Читать книгу DarkZone - Juryk Barelhaven - Страница 5

3. Kapitel

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„Starkes Verlangen. Wunsch oder Zwang, eine Substanz zu konsumieren oder etwas immer wieder zu tun. Kontrollverlust. Abstinenzunfähigkeit. Toleranzbildung. Entzugserscheinungen. Das macht eine Sucht aus.“

(Ratgeber Gesundheit)


Die DarkZone war von außen nicht zu übersehen. Eine kilometerweite Betonwand trennte den Rest von der Welt von dem 840 Quadratmeilen größten Absperrplatz in der Geschichte der weltweiten Katastrophen. Vor dem Hauptgebäude, einem zweigeschossigen Betonpalast, war ein weiter Parkplatz, der von mehreren Kettenfahrzeugen und uniformierten Truppen des privaten Sicherheitstrupps belagert war. Langsam fuhr der schwarze Armeewagen um die Umzäunungen, bis er schließlich an einem Kontrollpunkt angekommen war. Gegen die schweren Raupenfahrzeuge wirkte der Wagen wie ein kleiner, erschöpfter Hund nach einer schweren Hetzjagd. Im Inneren des Wagens nahm der bewaffnete Wachmann seine Sonnenbrille ab, fuhr sein Fenster herunter und zeigte dem nächsten Wachmann seinen Ausweis. Weit um das gesamte Areal waren mehrere Reihen von Stacheldraht ausgelegt; dazu Betondecken, die wie Wellenbrecher jeden Ansturm von außen standhalten konnten. Die Republik von Kirgisien fürchtete Demonstrationen der Bevölkerung genauso stark wie ein Ausfall des gesamten Systems, als würden tatsächlich hinter den Mauern Zombies lauern. Charlie zog angewidert den Mund über diese in seinen Augen offensichtliche Verschwendung von Geldern und schaute auf seine Uhr.

Dienstagmorgen, Viertel nach neun.

Der Wachmann vor dem Wagen hatte seinen Stand verlassen und trug eine schwarze Panzerrüstung, die mit verstärkten Kevlar ausgestattet war. Seinen Helm nahm er nicht ab. Er winkte den Wagen durch.

Im Armeewagen befanden sich neben dem Fahrer und einer weiteren Wache noch zwei andere Personen, von denen einer der neue Geschäftspartner des Militärkomplexes war. In einem auffälligen Dreireiher gekleidet war Charlie der Bestangezogene - ganz anders als sein Zweiter Sekretär, Arthur Lentings, der nur mit einem gewöhnlichen, dunklen Zweireiher gekleidet war und in alles eingeweiht war. Und er wollte nicht hier sein. „Das sollten Sie sich vielleicht nochmal überlegen, Sir.“

„Schau sie dir an“, bemerkte Charlie abfällig. „Die Idioten bewachen einen toten Vorort. Ich hätte die Mittel schon längst gekürzt und etwas Neues darauf gebaut. Keinen Weitblick.“

„Also, mir gefällt das nicht“, murmelte sein Gegenüber und knackte nervös mit seinen Knöcheln. „Ich wünschte, ich könnte Sie begleiten, Sir…“

„Danke, Arthur.“ Noch bevor der Motor mit einem asthmatischen Keuchen verstummte, stand er schon draußen – ein großer, kräftiger Mann in mittleren Jahren, der zum Schutz gegen die morgendliche Kühle des Herbsttages einen teuren Anzug trug. Hinter ihm wuchtete sein Sekretär zwei schwere Koffer aus dem Wagen.

Einer der Panzer drehte sein Geschützturm auffällig langsam in seine Richtung und zeigte mit seinem Rohr die Bereitschaft nötigenfalls den unerwünschten Eindringling zu den Sternen zu schicken. Es waren ständig Trupps in Dreiergruppen unterwegs, die mit schweren Maschinengewehren patrouillierten und sich wahrscheinlich langweilen mussten. Bei einem Frontalangriff - egal wie groß das angreifende Bataillon wäre - würden sie jedoch alle wie zornige Wespen zur Stelle sein.

Der zugeteilte Wachmann ging mit einer Arbeitsmappe voraus zum Tor und ließ Charlie allein mit seinem Adjutanten.

Angst und Erregung stiegen, als Charlie fast beiläufig auf seine Uhr blickte. Es war gleich acht Uhr und die Sonne kletterte langsam, sehr langsam über die Hochhäuser.

Ein leichter Windhauch rauschte durch die Bäume. Der blaue Himmel war wolkenleer. Der Weg lag vor ihm. Der gewaltige Wall markierte die Grenze zwischen seiner Welt und einem Land, indem es keine Sicherheiten geben würde. Auf einmal war seine Erwartung stärker als seine Angst. Er wollte endlich gehen, wollte, dass die Sache endlich begann.

„Da sind Sie ja. Willkommen bei unserer glorreichen Armee“, rief ihnen ein Mann zu, der wohl eine leitende Beraterfunktion beim Militär innehatte. „Wir freuen uns über ihr Erscheinen. Die Drinks werden im Besprechungszimmer serviert.“

„Ich habe nicht viel Zeit, aber ich bin grundlegend mit allen Details einverstanden“, erwiderte Charlie und schüttelte im Gehen dem Berater die Hand. „Von mir aus können wir die Drinks weglassen und gleich zur Unterzeichnung übergehen.“

„Vortrefflich, Sir. Sollen wir die Koffer in einen unserer Tresore verstauen?“

„Bedaure. Dort pflege ich meine kostbaren Schätze von der Reise zu verstauen. Mein Sekretär wird sie anstaltslos tragen, bis wir wieder am Flughafen sind.“

Der Berater runzelte knapp die Stirn und bedeutete den Wachen beiseitezutreten. Man behelligte sie nicht mehr.

Im angrenzenden Besucherbereich wurde Charlie mit den Einzelheiten des „neuen, verbesserten Waffenlieferungsvertrages“ (den er selbst kurzfristig vorgeschlagen hatte) von einem stocknüchternen Anwalt vertraut gemacht, und kaum hatte der CEO den lachhaft kaum gewinnträchtigen Handel mit seiner Unterschrift abgeschlossen, wurde er sehr zum Bedauern der Gastgeber wieder zum Ausgang geführt. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es genau neun Uhr war.

Das war alles Teil des Plans. Kurz vor dem Ausgang schüttelten er und sein Sekretär den Berater ab und verzogen sich mitsamt der Koffer auf die Toiletten. Neugierige Augen beobachteten sie bis zur Tür.

„Ich dachte, die gehen nie mehr. Was für ein Aufwand! War es das wert, Sir?“

„Die paar Raketen sind nicht die Rede wert, Arthur. Sie warten zwanzig Minuten nach meinem Verschwinden und gehen mit den Koffern brav zurück zum Auto. Den Rest erledige ich.“

Schnell entledigte sich Charlie seines Anzugs und legte einen Neoprenanzug an, der seinen gesamten Körper außer den Füßen und den Händen umhüllte. Das widerstandsfähige Material war leicht und doch stich- und kugelfest. Komplizierte Technik regulierte seine Körpertemperatur, so dass er selbst bei hohen Temperaturen nicht schwitzen würde. Darüber eine dunkelgraue Fleecejacke, einen kleinen Sportrucksack mit einer Wasserflasche, Energieriegel und einem Erste-Hilfe-Set. Eine Schusswaffe GLOCK 17 im Kaliber 9 mm (Schießtest auf 25 m, gezielte Schüsse, GECO-Patronen mit 124-Grain-Vollmantelgeschoss, Kosten dreihundert Dollar) rundete seine Ausrüstung ab. „Heute Abend trinken wir beide auf meinen Erfolg, Arthur.“

„Ich hoffe es, Sir.“ Der kleinere Mann von beiden wirkte unglücklich und starrte zu Charlie, der mit einem Satz auf den Toilettenkasten sprang und sich an die Deckenverkleidung zu schaffen machte. „Sir, wenn man Sie erwischt, werden Sie eine Menge unschöner Fragen beantworten müssen.“

Charlie antwortete nicht, kletterte über die Kante und robbte durch den dunklen, staubigen Bereich – beständig darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Nach zwanzig Metern fand er eine passende Stelle, kletterte in den nächsten Raum und lugte um die Ecke, wo er die Tür zum Hinterhof des Besucherbereichs erreichte. Genau nach seinen Infos gab es im Besucherbereich keine Kameras und kaum Wachen. Behände huschte er durch die Tür und stand wenig später seinem Kontakt gegenüber.

Charlie überquerte verstohlen die schmale Gasse, wobei seine Körperhaltung irgendeine schändliche Absicht verriet. Seine Erregung stieg förmlich – teils aus Vorfreude, teils aus der Gefahr, in die er sich begab. Die kurgisiesche Regierung war ihm wohlgesonnen, doch selbst bei Verstößen gegen ihre strengen Sicherheitsvorschriften verstanden sie keinen Spaß.

Mahershala stand reglos da und wartete geduldig wie eine Statue aus Stein. Jetzt trug er die Uniform der kurgisieschen Armee und hielt eine AK-747 locker in der Hand. Als er Charlie durch die Schatten auf sich zukommen sah, hörte Charlie ihn leise fluchen. „Da sind Sie ja.“ Er holte eine Serviette hervor und reichte sie ihm. Mit Bleistift war ungelenk ein Code aus Zahlen zu sehen. „Verlieren Sie sie nicht!“

„Und der Eingang?“

„Unter ihnen.“ Wie zum Beweis stampfte der Schichtleiter auf den Gullideckel unter sich. „Gehen Sie die Treppe runter, geben Sie den Code ein und kommen Sie bloß um dreizehn Uhr wieder zurück! Wo ist mein Geld?“ Ohne das Geld zu zählen, steckte Mahershala den Umschlag ein. „Meine Kollegen schauen sich ein Spiel im Fernsehen an. Sie müssen sich beeilen.“

Um dreizehn Uhr, also. Jetzt ist es knapp halb zehn Uhr. Kinderspiel.

Charlie hob den Gullideckel an, schwang sich in das Loch und stand sofort auf einer blankpolierten Treppe, die ins dunkle Nichts führte. Gerade wollte er noch etwas Sarkastisches erwidern, als Mahershala den Deckel schnell wieder zurückschob – und sofort wurde es um ihn dunkel.

Keine grauen Nuancen in der Schwärze, die ihn umgab, keine Sterne und keine matte Reflexion der Wolkendecke. Er zwinkerte mehrmals, und als er immer noch nichts sah, begann er die Wände um sich abzutasten und die Treppe behutsam herunterzugehen. Dabei stieß er mit der Hand gegen feuchte Wände. Eine Höhle, dachte er verwundert. Stolpernd machte er sich auf dem Weg.

Als er zuerst den Tunnel etwas genauer angesehen hatte, hatte er fast erwartet, Zeichnungen von gehörnten Tieren und von Jägern mit Speeren an den Wänden zu finden. Er hatte solche Zeichnungen schon früher gesehen, konnte sich jedoch nicht erinnern, wo genau. Natürlich war es keine Höhle, es musste ein Keller sein aber dagegensprach, dass die Wände schief und der Boden uneben waren. Nichts sehen zu können trug erheblich dazu bei, dass ihm vor Angst beinahe die Knie schlotterten. Wenn er nun hereingelegt wurde…Jetzt erinnerte er sich an alles, was er unterlassen hatte: sich zu vergewissern, dass seine Waffe noch bei ihm war. Oder an die Taschenlampe in seiner Jacke…

Die kleine Taschenlampe erhellte den gesamten Abschnitt um Charlie so hell, dass er die Augen kurz schließen musste. Als er sie schließlich wieder öffnete, sah er, dass er sich geirrt hatte: Es war keine Höhle und auch keine Kanalisation. Es war ein Tunnel, der abwärts in die Tiefe ging und sich in der Ferne verlor.

Gut. Sehr gut.

Charlie besah sich die Serviette in seiner Hand genau an: Vier - sieben – drei – zwei – fünf - neun. Sorgfältig steckte er sie in sein Portemonnaie ein – sein einziges Ticket und gleichzeitig die Rückfahrkarte. Es wäre dumm sie zu verlieren.

Voller Spannung ging er los, in freudiger Erwartung was die Dark Zone für ihn bereithielt.

Sein Abenteuer begann… jetzt.


Der Schock begann, als Charlie die Sicherheitstür öffnete.

Die Sonne schickte ihre warme Strahlen über die Häuser der Dark Zone, die tatsächlich nicht von dieser Welt war: die Natur hatte sich ihre Herrschaft wieder zurückgeholt, zarte Gräser und wilde Unkrautstauden hatten den maroden Beton beiseitegeschoben, um ihre Halme und Blätter der Sonne entgegenzustrecken. Wie umgestoßene Spielzeugautos lagen Autowracks verstreut herum, ohne Sinn und Verstand, rostig und nutzlos. Sporen von wilden Blumen schwebten unsicher ob ihres Zieles in der warmen Luft umher während kleine und große Tiere zu sehen war. Betörender Duft von Flieder, Seidelbast und Jasmin strömten dem Neuankömmling in die Nase, während er wie vom Donner gerührt eine grüne Oase bestaunte, die seit drei Jahren unberührt von der Außenwelt existierte. Drei Jahre, dachte Charlie verdattert und konnte nicht verhindern, ob dieser Schönheit tatsächlich wahr war.

Die Luft roch feucht, warm und ohne Abgase der Großstadt, die keine Meile entfernt von hier weiterlief. Die Isolation hatte eine Oase geschaffen, und Charlie empfand plötzlich ein intensives Gefühl der Einsamkeit. Zu seiner Linken stieß ein Käuzchen seinen unheimlichen Schrei aus. Auf der anderen Seite raschelte etwas, blieb einen Moment still, raschelte wieder, blieb nochmals still und brach dann krachend durchs Unterholz zu einem weniger bevölkerten Teil des Waldes. Makrelenartige Frühlingswolken jagten über den Himmel und versprachen warmen Regen.

Jeder Pionier wählte Worte mit Bedacht, wenn er unentdecktes Land betrat:

Ein kleiner Schritt für mich, ein großer Schritt für die Menschheit.

Für Gott und Vaterland.

Ich kam, sah und siegte.

Charlie sprach aus was ihn am meisten bewegte: „Ist das alles?“

Er überquerte eine alte Bahnlinie, die schon seit drei Jahren ausgedient hatte. Die Gleise waren verrostet, und zwischen den Schottersteinen wuchsen Gras und Unkraut. Charlie spazierte wie ein Besucher in einem Tropengehege weiter und bemerkte die Artenvielfalt um ihn herum, schätzte sie aber nicht sonderlich.

Nur einmal wandte er sich im Gehen um, um einen neugierigen Blick nach hinten zu werfen: die zwanzig Meter hohen Mauern der Anlage starrten ausdruckslos zurück. Wachen waren keine zu sehen. Ein Spaziergang.

Und doch empfand es Charlie als elektrisierend, auf Grund und Boden zu laufen, der nicht jedem vergönnt war. Alles um ihn herum glich einer riesigen Totenstadt, einer antiken Stadt, die über irgendeine schreckliche Tragödie in ihrer Vergangenheit brütet – eine Seuche oder einen Fluch. Der intensive, unangenehme Salzgeruch drang vom Meer her in die Stadt hinein. Das Gebäude zur Rechten war über und über mit Schlingpflanzen überzogen, nichts regte sich und eine fast schon andächtige Stille wurde ihm gewahr, während er ohne Vorsicht einfach weiterging. Trotzdem holte er seine Waffe hervor, entsicherte sie und steckte sie sich locker in die Tasche. Es würde ein Spaziergang werden.

Stille und Ruhe.

Nach einer Minute war ihm schon langweilig.

Er klaubte Steine auf und warf sie im Gehen auf Fensterscheiben. Das Knallen und Scheppern schreckte etwas im Gebüsch auf, das sich aber schnell empfahl. Charlie grinste leicht und pfiff ein Lied. Summte später. „Da-dada, da, dadada-da…“

Fast schon wünschte er sich, er hätte jemanden mitgenommen denn der Ort war zwar interessant, aber wurde schnell langweilig. Und Langeweile war ein alter Feind, den Charlie zu fürchten gelernt hatte. Charlie änderte seine Richtung, holte den Stein und spielte damit in der Luft, während er das Gebäude vor sich genauer in Augenschein nahm. Nur ein baufälliges Hochhaus von vielen, dessen Inneres grau und verlassen wirkte, das Erdgeschoss sank allmählich in den Boden ein, der Vorplatz war ein überwuchertes Feld. Ein alter Bürotisch versteckte sich hinter einer Mülltonne, die Uhr an der Wand war stehengeblieben und zeigte auf zwölf.

Aber links von dem Eingang war eine große Treppe, dort konnte man die schmutzigen Stufen hochgehen. Es würde den Besuch abrunden, sich von oben einen Blick auf die Häuser zu gönnen. Im Gebäude bewegte er sich langsam, aber bestimmt nicht vorsichtig vorwärts. Das Knirschen des Drecks unter seinen Stiefeln störte ihn nicht im Mindesten. Das Gebäude wurde von der Frühlingssonne in strahlendes Licht getaucht, und trotzdem hatte es etwas Unheimliches an sich – hier herrschte ein brütendes Schweigen, das nur von gelegentlichen Windstößen unterbrochen wurde. Charlie fühlte sich wie ein Entdecker, der soeben die letzten Reste einer märchenhaften untergegangenen Stadt gefunden hat.

Die Treppe führte weit nach oben. Der Geruch im dunklen Treppenhaus war schon fast steril, dafür waren Tierleichen von kleinen Nagern zu erkennen, um die er einen Bogen machte. Bei einer Maus hätte er sich nichts dabei gedacht, aber hier hatten sich scheinbar alle Nagetiere auf den Stufen zum Sterben hingelegt – so schien es zumindest. Das kam ihm merkwürdig vor, aber vorsichtiger wurden seine Schritte immer noch nicht. Der Hochmut ließ ihn weiter summen: „Dudada, duda, duda…“

Einmal passte er nicht auf und trat mit seinen schweren Stiefeln auf eines der skelettierten Nager, das dem Gewicht nichts entgegenzusetzen hatte. Charlie verzog angeekelt den Mund, als das schmierige Knacken seine Ohren erreichte. An einer Wand gelehnt kratzte er das Profil am Gelände sauber und stieg einfach weiter nach oben. Auch im ersten und zweiten Stock hatten sich die Nager auf die Stufen hingelegt, auf jeder Zweiten je eine kleine graue Maus, als wäre es der Natur so in den Sinn gekommen. Es dauerte, bis Charlie verstand.

Kein Tier benahm sich so. Schon gar nicht mehrere Tiere.

Jemand lebte hier.

Ihm kam der Ausflug nicht mehr langweilig vor. Er lächelte halb und umfasste seine Waffe in der Tasche; froh darüber, ihr Gewicht und den harten Griff zu spüren. Kann doch noch interessant werden, Leute.

Langsam und vorsichtig ging er weiter, diesmal nicht wie ein Entdecker, sondern wie ein Cop aus dem Fernsehen, der sich jede Sekunde ein gefährliches Duelle mit bösen Buben liefern würde. Natürlich würde er niemanden etwas tun, und mit einer guten soliden Handfeuerwaffe würde es auch niemand wagen. Als Kind hatte er schon das allseits beliebte Spiel „Räuber und Gendarm“ gespielt; himmel, wer nicht? Immer auf der Lauer, immer auf der sicheren Seite und schneller als die anderen.

Mit der Pistole in beiden Händen ahmte er die Bewegungen nach, zurückversetzt in unschuldigere Tage als die Seiten noch klar zu unterscheiden waren. Er ging weiter, lauschte in der Ferne und starrte zu Boden. Unwillkürlich spannte er den Hahn.

Das laute Klicken holte ihn in die Realität zurück.

Scheiße! durchfuhr es ihm und als er endlich verstand, brach ihm der Schweiß aus.

Jemand…

lebt hier.

Auf dem staubigen Boden waren deutlich Fußspuren zu sehen.


Langsam und vorsichtig ging er auf die Treppe zum Dach zu, bis eine innere Stimme ihn warnte, dass er allmählich zu viel Abenteuer bekam als gut für ihn war, dass Fremde bestimmt nicht erfreut waren, wenn er durch ihren Vorgarten herumlief. Zuhause passten Leibwächter und ein ganzer Sicherheitsdienst auf ihn auf – wer passte auf ihn … hier!?

Er lauschte in der Ferne und glaubte etwas zu hören. Langsam wich die Verspieltheit von ihm; das sorglose Tun des mächtigen Charlie O´Neill begann zu bröckeln – nur leicht, aber der Nervenkitzel regte ihn auf. Sehr.

Oh, das ist gut. Ja, dafür habe ich bezahlt.

Er leckte sich über die Lippen und fühlte Erregung. Na also, dachte er und begann weiter die Treppe hochzugehen, die in einen schmalen Gang zu einem Dach führte.

Die Vorstellung, dass jemand hier lebte, war schon recht abenteuerlich. Doch der Gedanke, dass er oder sie ihn bereits aus der Deckung beobachteten, faszinierte ihn.

Er grinste leicht.

Da war dieser Film, den er durch Zufall vor Jahren gesehen hatte. Nach einem jener Abende, wo er müde und ausgelaugt sich zuhause entspannen wollte, hatte er einen dieser geschmacklosen Horrorfilme gesehen – wie war gleich noch der Name? Üblicherweise zählten Filme dieser Art zur billigsten Massenunterhaltung und waren nichts anderes als eine Aneinanderreihung von geschmacklosen Folterszenen und Schockeffekten, doch dieser Film war anders gewesen: subtil, leise und vor allen Dingen erschreckend gut: ein Ehepaar, das in eine abgelegene Stadt zog, musste feststellen, dass die Bewohner nachts Jagd auf Frischfleisch machten. Nicht die Story oder das Ende hatten ihm gefallen, sondern die Machart: subtile Andeutungen, kein CGI aber dafür Spiele mit Schatten und Geräuschen. Das Drehbuch, die Schauspieler und jeder, der da mitgewirkt hatte, hatte gute Arbeit abgeliefert. Das war guter Horror gewesen.

Das hier… war ähnlich. Ziemlich aufregend.

Was ist, wenn ich auf jemanden treffe? schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Wenn sie mich zum Tee einladen wollen, oder mich in ein Gespräch verwickeln? Und ich stehe hier mit einer Waffe!

Sofort kam er sich dämlich vor und senkte die Waffe wieder, als ihm ein neuer Gedanke kam – diesmal hässlich: Was ist, wenn sie mich nicht mehr weggehen lassen wollen?

Keine Angst! meldete sich eine strenge Stimme in seinem Kopf. Du kennst Rechtsanwälte; ach was, ganze Kanzleien, die ihnen den Stuhl unter dem Arsch wegpfänden. Niemand legt sich mit dem reichsten Mann der Ostküste an! Mach dir keine Gedanken. Du holst das Buch aus der Bibliothek des Hotels und gehst zurück. Ende der Geschichte.

Er leckte sich über die Lippen und ging ins Licht.

Das Dach war mit einem Kiesboden versehen. Der Wind sauste in seinen Ohrmuscheln, und für kurze Zeit verhüllte eine Wolke die Sonne und warf einen Schatten auf das Dach, wie den einer riesigen Fledermaus… oder eines sehr dunklen Omens. Charlie kam jetzt wieder voll zu Bewusstsein, wie still es hier war, wie unheimlich das Gelände mit seinen Ruinen und den überall wild herumwachsenden Unkraut war – so als hätte hier vor langer Zeit einmal die Bevölkerung entschieden, sich zu verkrümeln.

Nun sei mal keine Pussy! versuchte er sich selbst zu beruhigen. Niemand lebt hier. Gleich nach der Katastrophe wurde alles evakuiert. Und selbst wenn jemand geblieben ist, dann hat das Eplexherix-10 ihm den Rest gegeben. Das eben war nur eine Täuschung – nichts weiter. Oder glaubst du, dass du der erste und einzige bist, der hier nach Souvenirs sucht?

Nein… nein, das glaube ich nicht. Aber… aber…

Was- aber? fragte der rationale Teil seines Gehirns, und Charlie fand, dass sich diese Stimme etwas zu hektisch und zu laut anhörte. Selbst wenn hier ein Obdachloser den König von Garnichts spielt, kann dir das doch egal sein! Das sind hier fast 840 Quadratmeilen großes Gelände, und wahrscheinlich sitzt er gerade zwanzig Meilen von hier entfernt und kackt in einen Busch! Kackt in den Busch, und freut sich, dass er König von Garnichts ist. Ein Duke der Einsamkeit, Ein Darth Vader ohne Imperium. Trauriger, kleiner Obdachloser, der seine Socken im Fluss wäscht und sich nackig durch die Stadt trollt. Ein Versager, ein kleiner, unbedeutender…

Die Stimme verstummte, weil jetzt ein neues Geräusch erklang.

Weinen. Jemand weinte.

Diesmal splitterte seine Coolness und ein Schauder lief ihm über den Rücken. Das Weinen war leise, aber nicht zu überhören. Wehklagen von Menschen, mit gelegentlichen Stottern versehen als würde es der Person Schmerzen bereiten zwischen den Seufzern Luft zu holen.

Charlie wandte den Kopf mit laut pochendem Herzen langsam.

Es war eine Szene, eingefroren in Raum und Zeit; bar jeder Normalität: dort stand jemand auf dem Dach. Ein Mensch. In Fleisch und Blut. „… verschwinde…“, stieß die Frau krächzend hervor und zog an ihrem Kleid; ein Fetzen aus Sonnenblumenmuster und Dreck, die Haare strähnig und verlaust – aber das war noch nicht das Schlimmste. „Ich… will heim…“ Eine dünne Asiatin. Mit einem Bündel.

Charlie klappte der Kiefer nach unten. Im ersten Moment traute Charlie seinen Augen nicht. Er stand da wie gelähmt. Es war nicht nur der Schock, eine junge Frau in einem völlig verdreckten Kleid auf dem Dach eines leerstehenden Gebäudes zu sehen, deren Arme zerkratzt und blutig waren. Teilweise rührte der Schock auch einfach daher, plötzlich etwas völlig Unerwartetes zu sehen. Er hatte mit einer halbwegs beeindruckenden Kulisse aus Dächern und Zerfall gerechnet; nicht mit einer jungen Frau mit blutenden Händen und aufgeschnürten Knien. Einer verwahrlosten Frau, die ein rotes Bündel in den Armen hielt.

Der Moment zog sich in die Länge, die Puzzleteile brauchten lange in Charlies Kopf, um sich selbst zu finden… aber als die Stücke langsam an ihren Platz kamen, durchlief ein weiterer Schauer über seinen Rücken. Er schluckte trocken. Was war in dem Bündel?

Er blickte in die dunklen Augen, die so schwarz waren wie warmer Teer, und in dem grausigen Moment, bevor Charlies Erstarrung sich löste, konnte er erahnen, dass sich in dem Bündel etwas regte.

Was ist in dem Bündel?

„Was ist denn los?“, krächzte er leise. „Hey, was ist los?“

„Ich muss weg…“, quiekte die Stimme, triefend voller Verzweiflung. „Ich muss…“

„Moment, wo wohnst du? Wie heißt du?“

„Sie sind alle … alle tot.“

Charlie wollte gehen; er wusste, dass er gehen konnte. Jetzt. Nicht in ein oder zwei Minuten, sondern JETZT! Die Beine in Bewegung setzen und einfach vom Dach runter. Und gehen. Wieder zurück zum Schott. Zurück ins alte Leben. Zurück aus diesem Tal. Fort von der Frau mit dem Bündel…

„Wer ist tot?“ Er wusste, dass er die Antwort mehr fürchtete, als alles was er bislang kennengelernt hatte.

Was ist in dem Bündel?

„Nein, … ich will nach Hause…“

„Ja, schon gut.“ Charlie sammelte allen Mut und machte einen Schritt auf sie zu.

„FASS MICH NICHT AN!“ Die Finger krallten sich in dem Bündel, als wäre es ihr egal ob das Etwas darin Schaden erleide. Doch die Augen erzählten eine andere Geschichte. „Nicht wieder zurück…“

„Jaja…beruhige dich…“

„Böse… nicht da lang… Mama, ich will zu meiner Mama…“

„Shit!“

Gott, er wird mich finden!“

„Das ist...“

Warum...?“

Und dann roch er es. Der Wind hatte sich gedreht, und ein Schwall aus Zersetzung und Fäulnis, aus Kot und geronnenen Blut schwabbte ihm wie eine unsichtbare Welle in sein Gesicht, direkt in die Nase. Die Frau stank. Der Gestank von jahrelangem Irrsinn und Tortour. Von Angst, die vom Nacken ausströmte.

Arme und Beine, die voller grauer Striche waren; deutliche Zeichen von Krätze. Abgerissene Fingernägel, zerschundene Knie und einem Irrsinn in den Augen, den Charlie nicht mal aus einem Horrorfilm kannte.

Er wollte etwas sagen; etwas versprechen, nämlich dass alles wieder gut werden würde.

Dann begann die Frau sich zu bewegen. Trat zur Seite, und verschwand.

Sprang.

Und fiel.

Was ist in dem Bündel?


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