, in welchem andere notgedrungen vom Schauplatz abtreten oder nur mit Schmach darauf verweilen."

Der Major hörte nicht gerne den Schluß dieser Betrachtungen. Das Wörtchen Eitelkeit, als er es vorbrachte, sollte nur zu einem übergang dienen, um dem Freunde auf eine geschickte Weise seinen Wunsch vorzutragen; nun fürchtete er, bei einem fortgesetzten Gespräch das Ziel noch weiter verrückt zu sehen, und eilte daher unmittelbar zum Zweck.

"Für mich", sagte er, "wäre ich gar nicht abgeneigt, auch zu deiner Fahne zu schwören, da du es nicht für zu spät hältst und glaubst, daß ich das Versäumte noch einigermaßen nachholen könne. Teile mir etwas von deinen Tinkturen, Pomaden und Balsamen mit, und ich will einen Versuch machen."

"Mitteilungen", sagte der andere, "sind schwerer, als man denkt. Denn hier z. B. kommt es nicht allein darauf an, daß ich dir von meinen Fläschchen etwas abfülle und von den besten Ingredienzien meiner Toilette die Hälfte zurücklasse; die Anwendung ist das Schwerste. Man kann das überlieferte sich nicht gleich zu eigen machen; wie dieses und jenes passe, unter was für Umständen, in welcher Folge die Dinge zu gebrauchen seien, dazu gehört übung und Nachdenken; ja selbst diese wollen kaum fruchten, wenn man nicht eben zu der Sache, wovon die Rede ist, ein angebotenes Talent hat."

"Du willst, wie es scheint", versetzte der Major, "nun wieder zurücktreten. Du machst mir Schwierigkeiten, um deine freilich etwas fabelhaften Behauptungen in Sicherheit zu bringen. Du hast nicht Lust, mir einen Anlaß, eine Gelegenheit zu geben, deine Worte durch die Tat zu prüfen."

"Durch diese Neckereien, mein Freund", versetzte der andere, "würdest du mich nicht bewegen, deinem Verlangen zu willfahren, wenn ich nicht selbst so gute Gesinnungen gegen dich hätte, wie ich es ja zuerst dir angeboten habe. Dabei bedenke, mein Freund, der Mensch hat gar eine eigne Lust, Proselyten zu machen, dasjenige, was er an sich schätzt, auch außer sich in andern zu Erscheinung zu bringen, sie genießen zu lassen, was er selbst genießt, und sich in ihnen wiederzufinden und darzustellen. Fürwahr, wenn dies auch Egoismus ist, so ist er der liebenswürdigste und lobenswürdigste, derjenige, der uns zu Menschen gemacht hat und uns als Menschen erhält. Aus ihm nehme ich denn auch, abgesehen von der Freundschaft, die ich zu dir hege, die Lust, einen Schüler in der Verjüngungskunst aus dir zu machen. Weil man aber von dem Meister erwarten kann, daß er keine Pfuscher ziehen will, so bin ich verlegen, wie wir es anfangen. Ich sagte schon: weder Spezereien noch irgendeine Anweisung ist hinlänglich; die Anwendung kann nicht im Allgemeinen gelehrt werden. Dir zuliebe und aus Lust, meine Lehre fortzupflanzen, bin ich zu jeder Aufopferung bereit. Die größte für den Augenblick will ich dir sogleich anbieten. Ich lasse dir meinen Diener hier, eine Art von Kammerdiener und Tausendkünstler, der, wenn er gleich nicht alles zu bereiten weiß, nicht in alle Geheimnisse eingeweiht ist, doch die ganze Behandlung recht gut versteht und für den Anfang dir von großem Nutzen sein wird, bis du dich in die Sache so hineinarbeitest, daß ich dir die höheren Geheimnisse endlich auch offenbaren kann."

"Wie!" rief der Major, "du hast auch Stufen und Grade deiner Verjüngungskunst? Du hast noch Geheimnisse für die Eingeweihten?" — "Ganz gewiß!" versetzte jener. "Das müßte gar eine schlechte Kunst sein, die sich auf einmal fassen ließe, deren Letztes von demjenigen gleich geschaut werden könnte, der zuerst hereintritt."

Man zauderte nicht lange, der Kammerdiener ward an den Major gewiesen, der ihn gut zu halten versprach. Die Baronin mußte Schächtelchen, Büchschen und Gläser hergeben, sie wußte nicht wozu; die Teilung ging vor sich, man war bis in die Nacht munter und geistreich zusammen. Bei dem späteren Aufgang des Mondes fuhr der Gast hinweg und versprach, in einiger Zeit zurückzukehren.

Der Major kam ziemlich müde auf sein Zimmer. Er war früh aufgestanden, hatte sich den Tag nicht geschont und glaubte nunmehr das Bett bald zu erreichen. Allein er fand statt eines Dieners nunmehr zwei. Der alte Reitknecht zog ihn nach alter Art und Weise eilig aus; aber nun trat der neue hervor und ließ merken, daß die eigentliche Zeit, Verjüngungs — und Verschönerungsmittel anzubringen, die Nacht sei, damit in einem ruhigen Schlaf die Wirkung desto sicherer vor sich gehe. Der Major mußte sich also gefallen lassen, daß sein Haupt gesalbt, sein Gesicht bestrichen, seine Augenbrauen bepinselt und seine Lippen betupft wurden. Außerdem wurden noch verschiedene Zeremonien erfordert; sogar sollte die Nachtmütze nicht unmittelbar aufgesetzt, sondern vorher ein Netz, wo nicht gar eine feine lederne Mütze übergezogen werden.

Der Major legte sich zu Bette mit einer Art von unangenehmer Empfindung, die er jedoch sich deutlich zu machen keine Zeit hatte, indem er gar bald einschlief. Sollen wir aber in seine Seele sprechen, so fühlte er sich etwas mumienhaft, zwischen einem Kranken und einem Einbalsamierten. Allein das süße Bild Hilariens, umgeben von den heitersten Hoffnungen, zog ihn bald in einen erquickenden Schlaf.

Morgens zur rechten Zeit war der Reitknecht bei der Hand. Alles, was zum Anzuge des Herrn gehörte, lag in gewohnter Ordnung auf den Stühlen, und eben war der Major im Begriff, aus dem Bette zu steigen, als der neue Kammerdiener hereintrat und lebhaft gegen eine solche übereilung protestierte. Man müsse ruhen, man müsse sich abwarten, wenn das Vorhaben gelingen, wenn man für so manche Mühe und Sorgfalt Freude erleben solle. Der Herr vernahm sodann, daß er in einiger Zeit aufzustehen, ein kleines Frühstück zu genießen und alsdann in ein Bad zu steigen habe, welches schon bereitet sei. Den Anordnungen war nicht auszuweichen, sie mußten befolgt werden, und einige Stunden gingen unter diesen Geschäften hin.

Der Major verkürzte die Ruhezeit nach dem Bade, dachte sich geschwind in die Kleider zu werfen; denn er war seiner Natur nach expedit und wünschte noch überdies, Hilarien bald zu begegnen; aber auch hier trat ihm sein neuer Diener entgegen und machte ihm begreiflich, daß man sich durchaus abgewöhnen müsse, fertig werden zu wollen. Alles, was man tue, müsse man langsam und behaglich vollbringen, besonders aber die Zeit des Anziehens habe man als angenehme Unterhaltungsstunde mit sich selbst anzusehen.

Die Behandlungsart des Kammerdieners traf mit seinen Reden völlig überein. Dafür glaubte sich aber auch der Major wirklich besser angezogen denn jemals, als er vor den Spiegel trat und sich auf das schmuckeste herausgeputzt erblickte. Ohne viel zu fragen, hatte der Kammerdiener sogar die Uniform moderner zugestutzt, indem er die Nacht auf diese Verwandlung wendete. Eine so schnell erscheinende Verjüngung gab dem Major einen besonders heitern Sinn, so daß er sich von innen und außen erfrischt fühlte und mit ungeduldigem Verlangen den Seinigen entgegeneilte.

Er fand seine Schwester vor dem Stammbaume stehen, den sie hatte aufhängen lassen, weil abends vorher zwischen ihnen von einigen Seitenverwandten die Rede gewesen, welche, teils unverheiratet, teils in fernen Landen wohnhaft, teils gar verschollen, mehr oder weniger den beiden Geschwistern oder ihren Kindern auf reiche Erbschaften Hoffnung machten. Sie unterhielten sich einige Zeit darüber, ohne des Punktes zu erwähnen, daß sich bisher alle Familiensorgen und Bemühungen bloß auf ihre Kinder bezogen. Durch Hilariens Neigung hatte sich diese ganze Ansicht freilich verändert, und doch mochte weder der Major noch seine Schwester in diesem Augenblick der Sache weiter gedenken.

Die Baronin entfernte sich, der Major stand allein vor dem lakonischen Familiengemälde. Hilarie trat an ihn heran, lehnte sich kindlich an ihn, beschaute die Tafel und fragte: wen er alles von diesen gekannt habe? Und wer wohl noch leben und übrig sein möchte?

Der Major begann seine Schilderung von den ältesten, deren er sich aus seiner Kindheit nur noch dunkel erinnerte. Dann ging er weiter, zeichnete die Charaktere verschiedener Väter, die ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Kinder mit denselben, bemerkte, daß oft der Großvater im Enkel wieder hervortrete, sprach gelegentlich von dem Einfluß der Weiber, die, aus fremden Familien herüber heiratend, oft den Charakter ganzer Stämme verändern. Er rühmte die Tugend manches Vorfahren und Seitenverwandten und verschwieg ihre Fehler nicht. Mit Stillschweigen überging er diejenigen, deren man sich hätte zu schämen gehabt. Endlich kam er an die untersten Reihen. Da stand nun sein Bruder, der Obermarschall, er und seine Schwester und unten drunter sein Sohn und daneben Hilarie.

"Diese sehen einander gerade genug ins Gesicht", sagte der Major und fügte nicht hinzu, was er im Sinne hatte. Nach einer Pause versetzte Hilarie bescheiden, halblaut und fast mit einem Seufzer: "Und doch wird man denjenigen niemals tadeln, der in die Höhe blickt!" Zugleich sah sie mit ein paar Augen an ihm hinauf, aus denen ihre ganze Neigung hervorsprach. — "Versteh' ich dich recht?" sagte der Major, indem er sich zu ihr wendete. — "Ich kann nichts sagen", versetzte Hilarie lächelnd, "was Sie nicht schon wissen." — "Du machst mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne!" rief er aus und fiel ihr zu Füßen. "Willst du mein sein?" — "Um Gottes willen stehen Sie auf! Ich bin dein auf ewig."

Die Baronin trat herein. Ohne überrascht zu sein, stutzte sie.

— "Wäre es ein Unglück", sagte der Major, "Schwester! so ist die Schuld dein; als Glück wollen wir's dir ewig verdanken."

Die Baronin hatte ihren Bruder von Jugend auf dergestalt geliebt, daß sie ihn allen Männern vorzog, und vielleicht war selbst die Neigung Hilariens aus dieser Vorliebe der Mutter, wo nicht entsprungen, doch gewiß genährt worden. Alle drei vereinigten sich nunmehr in einer Liebe, einem Behagen, und so flossen für sie die glücklichsten Stunden dahin. Nur wurden sie denn doch zuletzt auch wieder die Welt um sich her gewahr, und diese steht selten mit solchen Empfindungen im Einklang.

Nun dachte man auch wieder an den Sohn. Ihm hatte man Hilarien bestimmt, das ihm sehr wohl bekannt war. Gleich nach Beendigung des Geschäfts mit dem Obermarschall sollte der Major seinen Sohn in der Garnison besuchen, alles mit ihm abreden und diese Angelegenheiten zu einem glücklichen Ende führen. Nun war aber durch ein unerwartetes Ereignis der ganze Zustand verrückt; die Verhältnisse, die sonst sich freundlich ineinanderschmiegten, schienen sich nunmehr anzufeinden, und es war schwer vorauszusehen, was die Sache für eine Wendung nehmen, was für eine Stimmung die Gemüter ergreifen würde.

Indessen mußte sich der Major entschließen, seinen Sohn aufzusuchen, dem er sich schon angemeldet hatte. Er machte sich nicht ohne Widerwillen, nicht ohne sonderbare Ahnung, nicht ohne Schmerz, Hilarien auch nur auf kurze Zeit zu verlassen, nach manchem Zaudern auf den Weg, ließ Reitknecht und Pferde zurück und fuhr mit seinem Verjüngungsdiener, den er nun nicht mehr entbehren konnte, der Stadt, dem Aufenthalte seines Sohnes, entgegen.

Beide begrüßten und umarmten sich nach so langer Trennung aufs herzlichste. Sie hatten einander viel zu sagen und sprachen doch nicht sogleich aus, was ihnen zunächst am Herzen lag. Der Sohn erging sich in Hoffnungen eines baldigen Avancements; wogegen ihm der Vater genaue Nachricht gab, was zwischen den ältern Familiengliedern wegen des Vermögens überhaupt, wegen der einzelnen Güter und sonst verhandelt und beschlossen worden.

Das Gespräch fing schon einigermaßen an zu stocken, als der Sohn sich ein Herz faßte und zu dem Vater lächelnd sagte: "Sie behandeln mich sehr zart, lieber Vater, und ich danke Ihnen dafür. Sie erzählen mir von Besitztümern und Vermögen und erwähnen der Bedingung nicht, unter der, wenigstens zum Teil, es mir eigen werden soll; Sie halten mit dem Namen Hilariens zurück, Sie erwarten, daß ich ihn selbst ausspreche, daß ich mein Verlangen zu erkennen gebe, mit dem liebenswürdigen Kinde bald vereinigt zu sein."

Der Major befand sich bei diesen Worten des Sohnes in großer Verlegenheit; da es aber teils seiner Natur, teils einer alten Gewohnheit gemäß war, den Sinn des andern, mit dem er zu verhandeln hatte, zu erforschen, so schwieg er und blickte den Sohn mit einem zweideutigen Lächeln an. — "Sie erraten nicht, mein Vater, was ich zu sagen habe", fuhr der Lieutenant fort, "und ich will es nur rasch ein für allemal herausreden. Ich kann mich auf Ihre Güte verlassen, die, bei so vielfacher Sorge für mich, gewiß auch an mein wahres Glück gedacht hat. Einmal muß es gesagt sein, und so sei es gleich gesagt: Hilarie kann mich nicht glücklich machen! Ich gedenke Hilariens als einer liebenswürdigen Anverwandten, mit der ich zeitlebens in den freundschaftlichsten Verhältnissen stehen möchte; aber eine andere hat meine Leidenschaft erregt, meine Neigung gefesselt. Unwiderstehlich ist dieser Hang; Sie werden mich nicht unglücklich machen." Nur mit Mühe verbarg der Major die Heiterkeit, die sich über sein Gesicht verbreiten wollte, und fragte den Sohn mit einem milden Ernst: wer denn die Person sei, welche sich seiner so gänzlich bemächtigen können. — "Sie müssen dieses Wesen sehen, mein Vater: denn sie ist so unbeschreiblich als unbegreiflich. Ich fürchte nur, Sie werden selbst von ihr hingerissen, wie jedermann, der sich ihr nähert. Bei Gott! Ich erlebe es und sehe Sie als den Rival Ihres Sohnes."

"Wer ist sie denn?" fragte der Major. "Wenn du ihre Persönlichkeit zu schildern nicht imstande bist, so erzähle mir wenigstens von ihren äußern Umständen: denn diese sind doch wohl eher auszusprechen. " — "Wohl, mein Vater!" versetzte der Sohn; "und doch würden auch diese äußeren Umstände bei einer andern anders sein, anders auf eine andere wirken. Sie ist eine junge Witwe, Erbin eines alten, reichen, vor kurzem verstorbenen Mannes, unabhängig und höchst wert, es zu sein, von vielen umgeben, von ebenso vielen geliebt, von ebenso vielen umworben, doch, wenn ich mich nicht sehr betriege, mir von Herzen angehörig."

Mit Behaglichkeit, weil der Vater schwieg und kein Zeichen der Mißbilligung äußerte, fuhr der Sohn fort, das Betragen der schönen Witwe gegen ihn zu erzählen, jene unwiderstehliche Anmut, jene zarten Gunstbezeigungen einzeln herzurühmen, in denen der Vater freilich nur die leichte Gefälligkeit einer allgemein gesuchten Frau erkennen konnte, die unter vielen wohl irgendeinen vorzieht, ohne sich eben für ihn ganz und gar zu entscheiden. Unter jeden andern Umständen hätte er gewiß gesucht, einen Sohn, ja nur einen Freund auf den Selbstbetrug aufmerksam zu machen, der wahrscheinlich hier obwalten könnte; aber diesmal war ihm selbst so viel daran gelegen, wenn der Sohn sich nicht täuschen, wenn die Witwe ihn wirklich lieben und sich so schnell als möglich zu seinen Gunsten entscheiden möchte, daß er entweder kein Bedenken hatte oder einen solchen Zweifel bei sich ablehnte, vielleicht auch nur verschwieg.

"Du setzest mich in große Verlegenheit", begann der Vater nach einiger Pause. "Die ganze übereinkunft zwischen den übriggebliebenen Gliedern unsers Geschlechts beruht auf der Voraussetzung, daß du dich mit Hilarien verbindest. Heiratet sie einen Fremden, so ist die ganze, schöne, künstliche Vereinigung eines ansehnlichen Vermögens wieder aufgehoben, und du besonders in deinem Teile nicht zum besten bedacht. Es gäbe wohl noch ein Mittel, das aber ein wenig sonderbar klingt und wobei du auch nicht viel gewinnen würdest: ich müßte noch in meinen alten Tagen Hilarien heiraten, wodurch ich dir aber schwerlich ein großes Vergnügen machen würde."

"Das größte von der Welt!" rief der Lieutenant aus; "denn wer kann eine wahre Neigung empfinden, wer kann das Glück der Liebe genießen oder hoffen, ohne daß er dieses höchste Glück einem jeden Freund, einem jeden gönnte, der ihm wert ist! Sie sind nicht alt, mein Vater; wie liebenswürdig ist nicht Hilarie! und schon der vorüberschwebende Gedanke, ihr die Hand zu bieten, zeugt von einem jugendlichen Herzen, von frischer Mutigkeit. Lassen Sie uns diesen Einfall, diesen Vorschlag aus dem Stegreife ja recht gut durchsinnen und ausdenken. Dann würde ich erst recht glücklich sein, wenn ich Sie glücklich wüßte; dann würde ich mich erst recht freuen, daß Sie für die Sorgfalt, mit der Sie mein Schicksal bedacht, an sich selbst so schön und höchlich belohnt würden. Nun führe ich sie erst mutig, zutraulich und mit recht offenem Herzen zu meiner Schönen. Sie werden meine Empfindungen billigen, weil Sie selbst fühlen; Sie werden dem Glück eines Sohnes nichts in den Weg legen, weil Sie Ihrem eigenen Glück entgegengehen."

Mit diesen und andern dringenden Worten ließ der Sohn den Vater, der manche Bedenklichkeiten einstreuen wollte, nicht Raum gewinnen, sondern eilte mit ihm zur schönen Witwe, welche sie in einem großen, wohleingerichteten Hause, umgeben von einer zwar nicht zahlreichen, aber ausgesuchten Gesellschaft, in heiterer Unterhaltung antrafen. Sie war eins von den weiblichen Wesen, denen kein Mann entgeht. Mit unglaublicher Gewandtheit wußte sie den Major zum Helden dieses Abends zu machen. Die übrige Gesellschaft schien ihre Familie, der Major allein der Gast zu sein. Sie kannte seine Verhältnisse recht gut, und doch wußte sie darnach zu fragen, als wenn sie alles erst von ihm recht erfahren wollte; und so mußte auch jedes von der Gesellschaft schon irgendeinen Anteil an dem Neuangekommenen zeigen. Der eine mußte seinen Bruder, der andere seine Güter und der Dritte sonst wieder etwas gekannt haben, so daß der Major bei einem lebhaften Gespräch sich immer als den Mittelpunkt fühlte. Auch saß er zunächst bei der Schönen; ihre Augen waren auf ihn, ihr Lächeln an ihn gerichtet; genug, er fand sich so behaglich, daß er beinahe die Ursache vergaß, warum er gekommen war. Auch erwähnte sie seines Sohnes kaum mit einem Worte, obgleich der junge Mann lebhaft mitsprach; er schien für sie, wie die übrigen alle, heute nur um des Vaters willen gegenwärtig.

Frauenzimmerliche Handarbeiten, in Gesellschaft unternommen und scheinbar gleichgültig fortgesetzt, erhalten durch Klugheit und Anmut oft eine wichtige Bedeutung. Unbefangen und emsig fortgesetzt, geben solche Bemühungen einer Schönen das Ansehen völliger Unaufmerksamkeit auf die Umgebung und erregen in derselben ein stilles Mißgefühl. Dann aber, gleichsam wie beim Erwachen, ein Wort, ein Blick versetzt die Abwesende wieder mitten in die Gesellschaft, sie erscheint als neu willkommen; legt sie aber gar die Arbeit in den Schoß nieder, zeigt sie Aufmerksamkeit auf eine Erzählung, einen belehrenden Vortrag, in welchem sich die Männer so gern ergehen, dies wird demjenigen höchst schmeichelhaft, den sie dergestalt begünstigt.

Unsere schöne Witwe arbeitete auf diese Weise an einer so prächtigen als geschmackvollen Brieftasche, die sich noch überdies durch ein größeres Format auszeichnete. Dies ward nun eben von der Gesellschaft besprochen, von dem nächsten Nachbar aufgenommen, unter großen Lobpreisungen der Reihe nach herumgegeben, indessen die Künstlerin sich mit dem Major von ernsten Gegenständen besprach; ein alter Hausfreund rühmte das beinahe fertige Werk mit übertreibung, doch als solches an den Major kam, schien sie es als seiner Aufmerksamkeit nicht wert von ihm ablehnen zu wollen, wogegen er auf eine verbindliche Weise die Verdienste der Arbeit anzuerkennen verstand, inzwischen der Hausfreund darin ein penelopeisch zauderhaftes Werk zu sehen glaubte.

Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 2

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