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2. Der Zug (jetzt)

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Pünktlich zwei Wochen nach Vollmond trifft der Zug ein. Diesmal bestehend aus dem Zugmeister und weiteren zwanzig Teilnehmern. Alle sind Erstgeborene und alle gerade erwachsen geworden. Seit der Geburt von ihren Eltern und Lehrern darauf vorbereitet, mit dem Zug bis an die Grenze der bekannten Welt zu ziehen, um das Leben im allgemeinen und den Frieden im speziellen zu sichern. Zwanzig junge Menschen, die es nicht abwarten können, ihren Dienst zu tun. Alle sind durchtrainiert und muskulös, egal ob Frau oder Mann.

Aber plötzlich fällt Björn ein Junge in der Truppe auf, der überhaupt nicht zu den restlichen Teilnehmern zu passen scheint. Recht schmächtig und blass steht er etwas abseits von den anderen. Er trägt auch nicht das sonst übliche braune Lederwams sondern einen dunkelroten Umhang, der ihm fast bis zu den Knöcheln reicht. Björn kann es kaum glauben. Er hat es schon öfters als Gerücht vernommen, aber nie geglaubt. Menschen in roten Umhängen gelten als Hexer. Als Menschen mit merkwürdigen Eigenschaften und noch merkwürdigerem Wissen. Ziemlich nutzlos im Kampf, aber wenigsten nicht gefährlich für andere Menschen.

Allerdings waren die Hexer und Hexen, von denen Björn bisher hinter vorgehaltener Hand gehört hat, immer sehr alte Männer bzw. Frauen. Aber er ist so jung…

Björn wird in seinen Gedanken unterbrochen, da der Zugmeister hoch erhobenen Hauptes vortritt. Ein älterer, sehniger Mann, von der Sonne gegerbte Haut und mit einem feinen Lächeln auf den Lippen. Mit lauter Stimme spricht er seinen Gruß:

"Sehr geehrte Bürger von Sizza. Wir danken für euer Willkommen sowie natürlich auch für Verpflegung und Unterkunft. Besonders danken wir euch für die Unterstützung durch eure Erstgeborenen. Wir kommen von weit her und werden noch viel weiter ziehen. Wir tun dies, um euch zu schützen und unsere herrliche Welt zu ehren."

Lauter Beifall brandet auf und die Hochrufe werden immer lauter. Noch intensiver wird der Jubel, als die 25 jungen Menschen aus Sizza und Umgebung sich zu den bisherigen Zugteilnehmern gesellen. Die Bewahrer der Weltordnung kann man einfach nicht laut genug hochleben lassen. Und Björn ist nun einer von ihnen.


Nach dem offiziellen Teil geht es zu dem gemütlichen über. Der große Platz vor dem Verteiler ist zu einem Festplatz umgestaltet. Normalerweise liefern hier täglich Dutzende von Ochsenkarren die Waren an. Diese werden in den Verteiler, ein gigantisches Warenlager, gebracht und eingelagert. Dutzende von Schreibern listen die Waren auf und notieren das Lieferdatum, die Qualität, wer es anliefert und alle weiteren nötigen Daten.

Die Weisen, hier in Sizza gehören drei Männer und drei Frauen dazu, planen dann den weiteren Umgang mit den Waren, was für längere Zeit eingelagert werden muss oder welche Ware sofort wieder an die Bevölkerung verteilt wird. In die Planung geht die aktuelle Jahreszeit, die bisherige Ernte und die im Lauf des Jahres noch zu erwartenden Anlieferungen mit ein, sowie Dutzende von weiteren Parametern, die nur die Weisen kennen.

Jetzt ist aber weit und breit kein Karren zu sehen, nur Hunderte von ausgelassenen Menschen, die fröhlich feiern. Etliche Musiker, bunt gekleidete Gaukler und wagemutige Feuerspucker unterhalten die Massen. Alle Häuser um den Platz herum sind mit frisch angefertigten Blumengirlanden geschmückt. Es wird ohne Ausnahme gesungen und getanzt.

Sowohl die Fischer, Bauern als auch Handwerker lassen es sich gut gehen. Aber auch die Schreiber aus dem Verteiler, ja sogar die Weisen selbst, nehmen an dem heiteren Fest teil. Erst am frühen Morgen gehen die ersten nach Hause.

Verständlich, dass es in der Stadt am nächsten Tag etwas gemächlicher zugeht. Nur Gorm, der Zugmeister, ist schon auf den Beinen und besucht die neu zu dem Zug Hinzukommenden. Mit jedem einzelnen redet er lange und klärt, welche Dinge er mit auf die Reise nehmen sollte und was zu beachten ist. Natürlich schaut er auch bei Björn herein:

„Du bist also, hier in diesem Hause, in dieser Familie, der Erstgeborene und nun volljährig. Wie ist dein Name?“

„Ich heiße Björn.“

„Willkommen beim Zug, Björn. Mein Name ist Gorm und ich bin, wie du sicher bereits weißt, ab jetzt dein Zugmeister. Besitzt du alle notwendigen Ausrüstungsgegenstände? Rucksack, Decken, Kochgeschirr usw., oder muss dir von der Gemeinschaft etwas gestellt werden?“

„Ich habe alles. Meine Eltern haben mir schon vor Monaten alles zukommen lassen. Ich bin bestens ausgerüstet.“

„Und wie sieht es mit einer Waffe aus? Besitzt du eine oder wirst du zuerst mit einem Stecken vorlieb nehmen?“

„Ich besitze ein Schwert!“

Stolz holt Björn das Päckchen und wickelt langsam die Tücher ab. Zum Vorschein kommt sein Schwert aus EisHolz. So etwas hat selbst Gorm noch nicht gesehen. Vorsichtig nimmt er es aus seiner Umhüllung und wiegt es in der Hand. Sanft streicht er mit einem Finger über die Klinge. Anerkennend pfeift er durch die Zähne, als er die unbeschreibliche Schärfe spürt.

„Es ist ein unglaubliches Schwert. Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand EisHolz bearbeiten konnte und schon gar nicht zu einem Schwert formen! Kannst du damit auch umgehen?“

„Ja, sicher. Ich habe lange und hart trainiert.“

"Mal sehen."

Gorm zieht sein Schwert. Es besteht offensichtlich vollständig aus Ebenholz. Die schwarze Waffe glänzt edel in der Sonne, die durch ein Fenster in die Stube scheint. Das Holz ist mit das Härteste auf der gesamten Welt. Nur das EisHolz ist härter. Es soll bloß noch wenige Ebenholzbäume im Süden der Welt geben. Diese Laubbäume mit ihrer schwarzen Borke und dem schwarzen Holz werden von ihren Besitzern gehegt und gepflegt. Nur selten wird ein Baum gefällt, um daraus besondere Waffen oder Werkzeuge zu fertigen.

Gorm und Björn verbeugen sich vor ihrem Trainingsduell. Es beginnt so, wie es Björn mit Roland jahrelang geübt hat. Einer greift an, der andere pariert, danach wird gewechselt. Immer schneller folgt Schlag auf Schlag. Die Hiebe werden kräftiger und es wird schwerer, ihnen auszuweichen. Plötzlich baut Gorm eine Finte vor seinen eigentlichen Angriff ein. Aber auch Scheinangriffe hat Roland seinem Schüler beigebracht, und so kann er auch diesen abwehren. Die Schlagfolge ist atemberaubend und zwischen den einzelnen Aktionen finden beide kaum noch Zeit zum Luftholen. Björn will schon fast aufgeben, da beendet sein zukünftiger Zugmeister das Duell.

Erschöpft von dem intensiven Kampf setzen sich beide an den Tisch und erfrischen sich mit einem Glas kalten Wassers. Jetzt endlich findet Björn Zeit, sich Gorm näher anzusehen. Er ist groß, muskulös und seine schulterlangen Haare sind bereits ergraut. Etliche Narben zieren seine Arme und eine besonders Große zieht sich über seine rechte Stirn. Seine strengen Augen sind fast so schwarz wie sein Ebenholz-Schwert, aber ein ständiges, feines Lächeln bildet einen angenehmen und auflockernden Kontrast hierzu.

Im Gesamteindruck empfindet Björn seinen Zugmeister als einen ehrenwerten und vertrauenswürdigen Menschen und er freut sich bereits jetzt darauf, mit ihm gehen zu dürfen.

Nachdem noch ein paar weitere Details abgeklärt sind, gibt Gorm bekannt, dass der Zug in zwei Tagen weiterzieht. Björn habe sich zusammen mit den anderen direkt nach Sonnenaufgang am Verteilerplatz einzufinden. Als Gorm bereits wieder an der Tür steht, dreht er sich noch einmal herum und zieht sein Schwert. Mit einer Hand öffnet er den Gürtel mit der Schwertscheide und übergibt diesen Björn.

"Mir scheint, du hast keine Scheide für dein Schwert. Nimm solange meine, es müsste nach meinem Eindruck passen. Dieses Schwert ohne Scheide wäre ein Jammer und seiner nicht würdig. Pflege diesen Schatz gut und ziehe ihn nur, wenn es unbedingt notwendig ist. Vielleicht solltest du für Trainingsduelle mit deinen Mitreisenden noch ein anderes Schwert oder zumindest eine andere Waffe mitnehmen."

Mit diesen Worten dreht es sich nun endgültig um und verlässt das Haus, um die nächste Familie aufzusuchen.


Die nächsten zwei Tage verbringt Björn im Kreise der Familie. Er fährt nicht wie gewohnt auf das Meer hinaus zum Fischen. Auch die anderen gehen nicht ihrer täglichen Arbeit nach. Je näher die Stunde der Abreise rückt, umso mulmiger wird es ihm. Anfangs war er durchdrungen von Abenteuerlust und Stolz, seine Heimat zu verteidigen, aber nun …

Wahrscheinlich wird er die Stadt nie wieder sehen. Und auch nicht seine Familie. Immer wieder fragt er sich, ob er seine Eltern und Geschwister sehr vermissen wird. Ob er wohl von Heimweh geplagt wird? Aber er zweifelt keine Sekunde daran, dass der Zug das einzig Richtige ist!


Endlich ist sein großer Tag gekommen. Früh im Morgengrauen geht er mit seiner Familie zum Sammelpunkt. Dort treffen sich alle, die am Zug teilnehmen. Dutzende von Zuschauern sind ebenfalls hier, um die Tapferen würdig zu verabschieden. Die Pferde, die bisher in einem Stall untergebracht waren, sind vor die Karren gespannt. Frischer Proviant ist aufgeladen und auch einiges an weiteren Ausrüstungsgegenständen.

Björn hat seinen Tornister auf den Rücken geschnallt, in dem alles Notwendige enthalten ist: Von einer Decke über eine Schlafmatte, frischer Kleidung bis zum Waschzeug. Sein edles Schwert hat er etwas getarnt und seitlich am Tornister angebracht. Sein Vater hat seinem Sohn als Abschiedsgeschenk ein einfaches Eichenschwert überreicht. Dieses trägt er an seiner Seite am Gürtel befestigt, ebenso hängt dort ein Lederschlauch mit seinem persönlichen Wasservorrat.

Nachdem alle Zugteilnehmer versammelt sind, teilt Gorm die Aufstellung ein. Die bisherigen Teilnehmer werden zur Hälfte an den Anfang des Zuges gesetzt, zur Hälfte an das Ende. Vorne sollen sie den Weg erkunden und die Hinteren auf die "Neulinge" aufpassen. Schauen, ob sie mit der Geschwindigkeit und dem Gewicht der Tornister klarkommen. Der Zugmeister teilt mit den Worten: "Ihr passt sicher gut zusammen" Björn als Partner den Hexer zu.

Er ist sprachlos. Wieso muss er gerade neben so einem gehen. Die anderen scheinen erleichtert zu sein, dass sie nicht neben ihm marschieren müssen. Mit einem Krieger kann man sich über alles Mögliche unterhalten. Zum Beispiel über Waffen und den Umgang mit ihnen. Über Kampftraining und die ehemaligen Lehrer. Aber was soll man mit einem Hexer reden? Redet er überhaupt mit Kriegern? Björn sieht bereits einen langen, schweigsamen Marsch vor sich.

Unter lautem Gejohle und Hochrufen setzt sich der Zug in Bewegung. Vorne Gorm, der Zugmeister, danach in Zweierreihen die Teilnehmer mit ihren großen Tornistern auf dem Rücken. Als letztes rumpeln die Pferdekarren mit dem Proviant über die Straßen in nördlicher Richtung aus der Stadt. Auf diese Weise endet Björns bisheriges Leben und es beginnt sein neues.


Schon nach etwa einer Stunde muss Björn feststellen, dass er noch nie so weit von der Stadt entfernt war. Ab jetzt ist alles neu für ihn. Natürlich hat sich die Landschaft noch nicht verändert. Grüne Wiesen, weite Felder und lichte Wälder rundherum. Und da sie noch immer in der Nähe der Küste marschieren, liegt auch der gewohnte, salzige Meeresgeruch in der Luft.

Alle anderen Teilnehmer unterhalten sich mit ihrem Marschpartner angeregt. Aber Björn findet keinen Anfang, um sich mit dem Hexer zu unterhalten. Doch unerwartet beginnt dieser zu reden.

"Mein Name ist Felix. Und ich stamme aus Neappa. Dort startete der Zug."

Er hat eine freundliche Stimme und er spricht auch nicht "hexerisch", was Björn auch immer darunter verstanden haben mag.

"Ich heiße Björn und stamme, wie du sicher weißt, aus Sizza."

"Schön, dich kennen zu lernen. Schließlich werden wir einige Zeit zusammen marschieren. Die Etappe von Sizza nach Hunga ist die längste auf der gesamten Reise."

Björn hat zwar bereits von der Stadt Neappa im Süden gehört, aber von Hunga noch nie. Wie viel Tage sie wohl entfernt ist? Wie weit ist es überhaupt bis zum Rand? Plötzlich stellt Björn fest, dass er zwar seit seiner Geburt auf den Zug vorbereitet wurde, aber er eigentlich nichts, überhaupt nichts, darüber weiß. Wo kommt er her? Das zumindest hatte er dank dem Hexer soeben erfahren. Aber vielleicht sollte er lieber als Felix von ihm denken. Er scheint doch recht nett zu sein.

"Sag mal, Felix, wie weit ist es denn von deiner Heimatstadt bis zu meiner? Und wie weit ist es bis nach Hunga? Und wie geht es dann weiter? … Und wo gehen wir überhaupt hin?"

Felix muss über so viele Fragen ein wenig lächeln.

"Also von Neappa nach Sizza sind es 200 Kilometer und von dort nach Hunga etwa 300 Kilometer."

"Äh, wie weit ist ein Kilometer? Was ist das in Stunden oder Tagen?"

"Wir schaffen bei diesem Tempo etwa 30 bis 40 Kilometer pro Tag. Der Zug hat von meiner Heimatstadt in die deinige genau eine Woche benötigt. Nach Hunga sind es dann etwa zehn Tage."

"Ist Hunga unser endgültiges Ziel?"

"Nein, da sind wir noch lange nicht am Ziel. Wir werden noch in einigen weiteren Städten neue Teilnehmer aufnehmen. Wie müssen über Berge steigen und große Flüsse überqueren. Irgendwo hoch im Norden kommen wir dann an die Grenze, an der unsere Aufgabe beginnt. Die Verteidigung unserer Welt."

Und so zieht der Zug immer weiter. Björn und Felix unterhalten sich angeregt und "der Hexer" muss viele Fragen beantworten. Wie es in seiner Heimatstadt aussieht, ob er schon auf dem Meer war, usw. Fragen über Fragen.

Mittags wird kurz Rast gemacht und gegessen. Es werden Hasen gejagt, die hier zu Hunderten herumhüpfen. Einige Mitstreiter scheinen begnadete Köche zu sein, denn das zubereitete Fleisch schmeckt köstlich. Nach einer weiteren kurzen Verdauungspause geht es weiter.

"Felix, ich muss gestehen, ich habe dich anfangs völlig falsch eingeschätzt. Ich hätte, ehrlich gesagt, nie gedacht, dass es so interessant sein kann, sich mit einem Hexer zu unterhalten."

"Dann muss ich das Geständnis erwidern. Ein Krieger, der an so vielen Dingen außerhalb seiner Ausbildung interessiert ist, ist mir noch nie untergekommen. Mit den meisten kann man ein paar Minuten über Waffen sprechen, und das war es dann auch schon. Aber dein Wissensdrang scheint unerschöpflich. Übrigens nennen mich nur Krieger einen Hexer. Wir, in unserem Orden, nennen uns selbst die Bewahrer. Denn wir wollen das Wissen von heute bewahren. Und wir versuchen ebenfalls, das Wissen aus der Vorzeit zu entschlüsseln und zu speichern."

"Was meinst du mit Vorzeit?"

"Die Zeit, bevor die Welt so wurde wie sie jetzt ist. Die Zeit vor den gewaltigen Veränderungen. Die Zeit vor dem großen Krieg!"

"Krieg? Welcher Krieg? Gegen wen?"

"Wir wissen leider auch nur, dass es einen gewaltigen Krieg gegeben haben muss. An vielen Orten dieser Welt hat unser Orden Anzeichen hierfür gefunden, Bereiche, die wie gigantische Schlachtfelder aussehen, Ruinen von Häusern, die keinem unserer Behausungen gleichen. Aber wer den Krieg gegen wen geführt hat, ist auch uns nicht klar. Selbst gegen wen wir die Grenze heutzutage schützen müssen, ist uns nicht bekannt. Wir wissen nur, dass jährlich dutzende Menschen an der Grenze ihr Leben lassen, um unsere Welt zu erhalten!"

Erschlagen von dem neuen Wissen marschiert Björn den Rest des Tages schweigend weiter. In seinem Kopf rasen die Gedanken und bilden ein heilloses Chaos. Vorzeit – Krieg – Schlachten – Ruinen – Tote…


Erst am Abend, als sie das Nachtlager in einem lichten Forst aufschlagen, kommt er langsam wieder zu sich. Wie die anderen auch sucht er sich einen Schlafplatz, breitet er seine Matte aus und richtet sich so gemütlich wie möglich sein Eckchen ein. Andere haben bereits ein Feuer entfacht, indem sie mit einem Feuerbohrer Glut erzeugt haben. Dies ist ein spezieller Bogen, mit dem ein Stock so schnell auf einem Brettchen gedreht wird, bis ausreichend Hitze für die Glut entsteht. Diese wird dann auf Zunder[2] übertragen und unter Pusten zu Feuer entfacht. So entsteht ein knisterndes Lagerfeuer und dort wärmen sie das restliche Fleisch vom Mittag auf. Einige gehen zu einem nahegelegenen Bach und holen frisches Wasser für alle herbei.

So ist jeder beschäftigt, bis sie sich um das wärmende Feuer versammeln, um zu essen. Als die Mägen gefüllt sind, erzählt Gorm noch etwas von sich und seiner Heimat. Er ist auf einem Gehöft etwas außerhalb von Neappa geboren worden. Er war kein Erstgeborener sondern dass vierte Kind seiner Eltern. Somit hatte er keine Möglichkeit, am Zug teilzunehmen. So arbeitete er auf dem Hof seiner Familie, bis er zwanzig war.

Als er damals an einem Tag in die Stadt ging, um Waren zum dortigen Verteiler zu bringen, sammelten sich gerade die Teilnehmer des Zuges. Den damaligen Zugmeister traf er zufällig in einem Wirtshaus. Es war ein sehr alter Mann, der durch sein Rheuma schon ziemlich gebeugt gehen musste. Sie kamen ins Gespräch und nach kurzer Zeit erklärte der Alte, dass dies wohl sein letzter Zug sei und er einen Nachfolger suche. Gorm war sofort begeistert und bat darum, dass er dies doch sein möge. Und so begann seine Aufgabe.

Das Feuer ist inzwischen ziemlich heruntergebrannt. Alle gehen zu ihren Schlafstätten und legen sich hin. Für Björn ist es zwar nicht die erste Nacht unter freiem Himmel, aber die erste so weit von zu Hause fort. Obwohl gerade einen Tagesmarsch entfernt, kommt er sich doch etwas einsam und fremd vor.


Am nächsten Morgen gibt es Brot vom Proviantwagen und nach einer kurzen Wäsche am Bach geht es weiter, immer Richtung Westen, der Küstenlinie folgend. Die Landschaft ändert sich die nächsten zwei Marschtage nur ein wenig und alle Teilnehmer gewöhnen sich an den täglichen Trott. Am dritten Tag nähern sie sich einem gewaltigen Flusslauf.

Gorm erklärt, dies wäre der Südstrom mit dem Namen Tiger. Eine majestätische Steinbrücke überspannt den mächtigen Strom. Zwei breite Pfeiler stehen mitten in den reißenden Fluten und stützen die Brücke. Dieses Bauwerk erweckt für Björn den Eindruck, dass keine Macht der Welt ihm etwas anhaben kann. So eine imposante Konstruktion hat er noch nie gesehen. Auch den anderen bleibt die Luft weg. Vor Ehrfurcht sprachlos überqueren sie den Tiger und schlagen gleich am anderen Flussufer das Lager auf.

Einige, unter ihnen auch Björn, machen sich am Fluss mit schnell hergestellten Holzspeeren ans Fischen. Die meisten haben erhebliche Schwierigkeiten, obwohl es von großen Fischen nur so wimmelt. Die Lichtbrechung an der Wasseroberfläche lässt aber den Fisch für den Jäger an einer anderen Stelle erscheinen, als an der er sich eigentlich befindet. Björn hat hingegen jahrelange Erfahrung damit und spießt einen Fisch nach dem anderen problemlos auf. Das Abendessen ist gesichert.

Da es aber gerade erst früher Nachmittag ist, ruft Gorm alle zusammen und lässt sie gegeneinander im Schwertkampf trainieren. Er geht während dessen durch die Reihen und gibt wertvolle Tipps. Nur Felix sitzt etwas tatenlos an der Seite. Alle anderen üben mit ständig wechselnden Duellpartnern. Björn stellt schnell fest, dass er den meisten an Technik und Kraft weit überlegen ist. Roland scheint ein ganz besonderer Lehrmeister gewesen zu sein.

Nach und nach setzen sich die Duellanten erschöpft an die Seite, bis nur noch Björn steht. Bisher konnte ihn niemand richtig fordern, aber nun stellt sich ihm Gorm zum Kampf. Björn gibt sein bestes. Die anderen sind von diesem fantastischen Kampf begeistert. Sie johlen und feuern die beiden Kontrahenten abwechselnd an. Björn kann einige Zeit erfolgreich gegen seinen Zugmeister ankämpfen, aber zum Schluss ist er Gorm doch technisch unterlegen.

Ab diesem Moment steht Björn im Mittelpunkt der Truppe. Beim Abendessen scharen sich die anderen um ihn und wollen alles über ihn wissen. Über seine Familie, seine Arbeit und besonders über seinen Lehrer. Felix wird dabei an die Seite gedrängt und steht wieder im Abseits. Bevor aber sich alle auf ihre Schlafstellen begeben, geht Björn noch zu ihm. Er will mehr über den Orden der Bewahrer wissen und wieso Felix den Zug begleitet. Und so berichtet dieser:

„Unser Orden existiert schon seit mehreren Generationen. Niemand, selbst die Ältesten von uns, können sich an dessen Gründung erinnern. Wir leben auf einem Gutshof in der Nähe von Neappa. Wir bewirtschaften unsere Felder und auch sonst ist unser Leben recht unspektakulär. Aber jede freie Minute sprechen wir miteinander und lernen das Wissen der jeweils anderen. Manchmal unternehmen Ordensbrüder weite Ausflüge, um bisher unbekannte Gegenden auf unserer Welt zu erkunden. So haben einige von uns im Norden von Neappa riesige, verwüstete Felder entdeckt, auf denen keine Pflanze wuchs. Oder die besagten Ruinen. Die Ruinenfelder sollen sich über ein Areal erstrecken, dass um ein Vielfaches größer ist als deine oder meine Heimatstadt.“

„Und was macht ihr mit all dem Wissen.“

„Wir zeichnen zum Beispiel Karten von unserer Welt. Willst du eine sehen?“



Björn schaut etwas verunsichert. Er weiß nicht, was eine Karte sein soll und auch als Felix ihm ein Stück Stoff mit bunten Mustern vorlegt, hilft ihm das nicht.

Mühsam bekommt er alles erklärt. Das Meer, die Küstenumrisse sowie die Straßen und Wege. Es ist auch der Strom Tiger eingezeichnet und so kann Björn nun nachvollziehen, wo sich die steinerne Brücke befindet. Am meisten muss sich Björn aber damit abfinden, dass die komischen Striche Runen seien sollen, aus denen man den Namen einer Sache „lesen“ kann. So etwas kannten in Sizza höchstens die Schreiber und Weisen. Aus den Zeichen S i z z a soll Sizza zu deuten sein. Er kommt sich so unwissend vor.

Die nächsten Tage fragt er Felix während der gesamten Marschzeit aus. Abends, nach dem täglichen Duelltraining, versucht er, Lesen und Schreiben zu lernen. Begierig nimmt Björn jeden Tropfen Wissen in sich auf.


Am siebten Tag lagern sie in der Sichtweite einer der großen Ruinenstätten. Diese Gelegenheit möchte sich Felix auf keinen Fall entgehen lassen. So bitten Felix und Björn den Zugmeister, die Gegend erkunden zu dürfen. Aber erst nachdem sie mehrfach versichert haben, sehr vorsichtig zu sein, dürfen sie los.

Felix hatte vor Jahren zum ersten Mal von solchen Stätten gehört, konnte sich aber nie die wahren Ausmaße hiervon vorstellen. So weit das Auge reicht, nur Ruinen. Alle ragen nur wenig über die Vegetation hinaus, aber die rechteckigen Umrisse von den Gebäuden sind klar zu erkennen. Ehrfurchtsvoll gehen sie zwischen den Gemäuern auf den ehemaligen Straßen durch die "Stadt". Wer hier wohl gelebt haben mag? Es müssen viele tausend Menschen gewesen sein oder sogar noch viel mehr. Aber wo waren sie nun? Was war passiert? Und wann? Je länger sie herumschlendern, um sehr mehr Fragen tun sich ihnen auf.

Björn fällt als erstes auf, dass die Straßen, auf denen sie gehen, fast perfekt glatt sind. An wenigen Ecken hat sich Unkraut durch den grauen Belag gedrückt, aber ansonsten ist er fugenlos und extrem hart. Keine festgestampfte Erde und keine verlegten Steine. Was für ein Wundermaterial ist das?

Mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen folgen sie langsam den ehemaligen Straßenzügen. Nur hin und wieder blockieren ein paar Steine den Weg und sie müssen vorsichtig darüber klettern. Plötzlich kommt ein Brocken davon ins Rutschen und Björn muss hastig zur Seite springen, damit er nicht getroffen wird. Als er an die Stelle schaut, an der vorher der Stein gelegen hat, entdeckt er etwas Glitzerndes im Staub.

Vorsichtig zieht er eine kleine, flache Scheibe heraus. So ein Material hat er noch nie gesehen. Es ist sehr fest, fühlt sich kalt an und er kann sich fast in der glatten Oberfläche spiegeln. Im Sonnenlicht bekommt das sonderbare Ding einen wunderschönen, lila Schimmer.

„Es ist aus PiReM!“ stöhnt Felix auf

„Es ist aus was…?“

„PiReM. Es ist ein ganz besonders hartes und äußerst seltenes Material. Wir, die Bewahrer, haben schon viel damit experimentiert und uns erscheint es nahezu unzerstörbar. Nur im Feuer, zumindest wenn es unvorstellbar heiß brennt, schmilzt das Material und dann kann man es in eine neue Form gießen. Wir vom Orden sammeln seit Jahrzehnten jeden kleinen Brocken und haben im letzten Winter endlich genug zusammen gehabt, um eine neue Art von Waffe zu erstellen. Ein Schwert vollständig aus PiReM. Es ist absolut stabil und super scharf.“

„Und was macht ihr mit dem Schwert jetzt?“

„Ich bringe es an die Grenze und suche einen würdigen Krieger, dem ich es übergeben kann. Wir vom Orden hoffen, damit dem Schutz unserer Heimat zu dienen. Ich habe es seitlich an meinem Tornister verborgen.“

Björn muss leise in sich hinein grinsen, denn nicht nur er versteckt ein besonderes Schwert.

Felix schaut sich noch länger den Fund an und dreht ihn mehrfach in den Händen. Aber erst Björn erkennt im Gegenlicht, dass auf der soeben gefundenen Scheibe einige Runen in zittrigen Buchstaben eingeritzt sind. Mit gemeinsamen Anstrengungen können sie den Text nach einiger Zeit entziffern:

"Der schwarze Schatten hat alles zerstört. Er wird auch uns töten!"

Schwarzer Schatten

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