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Mia hatte Frank auf der Party einer Kollegin kennengelernt.

»Es kommen lauter interessante Leute«, hatte Andrea behauptet. Es war ihr dreißigster Geburtstag, und sie wollte es richtig krachen lassen. Sie hatte einen Club auf dem Kiez gemietet, einer ihrer Freunde legte die Musik auf, und in der Tat füllte sich der kleine Raum schnell mit vielen sehr wichtig aussehenden Leuten.

Mia war erst seit zwei Wochen bei Keutner und Lempe, sie kannte ihre Kollegen noch nicht richtig und wusste nicht, an wen sie sich halten sollte. Mit einem Bier in der Hand stellte sie sich abseits in eine Nische und beobachtete das Treiben um sich herum. Dumpfe Technobässe wummerten durch ihren Körper.

»Du scheinst hier auch nicht viele Leute zu kennen«, schrie ihr auf einmal eine Stimme ins Ohr.

Mia drehte sich überrascht um und erblickte einen Mann, der sie vergnügt angrinste. Er war kaum größer als sie, hatte eine untersetzte, kräftige Figur, blonde Haare, trug eine Brille, Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift: »Über Gewicht spricht man nicht, Übergewicht hat man.«

Mia grinste zurück.

»Stimmt«, brüllte sie dem Mann entgegen. »Und du? Kennst du viele?«

»Ich kenne Andrea. Und jetzt dich.« Er lachte breit.

»Mich kennst du doch noch gar nicht«, entgegnete Mia, aber er schien sie nicht richtig zu verstehen und zuckte fragend mit den Achseln.

»Mich kennst du noch nicht«, brüllte Mia in sein Ohr.

Er nickte. Dann deutete er hinter Mia.

»Schlechter Platz hier!«, schrie er und als Mia sich umdrehte, fiel ihr Blick auf eine riesige Lautsprecherbox. Sie lachte verlegen. Wie bescheuert, sich ausgerechnet an den lautesten Platz im ganzen Club zu stellen! Der Mann schob Mia vor sich her in eine Ecke, in der die Musik deutlich leiser war. Er hob seine Bierflasche und prostete Mia zu:

»Ich bin Frank.«

»Mia.«

»Freut mich, Mia. Woher kennst du Andrea?«

»Ich bin eine Kollegin von ihr. Und du?«

»Ich bin ihr Nachbar.« Er verzog das Gesicht, als sei das eine Strafe. »Hast du auch Nachbarn, die jeden Tag auf deiner Matte stehen und irgendwas von dir wollen?«

»Nein. Aber ich habe eine Nachbarin, die mir gerne im Treppenhaus auflauert und mich dann stundenlang über meine Arbeit ausfragt.«

Mia war verblüfft, wie schnell und selbstverständlich Frank sie in ein Gespräch verwickelte und ihr das Gefühl gab, die interessanteste Person in dem mittlerweile brechend vollen Club zu sein. Erst viel später wurde ihr klar, dass es eine Gabe von Frank war, Menschen für sich zu gewinnen. Mit seinem charmanten, jungenhaften Lachen brachte er sie blitzschnell dazu, sich in seiner Nähe wohlzufühlen, ihn zu mögen und ihm zu geben, was er brauchte – angefangen bei seinen Nachbarn, die keineswegs ständig etwas von ihm wollten, sondern vielmehr sehr geduldig hinnahmen, dass er oft bis spät in die Nacht Partys feierte, bis hin zu seinem Bankberater, dem er einen Kredit nach dem nächsten aus dem Ärmel leierte.

Nach dem dritten Bier tanzten Mia und Frank miteinander, eng gedrängt mit den anderen Partygästen auf der winzigen Tanzfläche. Immer wieder berührten sich ihre Körper wie zufällig. Frank bewegte sich leichtfüßig und geschmeidig, trotz seiner Körperfülle. Mia musterte ihn unauffällig. Er sah nicht wie jemand aus, mit dem man nach einer Party im Bett landete und der dann am nächsten Morgen auf Nimmerwiedersehen verschwand. Frank sah so aus, als wolle er sofort heiraten und einen Bausparvertrag abschließen.

Das gefiel Mia. Sie war nach einer recht langen Beziehung und zwei kürzeren Partnerschaften seit über einem Jahr alleine. Frank, der mit seinem Bausparvertrag vor ihrer Nase herumwedelte, verhieß Sicherheit. Und die strebte Mia an. Alle Welt heiratete zurzeit und vermehrte sich wie verrückt. Mia wollte davon nicht ausgeschlossen sein. Sie wurde in diesem Jahr vierunddreißig; höchste Zeit, den passenden Vater für ihre Kinder zu finden. Aber ob dieser dickliche Frank dafür der richtige Kandidat war?

Normalerweise wären Mia vielleicht Zweifel gekommen. Da sie aber bereits das vierte oder fünfte Bier getrunken hatte (sie hatte längst aufgehört, mitzuzählen), war sie herrlich entspannt und ließ den Dingen einfach ihren Lauf.

Einmal kam Andrea an ihr vorbei und sagte gönnerhaft: »Na, ihr zwei versteht euch ja prächtig.«

Mia grinste verschwommen, sie fühlte sich wie losgelöst von ihrem Körper und dieser merkwürdigen Partygesellschaft.

Irgendwann, weit nach Mitternacht, bekam Frank Konkurrenz. Stefan Büttner, einer von Mias neuen Kollegen, drängte sich an Mia heran. Er war groß, schlank und sehr attraktiv. Mit zusammengekniffenen Augen, eine Zigarette im Mundwinkel, ließ er sich von der Woge der tanzenden Leiber direkt vor Mias Füße treiben. Sie sah zu ihm auf, lächelte – und erkannte mit dem letzten Bisschen Klarheit, das sie in ihrem Hirn noch fand, dass sie sich auf gefährliches Eis begab. Stefan sah so aus, als hätte er schon mit jeder Frau geschlafen, die auf dieser Party anwesend war, und vermutlich noch mit einer Million anderer. Jetzt war sie, die Neue, an der Reihe.

Einen Moment lang genoss Mia es, von Stefan umschwärmt zu werden. Sie bewegte sich im selben Rhythmus wie er, spürte, wie er seinen Unterleib gegen sie presste, fühlte seine Wärme und ihre Erregung, drehte sich um – und blickte in Franks Augen, die so ehrlich und unschuldig schauten, dass Mia gerührt lächelte. Sie löste sich von Stefan und bewegte sich immer mehr in Franks Richtung. Er reichte ihr seine Hand und ohne zu zögern griff sie danach und ließ sich von ihm aus der Menge führen. Als sie sich flüchtig nach Stefan umdrehte, hatte der sich bereits einer anderen Frau zugewandt.

Im Treppenhaus schlug ihnen kühle Luft entgegen. Mia taten die Füße weh, sie war heiser und halb taub von der lauten Musik, und sie merkte erst in der kalten Nachtluft, wie betrunken sie schon war.

»Ich glaube, ich muss langsam mal nach Hause«, sagte sie zu Frank.

Er nickte. »Ich haue auch ab. Wo musst du hin?«

»Nach Eimsbüttel.«

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«

»Gern. Wie kommst du denn heim?«

»Ich bin mit dem Fahrrad da. Ich wohne nicht weit von hier.«

Während sie auf das Taxi warteten, fragte Frank zögernd: »Hättest du Lust, mal mit mir essen zu gehen?«

»Klar, warum nicht?«

Bereitwillig gab sie Frank ihre Telefonnummer und erhielt im Gegenzug einen zerknautschten Kassenbon, auf den er eine Nummer und seinen Namen kritzelte – Frank Lohmann.

Am nächsten Morgen hatte Mia nur noch eine verschwommene Erinnerung an Frank. Er war nett gewesen, aber sie verspürte kein nennenswertes Bedürfnis, ihn wiederzusehen. Vielleicht, so überlegte sie, während sie sich einen starken Kaffee kochte, lag das aber auch nur an ihrem fürchterlichen Kater.

Als Frank sich in den nächsten drei Tagen nicht meldete, beruhigte Mia sich wieder. Er war wenigstens kein aufdringlicher Typ, der einer Frau auf die Nerven ging, statt sich begehrenswerter zu machen, indem er sie ein wenig zappeln ließ. Nach einer Woche dachte Mia mit leiser Enttäuschung, dass er es mit dem zappeln lassen vielleicht ein wenig übertrieb. Nach zwei Wochen war sie sich sicher, dass er kein Interesse an ihr hatte und auf der Party genauso alkoholumnebelt gewesen war wie sie selbst. Sie vergaß Frank Lohmann wieder.

Es dauerte fast drei Monate, bis sie sich wiedertrafen. Mia hatte viel zu lange gearbeitet und hetzte beim Umsteigen am Hauptbahnhof von einem Bahnsteig zum anderen, um trotzdem noch rechtzeitig zu ihrem Fitnesskurs zu kommen. An einer Ecke rannte ein Mann in sie hinein und rammte ihr seine Laptoptasche in den Bauch. Mia taumelte und stürzte fast.

»Aua!« Sie warf dem Mann einen bösen Blick über die Schulter zu und wollte weiter hasten.

»He!« Der Mann stoppte sie, indem er nach ihrem Arm griff.

Was fiel dem Kerl ein? Wollte er jetzt etwa mit ihr darüber diskutieren, wer hier wen angerempelt hatte?

Kampflustig drehte sie sich um: »Ja?«

Zu ihrer Überraschung lachte der Mann freundlich.

»Hallo Mia!«

Das Gesicht kam ihr bekannt vor, aber sie konnte es nicht gleich einordnen.

»Frank«, half ihr der Mann auf die Sprünge. »Wir sind uns bei Andreas Party begegnet.«

»Ach, richtig.« Natürlich, Frank, der Nachbar von Andrea. Den hatte sie mittlerweile längst vergessen. Während sie sich anklagend den Bauch hielt, sagte sie: »Das ist ja eine Überraschung. Was treibst du so, wenn du nicht gerade unschuldige Frauen über den Haufen rennst?«

»Tut mir echt leid. Aber du kamst angefegt wie ein Tornado, da hatte ich keine Chance mehr, auszuweichen.«

Sie musterte Frank. Er sah anders aus als beim letzten Mal, aber sie wusste nicht genau, woran das lag. War er schlanker? Trug er eine andere Frisur? Andere Brille? Was auch immer es war, es stand ihm gut und ließ ihn interessanter als bei ihrer ersten Begegnung erscheinen.

Versöhnlich sagte Mia: »Das mit dem Tornado war aber auch nicht gerade ein Kompliment.«

»Ähm … nee, nicht so richtig. Aber ich könnte dir ein echtes Kompliment machen.«

»Dann mal los!« Mia grinste erwartungsvoll.

Er holte tief Luft, machte eine theatralische Geste und sagte dann: »Gnädigste, Sie sehen heute einfach umwerfend aus!«

Sie lachten gemeinsam, als sei dieser alberne Witz der brillanteste Gag aller Zeiten.

»Du, ich habs wahnsinnig eilig«, sagte Mia schließlich.

»Ich auch. Hast du meine Telefonnummer noch?«

»Ich weiß nicht. Glaube schon, ja.«

»Dann ruf doch mal an.«

Er drehte sich um und verschwand in der Menge.

Ruf doch mal an. Warum wollte er nicht anrufen? Seit wann telefonierten Frauen den Männern hinterher?

Sie rief ihn trotzdem zwei Tage später an. Er freute sich.

»Wollen wir mal zusammen essen gehen?«, fragte er.

»Das hast du mich schon mal gefragt.«

»Stimmt. Diesmal machen wir es aber, ja?«

»Ja.«

Sie trafen sich bei einem Italiener auf St. Pauli. Frank trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Wer zuletzt lacht, hat es einfach nicht früher begriffen.«

»Du trägst gerne Shirts mit solchen Sprüchen, oder?«, stellte Mia fest. Sie fand das ziemlich kindisch. Frank hatte sich überhaupt keine Mühe bei der Wahl seiner Kleidung gemacht. Er trug dieses alberne Shirt und dazu eine alte, abgewetzte Jeans. Mia hingegen hatte sich dreimal umgezogen, bevor sie sich für eine schwarze Bluse mit bunter Stickerei auf der Brust und einen sehr kurzen, roten Stretchrock entschieden hatte.

Obwohl sie einen neckenden Tonfall angeschlagen hatte, sah Frank bestürzt aus. »Ist das schlimm? Blamiere ich mich grade total?«

»Ein bisschen, ja.«

Er wurde tatsächlich rot. »Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich eine Frau finde«, murmelte er und stocherte mit gesenktem Kopf in seiner Pizza herum. Verlegen schielte er zu Mia hinüber. Sie fing seinen Blick auf und plötzlich machte ihr Herz einen Hüpfer und die Welt drehte sich nur noch für sie.

Nach dem Essen gingen sie in eine Bar um die Ecke. Sie saßen dicht nebeneinander auf Barhockern am Tresen und ihre Knie berührten sich. Es war zu laut, um sich richtig zu unterhalten, also tranken sie schweigend ihre Cocktails und beobachteten das Treiben um sich herum. Als Frank sich vorbeugte, um sie etwas zu fragen, kam Mia ihm so weit entgegen, dass sich ihre Wangen berührten.

»Willst du noch was trinken oder lieber gehen?« Franks Lippen waren dicht an ihrem Ohr.

»Gehen«, sagte Mia, rührte sich aber nicht vom Fleck. Frank roch gut und er fühlte sich gut an. Er fuhr ihr leicht mit der Hand über die Wange und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. In seinen Augen lag eine unbeschreibliche Zärtlichkeit.

Auf der Straße fasste er ihre Hand und ließ sie nicht mehr los, bis sie in seiner Wohnung im Schanzenviertel ankamen. Im Treppenhaus kicherten sie ausgelassen bei der Vorstellung, Andrea könne aus ihrer Wohnung kommen und wie eine Concierge kontrollieren, wen Frank zu so später Stunde mit nach Hause brachte. Arm in Arm taumelten sie in Franks Wohnung hinein.

»Was möchtest du trinken?«, fragte Frank. Er kramte in einer kleinen Abstellkammer hinter der Küche. »Wie wäre es mit einem Bier?« Dann ging er zum Kühlschrank hinüber und schaute hinein. »Du könntest natürlich auch ein Bier kriegen.«

Mia lachte. »Hm, mal sehen … ich glaube, ich nehme das Bier.«

»Das ist eine sehr gute Wahl.«

Frank öffnete zwei Flaschen und reichte ihr die eine. Sie gingen ins Wohnzimmer und ließen sich auf einem kleinen Sofa nieder. Franks Wohnung war typisch männlich eingerichtet – mit einem wilden Sammelsurium aus praktischen, aber stillosen Möbeln und wahren Geschmacklosigkeiten wie einem aufblasbaren Sitzkissen, das aussah wie ein riesiger Fußball. Der Aschenbecher auf dem Couchtisch quoll über und in einer Ecke standen einige leere Bier- und Weinflaschen. Ordnung schien auch nicht unbedingt Franks Sache zu sein.

Besorgt folgte er Mias Blicken. »Hier ist es ziemlich unordentlich, tut mir leid.«

Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie den Abend bei ihm beenden würden. Das überraschte Mia. Aber es sprach auch für Frank. Er hatte nicht geplant, sie abzuschleppen, es war einfach passiert.

»Kein Problem«, sagte sie leichthin und prostete Frank mit ihrer Flasche zu. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, die Konturen wurden markanter, der niedliche Junge verwandelte sich in einen begehrenswerten Mann. Er legte Mia seine große Hand an die Wange, und sie schmiegte sich hinein. Diese kleine, intime Geste barg alles in sich – ihr Vertrauen in Frank, ihr Begehren und, ja, ihre Liebe. Sie stellte keine Fragen, sie war nicht unsicher oder ängstlich, sie wusste in dieser Sekunde mit geradezu überwältigender Klarheit, dass sie Frank wollte, jetzt und für immer.

»Darf ich dich küssen?«, fragte Frank, und als sie »Ja!« sagte und die Wärme seiner Lippen spürte, war das für sie wie ein Versprechen.

Frank ließ sich viel Zeit, sie auszuziehen und ging dabei sehr behutsam und zart vor. Geradezu ehrfürchtig öffnete er ihren Büstenhalter und nahm ihn in die Hand.

»Wow!«, rief er begeistert.

Mia rekelte sich auf dem Sofa und hob ihm erwartungsvoll ihre Brüste entgegen. Zu ihrer Verwunderung galt Franks Kompliment jedoch ihrer bordeauxroten Unterwäsche, die mit schwarzer Spitze besetzt war, und nicht ihrem nackten Körper mit der makellosen Haut und der sanften Wölbung unter dem flachen Bauch.

Frank hielt mit seligem Gesichtsausdruck eins der BH-Körbchen an seine Nase und schien Mias Irritation gar nicht zu bemerken.

»Was für wundervolle Wäsche«, murmelte er hingerissen und nun erst besann er sich auf das Wesentliche.

Als er sich auf Mia rollte, ging er dabei sehr vorsichtig vor, fast ängstlich. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. Es schien ihn nicht zu beruhigen, dass Mia vor Glück strahlte. Nur zögernd drang er in sie ein und vergewisserte sich dabei immer wieder, dass es ihr gut ging. Er war der zärtlichste, rücksichtsvollste Liebhaber, den Mia je gehabt hatte. Alles an ihm fühlte sich warm, weich und sehr vertraut an.

In einer einzigen Nacht vervollständigte Frank alles, was Mia je gefehlt hatte. Sie war die glücklichste Frau auf der Welt.

Ebbe und Glut

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