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Wer war Slim eigentlich? Er hatte ihn zuerst auf einem verwackelten Foto gesehen: ein sich von der Kamera abwendender Mann, der reichlich Fett angesetzt hatte, Anfang vierzig vielleicht oder eher älter. Er trug ein blaues, verwaschenes T-Shirt, welches aus seiner Jeans-Hose heraushing. Dieser Mensch erschien ganz unauffällig, vollkommen in seine Umgebung, eine dieser halbdunklen, schmuddeligen thailändischen Bars, eingeschmolzen. Neben Slim saßen einige Barmädchen und winkten fröhlich in die Kamera, während Slim, obwohl sein Gesicht kaum zu sehen war, einen ärgerlichen Eindruck machte; das Aufblitzen der Kamera mußte ihn gestört haben. Seine erste Vermutung war es gewesen, daß Slim zur schlimmsten Sorte der ugly white men gehörte, daß er ein Säufer, Hurenbock, vielleicht sogar Rassist war. Aber später änderte er seine Meinung, wurde vorsichtiger mit seinen Urteilen, bis er es eines Tages aufgab, über Slim zu urteilen. Und außerdem war es überhaupt nicht seine Aufgabe, zu urteilen: Er sollte vielmehr Slims Spur aufnehmen, seine Freunde, Bekannten, Liebschaften, Kontakte ermitteln, um ihn schließlich zu finden.

Die Zentrale hatte ihm ein schmales Dossier über Slim geschickt, mit diesem verwackelten Foto, welches aus den späten 1980er Jahren stammen sollte. Er konnte es kaum glauben, daß die Zentrale keine anderen Fotos von Slim besaß! Die anderen Informationen über Slim waren auch nicht viel besser: ‚Slim’ war nicht einmal sein richtiger Name, der unbekannt zu sein schien; jedenfalls wurden die paar Dossiers, die Frank zu Gesicht bekam, unter diesem merkwürdigen Spitznamen ‚Slim’ geführt; Nationalität: unbekannt, wahrscheinlich deutsch; Wohnort: unbekannt, viel auf Reisen, nach Zeugenaussagen (welche Zeugen?) hauptsächlich in Asien, Korea, Thailand, Japan, China und den USA; Beruf: unbekannt – vermutet wurden irgendwelche Geschäfte am Rande der Legalität, man sprach von ‚Kunsthandel’, ‚Handel mit ostasiatischen Antiquitäten’. Der Grund, weshalb er, Frank, Slim suchen sollte, blieb ebenfalls ungenannt. Die einzig gehaltvolle Information war die, daß man (wer denn?) Slim zuletzt in Tokio gesehen habe, weshalb Frank schnellstens dorthin fliegen und Slims Aufenthaltsort ausfindig machen sollte. Jedoch wurde ihm ausdrücklich untersagt, Kontakt zu Slim herzustellen; er sollte vielmehr sogleich, wenn er ihn gefunden hatte, die Zentrale informieren, die alle weiteren Schritte in die Wege leiten würde – wie gewohnt.

Frank waren diese dubiosen Aufträge, bei denen er dauernd das Gefühl hatte, ein bloßer Handlanger zu sein, zutiefst zuwider; vor allem haßte er es, daß die Zentrale ihm wesentliche Informationen vorenthielt (und daß sie dies in diesem Fall erneut tat, war so gut wie sicher). So verhielt sich die Zentrale immer wieder – und Frank mußte sich im Laufe der Jahre an diesen Stil gewöhnen, den er anfangs als persönliche Beleidigung begriffen hatte, nun aber – in der Regel! – kalten Herzens ertrug. Er stellte auch diesmal keine weiteren Fragen, sondern suchte sich gleich einen der billigsten Economy-Flüge im Computer heraus, denn bei den Spesen war die Zentrale in der letzten Zeit viel geiziger geworden. Er flog von Deutschland aus über London nach Tokio. Da Frank schon lange allein lebte, brauchte er sich von niemandem zu verabschieden. Er hatte seine Lebensverhältnisse seinem Berufsleben, welches ihn oft und plötzlich für längere Zeit irgendwohin führte, vollkommen angepaßt – oder unterworfen, könnte man sagen, wenn man dies kritisch sehen wollte.

Es war ein noch kühler April-Tag als seine Reise begann. In der kleinen Maschine nach London saßen meistens Geschäftsleuten und nur ein paar wenige Touristen. In London Heathrow, wo er ankam, mußte Frank ungefähr drei Stunden auf seinen Anschlußflug nach Tokio warten, doch das machte ihm nichts aus, da er sich recht gern in diesem Flughafen aufhielt, um dem Treiben der Menschen dort zuzusehen. Um vom Ankunftsterminal seines Fluges aus Deutschland zum Abflugterminal seines Fluges nach Japan zu gelangen, mußte Frank zunächst auf endlos langen Laufbändern entlangmarschieren (da er genügend Zeit hatte, hätte er natürlich auch einfach auf ihnen stehenbleiben können, um sich so automatisch fortzubewegen, doch dazu brachte er die nötige Geduld nicht auf). Dieser Flughafen hatte labyrinthische Strukturen! Dann ein Nadelöhr: Eine lange Menschenschlange staute sich vor einer Sicherheitskontrolle. Geduldig – was blieb ihm auch anderes übrig? – wartete Frank hier, mit all den anderen Menschen, die an diesem Punkt, aus allen Himmelsrichtungen kommend, aufeinander trafen, um sich, nach dem Passieren dieser Kontrolle unverzüglich erneut zu zerstreuen. Frank schwindelte ein wenig angesichts dieses gigantischen Umschlags von Menschenleibern. Die meisten Reisenden warteten eher unwillig, wenngleich schicksalsergeben; manche scherzten, andere beobachten ihre Mitmenschen und einige waren ganz in sich gekehrt. Es gab sogar welche, die direkt körperlich unter dieser Warterei zu leiden schienen wie z.B. das junge Mädchen vor ihm, welches sich immer wieder, vielleicht von einem langen Flug erschöpft, niederhocken mußte.

Endlich kam die Kontrolle, die recht nachlässig und ruppig durchgeführt wurde – und dann öffnete sich vor ihm, sozusagen als Belohnung für das lange Warten, die Terminalhalle, vollgestopft mit Geschäften aller Art. War er eben ein lästiges, gleichsam überzähliges Kontrollobjekt gewesen (denn es gab doch offensichtlich angesichts der langen Warteschlagen anscheinend, gleich ihm, viel zu viele Flugreisende, die den überarbeiteten Kontrolleuren nur Arbeit und schlechte Laune bereiteten), so war er nun plötzlich in ein umworbenes, rares, majestätisches Subjekt, den König Kunde, verwandelt. Vielleicht gab es in der Tat Menschen, die sich nach ihrer Reduktion auf ein solches Objekt, durch dieses Umworben- und Umschmeicheltsein als potentieller Kunde gleichsam aufs neue aufpumpen lassen mußten. Aber dieses Wechselspiel konnte wohl allein dann richtig funktionieren, wenn man einmal ein schwaches Ego hatte, welches sich von diesen Kontrollprozeduren wirklich angegriffen fühlte, und zum anderen, wenn man über genügend Geldmittel verfügte, um sich durch Shopping egotechnisch neuerlich aufrichten lassen zu können (vielleicht gab es da ja irgendwelche Zusammenhänge von Ego-Schwäche und Reichtum?). Da Frank allerdings – leider! – weder reich war, noch – Gott sei Dank! – unter einer ausgesprochenen Ego-Schwäche litt, fühlte er sich von all diesen Geschäften, die es hier für Parfüm, Hemden, Pullover, Hosen, Röcke, Brillen, Elektronik, Lebensmittel, typisch ‚englischen’ Mitbringsel, Süßigkeiten und tausend andere Sachen sonst noch gab, zur Gänze nicht angesprochen. All die schönen Zauberworte wie ‚Special offer’, ‚Tax free’ und die heiligen Namen der Designer B-Brands – die Trias des Konsumismus von BALLY, BURBERRY und BOSS (ihre Geschäfte lagen, wie es der Zufall wollte, nebeneinander) – waren für ihn nicht mehr als ein stetiges und ein wenig auf die Nerven gehendes Rauschen. Einzig ein Eckgeschäft mit dem verheißungsvollen Namen World of Whiskies hatte es ihm angetan, obwohl er dort bisher nie etwas gekauft hatte und hoffentlich auch nie kaufen würde. Da er leider nur zu gerne dem Alkohol, meistens in Form von Wein, zusprach, ließ er lieber von dieser verlockenden ‚neuen Welt’ der Whiskys die Finger. Und so verschmähte Frank, heroisch lächelnd, die ihm geradezu perfide angebotenen Probierdrinks und verschaffte sich, unschuldig-nüchtern bleibend, allein durch das Betrachten der Vielfalt der erhältlichen Wiskysorten eine Art imaginären Rausch.

Gerne aber hätte er zumindest einen Kaffee getrunken, doch da er lediglich Euro und Yen und keine britischen Pfund in der Tasche hatte (daß man sich überhaupt nach wie vor eine eigene, kleine Währung halten konnte!), und auch seine Kreditkarte für so kleine Beträge nicht akzeptiert wurde, verzichtete er darauf. Er setzte sich irgendwo hin und sah den vorbeiströmenden Menschen in dieser jetplane world zu: den Flughafenangestellten, denen ihre Plastikausweiskärtchen fröhlich um den Hals baumelten, den chic gekleidet Geschäftsleuten mit ihrem einheitlichen, nationenübergreifenden ‚professionellen’ Gesichtsausdruck, den Jungen und Mädchen in ihren T-Shirts mit den – sicherlich immer um Originalität bemühten – lustig-schockierenden Aufdrucken und Slogans; viele telefonierten, einige fuhren in den Urlaub, andere kehrten zurück. Einige Paare hielten sich an den Händen fest, sich einander Halt gebend in dieser auseinanderfließenden Transitwelt; Arbeiter in gelben Jacken durchquerten zielstrebig das Gebäude. Sogar die typische (fast schon karikaturistisch-typische) japanische Reisegruppe fand sich ein, bestehend aus zumeist älteren, alleinstehenden Frauen und einigen Ehepaaren (deren männlicher Teil es also irgendwie geschafft hatte, sich am Leben zu erhalten, während die Mehrzahl seiner Altersgenossen bereits, ausgelaugt vom mörderischen Arbeitsleben, das Zeitliche gesegnet hatte); alleinstehende Männer gab es nicht, abgesehen von dem jungen Reiseleiter, der als einziger ‚korrekt’, das heißt mit Anzug und Krawatte, auftrat, während alle anderen im einheitlichen Freizeitlook gekleidet waren; etwas, was man vor einigen Jahren noch nicht hätte sehen können, als die Japaner, zumindest die japanischen Männer, selbst in ihrer kärglich bemessenen Urlaubszeit – und besonders im Ausland! – wie die Büroangestellten auftraten.

Frank gegenüber saß ein älterer Engländer, der ein wenig verbittert wirkte und in seine Zeitung vertieft war, während seine Ehefrau, die einen recht lebhaften Eindruck machte, ihre Kreise durch die Geschäfte zog, um sporadisch bei ihrem Gatten aufzutauchen, sei es um nachzusehen, ob ihn nicht schon (endlich?) ein Herzschlag dahin gerafft habe, sei es um von Zeit zu Zeit eine Anlaufstation zu haben. Der Terminal war mit Menschen dicht angefüllt; in einigen besonders beliebten Geschäften drängten sich die kauflustigen Reisenden regelrecht; zuweilen durchkreuzte ein phantastisches Gefährt dieses Gewimmel: Ein Sikh, mit Turban und prächtig-grauem Bart, eine durchaus imposante Gestalt, steuerte ein komisches Gefährt, eine Art Mini-Auto, um kranke und alte Passagiere herumzufahren. Langsam kroch auf der Anzeigetafel Franks Flug nach oben. Bald würde er in Japan sein, einer, nach diesem Gewusel hier, ungleich homogeneren Welt, wie er wußte, da er schon oft dort gewesen war. Nicht ohne einen kleinen Hauch von Traurigkeit verabschiedete Frank sich innerlich von dieser bunten europäischen Szenerie, um zu seinem Fluggate zu gehen, welches endlich auf der Anzeigetafel erschienen war und von dem aus wenig später sein Flugzeug startete.

Glücklicherweise fiel er gleich nach dem Abflug in einen leichten Schlummer (er hatte als erstes im Flugzeug hastig ein Bier getrunken), aus dem er erst hochschreckte als sich das Flugzeug über dem schneebedeckten Sibirien befand. Wie so oft kurz nach dem Erwachen fühlte er sich unwohl. Kroch gar ein Gefühl der Angst in ihm hoch? Doch nur für einen Augenblick, dann wurde er durch das stetige, unverständliche Gemurmel seiner Nachbarn – später, als sie die Einreisekarten für Japan ausfüllten, sah er an ihren Pässen, daß es Bulgaren waren, Sportfunktionäre – irgendwie beruhigt, so daß er eine Zeitlang weiterdämmerte; mit dem nahezu ungenießbaren Essen und verschiedenen schwachsinnigen Filmen vertrieb er sich die restliche Flugzeit.

Die Ankunft am Flughafen in Tokio war für ihn Routine: die große, kühle, hypermoderne Halle des Flugplatzes, die desinteressierten Japaner, ihre kühlen Begrüßungen untereinander (ein kleines Lächeln, eine knappe Verbeugung für ihre zurückkehrenden Partner, Freunde oder Verwandten, die sie vielleicht wochen-, monatelang nicht gesehen hatten), die Ausländer, die erstmalig in Japan ankamen und hilflos umherstolperten bis sie schließlich, mit süßlich verzückten Gesichtern, auf die ihnen so exotisch-wunderhübsch erscheinenden Japanerinnen an den Informationsschaltern einreden konnten. Auch er, ja auch er war hier einstmals so gestanden! Und dann gab es noch die Profireisenden, die ohne Umschweife ihren Weg fanden, und zu denen sich Frank seit einigen Jahren schon zählen durfte. Schnell entfernte er sich aus der Ankunftshalle, in der er nicht zum ersten Mal das Gefühl bekam, beobachtet zu werden (auch diesmal wieder hatte ihn ein stechender Blick direkt körperlich getroffen, der von irgendwo her aus der Menge ausgegangen war). So eilte Frank fast die Treppen zu den Zügen hinunter, kaufte sich eine Fahrkarte am Automaten und eine in Tokio erscheinende englischsprachige Zeitung am Kiosk, die er während der Zugfahrt las, fast ohne auch nur einmal aus dem Fenster auf den Stadtmoloch zu blicken, der sich ihm, je weiter der Zug rollte, gleich einer zweiten Haut dichter und dichter anschmiegte, bis er zuletzt davon vollkommen umschlossen war. Am Zielbahnhof angekommen, stieg er in die Yamanote-Kreisbahn um, fuhr ein paar Stationen weiter, stieg aus, ging ein paar wenige Schritte, seinen Koffer auf den Rollen nach sich ziehend, zu seinem Hotel, wo er problemlos sein vorbestelltes Zimmer bekam. Hier war er schon oft abgestiegen, man kannte ihn; es wurden keine Fragen gestellt.

Im Hotelzimmer – es war im Grunde nur ein schmaler Schlauch, ein Bett, ein Fernseher, der die Hälfte eines an die Wand gequetschten Schreibtisches okkupierte – duschte Frank sich zunächst ausgiebig in diesem rundum mit Plastik verkleideten Bad (das ganze Bad, also auch die Toilette und das Waschbecken, war eine umfassende Duschkabine), in dem er sich immer wie ein Astronaut vorkam. Dann legte er sich aufs Bett, benommen vom Flug und der Zeitumstellung. Er war noch heller Vormittag; draußen hatte die grelle Sonne am wolkenlosen Tokioter Himmel ihn geblendet, hier im Zimmer, hinter den getönten Scheiben, war es fast zu düster. Wie stets nach so einem langen Flug fühlte Frank sich plötzlich ganz hungrig – oft aß er als erstes in Tokio tempura soba – und beim Gedanken daran, steigerte sich sein Hunger so, daß er sich unverzüglich, nach wenigen Minuten der Ruhe, wieder zum Ausgehen fertigmachte.

Ziellos schlenderte Frank los. Er kannte diese Gegend von früheren Aufenthalten ein wenig, aber so schnell veränderte sich in dieser Stadt alles, daß er sich kaum mehr orientieren konnte. Es war ein strahlend-klares Wetter, ein hellblauer Himmel. Auf einer Kreuzung, nicht weit von seinem Hotel, röhrte ein schneeweißer Ferrari im Stau; ein Werbeplakat – wofür es warb, konnte Frank allerdings nicht entschlüsseln – trug den Slogan Motto Aura o – wie wäre das zu übersetzen? Einfach als: Mehr Aura oder: Let’s have more aura. Worum ging es da? Bestimmt war es nur der Wohlklang dieses Wortes, welches es werbefähig machte. Frank bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmassen, den Lärm, Gestank, die schreiende Reklame. Jeder Zentimeter wurde genutzt – ein total gefüllter Raum. Jetzt befand er sich in einer überdimensionierten Einkaufspassagen, die er durchquerte, um danach in ein Gewirr kleiner Gassen, überspannt von schreiender Leuchtreklame, einzubiegen. Schließlich fand er die ‚Vergnügungstraße’ mit dem schönen Namen romansu dori / ‚Romantische Straße’ wieder, in der sich die eher zweifelhaften Etablissements, wie Sex-Shops und Massage-Salons, reihten.

Frank kam angesichts dieses Straßennamens auf den Gedanken, daß dies eine durchaus ernsthafte japanische Vision oder Version der Romantik sein könnte – und dann wäre an diesem Ort die ‚romantische Illusion’ doch einer harten Bewährungsproben ausgesetzt. Und er mußte weiter unwillkürlich an seinen letzten Aufenthalt hier denken, bei dem er sich – es war auch direkt nach dem langen Flug gewesen –, enthemmt von einigen zu schnell getrunkenen Bieren und einer kleinen Flasche Sake, zu einem Besuch in einem dieser Massage-Salons hatte verleiten lassen – und dort eine eher unerquickliche Dreiviertelstunde mit einer übelgelaunten, übermüdeten, nach Zigarettenrauch stinkenden und gar noch etwas übergewichtigen chinesischen Masseuse verbringen mußte (in diesen billigen und den Ausländern zugänglichen Etablissements arbeiteten fast nur Chinesinnen), die ihn, nachdem sie ihn lustlos durchgeknetet hatte, dann letztendlich mit abgewandtem und gelangweiltem Gesicht, seinen Schwanz wichste. Das war der ‚Service’, den man dort erwarten konnte; und Frank hatte wirklich nicht vor, ein solches ‚romantisches’ Erlebnis zu wiederholen. Nun ja, bestimmt hatte man diesen Namen, romansu dori, vollkommen gedankenlos vergeben, irgendwelche vielleicht deutsche Vorbilder imitierend, um eine Art von Rummel zu bezeichnen. Und damit hatte man in gewisser Weise sogar recht! Doch Frank war durchaus bereit, verschiedene ‚Romantiken’ anzuerkennen; und er war keineswegs ein Kulturpessimist – er liebte vielmehr dieses Durcheinander, zumal das Undeutliche und Unverständige, denn er konnte beileibe nicht alle Anpreisungen, Reklamen und Hinweise lesen und verstehen; da war noch viel Raum für die Einbildung. Er hatte zwar in seinem Leben einige ‚ernsthafte’ Versuche unternommen, Japanisch zu lernen, war jedoch nie sonderlich weit damit gekommen. Vielleicht, so hatte er sich diese Serie von gescheiterten Versuchen einmal erklärt, gibt es da eine unzugängliche Kontrollinstanz in seinem Kopf, die das Lernen der Sprache verhindert, um die Geheimnisse ihrer Unverständlichkeit – dieses berühmte Rauschen der unbekannten Sprache – zu bewahren. Gleichwohl war das eine Erklärung bzw. Ausrede nur für besondere Gelegenheiten; meistens bekannte Frank sich ein, daß er ganz einfach nicht genügend Zeit und Energie fürs Lernen aufgebracht hatte, um nicht sagen zu müssen, daß er vielleicht ganz einfach fürs Sprachenlernen vollkommen unbegabt war. Aber da er schon seit vielen Jahren, ja schon mehr als ein Jahrzehnt Japanisch lernte, wenngleich mit großen Unterbrechungen und dann in jeweils neuen Anläufen, gleichsam immer erneut von vorne beginnend, hatte er durchaus, fast zu seinem eigenen Erstaunen, ein gewisses Sprachniveau erreicht, jedenfalls um im Alltag damit einigermaßen bestehen zu können.

In einer unterirdischen Bahnhofspassage konnte Frank dann endlich seine Nudeln, tempura soba, essen, die ihm auf Anhieb ausgesprochen gut schmeckten, obwohl das Lokal (eine Art Stehimbiss, in dem man sich vor dem Essen eine Wertmarke aus einem Automaten ziehen mußte) einen wenn nicht unbedingt schmutzigen, so zumindest zweifelhaft-abgenutzten Eindruck machte und die Bedienung von einer ‚für Japan’ geradezu unglaublichen Schroffheit war. Frank ließ sich dessen ungeachtet die Soba-Nudeln schmecken, sei es, weil er lange keine mehr gegessen hatte – und ihm wohl jede gut geschmeckt hätten – oder sei es, weil es an diesem eher zweifelhaften Ort vielleicht doch einigermaßen leckere Soba und Sojabrühe gab, die über die Soba-Nudeln und das tempura-Stück gegossen wurde. Für diese Brühe war vielleicht ein nicht zu geringes Quantum Dunkelheit, eine dunkle, schattenhafte Unreinlichkeit notwendig. So über Unreinheitsgebote sinnierend, aß Frank seine Nudeln, indem er sie geschickt mit den Stäbchen aufnahm, um sie dann zum Mund zu führen, wo er sie mit einem lauten Geräusch aufschlürfte, gerade so wie dies eben all die Japaner um ihn herum taten; nur ihm schien dieses Schlürfen eine, wenn auch etwas kindische, Freude zu bereiten. Doch er hielt sich dann nicht lange mit diesen Gedanken und dem Essen auf, sondern (und in dieser Hinsicht war er sofort seiner zumeist aus japanischen Angestellten bestehenden Umgebung angepaßt, die in Windeseile ihre Nudeln mit diesen zischend-schlürfenden Geräuschen vertilgten) stand bald, nach wenigen Minuten des Essens, wieder, nun sattgegessen, vor dem Stehimbiss, inmitten der hin und her wogenden Menschenmasse. Für einen Augenblick war er orientierungslos, wußte nicht, ob er links oder rechts gehen sollte, bis ihm endlich die Richtung zurück zum Hotel einfiel. Und dort hatte der Portier gleich eine Nachricht für ihn, die aus dieser kurzen Aufforderung, „Call back immediatly“, bestand; das war die Zentrale. Frank sollte dort die ihm bekannte Nummer anrufen.

Frank ging in sein Zimmer, suchte die Nummer aus seinen Unterlagen heraus und wählte. Und noch während des Wählens verdüsterte sich seine Stimmung, denn stets, wenn er mit der Zentrale zu tun hatte, bekam er das Gefühl, lediglich ein gerade eben geduldetes Anhängsel an einen großen, perfekten Organismus zu sein, der ohne ihn genauso vollkommen, ja vielleicht sogar noch ‚vollkommener’ wäre. Und exakt dieses Gefühl des Überflüssigseins schien ihm die Zentrale auch immer wieder aufs Neue geben zu wollen. Schon nach dem ersten Klingeln des Telefons wurde der Hörer abgehoben und Frank hörte unwillig eine Stimme sagen: „Warum so spät?“ „Entschuldigen Sie,“ erwiderte Frank – warum nur, warum nur war er fortwährend so höflich? –, „aber ich war nur eine Kleinigkeit essen und habe mir ein wenig die Füße vertreten, Sie wissen, der lange Flug ....“ „Hört sich nach Vergnügungsreise an“, knurrte die Stimme. „Herr von Stahl?“, fragte Frank vorsichtig. „Ja sicher, wer denn sonst?“, gab die Stimme zurück, doch etwas geschmeichelt, auf Anhieb erkannt worden zu sein (Frank hatte mit vier, fünf verschiedenen Personen in der Zentrale zu tun und wußte vorher nie, wer für den aktuellen Einsatz verantwortlich war). „Wir haben neue Nachrichten über ihren Fall“, sagte von Stahl weiter. „Sooo“, antwortete Frank gedehnt, mit einem kleinen, Überraschung signalisierenden Schlenker in der Stimme, denn schließlich hatte man ja ihn nach Tokio geschickt, um etwas Neues über Slim herauszufinden. „Ja“, führt von Stahl ungerührt weiter aus, „das Objekt befindet sich in Roppongi, in der Nähe von Roppongi Hills, Sie wissen ja, diesem neuen Hochhausviertel, allerdings ist das Objekt terminiert – verstehen Sie mich? – permanent terminiert!“

Die Zentrale bediente sich bei Telefongesprächen und Mails eines halbverschlüsselten, recht kindischen Codes, für den es keine feste Regeln gab, sondern der vielleicht nur gewisse oberflächliche Kenntnisse über die Hintergründe der Sachverhalte voraussetzte; und selbst wenn man nicht über dieses Wissen verfügte, wäre es, mit etwas Witz und Verstand, ein Kinderspiel, diesen sogenannten ‚Code’ ohne Umstände entschlüsseln zu können, aber die Zentrale bildete sich weiß Gott was darauf ein – solche Spielchen waren wohl notwendig, um dem öden Leben der Bürokraten ein wenig Pep und Kick zu verleihen. „So, so, permanent terminiert“, wiederholte Frank und dachte für sich: ‚Das heißt tot – oder was? Damit Aufgabe erledigt’, sagte jedoch: „Und das, äh, Objekt, befindet sich noch dort, in Roppongi?“ „Ja“, erwiderte von Stahl, „aber nicht mehr lange, er, ähm, es wird heute abtransportiert. Gehen sie also sofort dorthin, stellen sie alle Umstände fest; vor allem sprechen sie mit einer bestimmten Frau, ähm, Frau, ähm, Emmanuelle, ja Emmanuelle; wahrscheinlich eine Nutte, äh Prostituierte. Bei ihr soll, äh, das Objekt zuletzt gewesen sein; mehr wissen wir auch nicht. Und, äh, übrigens, das Objekt hat mittlerweile einen richtigen Namen, den können Sie selbst herausfinden, ich will das jetzt am Telefon ... sie verstehen schon! Machen sie sich gleich auf die Socken! Wir erwarten ihren Bericht, möglichst bald, alles wie gewohnt!“ Grußlos verschwand die Stimme, nachdem sie ihm noch die genaue Adresse in Roppongi übermittelt hatte. ‚Arschloch’, dachte Frank. Von Stahl hatte am Ende ganz so geklungen, als sei der Bericht, für den er erst gerade den Auftrag gegeben hatte, schon wochenlang überfällig. Das Lebenselixier der Zentrale – diese schwachsinnigen Berichte! ‚Alles Arschlöcher’, murmelte Frank halblaut in den stumm gewordenen Telefonhörer, aber machte sich dennoch ohne zu zögern gehorsam auf den Weg.

Frank ging von seinem Hotel zur nahgelegenen U-Bahnstation, fuhr dann nach Roppongi, dem Ausländerviertel. Er hätte natürlich auch ein Taxi nehmen können, doch dann wäre er nur, bei den immerwährenden Verkehrsstaus, länger unterwegs gewesen. Vom Bahnhof Roppongi aus war es ein etwa zehnminütiger Fußweg bis zum Mori Tower, den Frank erreichte als die Abendsonne auf dieses protzige Hochhaus fiel, welches das Zentrum von Roppongi Hills, einem Agglomerat von Luxusbüros, Luxusgeschäften, Luxusrestaurants und Luxusapartments, bildete – und ganz sicherlich mit dem Akzent auf Luxus. Damit war dieser ganze Gebäudekomplex letztlich wohl als Symbol für den Wiederaufstieg Tokios nach der langen Zeit der wirtschaftlichen Stagnation gedacht. Darum herum hatte man einige billigere Apartmentblocks gebaut, die gleichsam ‚parasitär’ am Glanz dieser Luxusinsel teilhatten – und zu einem dieser Blocks ging Frank nun. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn schon von weitem sah er einen schwarz-glänzenden Wagen, zweifellos einen Leichenwagen, vor einer Tür stehen; wenigstens hatte man keinen von diesen ‚japanischen’ Leichenwagen geschickt, die protzig mit Kupfer und künstlichem Gold versehen waren. Frank stellt sich neben den Wagen, ein wenig an den Hauseingang gelehnt und wartete. Jetzt hätte er gerne eine Zigarette geraucht. Sollte er denn erneut mit dem Rauchen anfangen? Tod und Rauchen, diese Verbindung war schnell hergestellt. Doch dann trug man schon Slim heraus, das heißt vier Männer trugen einen einfachen Holzsarg, fast mehr eine Kiste heraus, die, so nahm Frank an, nunmehr Slims Leichnam, die sterbliche Hülle, barg: ein eigentlich doch gar nicht so großer Kasten – das letzte persönlich Recht schützend, das auf die einsame Verwesung.

Leise, den Umständen angemessen, fragte Frank, mit seiner Hand auf die Sargkiste deutend, einen der Träger: „Slim san desuka“ / „Ist das Herr Slim?“ (natürlich hätte er lieber, höflicher und angemessener, auf Japanisch ungefähr so fragen sollen: ‚Befinden sich in diesem hölzernen Sarg etwa die sterblichen Überreste des bedauernswerten Herrn Slim?’, doch dazu reichten eben seine Sprachkenntnisse nicht aus), woraufhin er einen Schwall japanischer Worte als Antwort erhielt, denen er entnehmen konnte, daß die Männer keine Ahnung davon hatten, wen sie hier hinaustrugen, daß ihnen dieses im übrigen, so glaubte Frank sie jedenfalls zu verstehen, vollkommen egal sei, daß es sich aber um einen gaijin, einen Ausländer handele, das heißt einen gaikokujin, wie die Männer höflich in Anbetracht der Tatsache, daß Frank eben auch ein solcher war, der zumindest etwas Japanisch sprach, sagten. Frank zeigte nochmals auf den Sarg und fragte in seinem Schrumpf-Japanisch: „Zeigen sie mir bitte!“, woraufhin wieder ein Wortschwall als Antwort kam, dem er entnehmen konnte, daß man hier auf der Straße natürlich den Sarg nicht öffnen könne (das allerdings hatte sich Frank auch schon gedacht), daß er aber später ‚ins Geschäft’ kommen solle (man drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand), wo der Sarg geöffnet werden könne, so daß er sich dann in aller Form von seinem – ja, was war es denn, in welcher Beziehung stand er denn zum Verstorbenen? „Freund“, sagte Frank schnell – nun also, von seinem Freund verabschieden könne. Frank nickte, gab zu verstehen, daß er verstanden habe und bemerkte, daß er heute am Abend kommen wolle; ja, das sei in Ordnung, man habe bis spät geöffnet. Und dann fügte Frank hinzu: „Emmanuelle sama wa kochira de sunde imasuka?“ / „Wohnt Frau Emmanuelle hier?“ – und deutete statt auf die Holzkiste vage auf das Gebäude, was die Männer, trotz des professionell-traurigen Eindrucks, den zu machen sie verpflichtet waren, fast prustend loslachen ließ. Einer der Männer, gar nicht einmal der, den Frank angesprochen hatte, antwortete, indem er gedehnt ‚E ma nu e le sama’ / ‚Frau Emmanuelle’ sagte, daß sie im dritten Stock wohne und daß sie sich bestimmt freuen werde, wenn Frank sie besuchen komme, woraufhin er sich, als habe er einen unglaublich guten Witz gemacht, bestätigungheischend an seine ihn sofort bereitwillig zugrinsenden Kollegen wandte, die nun, nachdem das Thema von dem Toten in der Kiste zu einer lebendigen und sicherlich zudem attraktiven Frau gewechselt war, einen recht lebhaften, ja geradezu lustigen Eindruck machten. Einer der Leichenträger stützte sich jetzt sogar mit seinem Arm auf Slims Sarg auf, zündete sich eine Zigarette an und machte ganz den Eindruck als wolle er eine nette Plauderei mit diesem merkwürdigen Ausländer anfangen, der zwar ein ziemlich miserables, doch immerhin in groben Zügen verständliches Japanisch sprach. Doch Frank verabschiedete sich höflich bei dieser lustigen Leichenträgerbande und ging in das genannte Stockwerk, klopfte dort an der halb offenstehenden Tür; eine Frauenstimme antwortete ihm: „Hai doozo“ / „Ja, bitte“, die, obwohl nur diese zwei Wörter sprechend, einen klar erkennbaren französischen Akzent hatte. Frank trat in das spärlich möblierte Apartment ein.

Emmanuelle, die ‚Frenchgeisha’, wie sie sich nannte, um damit zugleich ein westliches wie östliches Publikum anzusprechen, hieß in Wirklichkeit Yvonne Pahud, war etwa dreißig Jahre alt und stammte aus Lyon, wie sie Frank später bereitwillig erzählte. Sie war überhaupt sehr gesprächsbereit, war vielleicht einmal froh, ihre professionelle Rolle einer (zunächst) distinguierten Unterhaltungsdame, die sich dann in eine ‚exotisch-erotische’ Französin (für ihre östliche Klientel) bzw. in eine halbwegs ‚exotisch-erotische’ Geisha (für ihre westliche Klientel) verwandeln mußte, verlassen zu können. Sie kam, wie sie Frank im nüchternen Ton sagte, jährlich für einige Monate ‚zum Arbeiten’ nach Tokio. ‚Und in der restlichen Zeit des Jahres kannst du es es dir mit dem in dieser Zeit verdienten Geld in Frankreich gut gehen lassen’, dachte Frank, allerdings ganz ohne Neid und ganz ohne Bewunderung für diese Art der Lebensorganisation.

Yvonne war dafür, daß vor wenigen Stunden ein Mensch in ihrer Gegenwart, womöglich sogar in ihren Armen gestorben war, ausgesprochen ruhig und entspannt. Ihre Gesichtszüge waren recht gleichmäßig: eine zierliche Nase, große braune Augen, ein weder zu kleiner, noch zu großer Mund, ein vielleicht etwas spitzes Kinn; jetzt, wo sie ohne Schminke und Lippenstift war, hätte man sie nicht unbedingt für schön halten müssen, aber es war durchaus denkbar, daß sie sich in eine – für dafür bereite Sinne – ‚Schönheit’ verwandeln könnte. Sie war schlicht gekleidet, mit einer einfachen weißen Bluse und einem in der Tat extrem kurzen schwarzen Rock. Auf Frank machte sie, obwohl sie vergleichsweise fließend auf Englisch mit ihm parlierte, doch einen sehr französischen Eindruck, was jedoch nicht viel besagte, da er nur die gröbsten Vorstellungen vom ‚Französischsein’ und ‚Französischaussehen’ hatte (und es im Grunde auch nur auf Frauen bezog): Natürlich war für ihn Emmanuelle, die Emmanuelle des Films (bzw. der Emmanuelle-Filme, die ja eine ganze Serie bildeten und auf die Yvonne bei ihrer Namenswahl bestimmt zurückgegriffen hatte), zum Inbegriff des ‚Französischaussehens’ geworden (obwohl er in irgendeiner Illustrierten einmal gelesen hatte, daß die Schauspielerin, die die Rolle der Emmanuelle in den ersten beiden oder ersten drei Filmen dieser Serie gespielt hatte, die für ihn die einzige ‚Emmanuelle’ verkörperte, eigentlich eine Holländerin namens Sibylle oder Sylvia oder so ähnlich war).

Er hatte diesen ersten aller Emmanuelle-Filme (und im Grunde zählte für ihn nur dieser eine) in seiner Jugend einmal in Paris gesehen; sogar in einem Kino am Champs-Elysées, der damals noch die Aura einer Prachtstraße hatte. Damals war er zuweilen ganz allein von der kleinen, nicht weit von der französischen Grenze entfernt liegenden deutschen Stadt, in der er studierte und behaglich mit seiner gutherzigen Freundin hauste, in diese große, verlockende Metropole aufgebrochen. Seine Begründung gegenüber der Freundin für diese etwas ungewöhnlichen Reisen war es stets gewesen, die Vorlesungen eines berühmten Philosophen, die in Paris, am Collège de France, öffentlich stattfanden, zu hören (und natürlich versäumte er es nicht, sie zu besuchen, wenn er, bei seinen geringen Französischkenntnissen, auch nicht viel verstand), doch darüber hinaus suchte er in jener großen Stadt alle möglichen Abenteuer und Vergnügungen. Aber meistens blieb es bei der Suche oder das Abenteuer erschöpfte sich in solch harmlosen Vorgängen wie z.B. dem Besuch eines wahrlich – vom heutigen Standpunkt aus betrachtet – recht unschuldigen Filmes. Wie immer ‚harmlos’ und ‚banal’ dies alles gewesen sein mag, dieses Kino-Erlebnis war zumindest so einprägsam gewesen, daß ihm dies jetzt in den Sinn kam; und es überschattete in einer ihm nicht völlig durchsichtigen Weise seine Einschätzung der gegenwärtig vor ihm sitzenden Frau, die nun die Beine übereinander schlug und, etwas affektiert, ein mit Rotwein gefülltes Glas leicht mit der rechten Hand auf der Sessellehne balancierte (liebte sie das Risiko? Rotwein macht doch scheußliche Flecken!). Diese so vor ihm sitzende Frau erinnerte Frank plötzlich in einer fast unheimlichen Weise an die echte/unecht-französische Film-Emmanuelle, wobei ihm angesichts der Überlagerung der verschiedenen Bezeichnungen, Namen und damit verbundenen Bedeutungen von Frenchgeisha/Yvonne/Emmanuelle/Sibylle oder Silvia (oder auch anders) ein wenig schwummrig wurde. Oder war es diese Pose, die Yvonne/Emmanuelle (womöglich den Film bewußt zitierend?) zum besten gab, die ihn ein wenig aus dem Konzept brachte: Die Art des Übereinanderschlagens der Beine; nur um ein weniges hätte Yvonne ihr rechtes Bein, welches momentan fest auf dem linken lag, hinaufschieben mögen (ihr Rock war einfach zu kurz!), um dadurch - wenn sie denn keinen Slip tragen sollte!! - die Öffnung ihres magischen Ortes (den einmal ein Maler den Ursprung der Welt genannt hatte) zu betreiben, gerade jene Öffnung, die die Film-Emmanuelle kurz anbot, um sie sogleich wieder mit einem (den Gegensatz hervorhebenden) langen Rock zu bedecken, der gleichwohl zumindest einen Blick auf ihren Oberschenkel bot: Ein ikonisches Bild-Zeichen, an dem sich vor vielen Jahren Franks jugendlich-unschuldige Phantasie weniger erregt als vielmehr erst einmal überhaupt gebildet hatte: Das Pagenköpfchen Emmanuelles und die trotzigen, ein wenig geschürzten Lippen, die unendliche Lust einklagend, die anscheinend allein der Wechsel ins Exotische herbeizaubern könne. Das war die Verführung gewesen, wenn auch nur eine kinematographische. Heute, im Porno-Zeitalter, waren diese Emmanuelle-Filmchen natürlich nur fast lächerliche Beispiele einer fast unschuldigen Erotik längst vergangener Zeiten, die aber immerhin womöglich für eine ganze Generation (eben die mittlerweile älter gewordene, zuweilen nicht unvermögende Generation, die diese Yvonne/Emmanuelle hier als ihre potentielle Kundschaft sicherlich im Blick hatte) prägend gewesen war; das war vielleicht in Japan nicht anders als in Europa. Doch Frank wollte eigentlich seine Gedanken weder in erotische, noch kinematographische und schon gar nicht erotisch-kinematographische Gefilde abschweifen lassen; schließlich hatte er einen Job zu tun, sollte etwas über Slim herausfinden, um zumindest seinen Bericht an die Zentrale – zur Rechtfertigung seiner Reisespesen – schreiben zu können. Also versuchte er sich erneut auf Yvonne zu konzentrieren, allerdings unter der Perspektive, was wohl ein Mann wie Slim, von dem er in der Tat nur die gröbsten Vorstellungen hatte, an ihr gesehen, was ihn vielleicht angezogen und dazu gebracht hatte, sich bei ihr in einer solchen Weise zu verausgaben, daß es ihm sein Lebenslichtlein ausblies. Yvonne betrachtend, konnte er jedoch kein Gefühl für Slim und seine Leidenschaften gewinnen; schließlich versuchte er sie über Slim auszufragen, nur wußte sie von ihm so gut wie nichts: Er hatte sich auf ihre Kleinanzeige – sie hielt sie Frank leicht spöttisch zum Lesen hin: ‚French Geisha. Extremley sweet wishes to meet serious gentlemen for delightful experiences (Japanese and Caucasian welcome)’ – mit einigen nichtssagenden Sätzen gemeldet, geschrieben unter einer anonymen E-Mail-Adresse, die sie mit eben so nichtssagenden, professionell-zärtlichkeitsversprechenden Sätzen („I will take good care of you, sweet kisses“) beantwortet hatte, um daraufhin für den heutigen Tag einen Termin auszumachen. Slim, so dachte Frank, schien augenscheinlich kein Anhänger der Sadomaso-Fraktion gewesen zu sein, sondern eher auf ‚sweet kisses’ gestanden zu haben – immerhin eine Erkenntnis, oder?

Frank fragte: „Und wie hat er sich bei Ihnen vorgestellt?“ Yvonne lächelte: „Vorgestellt?“ und dehnte das ‚O’ so, daß es irgendwie komisch klang, „Weißt Du, bei mir stellen sich die Typen eigentlich nicht direkt vooor. Die murmeln meist irgendeinen erfundenen Namen, ich glaube, er sagte Tom oder Tim oder so was, ich hab’s vergessen, aber frag’ mal die Bullen, die wissen das, die haben seinen Paß.“ Frank nickte und fragte weiter: „Ja, und wie war er hier?“ „Du stellst vielleicht Frage ..., na ja, ganz normal“, antwortete Yvonne. „Er kam, zahlte, wir fickten“ (Frank mußte ein wenig gequält über diesen Ausflug Yvonnes ins Vulgäre lächeln, die ihn dabei abschätzend ins Auge faßte) „und dann fing er plötzlich komisch zu zucken an, und dann war er tot. Mann, das ist vielleicht eine Scheiße gewesen.“ „Und das hast du genauso der Polizei erzählt?“ Frank konnte das nicht glauben, da Prostitution in Japan offiziell verboten und deshalb im übrigen ein blendendes Geschäft für einige war. „Mann“, rief Yvonne mit künstlich-übertriebener Stimme aus, „ich bin doch nicht blöde! Die Polizei interessiert sich für nicht so viel, schon gar nicht, was die gaijin untereinander treiben; du mußt nur die Spielregeln einhalten. Ficken – ok, eben ohne Geld. Dieser Slim, war halt ein Spontanfick; die Bullen glauben’s natürlich nicht, aber sind zufrieden.“ Tatsächlich waren Frank vorhin im Treppenhaus drei Japaner in unauffälligen Regenmänteln begegnet, die eifrigst an ihm vorbeigeblickt hatten.

Yvonne hob ihr Glas und genehmigte sich einen herzhaften Schluck. „Willst Du eigentlich auch was?“ schob sie etwas unvermittelt ein, wobei das ‚Was’ ganz unklar eine Weile im Raum schwebte. Frank schüttelte nur den Kopf: „Und war es, wie soll ich sagen, praktisch so vorher oder nachher, daß er starb?“ Yvonne lächelte, dies sogleich verstehend, fragte aber spielerisch, ein wenig die Obszönität auskostend, nach: „Du meinst vor oder nach dem Abspritzen?“ Während Frank schmerzlich nickte, zerstoben all seine unschuldigen Emmanuelle-Träumereien, und er sah doch jählings nur eine irgendwie plötzlich völlig alltäglich wirkende und an der Grenze zum Altwerden stehende Frau vor sich, die mit all ihrem gezierten Französisch- und womöglich (für ihre ‚westliche’ Kundschaft) Geisha-Getue doch nur notdürftig ihre abgründig-banale Existenz (und die ihrer ‚Kunden’) übertünchen konnte. „Nun“, ließ sie verlauten und dehnte das ‚U’, „ich glaube er starb schon vorher, vor dem Abspritzen. Und warum fragst du?“ „Nur so“, entgegnete Frank. Warum er das gefragte hatte, das wußte er im Grunde nicht so genau. Vielleicht weil er Slim einen schönen Tod, inmitten der Wollust, gewünscht hatte? Dann gab es nichts mehr zu sagen; Frank starrte einen Augenblick die kahle, weiße Wand in Yvonnes Apartment an, stand dann auf, gab ihr seine Visitenkarte, auf der nur sein Name und eine Telefonnummer stand. „Wenn noch was sein sollte oder ihnen noch was einfällt, bitte rufen Sie mich an!“, sagte er und fügte hinzu: „Kann ich Sie später irgendwie erreichen?“, woraufhin Yvonne ihm ein Kärtchen mit einer Adresse in Lyon gab. Frank verabschiedete sich, ging aus der Wohnung, auf die Straße, winkte sich ein Taxi herbei und drückte dem Fahrer stumm die Visitenkarte des Bestattungsunternehmens in die Hand, der daraufhin ein äußerst betretenes Gesicht machte und Frank schweigend dorthin brachte.

Problemlos wurde Frank in das Bestattungsgeschäft eingelassen; er erkannte auf Anhieb den Japaner wieder, der ihm die Visitenkarte gegeben hatte. Man führte Frank durch eine Art Empfangs- oder Besprechungszimmer in ein Hinterhaus, wo der Sarg keineswegs aufgebahrt, sondern mitten im Raum einfach auf dem Boden stand. Er war noch verschlossen, und man machte sich ohne zu zögern daran, ihn zu öffnen. Als er geöffnet war, verließen die Angestellten schweigend und sich ein wenig zu Frank hin verbeugend den Raum. Frank trat näher an den Sarg. Er sah darin eine äußerst fetten Mann liegen, Mitte, Ende 50, dem man ein weißes Totenhemd übergezogen hatte, was aber äußerst knapp saß, sich straff über dem mächtigen Bauch spannte und die Beine fast bis zu den Knien freiließ. Frank zweifelte keinen Augenblick daran, daß es sich bei dem Toten um Slim handelte (dessen richtigen Namen er immer noch nicht kannte). Slims Kopf war ein wenig zur Seite geknickt, die Augen hatte man ihm geschlossen; der Mund stand offen und hätte dem ganzen Gesicht einen lächerlichen, ja geradezu blödsinnigen Ausdruck gegeben, wenn nicht die nun vollkommen aschfarbene Haut, die in dicken Wülsten die Backen formte und schlaff herunterhing, diesem Gesicht das doch stets ein Grauen hervorrufende Gefühl des Totseins gegeben hätte. Frank berührte leicht mit seiner Hand die kalte Stirn des Toten, murmelte leise vor sich hin: ‚Wer lauschte die Sprache der Seele mit den Verwesungen?’, Zeilen, die er sich aus irgendeiner längst vergangenen und – bis auf diese wenigen Worte – vergessenen Lektüre einmal gemerkt hatte, nahm dann seine kleine Kamera, die er meistens bei sich trug, aus der Tasche und machte einige Photos von Slim, die er seinem Bericht anfügen wollte. Nachdem er dies getan hatte, sah er seinen Auftrag als erledigt an. Nichts gab es für ihn mehr weiter zu tun.

Frank hatte schon einige Leichname in seinem Leben gesehen – das brachte sein Beruf mit sich, aber immer war ihm der Anblick und vor allem der leicht süßliche Geruch von Toten (oder war das irgendeine Substanz, mit der man sie wusch oder konserviert?) recht unangenehm. So wollte er eigentlich augenblicklich wieder diesen Raum verlassen, trat schon ein wenig vom Sarg zurück, als ihm einfiel, daß es – wie er einmal gelesen hatte – in Japan üblich sei, daß die Angehörigen eine ganze Nacht lang bei ihrem Verstorbenen ausharren, um so vielleicht der Seele einen leichteren Abschied zu ermöglichen. Vielleicht erwartete man hier von ihm eine gewisse Zeit des Ausharrens bei dem Toten? Eine ganze Nacht würde er sicherlich nicht hier verbringen ... immerhin beschloß Frank zumindest eine Viertelstunde einfach an diesem offenen Sarg stehenzubleiben – und schielte deshalb auf seine Uhr, um wirklich diese Viertelstunde (und nicht viel länger) abzuwarten. Und gerade als er dieses mühselige Geschäft des Wartens auf sich nehmen wollte, trat, leise von hinten kommend, der Japaner, mit dem er eben zu tun gehabt hatte, zu ihm (beinahe so als habe er Franks Zurücktreten vom Sarg und sein Schielen auf die Uhr beobachtet), verharrte wenige Momente schweigend neben ihm und fragte ihn dann leise auf Englisch, ob er den werten Verstorbenen kenne, womöglich mit ihm verwandt sei, man habe da nämlich ein Problem mit den Beerdigungskosten, es sei zwar jetzt mehr als unpassend darüber zu reden, aber ...’ Frank wandte sich dem Mann zu, sehr froh darüber, der Warterei entgehen zu können und einen Vorwand gefunden zu haben, diesen ungemütlichen Ort zu verlassen. „Let’s talk outside“, sagte er, bemüht nicht allzu erleichtert zu klingen.

Man ging zusammen in das Empfangszimmer und, im Stehen, erklärte Frank, daß er nur ein weit entfernter Freund, ja eher nur ein Bekannter sei, der jüngere Bruder eines Schulfreundes des Verstorbenen. Sein Bruder habe ihn beauftragt, den Verstorbenen zu besuchen, nur um Grüße zu bestellen; dieser Tod sei ja so überraschend gekommen. Er müsse gleich seinen Bruder anrufen und fragen, ob der Verstorbene Familie habe, die dann ja für die Beerdigungskosten verantwortlich seien. Ansonsten müsse man sich eben an die deutsche Botschaft wenden. Das sagte Frank nahezu schon im Weggehen, denn er wollte sich natürlich nicht weiter in diese Beerdigungsangelegenheit verwickeln lassen. Nur – damit war der Japaner überhaupt nicht einverstanden; besonders der Hinweis auf die Botschaft schien ihm gar nicht zu behagen. So, Frank regelrecht ein wenig in den Weg tretend und andeutungsweise sogar die Türe des Geschäftes blockierend, durch die Frank nunmehr eigentlich schnell hatte entschlüpfen wollen, setzte er zu einer längeren Rede an: Obwohl er, also der werte Herr Freund des werten Herrn Verstorbenen, nur ein, wie er deutlich gemacht habe, entfernter Freund des werten Herrn Verstorbenen sei, so sei er, dessen ungedacht, gleichwohl der einzige Mensch hier in Tokio oder auch vielleicht in ganz Japan, das heißt weit und breit, der in irgendeiner persönlichen Art der Beziehung zu dem werten Verstorbenen stehe – dem könne, ja müsse er zustimmen, nicht wahr? Frank sagte, daß er dies nicht wisse und weder bestätigen noch verneinen könne, was jedoch der japanische Bestattungsunternehmer einfach eifrig nickend anscheinend als Bestätigung seiner Vermutung aufnahm und Frank, eindringlich anblickend, ins Gewissen redete: Er, der werte Herr Freund, dessen Name er eigentlich überhaupt noch nicht kenne, sei letztendlich der einzige Mensch hier, der wirklich für diesen Toten verantwortlich sei. Die Botschaft – das sei nur eine große, anonyme Behörde, mit der könne man gar nicht, so wie jetzt mit ihm, reden. Deshalb wolle er, der er die ehrenvolle Aufgabe übernommen habe, diesen Toten in Würde zu bestatten – oder womöglich in seine Heimat zu überführen, wie es gewünscht werde –, nicht mit der Botschaft verhandeln, sondern ihn, den werten Herrn Freund, inständig und persönlich bitten, sich der Regelung der Angelegenheiten dieses werten Herrn Verstorbenen anzunehmen.

Frank war ein wenig von dieser langen und intensiven Ansprache überrascht und konnte nicht einschätzen, ob dieser so eindringlich auf ihn einredende Japaner entweder ein besonders gewiefter Geschäftsmann oder ein – vielleicht konfuzianistischer? – Moralist war, der an die menschliche – und in diesem Fall eben seine, Franks, – Verantwortung für die Toten, d.h in diesem Fall also Verantwortung für den toten Slim, appellierte, eine Verantwortung, die Frank gar nicht anerkennen wollte. Vielleicht war dieser Japaner beides zugleich: geschäftstüchtig und moralisch, eine Kombination, die für das Leichengeschäft bestimmt ausgesprochen günstig sein mußte. Wie immer auch – Frank konnte sich diesen eindringlichen Worten nicht ganz entziehen und gab dem Japaner schließlich und endlich seine Visitenkarte mit seiner Adresse in Deutschland und sagte ihm, daß er die Rechnung für seine Unkosten, sei es für die Beerdigung, sei es für die Überführung, dorthin schicken könne (natürlich würde Frank alles gleich weiter an die Zentrale schicken). Ferner wolle er sich erkundigen, was mit Slims Leichnam geschehen solle, weshalb er ihn morgen anrufen werde; außerdem gab Frank dem Japaner die Telefonnummer seines Hotels. Etwas zufriedener geworden lächelte der Japaner ihn an und bemerkte noch, wo man gerade vom Hotel spreche, daß er diese Visitenkarte eines Hotels in Slims Tasche gefunden habe (die er aus seiner Tasche zog und, mit beiden Händen reichend und sich verbeugend, Frank übergab). Die anderen Habseligkeiten des werten Herrn Verstorbenen, Ausweis, Portemonnaie etc., habe die Polizei in Verwahrung genommen, hier, er habe auch die Telefonnummer des Kommissars, die er für Frank auf einen Zettel schrieb. Nachdem dies alles erledigt war, trat er mit einem erneuten Lächeln und einer weiteren höflichen Verbeugung leicht zur Seite, gab so die Türe frei, durch die Frank endlich aus dem Geschäft gelangen konnte, nicht ohne sich vorher eifrig verbeugend verabschiedet zu haben.

Als Frank wieder auf der Straße stand – um ihn herum tosten abermals diese unzähligen japanischen Gesichter –, fühlte er sich auf einmal unglaublich müde; er war ja erst heute morgen hier angekommen, was für ein Tag! Ein Anflug von Leere, Verlassenheit und Schwäche überfiel ihn, etwas, was er in dieser Deutlichkeit vorher niemals so gefühlt hatte. Wurde er langsam alt? Und dann diese Yvonne/Emmanuelle, die überhaupt keine Hilfe gewesen war, sondern ihn nur in Verwirrungen gestürzt, ja in jugendlich-pubertäre Verstrickungen, denen er sich schon längst enthoben glaubte, zurückgeworfen hatte. Und zudem verspürte Frank momentan, neben seiner Müdigkeit und Traurigkeit, einen immer stärker werdenden körperlich-sexuellen Druck, den er jedoch eifrigst ignorierte, wollte er doch Slim in keinster Weise nachahmen, weder jetzt ficken, noch sterben – oder gar beides zusammen.

Was sollte er weiter tun? Am einfachsten wäre es, in sein Hotel zurückzufahren, die Zentrale über alles zu benachrichtigen und seinen Rückflug zu buchen. Doch dann zog Frank die Visitenkarte von Slims Hotel aus der Tasche, die ihm der Beerdigungsunternehmer noch gegeben hatte, und sah, daß es nicht weit entfernt von seinem eigenen Hotel lag. So entschied er sich dafür, dorthin zu fahren und dann vielleicht von da zu Fuß zu seinem Hotel zu laufen. Problemlos fand er ein Taxi und ließ sich durch den inzwischen recht dicht gewordenen Tokioter Feierabendverkehr zu dem Hotel bringen, in dem Slim gewohnt hatte. Dieses Hotel war etwas größer und gediegener als das, in dem er wohnte, doch war es immer noch kein Luxus-, sondern allenfalls ein gehobenes Mittelklassehotel. Der Hotelportier, ein älterer, freundlicher und gut Englisch sprechender Japaner, gab ihm bereitwillig Auskunft, nachdem Frank, so gut es ging, Slim beschrieben hatte, ohne allerdings Slims richtigen Namen nennen zu können. Der Portier meinte dann, daß tatsächlich ein solcher Herr bei ihnen übernachtet habe, der ja bedauerlicherweise verstorben sei, wie er von der Polizei wisse, die hier gewesen und die Sachen des Verstorbenen, bei denen es sich nur um einen Koffer gehandelt habe, mitgenommen und das Zimmer des Verstorbenen untersucht habe. In der Tat wisse er nicht, und dieser Gedanke sei ihm im Grunde eigentlich eben erst gekommen, ob er überhaupt berechtigt sei, diese Auskünfte zu erteilen – und er wolle jetzt lieber den Kommissar anrufen, der ihm seine Telefonnummer hinterlassen habe. Frank hatte dagegen gar nichts einzuwenden, ja bat den Portier, ihn ebenfalls mit dem Kommissar sprechen zu lassen. Daraufhin murmelte der Portier einige schnelle japanische Sätze in ein Telefon, die Frank nicht verstand, wartete eine kleine Weile, sprach wieder einige Sätze und übergab dann Frank den Telefonhörer, leise flüsternd, daß er bitte langsam Englisch sprechen möge.

Frank hörte eine energische Stimme, die sich Japanisch meldete: „Hai, Ishida desu“, um dann in einem etwas langsamen, aber recht passabeln Englisch fortzufahren: „Ich bin Kommissar bei der japanischen Polizei. Wer sind Sie?“ Frank nannte seinen Namen und fügte hinzu, daß er ein entfernter Freund des Verstorbenen sei und sich wohl darum kümmern müsse, was mit dessen Leichnam geschehen solle; er sei auch schon deshalb bei dem Beerdigungsunternehmen gewesen. Der Kommissar schien geradezu froh zu sein, einen Ansprechpartner für diesen Fall gefunden zu haben und bat Frank höflich, ihn einmal in seinem Büro im Polizeipräsidium aufzusuchen, wenn möglich gleich morgen, vielleicht schon um neun Uhr? Frank sagte zu und verabschiedete sich. Der Kommissar wollte dann noch einmal mit dem Portier sprechen, weshalb Frank diesem, der während des kurzen Telefongesprächs lächelnd und mit leicht vorgebeugtem Kopf gewartet hatte, den Hörer zurückgab. Es wurden einige weitere kurze Worte gewechselt, dann war das Gespräch zu Ende. Schnell fragte Frank noch, ob er sich nicht das Zimmer des Verstorbenen einmal anschauen könne, was der Portier verneinen mußte und erklärte, daß Mister Stegmann (aha, endlich erfuhr er Slims richtigen Namen, wobei der Portier diesen Namen selbstverständlich Englisch, also so ähnlich wie ‚Steackman’, aussprach) heute morgen – ja, es war ja erst heute gewesen – ausgezogen sei und natürlich alles bezahlt habe (und man habe jetzt das Zimmer schon wieder vermietet, nachdem die Polizei sich alles angeschaut hatte). Mister Stegmann habe nur einen Koffer untergestellt, den er am Nachmittag abholen wollte; dazu sei es ja bedauerlicherweise nicht mehr gekommen. Dieser Koffer sei von der Polizei, also von Kommissar Ishida, sichergestellt worden. Frank wunderte sich ein wenig darüber, daß Slim (und er nannte ihn weiterhin für sich so) sich ausgerechnet am Morgen seiner Abreise für ‚sweet kisses’ interessiert hatte, aber, nun ja, das menschliche Begehren, war an keine feste Uhrzeit gebunden. „Und“, fragte er beiläufig den Portier, „wissen Sie zufällig, wohin, äh Mister Stegmann (und er bemühte sich, diesen Namen Englisch auszusprechen) weiterreisen wollte?“ „Ja“, antwortete der Portier, „er sprach von einem Nachmittagsflug nach Seoul.“ Frank bedankte sich höflich, trat vor das Hotel, fand dann sofort ohne Schwierigkeiten die Richtung, in die er zu gehen hatte, erreichte bald sein Hotel, ging gleich in sein Zimmer, kroch todmüde ins Bett, gab einen Weckauftrag für den nächsten Morgen um sieben Uhr auf und fiel auf der Stelle in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als Frank am nächsten Morgen durch das Klingeln des Telefons geweckt wurde, schreckte er hoch, hatte er doch gestern abend vollkommen vergessen, die Zentrale über all das zu informieren, was passiert war; nun würde von Stahl sicherlich ganz aufgebracht sein und ihn mit Vorwürfen überhäufen. Resigniert nahm er den Telefonhörer auf und hörte zu seiner großen Erleichterung nur die Tonbandstimme des Weckdienstes. Dann fiel ihm ein, daß es in Deutschland zu dieser Zeit später Abend war und daß von Stahl bestimmt irgendwann einmal Feierabend machen würde – oder etwa nicht? Er war sich dessen aber nicht vollkommen sicher. Schnell machte Frank sich ausgehfertig, verschlang in der Cafeteria des Hotels einige fettige Eier mit Speck auf einem pappigen Toastbrot (was als ‚Western Breakfast’ angeboten wurde) und trank hastig einige Tassen Kaffee, den man sich, so oft man wollte, selbst vom Automaten holen konnte. Irgendwann einmal sollte er sein Eßverhalten radikal ändern – wie oft hatte er sich dies nicht schon vorgenommen! Nur heute würde er es sicherlich nicht ändern!

Er ließ sich mit dem Taxi zum Polizeipräsidium bringen, wo ihn ein freundlicher Pförtner bis vor Kommissar Ishidas Bürotür brachte. Er klopfte an, trat ein, und ein circa vierzig Jahre alter Japaner mit einem großen, runden Kopf und einer altmodischen, überdimensionierten, rechteckigen Brille begrüßte ihn und stellte sich als ‚Ishida’ vor. Man tauschte einige Höflichkeitsfloskeln aus; Ishida kondolierte ihm zum Ableben seines Freundes, woraufhin Frank erneut erklärte, daß er nur ein sehr entfernter Freund, der Freund eines Freundes, des Verstorbenen sei, den er also so gut wie nicht gekannt habe; und allein die eindringliche Rede des Bestattungsunternehmers, dessen Appell an seine Menschlichkeit oder wie er sich ausdrücken solle, habe ihn veranlaßt, sich um die Beerdigungsformalitäten zu kümmern (wobei Frank im selben Moment, als er dies sagte, einfiel, daß er von Stahl unbedingt fragen mußte, was mit Slims Leichnam zu machen sei, ob er verbrannt, beerdigt oder zurück in die Heimat überführt werden solle – und daß er darüber heute noch das Bestattungsunternehmen informieren mußte). Dies lobte Kommissar Ishida sehr, der sich dann lang und breit darüber ausließ, wieviel Ärger man doch hier mit toten Ausländern habe; er, Ishida, glaube, daß es geradezu in Mode gekommen sei, hierher, nach Tokio, zu kommen, um sich dann irgendwo, vorzüglich in einem Hotelzimmer in einem oberen Stockwerk, mit Blick auf die städtische Skyline, umzubringen, zumeist mit einer Überdosis von Tabletten; er bzw. die Polizei in Tokio habe dann all die Scherereien mit diesen ausländischen Toten auszubaden. Aber, nun dieser Fall, der sei ja völlig anders gelagert, problemloser, nicht wahr? Frank wunderte sich ein wenig über Ishidas optimistische Sicht, denn die Umstände von Slims Tod, sein Besuch bei der Prostituierten ... wäre hier nicht zumindest die Möglichkeit einer komplizierteren Sicht dieses Falls denkbar ..., woraufhin Ishida, so als habe er Franks Gedanken gelesen (dieser so unscheinbar wirkende Mann vor ihm mußte doch recht scharfsinnig sein – könnte er denn sonst auch als Kommissar arbeiten?), sagte: „Es ist durchaus eine einfache Sicht dieses Falles möglich; sie ist sogar ganz und gar naheliegend: ein übergewichtiger Mann in einem nicht gerade ungefährlichen Alter, der sich bei einer gewissen Aktivität überanstrengt. Wir fanden außerdem diese Tabletten, Viagra, sie wissen schon, im Besitz des Toten. Eine einfache Sicht – und ‚the case is closed’“, woraufhin ihn der Kommissar leise lächelnd und zugleich ein wenig lauernd lange anschaute. Frank begann langsam zu nicken. Ishida sagte nichts, Frank nickte weiter. Dann, nach einer langen Gesprächspause, die Frank nickend überbrückt hatte (und sich dabei mehr und mehr idiotisch vorkam), fügte Ishida hinzu (so als habe es keine Pause gegeben): „ ... es sei denn, Sie – oder eine andere Person – beantragen eine Obduktion.“ „Äh, nein, das wohl nicht“, sagte Frank, aber doch ein wenig unsicher geworden, ob dies nicht die Zentrale entscheiden müsse. „Gut“, beeilte sich Ishida zu antworten, „dann habe ich noch etwas für Sie, hier, einmal eine Kopie des Passes des Verstorbenen; das Original behalten wir vorerst bei uns, sowie seine Geldbörse, in der übrigens sehr viel Bargeld war, fast 300.000 Yen und etwa 2.000 Euro. Wir schicken das dann später an die Deutsche Botschaft. Aber, was ich ihnen mitgeben kann, das ist der Koffer des Verstorbenen. Wir haben ihn natürlich genauestens untersucht und konnten da nichts Auffälliges finden. Der Verstorbene hatte ja am Morgen seines Todes seinen Koffer gepackt, wollte abreisen. In seinem Hotelzimmer waren keinerlei Sachen mehr von ihm. Ich habe den Koffer bereits holen lassen.“ Bei diesen Worten wies Ishida auf die Zimmerecke, in der ein großer, grüner Reisekoffer stand. „Bitte quittieren Sie hier, daß Sie den Koffer empfangen haben, ja, hier unten bitte ... und hier ... die Kofferschlüssel.“ Frank bedankte sich, steckte die Schlüssel und die Kopie des Passes ein, verabschiedete sich mit einigen heftigen Verbeugungen von Ishida, der anscheinend ganz froh war, seinem Gast nicht die Hand schütteln zu müssen, und verließ Ishidas Büro, den Koffer, der kleine Räder und einen Griff hatte, hinter sich her ziehend.

Der freundliche Pförtner am Eingang half ihm, ein Taxi zu finden, welches Frank zurück zum Hotel brachte; dort wollte er den Koffer gründlich untersuchen und dann von Stahl anrufen, um diesen Fall dann endgültig abzuschließen – und nach Hause zu fliegen.

Ins Hotel und sein Zimmer zurückgekehrt, kramte Frank einen Stift und eine Block hervor, um sich für das Gespräch mit von Stahl und seinen später zu schreibenden Bericht einige Notizen zu machen, räumte den Fernseher vom Schreibtisch und wuchtete Slims grünen Koffer darauf. Doch bevor er ihn öffnete, schaute er sich die Kopie des Passes, die Kommissar Ishida ihm gegeben hatte, genauer an: Slim hieß also Stegmann, mit Vornamen ‚Johannes’ – irgendwie ein ganz ‚frommer’ Name, wie Frank fand –, geboren 1944 in einer niedersächsischen Kleinstadt. Das Paßphoto – auf der Kopie war fast nichts zu erkennen – zeigte einen sehr ernst blickenden fülligen, aber nicht übermäßig dicken Mann, Ende 40, überaus korrekt, mit Anzug und Krawatte, bekleidet. Dieses Photo konnte Frank nur mit größter Anstrengung mit dem toten Slim in Verbindung bringen, den er gestern gesehen hatte; erst als er sich die Person auf dem Bild mächtig aufgebläht vorstellte, konnte er eine Beziehung herstellen. Weiter waren Kopien der Paß-Seiten beigefügt, die viele Ein- und Ausreisestempel trugen: vor allem von Japan, Südkorea, China, Thailand, Malaysien, China, USA. Mit Schrecken dachte Frank daran, daß er vielleicht für seinen Bericht eine Aufstellung von Slims Reisen würde machen müssen, eine Heidenarbeit. Dann nahm er sich den Koffer vor: Es handelte sich um einen großen, grünen Samsonite-Reisekoffer, auf dem, aus einzelnen Aufklebe-Buchstaben bestehend, ‚S E I I C H I’ zu lesen war, was, wie Frank wußte, ein männlicher japanischer Vorname war. Frank notierte sich dies unverzüglich. Ansonsten war der Koffer unauffällig, schon alt, verbeult und abgestoßen; die Räder waren zwar abgenutzt, aber noch brauchbar. Vorsichtig schloß Frank die beiden Kofferschlösser mit dem kleinen Schlüssel, den er von Ishida erhalten hatte, auf, was ganz unproblematisch ging und öffnete den Koffer. Oben aufgepackt lagen einige Kleidungsstücke, Pullover, Hemden, Socken, Hosen, alles in einer absurd überdimensionierten Größe. Unter dieser Schicht von Kleidung, die Frank auf seinem Bett ausbreitete (später würde er notgedrungen ein detailliertes Verzeichnis dieser Gegenstände für seinen Bericht anfertigen müssen; solche Listen liebte die Zentrale besonders), fand er einen flachen, sorgfältig in Packpapier eingeschlagenen und mit einer Kordel verschnürten Gegenstand. Er öffnete dieses Paket sorgfältig und fand ein mittelgroßes, schwarz-weißes Photo eines jungen, zumindest ansehnlichen, wenn nicht sogar recht hübschen, jedenfalls sehr männlich wirkenden und vor allem sehr energisch dreinblickenden Japaners, der einen schwarzen Rollkragenpullover trug. Das Photo steckte in einem kartonierten Umschlags eines japanischen Photogeschäftes. Frank nahm das Photo heraus und sah, daß auf seiner Rückseite eine Widmung geschrieben war:

„Für Karl-Friedrich

Leaving homeland, banished to a strange place, I wonder my heart feels so little anguish and pain.

Always yours, T.“

Darunter war noch, mit einer anderen Handschrift geschrieben: „But where was my homeland?“

Frank wühlte weiter in dem Koffer, doch fand nichts besonderes mehr, ein Paar Schuhe und ein Paar Slipper, einen Waschbeutel mit dem üblichen Utensilien, zwei anspruchslose Krimis amerikanischer Erfolgsautoren; nichts, was ihm irgendwie ein persönliches Bild Slims hätten geben können. Etwas enttäuscht warf Frank den Koffer zu, setzte sich auf sein Bett, überarbeitete seine Notizen, ergänzte sie auch um das, was er am Vormittag mit dem Kommissar besprochen hatte, und griff dann zum Telefonhörer, um die Zentrale, um von Stahl anzurufen. In Deutschland war es jetzt früh am Morgen, gerade richtig, um einmal zu testen, ob von Stahl schon zu dieser Zeit im Büro war. Er wählte die ihm bekannte Nummer. Anstelle der erwarteten schneidenden Stimme von Stahls meldete sich eine fast freundliche Frauenstimme: „Ja, bitte?“ Frank nannte seinen Namen und sagte, daß er von Stahl sprechen wolle. „Einen Augenblick bitte, ich verbinde“, sagte die Dame – wenig später war von Stahls knurrend-fragendes „Ja?“ zu hören. Wortreich entschuldigte Frank sich dafür, nicht gestern schon angerufen zu haben, was er mit seinem dauernden Beschäftigt- und Unterwegssein erklärte, woraufhin von Stahl ihn mit der knappen Bemerkung, „Kommen Sie zur Sache“, das Wort abschnitt. „Ja also“, so setzte Frank zu einer längeren Ausführung an, „ich habe sehr, sehr gute Fortschritte gemacht und jede Menge Neuigkeiten herausgefunden. Neuigkeit Nummer eins: Slims richtiger Name ist nun bekannt. Er heißt ...“ Aber von Stahl, der vielleicht morgens grundsätzlich schlecht gelaunt war oder von Franks Wortschwall und seiner ausgesprochen gravitätischen Redeweise genervt wurde (wahrscheinlich war er grundsätzlich schlecht gelaunt und wurde zusätzlich dadurch genervt), unterbrach Frank abrupt und fast schreiend: „Hören Sie mir eigentlich nicht zu, wenn ich Ihnen wichtige Informationen gebe? Bei meinem letzten Anruf habe ich Ihnen gesagt, daß uns Slims Name bereits bekannt ist. Wir wissen, daß er Lindenthal heißt, ‚-thal’ mit ‚th’. Und was haben Sie sonst noch für umwerfende ‚Neuigkeiten’ anzubieten?“

Und da passierte etwas ausgesprochen Merkwürdiges. Frank hatte es auf der Zunge, dieser arroganten und schneidenden Stimme entgegenzuhalten, daß er diesen Namen ‚Lindenthal’ im Zusammenhang mit Slim noch nie gehört habe, daß Slim vielmehr, seinem Paß nach, Johannes Stegmann heiße, daß dies gewiss eine ‚Neuigkeit’ sei, doch, Frank wußte nicht wie ihm geschah und welcher Teufel ihn ritt – er sagte nur im jaulenden Tonfall eines geprügelten Hundes (und als er dies so unterwürfig sagte, wußte er im selben Moment, daß er von diesem Augenblick an ein Spiel, ein sehr gefährliches Spiel, vielleicht sogar ein Spiel auf Leben und Tod begonnen hatte, ein Spiel, bei dem er gar nicht vorsichtig und gewieft genug sein konnte): „Tut mir leid, natürlich keine Neuigkeit, tja, Lindenthal ist tot, wie Sie ja auch schon wissen. Was soll eigentlich mit seinem Leichnam geschehen?“ Da schien von Stahl vollends die Kontrolle zu verlieren: „Was weiß ich denn? Sie sollen mir etwas berichten, keine Fragen stellen!!“ „Ja“, Frank behielt seine unterwürfige Stimme bei, versuchte sogar möglichst demütig zu klingen – und hatte dabei, im Grunde zum ersten Mal, seitdem er mit von Stahl oder der Zentrale überhaupt sprach, ein gutes, gleichsam triumphales Gefühl tief, tief in sich verborgen – wußte er jetzt etwas, was von Stahl nicht wußte. „Ja, tut mir leid. Slim, das heißt Lindenthal, starb bei einer französischen Prostituierten, Yvonne Pahud, ich habe ihre Adresse. Wahrscheinlich ein natürlicher Tod, das heißt quasi natürlich ... Tablettenmißbrauch, Viagra, Sie verstehen ...“ Ein klein wenig beruhigter von Stahl knurrte nur: „Ja – und weiter?“ Frank berichtete daraufhin der Reihe nach über seine Besuche, bei Yvonne, dem Beerdigungsunternehmer, dem Kommissar, erwähnte Slims Koffer, allerdings nicht das Photo. Von Stahl bekam einen weiteren Schreianfall als Frank nochmals auf die Frage, was mit Slims Leichnam geschehen solle, zurückkam und ausführte, daß er, Frank, persönlich dem Beerdigungsunternehmer versprochen hatte, sich um die Kosten für Slims Bestattung oder Überführung zu kümmern. Doch dann beruhigte sich von Stahl, telefonierte wenige Minuten mit einer anderen Person, während Frank in der Leitung blieb und wartete, fragte nur knapp zwischendurch nach der Adresse des Beerdigungsunternehmers, die Frank von der Visitenkarte ablas, und sagte dann kurz: „Alles geregelt. Sehen Sie, so geht das, effizient. Die Botschaft macht das. Sie brauchen sich um nichts mehr zu kümmern. Bringen Sie den Koffer aber noch zur Botschaft, sie können ihn einfach beim Pförtner abgeben, der weiß Bescheid – ach ja, und noch etwas, bringen sie Lindenthals Paß auch dahin. Sie haben ihn an sich genommen, nicht wahr?“ Das war nun ein gefährliches Gebiet. „Nein“, sagte Frank wahrheitsgemäß, „der Paß und Slims, also, äh Lindenthals Portemonnaie – da war übrigens recht viel Bargeld drin – hat noch Kommissar Ishida, er will das später dann selbst an die Botschaft schicken.“ „Und“, plötzlich schien von Stahl irgendwie mißtrauisch geworden zu sein, war da ein Zögern, ein Schwanken in Franks Stimme gewesen? „Und, konnten Sie denn Lindenthals Paß sehen? Haben Sie vielleicht eine Kopie bekommen?“ „Nein“, da mußte Frank direkt lügen, „nein, das heißt ja, das heißt der Kommissar zeigte mir den Paß – ich dachte, eine Kopie ist nicht notwendig, da Sie ja sowieso den Namen kennen, wie Sie mir neulich sagten ... und Sie wiesen eben darauf ja erneut selbst hin.“ Franks Appell an von Stahls Arroganz verfehlte zwar nicht ganz seine Wirkung, trotzdem fragte er, immer noch ein wenig mißtrauisch, nach: „Und der Vorname?“ „Karl-Friedrich“, sagte Frank, ohne zu zögern – und dann noch einmal: „Karl-Friedrich Lindenthal, Karl-Friedrich, mit Bindestrich und ‚-thal’ ..., ach ja, das wissen Sie ja schon.“ „Ja, ja“, murmelte von Stahl, „das deckt sich mit unseren Erkenntnissen ... und Geburtsort, Geburtsdatum?“ Aber diese Frage kam nun völlig ohne Mißtrauen, eher aus bürokratischer Angewohnheit, so daß Frank leichthin antwortete: „Ah, tut mir leid, das habe ich mir nicht notiert, ich kann den Kommissar ja noch anrufen, aber der Paß geht sowieso bald an die Botschaft.“ „Ja, gut, gut, lassen Sie nur, wir wissen das ja alles bereits“, ließ sich ein überraschend recht konziliant gewordener von Stahl verlauten. „Also, schreiben Sie Ihren Bericht – und buchen Sie Ihren Rückflug. Dann melden Sie sich gleich bei mir, wenn Sie wieder in Deutschland sind. Wiedersehen.“

Frank verabschiedete sich höflich, legte dann den Hörer vorsichtig auf und bemerkte dabei, daß seine Hände zitterten. Was hatte er nur getan? Spätestens, wenn der Paß bei der Botschaft eintreffen wird, würde offensichtlich werden, daß er diesen Namen, Johannes Stegmann, gegenüber von Stahl, gegenüber der Zentrale verschwiegen, ja sogar gelogen hatte. Das war ein schweres, unverzeihliches Vergehen – er würde entlassen, vielleicht letztendlich bestraft werden. Und, daß er den ‚richtigen’ Vornamen Lindenthals, Karl-Friedrich, instinktiv von der Widmung auf dem Photo ergänzt hatte (hier verspürte Frank einen Anflug von Stolz auf sich), machte die Sache aber nur schlimmer. Man konnte ihm im schlimmsten Fall einen regelrecht abgekarteten Täuschungsplan vorwerfen. Mein Gott, was hatte er nur getan – und, vor allem, warum eigentlich?

Der entzogene Auftrag

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