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Einführung

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Dieser Band bietet einen Überblick über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von den sechziger bis zu den frühen achtziger Jahren. Die zwei Jahrzehnte waren geprägt von umfassenden politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen, die sich gegenseitig beeinflussten und verstärkten, so sehr, dass man von einer „Umgründung der Republik“ (Manfred Görtemaker) sprechen kann. Dieser Wandel soll hier in seiner ganzen Vielschichtigkeit behandelt werden. Daher wird die Darstellung nicht unterteilt in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft samt Kultur, sondern der Versuch gemacht, die Verflechtungen und fließenden Übergänge zwischen diesen Bereichen auch im Erzählen abzubilden. Wenn in „Kinderläden“ durch „antiautoritäre Erziehung“ die Gesellschaft verbessert werden sollte, wurde das Private politisch; wenn Helmut Schmidt im Zuge des NATO-Doppelbeschlusses Sicherheit durch Nachrüstung zu erreichen sucht, 300.000 Westdeutsche aber die Bedrohung gerade in diesen Raketen sehen, dann spielen kulturelle Fragen in die Politik hinein, die zu einem Regierungswechsel führen können. Durch dieses Dickicht will dieser Band führen und dabei zugleich die wichtigsten Wegmarken in der westdeutschen Geschichte der sechziger und siebziger Jahre behandeln. Es ist, um das vorweg zu sagen, eine westdeutsche Geschichte, aus westdeutscher Perspektive erzählt, über eine Zeit, in der aus, sagen wir, Mannheimer Sicht Erfurt und Dresden lebensweltlich gesehen weiter weg und weniger vertraut waren als Boston oder San Francisco. Nicht zuletzt deswegen mühte sich die Bundesregierung um eine Normalisierung der deutsch-deutschen Beziehungen, pragmatisch und konkret, durch Reisemöglichkeiten und überhaupt durch die Möglichkeit von Kontakten und Beziehungen, die schon fast abgestorben waren – ein in der westdeutschen Gesellschaft wie Politik hochgradig umstrittenes Unterfangen. Näher lagen damals die westlichen und transatlantischen Nachbarn, deren politischer, wirtschaftlicher und kultureller Einfluss seit den fünfziger Jahren spürbar war. Überhaupt spielt sich die westdeutsche Geschichte natürlich vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung ab: Die amerikanische Sicherheitsgarantie und der atomare „Schutzschirm“ ermöglichten erst die Konzentration auf innere Reformen; die Entspannung im Kalten Krieg und ihr Ende, das Wechselspiel von Abrüstung und Nachrüstung, die europäische Integration und Erweiterung, die wachsende Akzeptanz und Bedeutung Bonns auf dem internationalen Parkett, nicht zuletzt durch die Aufnahme in die UNO 1973, aber auch die internationale wirtschaftliche Verflechtung und die ideellen Einflüsse aus anderen Ländern – all dies bildet den Rahmen, in dem die westdeutsche – und gesamtdeutsche – Geschichte der sechziger und siebziger Jahre überhaupt erst verständlich wird.

Die prägenden Schlagworte jener Jahre waren ‚Reform’ und ‚Krise’. Reform – als gewünschte, geplante, durch bewusstes Handeln herbeigeführte Veränderung der Verhältnisse – und Krise – als ereignishafter, von ‚außen’ kommender Umschwung, auf den man reagieren musste, eine tatsächliche oder befürchtete Bedrohung des Bestehenden, die das Handeln erzwang, um die Verschlechterung der Lage abzuwenden – diese beiden Formen des Wandels dominierten nacheinander die Wahrnehmung der Westdeutschen. Die Phase von den frühen sechziger bis in die frühen siebziger Jahre war von einer enormen Reformhoffnung geprägt, sowohl von einer gesellschaftlichen Aufbruchstimmung als auch von einer politisch-legislativen Reformwelle seit Beginn der Großen Koalition von 1966 bis 1969. Anfang der siebziger Jahre setzte jedoch erneut – oder auch in logischer Fortentwicklung – ein Wandel ein, der diesmal als krisenhaft und als Verlust von Planungs- und Zukunftssicherheit erlebt wurde. Die beiden Ölpreiskrisen der Jahre 1973 und 1979 läuteten im gesamten Westen das endgültige Ende des Nachkriegs-Booms ein: Die Phase stetigen und auch für die Zukunft sicher geglaubten Wirtschaftswachstums war vorüber. Nicht nur in der Bundesrepublik kam es zum Niedergang industriegesellschaftlicher Strukturen; die neue Welt der „postindustriellen Gesellschaft“ (Daniel Bell), der Dienstleitungsgesellschaft und der Computerindustrie erschien allmählich am Horizont.

Eine wichtige ideelle Form des Wandels in den siebziger Jahren ging der Wirtschaftskrise sogar voraus: Es kam zu einer tiefen Modernisierungsskepsis, einer wachsenden Angst vor den Folgen der Moderne, insbesondere des Ressourcenverbrauchs wie der Umweltzerstörung, die das Wirtschaftswachstum mit sich bringt und vor denen der Club of Rome in seiner Studie „Grenzen des Wachstums“ schon 1972 warnte. Die Reformeuphorie und der Machbarkeitsglauben, auch der Regierungen, verloren sich. An ihre Stelle trat ein weitverbreitetes Krisenempfinden, der Eindruck, in einer „Risikogesellschaft“ zu leben (Ulrich Beck), das die achtziger Jahre über anhalten sollte und erst mit dem Ende des Kalten Krieges überlagert wurde von Aufbruchstimmung, aber auch von einer großen Verunsicherung und der Suche nach neuen ideellen und weltpolitischen Parametern, die Sicherheit bieten sollten. Eckart Conzes These, die „Suche nach Sicherheit“ sei ein zentrales Leitmotiv der bundesrepublikanischen Geschichte gewesen, trifft es genau. Die siebziger Jahre waren jedoch keineswegs nur von Erscheinungen des Niedergangs geprägt, auch wenn sie den Zeitgenossen zum Teil so erschienen sein mögen: Es war ein tief greifender Strukturwandel, begleitet von einem Prozess des Umdenkens, in wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und kulturellen Fragen, der die unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart darstellt. Die Begriffe und Konzepte, die damals neu entstanden sind, prägen bis heute die Sicht auf unsere Gesellschaft.

Um besser verständlich zu machen, wie der Band strukturiert und die Erzählperspektive zustande gekommen ist, wird im Folgenden kurz ein Blick auf den Hintergrund der Forschungsdebatten in der Zeitgeschichtsschreibung geworfen. Dies ist sowohl den Zeithistorikern geschuldet, deren Arbeit hinter dieser Zusammenfassung steht, als auch den Lesern, zu deren Orientierung in diesem Themenfeld der Überblick dienen soll. Die Erzählperspektive wird durch zwei Leitfragen strukturiert: erstens die Frage nach den inneren und äußeren Faktoren, die die Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft beeinflusst haben, und zweitens jene nach dem Zäsurcharakter der Jahre um 1970. Die Frage nach der Bedeutung internationaler und transnationaler, also aus anderen Ländern und Gesellschaften kommender Einflüsse auf die westdeutsche Geschichte bezieht sich auf den äußeren Kontext, in dem die Geschichte der Bundesrepublik steht, und damit auf die räumliche Perspektive. Denn wenn beispielsweise vom Strukturwandel in den westlichen Industriegesellschaften die Rede ist, wird rasch klar, dass die Entwicklungen in der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre nicht ohne den Blick über die Grenzen hinaus verständlich wird. Sind es jeweils lokale Ausformungen gesamtwestlicher oder westeuropäischer Entwicklungen, oder sind es inner-westdeutsche Phänomene? Die studentische Protestbewegung, der wirtschaftliche Strukturwandel oder die wachsende Modernisierungsskepsis sind zweifellos Vorgänge, die nur in einem größeren, transnationalen Kontext zu verstehen sind. Anderes aber ist nur aus dem innerdeutschen Kontext zu erklären, wie der sich wandelnde Umgang mit der NS-Vergangenheit, die Neue Ostpolitik und ihre Gegner, oder die spezifischen Anliegen der hiesigen „68er“. Aber gerade um diese westdeutschen Besonderheiten in den Blick zu bekommen, lohnt es sich, auch die transnationale Perspektive zu wählen.

Zum Zweiten stellt sich die Frage nach der zeitlichen Einordnung der Jahre um 1970 in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und auch in die Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt. Neuere zeithistorische Arbeiten zur Bundesrepublik haben wiederholt die Frage nach dem Zäsurcharakter der siebziger Jahre aufgeworfen und nach der Reichweite dieser Zäsur: Endet hier die westdeutsche Nachkriegszeit, die Phase des „Booms“, des „Goldenen Zeitalters“, das um 1948 begonnen und unerhörten Wohlstand und ungetrübte Zukunftsperspektiven mit sich gebracht hatte? War also der wirtschaftliche Einschnitt um 1973/74 eine „Renormalisierung“, die auch soziokulturell nur die Anomalie der Boomjahre zurückschnitt? Immerhin blieb das politische System unverändert, und der „Machtwechsel“ zwischen den politischen Lagern bewies ja gerade dessen verlässliches Funktionieren. Oder sollte man die Bedeutung dieser Zäsur weiter fassen und in den siebziger Jahren einen „Strukturbruch“ sehen, der das Ende der Hochmoderne, der Industriemoderne einläutete, wie es die These von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael ist? Diese Epoche habe, so argumentieren zum Beispiel Ulrich Herbert oder Charles S. Maier, vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, von etwa 1870 oder 1890 bis in die 1970er angedauert und sei unter anderem gekennzeichnet gewesen durch die Entfaltung der Industriegesellschaft, die Ausbildung des modernen bürokratischen Staates, ein wissenschaftlich-rationales Weltbild, den Glauben an Wirtschaftswachstum als Lösungsansatz für soziale Probleme und die Suche nach neuen, universal gültigen Gesellschaftsentwürfen. Ihr Ende spiele sich in den Umbrüchen und Verunsicherungen der Jahre nach 1970 ab. Dieser Bruch habe jedoch nicht abrupt, zu einem bestimmten Datum stattgefunden, sondern stelle eher eine „weiche Zäsur“ dar (Konrad Jarausch), einen Wandel auf vielerlei Ebenen, der zeitversetzt stattgefunden habe, aber in einem gemeinsamen Zusammenhang zu sehen sei. So gesehen endet in den Jahren um 1970 deutlich mehr als die westdeutsche Nachkriegszeit. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang vom Beginn der „Zweiten Moderne“ oder der „Postmoderne“. An die Stelle des Fortschrittsglaubens, des Vertrauens in Wirtschaftswachstum, Technik und wissenschaftliche Rationalität seien andere Werte und Ordnungsvorstellungen getreten, die noch immer unsere Gegenwart prägen. Sicherlich nimmt vieles, was uns heute beschäftigt oder gar selbstverständlich geworden ist – das Nachdenken über Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit, oder das Internet und die globale Vernetzung und Mobilität, aber auch die Sorge um die Leistungsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme – hier seinen Ausgangspunkt.

Diese Sichtweise macht auf zwei verschiedene Möglichkeiten aufmerksam, deutsche Zeitgeschichte zu schreiben: Man kann sie als „problemlösende“ oder „problemgenerierende“ Zeitgeschichte schreiben, wie es Hans-Günther Hockerts formuliert hat. Die Historiker haben sich lange Zeit mit der Frage beschäftigt, wie aus der von Nationalsozialismus und Vernichtungskrieg geprägten und in weiten Teilen vehement antidemokratischen deutschen Gesellschaft ein „halbwegs normales westliches Land“ (Jürgen Habermas) werden konnte, und haben das Wunder der Demokratisierung, Liberalisierung und Westernisierung dieser Gesellschaft untersucht, das ja noch um einiges erstaunlicher ist als das „Wirtschaftswunder“. Seit einiger Zeit treten aber Forschungsthemen in den Vordergrund, die nach den historischen Ursachen unserer heutigen Probleme und Schwierigkeiten oder auch nur unserer Alltäglichkeiten fragen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die sozialen Sicherungssysteme, deren breites Aufgabenspektrum aus den Jahren des Booms stammt, als ihnen auch gesellschaftspolitische Aufgaben zugesprochen wurden, die in den Zeiten stetigen Wirtschaftswachstums und des Glaubens an die Planbarkeit und Machbarkeit von Gesellschaften wichtig und ohne Weiteres finanzierbar erschienen, die heute aber nur noch mit Mühe zu bewältigen sind.

Meine Position, die sich in diesem Band widerspiegelt, liegt, und da ist sie ihrem Gegenstand nicht unähnlich, in einer gewissen Ambivalenz: Dieser Abschnitt der deutschen Geschichte lässt sich tatsächlich als Ende der westdeutschen Nachkriegszeit und als Ende des westeuropäischen „Goldenen Zeitalters“ interpretieren. Zugleich bin ich aber davon überzeugt, dass hier auch ein längerer Epochenrahmen endet, der sich als Hochmoderne oder als Zeitalter der klassischen Industriegesellschaft bezeichnen lässt. Auch ich sehe hier also einen längerfristigen Strukturwandel am Werk, der noch immer nicht abgeschlossen ist. Das Verwirrende an dieser Sichtweise ist natürlich, dass sich um 1970 viele zentrale Dinge, wie das politische System, gar nicht oder nur wenig ändern. Kontinuität und Wandel laufen hier parallel. Für die Westdeutschen und nicht zuletzt für ihre Nachbarn mag die endgültige Abkehr von Traditionen des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus die bedeutendere Entwicklung gewesen sein. Blickt man aber auf den gesamten Westen – und auch auf den „Ostblock“ und seine Nachfolgestaaten – dann ist die sozioökonomische Zäsur des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts insgesamt wohl die Entwicklung mit der größeren Reichweite.

Die Bundesrepublik Deutschland 1963-1982

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