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Kapitel 1

Gottesdienst – und keiner geht hin

1.1 Das Ende einer kirchlichen Tradition?

Seit Jahren wird über den evangelischen Gottesdienst lamentiert. Immer weniger besuchen die sonntäglichen Veranstaltungen der Kirchen und Gemeinden. Betroffen sind Landeskirchen und Freikirchen. Die Situation in den Großstädten vermag die Lage anschaulich zu verdeutlichen. Ein Dutzend Gottesdienstbesucher verlieren sich im gewaltigen Schiff einer zentralen evangelischen Kirche in Hamburg-Altona. Und in den meisten Baptistengemeinden der Stadt erscheint weniger als die Hälfte ihrer Mitglieder zum Gottesdienst.

Hamburg ist bei weitem keine Ausnahme. Nicht viel anders sieht es in Berlin aus oder in Frankfurt und München, Zürich oder Wien. Die Situation ist prekär. Die EKD zeigt in ihrer regelmäßig erhobenen Mitgliederbefragung (4. KMU), dass 15 Prozent ihrer Mitglieder nie einen Gottesdienst besuchen, 27 Prozent einmal im Jahr oder seltener, 35 Prozent mehrmals im Jahr (in der Regel nur zu „Pflichtveranstaltungen“ der Kirche). Damit besuchen 77 Prozent der Mitglieder faktisch nie einen Gottesdienst. Mitglieder, die jeden Sonntag einen kirchlichen Gottesdienst besuchen, machen laut KMU gerade noch zehn Prozent aus.3 Wobei man realistischerweise eher von fünf Prozent ausgehen müsste, wie die Studie von Beck zeigt (Beck 2007:46). Und auch hier sind es in der Regel eher ältere Menschen, die sich in die Kirche wagen.

Nach einer gezielten Untersuchung der Altersstruktur der Gottesdienstbesucher in 123 zufällig ausgewählten evangelischen Gottesdiensten, die die Arbeitsgruppe „Kirche für Morgen“ am 19. Oktober 2003 durchführte, sind 47,6 Prozent der Besucher über 60 Jahre alt; 28,2 Prozent zwischen 40 und 60; 17,9 Prozent 20 bis 40 und nur 6,4 Prozent unter 20 Jahre alt. Das Ergebnis der Befragung ließ die Arbeitsgruppe zu dem Schluss kommen, dass wir es mit einer „Seniorenkirche“ zu tun haben (:86ff).

Ist die traditionelle Kirche dabei, sich von der Bühne zu stehlen? Altbischof Theo Sorg hat sich jedenfalls bereits 1977 tief besorgt über den Besucherschwund kirchlicher Veranstaltungen geäußert (Sorg 1977:62). Zehn Jahre später wiederholte er seine Sorge mit gleicher Vehemenz (1987:56). Andere bestätigen seine Befürchtungen.4 Heute ist die Lage nicht viel anders.

Warum besuchen die Menschen keinen Gottesdienst mehr, obwohl sie sich nachweislich zur Kirche zählen? Liegt es daran, dass Menschen ihr Interesse für Glaubensfragen verloren haben, oder eher an der Art und Weise, wie der kirchliche Gottesdienst abläuft? Kann es sein, dass die Krise in der sich der Gottesdienst heute befindet, hausgemacht ist? Kann es sein, dass die Gestalt des typischen traditionellen Gottesdienstes wesentlich dazu beiträgt, dass Menschen sich hier nicht mehr wiederfinden? Oder, noch tiefer gefragt, kann es sein, dass der Gottesdienst sich wesensmäßig so stark verändert hat, dass derjenige, der darin seinen Dienst anbieten soll, Gott selbst, sich aus dem Gottesdienst zurückgezogen hat? Wenn der Gottesdienst der bevorzugte Ort ist, „an dem wir unsere Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen“ (Kuen 1998:1), dann ist doch folgende Frage angebracht: Was ist an diesem Ort der Begegnung aus dem Ruder gelaufen, dass ausgerechnet eine gewollte Liebesbegegnung nicht mehr stattfindet? Oder ist etwa eine solche Begegnung gar nicht mehr im Blick? Es bedarf keiner besonderen Kunst, um festzustellen, dass die meisten Gottesdienste heute mit Gott selbst nur noch am Rande zu tun haben. Für viele Gottesdienstbesucher ist der traditionelle Gottesdienst in erster Linie ein Kasualiengottesdienst. Man geht hin, weil es gesellschaftlich angebracht erscheint, an bestimmten Passagen der eigenen Biografie gottesdienstliche Begleitung zu erfahren. Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung stehen hier hoch im Kurs. Dazu kommen unerwartete Lebenserfahrungen und Stresssituationen, die einen Gottesdienstbesuch möglicherweise wünschenswert macht. Eine solche Kasualisierung des Gottesdienstes, wie sie von bestimmten Vertretern der Kirche befürwortet wird,5 bedeutet allerdings eine massive Umdeutung des Gottesdienstes und schließlich auch eine Neudefinition des Christentums an sich. Hier ist Gottesdienst vom Menschen her gedacht. Er ist zum Ort, zur Quelle individueller geistlicher und seelischer Befriedigung geworden. Gottesbegegnung wird hier auf eine distanzierte, persönlich kaum wahrgenommene religiöse Erfahrung reduziert. Man geht hin, weil man glaubt, die Religion für sich selbst instrumentalisieren zu können.

Ist das Gottesdienst, wie ihn die Bibel lehrt? Oder hat sich hier eine genuin heidnische Grundhaltung nach vorne geschoben, die den Gottesdienst als solchen zu einer Abart seiner selbst umgestaltet hat? Hat das Kasualchristentum eine Überlebenschance in einer Welt, die zunehmend nach der Alltagsbedeutung des Glaubens fragt?

1.2 Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft

Als bewusste Alternative zu den Kasualiengottesdiensten verstehen sich all jene Vorschläge zur Gottesdienstgestaltung, die sich darum bemühen, den modernen Menschen da abzuholen, wo er sich wirklich befindet. Einen „menschengerechten Gottesdienst“ fordert beispielsweise Winfried Blasig (1981). Im Zeitalter der Unterhaltung ist persönliches Erleben von zentraler Bedeutung. Die Erlebnisgesellschaft unserer Tage verlangt nach der Befriedigung persönlicher Erlebnisbedürfnisse.6 Der Gottesdienst kann und soll, so wird argumentiert, jenen religiösen Raum bieten, wo die Erlebnisdefizite auf spiritueller Ebene abgebaut werden.7 Wo Unterhaltung zum Gestaltungsprinzip des gesellschaftlichen Daseins erhoben wird, muss der Gottesdienst zur Unterhaltung werden. Der Gottesdienst wird somit zu einem Kunstwerk (Grözinger 1998:98ff), zu einer „theatralischen Inszenierung“ (Kunz 2006:65), die „fantastisch inszeniert ist, die Menschen in Staunen versetzt, aber keine […] praktischen Konsequenzen zur Folge hat“ (Beck 2007:47).

Doch ist eine solche Schlussfolgerung nicht auch gefährlich? Ist eine Veranstaltung, in der die Besucher ihren spirituellen Kick bekommen, allein deshalb Gottesdienst, weil es hier um Spiritualität geht? Und ist der Geist der Unterhaltung gleichzusetzen mit der Gegenwart des Heiligen Geistes? Oder muss man vielmehr davon ausgehen, dass die Unterhaltungsmentalität am Ende zum Leichenhaus der Kirche wird? Mit dem berühmten Buchtitel von Neil Postman (2000) gesprochen, amüsieren wir uns nicht auch in der Kirche zu Tode, wenn wir unsere Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie dem Zeitgeist überlassen? Nicht wenige vermuten genau das, wie H.-G. Heimbrock in seinem Artikel „Gottesdienst in der Unterhaltungsgesellschaft“ anschaulich darstellt (Heimbrock 1999:143f).

Und offen gefragt: Womit unterscheiden sich denn Erlebnisgottesdienste von jenen verpönten traditionellen Kasualgottesdiensten? Wesentlich geht es doch hier wie da darum, dass der Mensch auf seine Kosten kommt. Hier wie da wird in der Religion eine Quelle ausgemacht, die man für sich persönlich nutzbar machen kann. Hier wie da ist der Mensch selbst im Zentrum dessen, was wir Gottesdienst nennen.

Könnte es sein, dass gerade hier das eigentliche Problem verborgen liegt? Könnte es sein, dass wir eine radikale Wende vollziehen müssen, wenn wir zu einer anderen geistlichen Qualität des Gottesdienstes in unseren Kirchen und Freikirchen kommen wollen?

1.3 Was ist Gottesdienst?

Theo Sorg kommt in seinen Überlegungen zum Thema Gottesdienst zur entscheidenden Feststellung: Es kommt darauf an, was denn die Kirche mit ihrem Gottesdienst will (Sorg 1987:55). Gottesdienst muss Gottesdienst bleiben. Aber was heißt das? Wie sehen Gottesdienste aus, wenn sie so ablaufen, wie sie biblisch gesehen sein müssten? Was findet da statt? Wie werden sie gestaltet, wie geleitet? Mit anderen Worten – was ist das Wesen des evangelischen Gottesdienstes; eines Gottesdienstes, der vom Evangelium her kommt und Gottes ursprüngliche Vision wiedergibt?

„Was Gottesdienst ist, das weiß doch jeder“, wird man vielleicht sofort einwenden. Berge von Büchern sind dazu bereits geschrieben und publiziert worden. Warum also die Mühe? Ich bin nicht sicher, ob die Fülle an Literatur eine eindeutige Antwort geben kann. In den christlichen Gemeinden, die ich besuche, staune ich über die allgegenwärtige Unkenntnis zum Thema. Will man aber Erneuerung, dann muss zu allererst der Status quo geklärt werden. „Wir sind dem Leben aus Gott entfremdet“, sagt der Apostel Paulus, „aufgrund unserer Ignoranz und der Verhärtung des Herzens“ (Eph 4,17f). Wir müssen erst einmal die Ignoranz und die Verhärtung der Positionen notieren, bevor wir diese verändern können. „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch freimachen“, dieser Grundsatz Jesu (Joh 8,32) gilt auch hier.

Was ist also unser Gottesdienstverständnis? Was ist Ihr Gottesdienstverständnis? Folgende Übung soll Ihnen helfen, Klarheit zu gewinnen. Bitte ergänzen und vervollständigen Sie folgende Sätze:

Unter Gottesdienst verstehe ich:

Zu einem richtigen Gottesdienst gehören unbedingt folgende Elemente:

Folgende Personen spielen im Gottesdienst eine entscheidende Rolle:

Meine Rolle im Gottesdienst ist:

Gottes Rolle im Gottesdienst ist:

Es wäre hilfreich, wenn Sie diese Fragen auch Ihren Mitchristen in der Gemeinde stellen würden. Ideal wäre es, wenn sogar die Gesamtgemeinde einmal darauf antworten würde.

Jeder Weg hat einen Anfang. Der Weg der Erneuerung nimmt seinen Anfang immer an dem Punkt, wo die zu erneuernde Wirklichkeit bloßgestellt wird. „Perestroika beginnt mit Glasnost“, dieser Satz des ehemaligen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der UdSSR, Michail Gorbatschow, der eine radikale Neustrukturierung der Welt eingeleitet hat, bleibt auch in unserem Zusammenhang in Kraft. „Perestroika“ bedeutet Transformation, „Glasnost“ heißt Transparenz. Veränderung beginnt also mit Offenheit und Ehrlichkeit.

Und dann fragen Sie einmal Menschen, die keinen christlichen Gottesdienst besuchen: Was denken sie darüber, was in den vier Wänden Ihrer Kirche Sonntag für Sonntag stattfindet? Fragen Sie Nachbarn in der unmittelbaren Umgebung Ihrer Kirchengemeinde. Sie werden staunen, was diese alles für möglich halten!

Und dann vergleichen Sie Ihre eigenen Vorstellungen mit denen anderer Menschen. Sind diese Vorstellungen kompatibel? Wird den Menschen geboten, was sie erwarten oder vermuten? Wenn nicht, dann sind Probleme vorprogrammiert. Warum sollten Menschen in eine Veranstaltung gehen, die sie missverstehen? Warum sollten sie von Gottesdiensten begeistert sein, die ihnen nichts sagen?

Und schließlich ist da ja noch Gott. Was denkt er über Gottesdienst? Wollte und will er das, was wir Gottesdienst nennen? Wenn ja, wo finde ich in der Bibel eine entsprechende biblische Bestätigung? Oder hat auch er sich längst aus unserer Mitte verabschiedet, weil er in der Veranstaltung, die wir anbieten, für sich selbst keinen Platz findet?

Zugegeben, es sind einfache und direkte Fragen. Sie sind leicht zu beantworten. Doch leider wird genau das kaum gemacht. Wagen Sie es!

Die Lektüre dieses Buches wird eine andere Qualität erhalten, wenn Sie jetzt erst einmal nicht weiter lesen, sondern die vorgeschlagene Übung machen. Und wenn Sie damit fertig sind, füllen Sie die Tabelle auf der folgenden Seite aus. Vergleichen Sie die einzelnen Aussagen miteinander. Wenn Sie Widersprüche und Spannungen in den Aussagen ausmachen, notieren Sie diese in der Spalte „Spannungen“.

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