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Berlin, Dienstag, 06.10.2015

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Der Multifunktionstisch im Esszimmer ist das wichtigste Möbelstück in der ganzen Wohnung. An dem Tisch macht Bruno fast alles, wofür man einen stabilen Tisch braucht. Essen schon klar, sagt ja der Name, aber unter anderem auch Computer. Der Tisch steht mit der Stirnseite direkt vor dem Fenster und seitlich davon ist Brunos Lieblingsplatz, so kann er seinen Blick ab und zu vom Bildschirm seines Notebooks heben und zum Ausgleich nach draußen schauen. Vom zweiten Stock kann man zwar nicht mehr sehen, wer das Haus betritt, aber die Baumkronen, die Häuserfront gegenüber, mit ein bisschen Mühe sogar ein Stück vom Himmel. Der heute ist leider grau, keine Chance für die Sonne und die Bäume werden vom Wind wieder ziemlich heftig durchgeschüttelt, naja, Oktober eben. Karla hat sich schon auf den Weg zu ihrer Wohnung gemacht. Sie haben noch gemeinsam gefrühstückt und danach blieb Bruno allein zurück. Er ist diesmal aber nicht traurig darüber, im Gegenteil, irgendwie hat ihn die Sache mit Hannas verschwundenem Ehemann doch noch erreicht. Kann auch sein, dass Hanna ihn gestern Abend irgendwann noch erreicht hat. Also jetzt nicht so wie man denken könnte, bloß weil sie eine äußerst attraktive Frau ist. Nein, da kennt Bruno nichts, erstens Karla, ganz klar, und dann keine Weiderechte im Freundeskreis, da ist er eisern. Trotzdem machen natürlich auch die verzwicktesten Geschichten mehr Spaß, wenn …, naja, da braucht man ja nur mal ins Kino zu gehen, guck dir doch mal einen James Bond Film an, nur schöne Frauen um den herum. Folgerichtig braucht Bruno jetzt seine Ruhe, muss erst mal sortieren und gewichten, was er da so alles gestern Abend erfahren hat. Viel war es ja nicht, aber zum Schluss, als Karla in der Küche hantierte und er mit Hanna allein war, da kam doch noch etwas Interessantes zur Sprache.

Muss man sich mal vorstellen, da ist eine Frau, die ist seit fast zwanzig Jahren mit einem Mann verheiratet, der immer noch ein Geheimnis in sich trägt. Allerdings keines von der Art verwunschener Königssohn oder erfolgreicher Filmstar, oder vielleicht dicke Erbschaft, so mit Schloss und Schlosspark, natürlich auch mehrere Rennpferde und ein Weingut. Nein, dieser Mann, der im täglichen Leben seinem Beruf nachgeht, der nicht übermäßig viel trinkt, nicht raucht, ab und zu mal Blumen mitbringt, der sehr lieb und zärtlich sein kann, quasi perfekter Ehemann, der flippt mitunter aus. Das äußert sich dann in der Form, dass ihn irgendwann, so mittendrin, wenn kein Mensch damit rechnen würde, ein Weinkrampf niederstreckt. Nicht dass jetzt jemand auf die Idee kommt, schlechter Wein, nein, dieser André Kleinschmitt fängt aus heiterem Himmel an zu heulen, plärrt wie ein kleines Kind und kriegt sich kaum wieder ein, nicht selten nachts im Schlaf. Mitunter dauert es bis zu einer Stunde, bis er sich wieder beruhigt hat und witzig, also nicht wirklich witzig, mehr so sonderbar, während er diesen Anfall durchlebt, kann er nichts dazu sagen, keinen Grund, keine Ursache, nichts. Erst später, wenn er sich wieder gefangen hat, erzählt er ein wenig aber immer nur tröpfchenweise, so als ob es ihm peinlich ist. Da hilft auch kein Druck, im Gegenteil, dann macht er ganz zu, hat Hanna schon alles probiert. Sie kann bis heute nicht mit Gewissheit sagen, ob er wirklich nicht mehr weiß oder ob er nicht mehr sagen will. So hat sie im Laufe der Jahre ihren Mann immer ein wenig besser kennengelernt und gleichzeitig ist er ihr immer fremder geworden. Mit jeder neuen Öffnung seines Seelenlebens wurde die Belastung für sie stärker. Im Klartext, sie wüsste nicht, ob sie ihn mit dem heutigen Wissen auch damals geheiratet hätte, obwohl sie ihn liebt und er sie sowieso.

Nun war der Abend gestern natürlich viel zu kurz, um jetzt den kompletten Umfang von Hannas Erzählungen auf Anhieb zu begreifen. Einfach zu viele Eindrücke und immer kombiniert mit Zweifeln und Vermutungen, weil sie nichts Konkreteres wusste. Bruno ist trotzdem auf Hannas Bitten eingegangen und hat sich bereit erklärt ihr zu helfen.

So und nun sitzt er da mit seinem Talent, hat den Computer hochgefahren, hat auch schon einen neuen Ordner mit dem überraschenden Arbeitstitel 'Hanna' angelegt, und überlegt, wie er seine Aufarbeitung beginnen soll. Er wird erst einmal alles aufschreiben, strukturieren kann er später immer noch. So im ersten Moment ist es wichtig, dass er nichts weglässt und nichts herausfiltert. Er formuliert als erstes ein Erinnerungsprotokoll über Andrés Jugend, und hält sich strikt an das, was Hanna wusste, beziehungsweise erzählt hat. Geboren in Ostberlin, Vater gleich weg in den Westen und die Mutter? Naja, geregelter Lebenswandel ist etwas anderes. Dann die Sache mit seinem Schulfreund Werner, dessen Eltern wohl zu den Privilegierten in der DDR gehörten und die trotzdem keine Atmosphäre für ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit und des Vertrauens bieten konnten, nicht mal in den eigenen vier Wänden ihrer für DDR-Verhältnisse luxuriösen Villa. Für André folgte jedenfalls nach dem Abitur der Wehrdienst, den er nach eigenen Aussagen freiwillig auf drei Jahre ausgedehnt hatte, um studieren zu können. Er wollte Bauingenieur werden, na gut, Maschinenbau ist es dann geworden. Nach Brunos Geschmack sogar die bessere Entscheidung, obwohl es gar keine Entscheidung gab, jedenfalls nicht durch André.

Als Bruno an den Punkt kommt, wo Andrés Leben dann eine gewaltsame Wendung erfährt, spürt er förmlich, wie ihn das wieder aufregt. Noch heute, Jahrzehnte danach, ist für ihn kaum vorstellbar, dass es so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein System gab, das im Namen irgendeiner Doktrin, einer Ideologie, potenziert durch einen wahnwitzigen Personenkult, andere Menschen erniedrigte, ihnen ihre Freiheit nahm, sie folterte oder sie sogar umbrachte. Sicher, die Welt ist voll von Unterdrückung, aber wenn es im eigenen Land passiert, ist die Betroffenheit natürlich eine andere, auch für Bruno, obwohl er im Westen der Stadt aufgewachsen ist. Wie dicht Glück und Elend damals beieinanderlagen kann man gerade an Brunos Schicksal nachvollziehen. Die Eltern wohnten bei seiner Geburt in Berlin-Wedding und zur Welt kam er in der Geburtsklinik Maria Heimsuchung in Pankow, Luftlinie vielleicht zwei Kilometer voneinander entfernt. Nur dreizehn Jahre später verlief genau dazwischen die Mauer, von da an Wedding West und Pankow Ost, und Ost und West waren nicht nur geographische Merkmale, sondern in erster Linie politische. Sicherlich nicht vergleichbar mit der Frage, ob man nun in Deutschland geboren wird oder im Senegal, das nicht, aber auf jeden Fall Glück für Bruno, Pech für André, wobei Pech wohl kaum eine angemessene Bewertung seines Schicksals ist. Jetzt ist ja aber nicht jeder DDR-Bürger im Stasiknast gelandet, schon gar nicht, wenn die persönliche Entwicklung wie die von André verlaufen war. Ihm gab es ja nun eigentlich aus Sicht des Systems nichts vorzuwerfen, im Gegenteil, bis zu seiner ersten Inhaftierung war er stets ein treuer Diener seines Staates gewesen. Jungpionier, Freie Deutsche Jugend, Freiwilliger bei der Nationalen Volksarmee, also das hatten auch nicht alle in ihrem Lebenslauf zu stehen. Wenn er nicht damals zu diesem Werner gezogen wäre, vielleicht hätte sein Leben eine ganz andere Linie verfolgt. Er war wohl kein Funktionär in dem Sinne, aber selbst eine Parteimitgliedschaft wäre für ihn kein Unding gewesen. Er wusste sehr wohl, dass eine solche ihm mehr Chancen gegeben hätte, gerade auch im Hinblick auf seine Berufswünsche.

Bruno unterbricht seine Arbeit, versucht sich in die Lage dieses André Kleinschmitt zu versetzen. Aber im Moment ist ihm dieser noch zu fremd. Sicher, auch im Westen war und ist es oft von Vorteil, wenn man das richtige Parteibuch besitzt, aber gerade Bruno hat Zeit seines Lebens darauf verzichtet. Er wollte immer unabhängig sein, wollte sein Leben und insbesondere seinen beruflichen Werdegang als Folge seines Sachverstandes und seiner persönlichen Leistung sehen und nicht seiner Beziehungen. Es war ja auch ganz gut gelaufen, das kann er heute mit Fug und Recht behaupten und auch belegen.

Aber ist das wirklich miteinander zu vergleichen? Wir im Westen haben doch auch das System bekämpft. Mein Gott, wenn ich an die Sechziger und Siebziger denke. Wie viele sind damals auf die Straße gegangen, würde ich mir heute mal wünschen. Aber heute ist alles so angepasst, so kritiklos. Die einzigen, die heute auf die Straße gehen, will man eigentlich dort gar nicht sehen. Ob dieser André auch mal demonstriert hat? Vielleicht zum 1. Mai?

Bruno steht auf und geht in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen. Da hat er jetzt aber so richtig Pech, Kaffee alle. Er ärgert sich, weil er das heute Morgen beim Frühstück schon gesehen hat und eigentlich gleich runter wollte, um welchen zu kaufen. Nun ja, muss er eben jetzt gehen. Auf Kaffee verzichten will er nicht und außerdem kommt ihm die schöpferische Pause gerade recht, kommt er auf andere Gedanken. Was er nicht weiß, er gibt dem Verlauf der Geschichte eine völlig neue Richtung und zwar geht das ganz einfach. Der Zufall wartet schon eine Etage tiefer.

"Guten Tag, Herr Hallstein."

Woher kennt die denn meinen Namen, hab mich doch immer noch nicht bei ihr vorgestellt?

"Guten Tag, Frau … äh, wie war doch gleich …?"

"Sie haben Recht, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, sorry, Bachmann, Johanna Bachmann."

Johanna Bachmann, alias Sophia Loren 2.0, streckt ihm die Hand entgegen und schaut ihn mit offenem Blick sehr freundlich an, fast wie, naja, wie soll man sagen, als ob sie diesen offenen Blick mal gelernt hat. So schauen oftmals Ärzte oder Pfarrer oder Unternehmensberater. Einfach so richtig offen, freundlich, selbstbewusst und ein wenig provozierend. So nach dem Motto: Schau mal, wie toll ich schauen kann. Da bist du beeindruckt, gell? Bruno gibt ihr die Hand und murmelt etwas von angenehm und hängt seinen Namen auch noch einmal hinten ran.

"Vielleicht ganz gut, dass wir uns treffen, ich wollte nämlich schon gestern Morgen zu Ihnen …"

"War es etwa zu laut? Mein Gott, das tut mir leid. Diesmal war Werner aber auch wirklich völlig daneben. Der hatte wohl vorher schon etwas getrunken, weiß auch nicht warum. Dann hatte er auch noch die falsche Rolle, naja, da ist dann etwas außer Kontrolle geraten. Normalerweise habe ich das immer alles im Griff. Also tut mir unendlich leid, kann ich das irgendwie wieder gutmachen?"

Bruno guckt aus der Wäsche wie jemand, der nur Bahnhof versteht.

"Sie verstehen nur Bahnhof, wie? Passen Sie auf, ich lade Sie zu einem Kaffee ein und erkläre Ihnen alles ganz genau. Einverstanden?"

Kaffee? Hm, spare ich mir einen Weg, wollte ja sowieso Kaffee trinken. Warum also nicht?

"Gerne. Aber Sie müssen mir ja nicht erklären …"

"Doch, doch, kommen Sie, wir sind auch allein, die beiden Männer sind in Köln zu einer Weiterbildung."

Eine Stunde später hat Bruno zwei Tassen Kaffee getrunken und drei Butterkekse mit Bitterschokolade gegessen, schon immer das letzte, was er essen wollte. Es erklärt sich aber ganz leicht. Diese Sophia Loren 2.0 ist nämlich im wirklichen Leben Frau Dr. Johanna Bachmann, von Beruf Diplom-Psychologin, man könnte sagen a.D., weil sie ihren Beruf nicht mehr ausübt. Aber sie hat nichts verlernt, kann nach wie vor Menschen so manipulieren, dass sie sogar Butterkekse essen. Sie hat sich inzwischen ganz der Politik verschrieben, sitzt im Berliner Abgeordnetenhaus mit der Aussicht, bei der nächsten Wahl in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Jedenfalls ist sie in der Liste ihrer Partei so weit nach oben geklettert, dass die schon sehr schlecht abschneiden müsste, was nach Meinung aller Demoskopen ausgeschlossen werden kann. Außerdem wird sie noch in einem Wahlkreis als Direktkandidatin antreten. Ihre beiden Mitbewohner, Werner Majewski und Sebastian von Holdt sind alte Bekannte und eigentlich gute Freunde. Beide haben ihren ursprünglichen Beruf aufgegeben und arbeiten als Immobilienmakler in von Holdts Firma, die er vor ein paar Jahren von seinem Vater übernommen hat. Dadurch sind sie auch an diese Wohnung gekommen. Die alten Besitzer waren verstorben und der Sohn als einziger Erbe hatte kein Interesse, wohnt irgendwo in NRW. Das alles interessiert Bruno eigentlich gar nicht. Das alte Ehepaar, das hier in dieser Wohnung unter ihm wohnte, kannte er so gut wie nicht. Ganz selten haben sie sich im Treppenhaus getroffen und dass sie inzwischen verstorben waren, hat er nur am Rande mitbekommen. Naja, umso mehr mitbekommen hat er jetzt die neuen Bewohner, diese kleine WG, oder wie soll man sagen?

***

So, und nun zum interessanten Teil der Geschichte, die Sache mit dem Spiel. Johanna Bachmann hat im Rahmen ihrer Dissertation dieses als Therapieinstrument erdachte Spiel entwickelt. Aus einem verdeckten Stapel von Karten müssen die Mitspieler oder Patienten, wenn man so will, jeweils eine Karte ziehen. Auf diesen Karten sind bestimmte Rollen definiert, die der jeweilige Spieler nun für die Folge einzunehmen hat. Dann zieht der Spielleiter aus einem weiteren Stapel eine sogenannte Themenkarte. Damit ist der Verlauf des Spiels vorgegeben. Das Thema wird von allen Teilnehmern in der Folge diskutiert, aber nicht aus ihrer persönlichen Sicht, sondern aus der Sicht der Rolle, die sie zu spielen haben. Die einzige in dem Kreis, die das Spiel vollkommen kontrollieren kann, ist Johanna Bachmann selbst, da sie alle Karten und somit auch alle Rollen kennt. Es kommt schon häufig vor, dass sie auch eingreifen muss, besonders wenn jemand seine Rolle überzieht, wenn er sie vielleicht aus Unwissenheit gar nicht authentisch auslegen kann. Wer könnte schon die Rolle eines Mörders überzeugend spielen? Zum Schluss müssen alle die Rollen der jeweils anderen Mitspieler erraten. Wer dabei die meisten Treffer erzielt, hat das Spiel gewonnen. Bruno spürt etwas von der Leidenschaft, mit der Johanna Bachmann erzählt und, wenn er ehrlich ist, er kann sich ganz gut vorstellen, dass in gewissen Situationen die Post abgeht. Hat sich ja nicht jeder so gut im Griff.

"Sonntagabend ist mir das Ganze etwas entglitten. Erstens hatten meine beiden Mitbewohner zwei Leute angeschleppt, die ich bis dahin nicht kannte, und dann habe ich leider zu spät bemerkt, dass Werner etwas angetrunken war. Er trinkt eigentlich ganz selten Alkohol, weil er weiß, dass er dann schnell aggressiv wird. Aber da muss auch schon vorher zwischen den beiden Kampfhähnen etwas vorgefallen sein, ich weiß nicht was. Sie kabbeln sich öfter mal, wenn es um Geschäftsfragen geht. Wenn dann Sebastian auch noch heraushängt, dass es sich bei dem Immobilienbüro um seine Firma handelt, und das tut er ab und zu, kann Werner schon richtig sauer werden. Ich denke jedenfalls, dass das Spiel an diesem Abend nur ein Scheingefecht war. Die hatten schon vorher Streit."

"Scheint ja ein interessantes Spiel mit interessanten Teilnehmern zu sein."

"Naja, wenn ich ehrlich bin ist es schon mitunter schwierig, wir könnten mal frisches Blut gebrauchen. Es macht einfach mehr Spaß, wenn man öfter mal neue Leute dabei hat. Wir kennen uns eben auch sehr gut und sehr lange. Das kann man merken und das kommt dem Spiel nicht gerade zugute. Ist ja ursprünglich auch nicht als Unterhaltungsspiel gedacht, sondern als ein Therapiebestandteil für bestimmte Patienten."

"Im Klartext, Sie therapieren also Ihre Mitbewohner, ohne dass die es merken?"

Johanna Bachmann muss lachen, sollte sie öfter tun, es steht ihr gut.

"Ganz so ist es nicht. Sie wissen ja worauf sie sich einlassen und ich versuche ja auch durch die Entwicklung neuer Karten neue Spielverläufe zu provozieren."

"Was meinen Sie damit?"

"Naja, ich sag mal so, ich habe die rein therapeutische Ansätze mehr und mehr weggelassen und durch allgemeingültige Themenkreise ersetzt, häufig aktuelle Fragen der Zeit. Ist zwar nicht gerade ein Kinderspiel geworden aber der Tiefgang der alten Version wird nicht mehr erreicht, man muss nicht mehr befürchten, dass man sich zu sehr öffnet, womöglich etwas preisgibt, was man lieber für sich behalten würde. Wollen Sie nicht mal mitmachen? Sie brauchen auch keine Angst zu haben, dass wieder etwas entgleist. Wenn Fremde dabei sind beherrschen sich meine beiden Kampfhähne immer sehr gut. Meist wird es dann auch sehr lustig. Was halten Sie davon?"

Ja, was halte ich eigentlich davon? Gute Frage. Da muss ich direkt noch einen Butterkeks…

"Ich kann es mir ja mal überlegen. Allerdings …, es mag zwar so scheinen, aber ich lebe nicht allein. Ich weiß nicht was meine Verlobte dazu sagen wird. Die ist für so esoterischen Hokuspokus nicht zu haben."

Johanna Bachmann setzt eine Mine auf, die Bruno ein wenig einschüchtert. Mit Hokuspokus hat er wohl nicht den richtigen Begriff gefunden.

"Reden Sie mit ihr und eines kann ich Ihnen versprechen, Hokuspokus ist etwas anderes, das werden Sie ganz schnell merken. Natürlich nur, wenn Sie mitmachen."

***

Jetzt hat Bruno zwar immer noch keinen Kaffee eingekauft aber nun, wo es schon auf 16:00 Uhr zugeht, mag er auch keinen mehr. Er überlegt kurz, ob er trotzdem noch schnell zu Ünal rübergehen soll, dann hätte er auf alle Fälle morgen früh keine Not. Er landet aber ein Stockwerk höher in seiner Wohnung, weiß nicht so recht, diese blöden Kekse liegen quer im Magen. Im Kühlschrank liegt noch von gestern Abend eine angefangene Flasche Weißwein. Er holt die Flasche heraus, dreht den Verschluss ab und setzt sie direkt an den Mund, ist ja keiner da und man spart Abwasch, aber plötzlich so ein komisches Gefühl, als ob man beobachtet wird.

Der liebe Gott vielleicht? Mutter hat ja immer damit gedroht, dass der alles sehen würde. Zwangsläufig habe ich mir als Kind die Welt viel kleiner vorgestellt, als sie in Wirklichkeit ist. Wie soll man sonst, selbst wenn man Gott ist, alles sehen können? Dann müsste der ja wie eine Drohne ewig umherfliegen, oder wie ein Satellit, trotzdem nicht zu schaffen. Ich bin auch davon überzeugt, die Kirche macht den Fehler, dass sie ihren Göttern zu viele Zauberkünste zuschreibt, Wunder und andere Unwahrscheinlichkeiten. Wenn sie das nicht täte, könnte man vielleicht viel eher an den ganzen Zinnober glauben. So ein Gott könnte doch mal zugeben, dass man nicht übers Wasser laufen kann. Man stelle sich vor, ein Gott, der auch mal was falsch macht, der seine Taten auch mal bereut oder sich dafür entschuldigt. Der könnte sich doch mal dafür entschuldigen, dass er so viele Menschen verhungern lässt, oder für die ganzen Kriege, die in seinem Namen geführt wurden und werden. Stünde ihm gut zu Gesicht, so als Gott. Würde mir echt imponieren, so ein Gott. Wie bin ich jetzt darauf gekommen? Egal, nachher gehe ich zu Harry, muss mal vernünftig reden und essen, so ganz ohne Frauen und ohne verschwundene Ehemänner und ohne Psychospielchen. Obwohl, diese Johanna würde ich schon ganz gerne mal in einer etwas spielerischen Rolle erleben. Hm, Karla reißt mir den Kopf ab …

Das Glas mit dem Grünen Veltliner ist inzwischen von außen beschlagen. Er genießt den kalten Schluck und gießt den Rest auch noch ein. Dann geht er wieder zu seinem PC und beginnt zu schreiben.

***

Bruno ist erstaunt wie voll es in 'Harrys Mühle' ist. Sein Freund hat sogar eine Schürze um und hilft im Service aus. Von Harrys Frau Sylvia keine Spur zu sehen, leider. Wäre nicht der Stammtisch immer für Harry und seine Freunde reserviert, könnte Bruno wieder gehen. So aber klemmt er sich auf die Sitzbank genau gegenüber vom alten Kachelofen und schaut sich das Treiben in dem Restaurant an. Es dauert gar nicht lange und er hat ein Glas Rotwein vor sich zu stehen, soviel Zeit hat Harry allemal.

"Danke, Mensch bei euch ist ja was los. Gibt's einen besonderen Grund?"

"Nee, nicht dass ich wüsste. Vielleicht weil Sylvia nicht da ist. Ich bin im Service lange nicht so effektiv. Du, ich muss, komme gleich noch mal wieder."

Bruno glaubt einige Schweißperlen auf Harrys Stirn zu erkennen. Nicht so effektiv und nicht so nett anzusehen, aber das weiß er selber. Zum Glück liegt schon eine Speisekarte auf dem Tisch und Bruno muss gar nicht lange nachdenken. Es gibt Ossobuco mit Gremolata, eine Spezialität von Sylvias Sohn, der seit ein paar Jahren in der Küche steht, und der aus 'Harrys Mühle', einer Kneipe mit Hausmannskost, ein richtiges Restaurant gemacht hat. Wobei auch jetzt noch klassische Speisen das Angebot beherrschen, aber auf einem etwas höheren Niveau. Wohltuend ist für Bruno, dass es trotzdem kein Schickimicki-Laden geworden ist. Würde weder zu ihm noch zu Harry passen.

Ossobuco auf der Tageskarte, und dann wundert der sich noch, dass es so voll ist. Das nenne ich mal einen angemessenen Abschluss des Tages, habe ich mir auch verdient.

***

Bruno ist gerade dabei die letzten Reste der Soße mit einem Stück Weißbrot aufzutunken, als ein erschöpft wirkender Harry mit zwei Gläsern Wein zum Tisch kommt und sich seitlich von Bruno hinpflanzt.

"Und, war es gut? Ich brauche jetzt erst mal einen Schluck. Hier, habe dir gleich noch einen mitgebracht."

"Danke, sehr aufmerksam. Das Essen? Gut ist gar kein Ausdruck. Dein Stiefsohn ist wirklich 'ne Perle. Da merkt man die italienische Schule. Da kannst du wirklich froh sein."

"Naja, stimmt schon, aber der weiß auch ganz genau, was er wert ist. Manchmal kommt die Diva durch. Dann muss ich ihn einbremsen. Neulich habe ich Eingelegte Bratheringe mit Bratkartoffeln auf die Karte gesetzt. Da hat er dicke Backen gemacht. Hatte allerdings den Nachteil, dass ich selber ranmusste. Hättest mal sehen sollen, der wich mir keine Sekunde von der Pelle. Nächstes Mal will er sie selber machen. Bin mal gespannt."

"Solange er sie nicht mit Tomatensoße und Spaghetti anbietet … Wo ist denn eigentlich Sylvia?"

"Du wirst es nicht glauben, die ist nach München gefahren, um sich um meine Tochter zu kümmern. Dieser sizilianische Vulkanologe hat Tina geschwängert. Jetzt sind Komplikationen aufgetreten und dieser Mafioso hängt am Ätna rum."

"Haben sich denn die beiden Frauen ausgesöhnt? Die standen sich doch immer, na sagen wir mal, etwas distanziert gegenüber."

"Na Minus mal Minus ergibt Plus, kennste doch. Weißt du, ich habe es schon lange aufgegeben das Wesen der Frauen zu begreifen. Siehste ja, alles renkt sich irgendwie ein, schon eine Schwangerschaft reicht aus."

"Stimmt, meinst du ich sollte mit Karla ein Kind haben?"

Zum Glück ist Harrys Glas schon leer, sonst hätte er es sich jetzt über den Leib gekippt. Er braucht eine Weile, bis er sich wieder gefangen hat und als er in Brunos ernstes Gesicht schaut, schüttelt es ihn wieder. Er steht auf und holt noch einmal zwei Gläser Rotwein.

"So, nun erzähl mal, wo drückt dich denn der Schuh?"

Das Refugium

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