Читать книгу Meine Freiheit - Kathrin Höhne - Страница 7

Siegbert Schefke

Оглавление

Niemals wieder möchte ich von einem Staat gezwungen werden, mich vollkommener Presse-, Reise- und Meinungskontrolle unterwerfen zu müssen. Damit stempelt er nicht nur die Bürger unmündig, sondern schränkt sie in ihrer persönlichen Entwicklung und Freiheit massiv ein.

Seine Bilder lassen die Mauer fallen

Diesen Tag in seinem Leben wird Siegbert Schefke nie vergessen: Es ist der 9. Oktober 1989.

10.00 Uhr Berlin / Prenzlauer Berg

Bereits seit Tagen stehen Stasi-Leute vor einem Mietshaus in der Gotlandstraße im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Ihr Auftrag lautet: Überwachung von Siegbert Schefke, der hier in einer Wohnung lebt. Von seinen Fenstern aus kann er seine Bewacher sehen. Damit sie sich nicht an seine Fersen heften, steigt er auf den Dachboden und klettert aus der Luke raus. Über ein paar Häuser weiter gelangt er wieder ins Freie. An der Schönhauser Straße wartet bereits sein Freund Aram Radomski. Er ist Fotograf, Schefke Kameramann. Beide wollen die Demonstration von DDR-Bürgern in Leipzig filmen und die Bilder der ARD zuspielen. „Denn wenn dort Schüsse fallen, soll es die Welt erfahren.“ Sie wissen, West-Korrespondenten dürfen schon seit Wochen nicht nach Leipzig reisen, geschweige denn dort drehen.


10.30 Uhr Berlin – Leipzig / auf der Autobahn nach Sachsen

Mit einem Trabant machen sie sich auf den Weg nach Sachsen. Kamera und Fotoausrüstung liegen im Kofferraum. Auf der Autobahn wird ihnen erstmals sehr mulmig zumute. Sie kommen an einem langen Konvoi mit Einsatzwagen von Militär und der Volkspolizei vorbei. „Das war ein sehr beängstigender, bedrohlicher Anblick.“ Beide schweigen minutenlang. In der Leipziger Innenstadt hoffen sie, nicht kontrolliert zu werden. Überall sind hier längst Polizei und Stasi präsent.

13.00 Uhr Leipzig / Ringstrasse

Schefke und Radomski laufen über den Ring. Die Kamera haben sie in einer Plastiktüte versteckt. Sie sind auf der Hut. Überall sind Polizisten und Sicherheitskräfte. Sie machen sich auf den Weg zur evangelisch-re- formierten Kirche am Tröndlinring, denn vom Kirchturm aus kann man gut bis zum Hauptbahnhof sehen. Sie klingeln bei Pfarrer Hans-Jürgen Sievers, berichten ihm kurz, dass sie die Kameramänner seien, von denen das Material für die DDR-Dokumentationen der westlichen Sendungen „Kontraste“ und „Kennzeichen D“ stamme. Sie erzählen weiter, dass sie heute noch das Friedensgebet filmen wollen. Der Pfarrer nickt und gibt sein Einverständnis, sie auf den Turm zu lassen.

16.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7

Die beiden Männer steigen auf den Turm. Der Hausmeister schließt hin- ter ihnen die Tür ab.

19.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7

Schefke und Radomski haben sich auf der Kirchturmspitze im Tau- bendreck in Stellung gebracht. Sie blicken um sich und entdecken Stasi-Männer auf den Dächern gegenüber. „Werden sie auch gesehen?“ Sie halten das Rotlicht an der Kamera zu. Was sie dann filmen und fo- tografieren, hätten sie selbst nicht erwartet. Trotz eines Großaufgebots von Bereitschaftspolizei und Staatssicherheit gehen tausende Menschen auf die Straße. Es ist die bis dahin größte Montagsdemonstration in der Stadt. Arm in Arm ziehen die Demonstranten friedlich an der Kirche vor- bei und rufen „Wir sind das Volk!“, „Schließt Euch an!“ und „Gorbi, Gorbi!“ und „Wir sind keine Rowdies“. Die Männer auf dem Turm denken unwill- kürlich an das Massaker auf dem chinesischen Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni desselben Jahres. Doch in Leipzig wird nicht geschossen. „Zum Glück!“

21.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7

Sie schalten die Kamera aus. Sie trauen sich noch nicht auf die Straße. Lange sitzen sie noch bei Pfarrer Sievers in der Küche. Ihnen werden Stullen geschmiert, sie haben Hunger. Erst als es ihnen draußen ruhig erscheint, gehen die beiden ins Hotel „Merkur“. Dort wartet der DDR-Korrespondent des westlichen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Ulrich Schwarz. Er hat seinen Wagen mit Diplomatenkennzeichen am Flughafen Berlin-Schönefeld stehen lassen und ist mit der Reichsbahn nach Leipzig gekommen. Ihm geben sie das Material. Gemeinsam geht es zu dritt mit dem Trabi zurück. Der Motor macht schon etwas schlapp. Mit nur knapp Tempo 60 auf der Autobahn erreichen sie Berlin.

Mitternacht / Berlin

Schwarz schmuggelt das Videoband und die unentwickelten Filme in seiner Unterwäsche in den Westen. Schefke steigt über die Dächer zurück in seine Wohnung. Vor dem Haus lungern nach wie vor Stasi-Leute. Am nächsten Morgen folgen sie ihm wieder zum Bäcker.

10. Oktober 1989 – Tagesthemen ARD

„Wir sind das Volk!“ erklingen die Rufe von 70.000 Demonstranten in Leipzig in den ARD-Tagesthemen. Bürger in beiden Teilen Deutschlands können sehen, dass aus dem Widerstand gegen das SED-Regime eine Massenbewegung geworden ist. Um die Urheber der Bilder zu schüt- zen, sagt Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs, die Bilder stammten von einem italienischen Kamerateam.

2014, Leipzig, ein Vierteljahrhundert später

Wir treffen Siegbert Schefke an seinem Arbeitsplatz beim MDR in der Leipziger Südvorstadt. Inzwischen kann er überall in Deutschland seine Kamera aufstellen, ohne verfolgt zu werden. Er zeigt uns das Funkhaus auf dem alten Schlachthofgelände, führt uns durch Studios, Schnittplätze und Redaktionsräume. Im 17. Stock nehmen wir in einer Sitzecke in großen schwarzen Ledersesseln Platz. Von hier oben kann man gut über die Stadt blicken, die seit der Wende einen enormen Strukturwandel erlebt hat. Schefke ist hier gern zu Hause. Auch der Revolutionsheld von einst hat sich gewandelt. Inzwischen sind seine schulterlangen Wuschelhaare kürzer und grauer geworden. Der Bart ist ab. Falten haben sich in das markante Gesicht des groß gewachsenen Mannes gegraben. Er trägt ein helles Hemd, Jeans und schwarze Halbschuhe. Bequem. Er wirkt entspannt und gelassen.

Der Mauerfall hat sein Leben gewissermaßen in ein Davor und ein Da- nach geteilt. Darauf zurückzublicken, damit ist er inzwischen bestens vertraut. Denn als Chronist der Leipziger Montagsdemonstrationen und Verfolgter der Staatssicherheit ist er als Zeitzeuge rund um den Globus gefragt und bekommt dazu viele Fragen gestellt. Journalisten gibt er ein- mal folgenden Satz auf einen gelben Klebezettel gekritzelt mit auf den Weg: „Je besser wir Diktatur begreifen, um so besser können wir Demokratie gestalten.“ Damit will er für die Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin werben. „Schon aus dem einfachen Grund, dass die Stasi über mich acht Aktenordner angelegt hatte und bisher nur drei aufgetaucht sind. Ich will wissen, was da noch drin stand.“ Denn eins weiß er bereits in jungen Jahren genau: „Ich wollte das DDR-System stürzen und nicht irgendwie reformieren, sondern ganz klar beseitigen.“ Natürlich geht ihm diese Aussage heute viel leichter über die Lippen als damals.

Siegbert Schefke wird im Februar 1959 in Eberswalde in Brandenburg geboren. Seine Mutter ist Hausfrau, sein Vater Maurer. Ohne Geschwister wächst er als „Kind der DDR“ in der Generation auf, in der es durchaus noch Hoffnungen und einen Glauben an einen Sozialismus als die bessere Gesellschaftsordnung der beiden deutschen Staaten gibt. Im Laufe seines Lebens aber muss er zusehen, dass viele daran scheitern, resignieren, sich in private Nischen zurückziehen und versuchen, minimale Kompromisse im System DDR zu finden. Einige gehen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis. Andere ertragen das Eingesperrtsein nicht mehr, wollen fliehen, stellen Ausreiseanträge, flüchten unter Todesgefahr. Wieder andere protestieren, wollen bleiben, so auch Schefke. „Denn es ist auch meine Heimat, und in der will ich frei leben.“ Dabei erlebt er auch die, die um ihres Vorteils willen Menschen ausspionieren und verraten und so das System über viele Jahre stützen. Schon als Kind erfährt er „den fernen Westen ganz nah“. Denn die Familie lebt in beiden Teilen Deutschlands. Alle drei Geschwister seines Vaters sind noch vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 in den Westen, ins Ruhrgebiet gegangen. Kommen sie zu Besuch, holt er sie gemeinsam mit seinem Vater am Grenzbahnhof Friedrichstraße in Berlin ab. „Da bekam ich von den Verwandten oft Mars-Riegel und Adidas-Turnschuhe geschenkt“, erinnert er sich. Seine Schulzeit verläuft DDR-typisch: Er ist bei den Pionieren und in der FDJ. Auch die Teilnahme an der sozialistischen Jugendweihe mit 14 Jahren gehört dazu. Parallel dazu besucht er einmal in der Woche den Gottesdienst in der Kirche. Er wird konfirmiert. „Ansonsten habe ich mich wie viele andere Jugendliche auch für Briefmarken, Mopeds und Judo interessiert.“

Während andere drei Jahre zur Armee gehen, um die Chance auf ein Studium zu erhöhen, geht er zum Bau. Macht dort eine Lehre mit Abitur. Der anderthalbjährige Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee bleibt ihm dennoch nicht erspart. Er kommt nach Storkow bei Berlin. „Für mich war das nur ein gezielter Versuch des DDR-Systems, junge Männer von 18 Jahren mit militärischem Drill und Parteipropaganda zu prägen.“ Der große Leitsatz dazu heißt: „Die DDR ist ein Friedensstaat!“

Doch Abrüstungsgegner, kirchliche Friedensaktivisten und Wehrdienstverweigerer werden verfolgt und bestraft. Damit macht er 1982 seine Erfahrung. Inzwischen studiert er an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus. Seine kritische Haltung lässt ihn nicht zögern, einen Appell gegen die Stationierung von Atomwaffen in Ost und West zu unterschreiben. Die Folge: Als Einziger aus seinem Jahrgang wird er zu einer Nachprüfung nicht zugelassen. Den wahren Grund erfährt er Jahrzehnte später aus seinen Stasi-Akten. Er muss sich in der Produktion bewähren und darf erst ein halbes Jahr später sein Studium fortsetzen. Auch nur, weil er sich eine Beurteilung selbst schreibt und den damaligen Brigadier mit einer Kiste Bier und einer Flasche Schnaps zur Unterschrift überredet. Darüber kann er inzwischen entspannt lachen, auch wenn er an seine Diplomarbeit mit dem Thema „Vergleich von Klebern auf Schräg- und Spitzdächern“ denkt. „Nur gab es in der DDR keinen Kleber, der kleben blieb. Es lief einfach nur alles runter, der Teer klebte nicht wirklich. So musste ich noch nachweisen, dass wir nicht in der Lage sind, einen Teer herzustellen, der ab 35 Grad Neigungswinkel und Sonne kleben blieb.“

1983 radelt er sechs Wochen lang durch Osteuropa, bis ans Schwarze Meer und zurück. „Sonst ist einem ja nichts mehr eingefallen.“ An der sächsischen Grenze in Bad Schandau wird er gefilzt. Die Grenzer finden bei ihm westliche Bücher, unter anderem ein Exemplar von Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“. Das nehmen sie ihm weg. „Dieses Eingreifen und Reglementieren in meinem Leben fand ich schon sehr unangenehm.“

Nach den Studienjahren in Cottbus setzt er alles daran, auf die „Insel der Glückseeligen“ zu kommen, nach Berlin in den Prenzlauer Berg. Denn längst hat es sich herumgesprochen, dass in diesem Bezirk viele Regimekritiker und Intellektuelle Zuflucht suchen. 1985 bezieht er dort eine Wohnung. Er wird Bauleiter beim Wohnungsbaukombinat Berlin, errichtet Plattenbauten mit. Seine wesentliche Aufgabe ist es, Giebelwände zu verfugen. „Das Gute war, für Außentermine auf der Baustelle hatte ich einen Trabant und in meinem Büro in Ostkreuz sogar ein Telefon.“ Dass alle Gespräche überwacht werden, ist ihm egal. Ausgerechnet über dieses Diensttelefon kommt ein Kontakt zu Roland Jahn zustande, dem späteren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Von West-Berlin aus versucht der ehemalige Oppositionelle Jahn aus Jena, Regimegegner in der DDR zu unterstützen. Immer wieder berichtet er in Beiträgen für Westmedien über die menschenrechtsverletzende Situation im anderen Teil Deutschlands, unter anderem für die ARD-Sendung „Kontraste“.

Ab 1986 führt Schefke ein Leben der Gegensätze. Verwegen sieht er aus. Mit langen Haaren und Bart passt er nicht in das Bild eines braven DDR-Bürgers. Während er tagsüber am „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ mitwirkt, engagiert er sich nach Feierabend in kirchlichen Gruppen für die Umwelt. „Einigen von uns reichten aber bald die Baumzählaktionen nicht mehr. Wir wollten ein Informationszentrum gründen, in einem offenen Haus eine offene Arbeit machen.“ Sie fragen bei der Kirche nach, die stellt ihnen zwei Kellerräume zur Verfügung. So entsteht 1986 im Gemeindehaus der Ostberliner Zionskirche die Umwelt-Bibliothek. Die DDR-Führung gesteht der Kirche zu dieser Zeit einen gewissen Freiraum zu. Dafür darf sie sich außerhalb ihrer Mauern politisch nicht engagieren. Aber es dauert nicht lange und verbotene Bücher und Zeitschriften zu Umwelt- und Menschenrechtsthemen finden hier Eingang: Es gibt Lesungen, Veranstaltungen und Rock-Konzerte mit bis zu 1.000 Besuchern. Im November 1987 durchsuchen Stasi-Leute die Räume und verhaften Mitarbeiter. Zum ersten Mal in der DDR-Geschichte dringen sie in Kirchenräume ein. Über die Razzia berichten Westmedien ausführlich. Damit wird die Aktion öffentlich. Es kommt zu Solidaritätsbekundungen im ganzen Land und die Aktivisten werden wieder freigelassen. Schnell wird die Bibliothek so auch zu einem Treffpunkt für Bürgerrechtler, zu einer Schaltzentrale der DDR-Opposition. Zunächst gibt sie die als kirchenintern deklarierten „Umweltblätter“ heraus. Illegal gedruckt wird die Untergrundzeitschrift „grenzfall“ der Initiative für „Frieden und Menschenrechte“. Zu den Gründungsmitgliedern gehören Bärbel Bohley, Martin Böttger, Werner Fischer, Ralf Hirsch, Ulrike und Gerd Poppe sowie Wolfgang Templin.

Regelmäßige Stasi-Verhöre, oft zwölf Stunden lang, gehören nun zum Alltag von Schefke. Bereits seit 1985 hat er ein totales Reiseverbot, darf die DDR nicht mehr verlassen. Als ihn sein Chef wegen seiner abendlichen „Aktivitäten“ zur Rede stellen will, kündigt er 1987 seinen Job. „Ich wurde vom Teilzeitrevolutionär zum Vollzeitrevolutionär.“ In einem Verhör wird ihm „asoziales Verhalten” vorgeworfen. Das konnte in der DDR mit Gefängnis bestraft werden. Er, darauf vorbereitet, rechnet den Stasi-Beamten haarklein vor, dass er auf seinem DDR-Sparkassenkonto so viel gespart habe, um einige Jahre davon leben zu können. „Ich brauche etwa 50 Ost-Mark im Monat. Jeden Morgen esse ich eine Brötchen- hälfte mit Marmelade, mittags eine Linsensuppe und abends die andere Hälfte vom Brötchen mit etwas Leberwurst. Das kostet um die 24 Mark, die Miete beträgt 26 Mark.“ Sein Stasi-Gegenüber kontert: „Wissen Sie, Herr Schefke, Ihre Antworten sind immer so schön rund, ich glaube Ihnen kein Wort.“ Schließlich lassen ihn seine Peiniger gehen. Warum, erfährt er auch erst Jahre später aus seinen Akten: „Die Stasi wollte nicht nur mich. Sie wollte auch, dass ihnen die Hintermänner, die Unterstützer aus dem Westen, ins Netz gehen.“

Mit Roland Jahn will er öffentlich machen, wie es in der DDR wirklich aussieht. „Wir wollten in die Wohnzimmer der Menschen strahlen, mitten hinein, dahin, wo es den Führenden des SED-Regimes am meisten wehtat. Wir wollten zeigen, in welchem Dreck die Menschen in der DDR lebten.“ Den Anfang machen dabei heimlich im Osten produzierte Hörkassetten, die als „Radio Glasnost“ von einem Westberliner Privatsender ausgestrahlt werden. Später besorgt Jahn eine Video-Kamera und lässt sie in den Osten bringen. Der Oppositionelle Rüdiger Rosenthal zieht als Erster mit ihr versteckt in einem Beutel los. Er dokumentiert Umweltschäden in den Chemieindustriegebieten der DDR und stellt oppositionelle Gruppen wie „Kirche von unten“ vor. Über Diplomaten gelangen die Bilder in den Westen.

Während die SED weiter Jubel-Nachrichten verbreitet, übernimmt nach Rosenthals Ausreise im Frühjahr 1987 Schefke die Kamera. Es kommt ein zweiter Mann dazu, der Fotograf Aram Radomski. Die illegalen Dreh- und Fotoarbeiten führen beide dorthin, wo die Umweltzerstörung besonders gravierend ist. Sie drehen in Espenhain bei Leipzig, wo die riesigen Braunkohlekraftwerke und Kohlebrikettfabriken stehen; in Bitterfeld, wo die Chemieindustrie eine ganze Region verseucht. Sie filmen auch in Halberstadt, wo die verwahrloste Altstadt durch Plattenbau ersetzt wer- den soll; in Potsdam, Greifswald und Görlitz. Zudem macht Schefke im Frühjahr 1989 Aufnahmen von Neonazis in Berlin, deren Existenz die DDR nicht eingesteht. In Dresden und Ostberlin entdeckt er Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen. Ein dritter Mann, Falk Zimmermann, stößt dazu. Was die anderen nicht ahnen, er arbeitet für die Stasi. Er versucht, die Filmarbeiten zu sabotieren, dennoch entstehen Bilder. Noch schlägt die Stasi nicht zu. Für den Fall der Verhaftung der Kameramänner hat Roland Jahn im Westen Bekennervideos hinterlegt.

Und noch etwas beruhigt Schefke. Bei einem seiner Verhöre legt ihm ein Stasi-Vernehmer einen Pass hin und sagt: „‚Gucken Sie mal, Herr Schefke, da unten steht ein Auto. Wenn Sie wollen, unterschreiben Sie hier. Ein Passbild haben wir schon. In 15 Minuten sind Sie in West-Berlin.‘ Da dachte ich, dass ist ja schon eine ganz passable Ausgangslage. Also einsperren wollen sie mich nicht. Im Westen würden sie mich lieber sehen.“

Im September 1989 versammeln sich die Menschen in Leipzig zu den ersten Montagsdemonstrationen. Auch Schefke und Radomski machen sich auf den Weg dorthin. „Das waren am Anfang noch überschaubare Demos. Du konntest viel Angst in den Gesichtern lesen. Und keiner hat was in der Hand. Nur ich hatte eine große Plastiktüte unter dem Arm. Darin war die Kamera. Sie auszupacken, traute ich mich nicht. Ich habe nur auf den Tonknopf gedrückt, damit wir für das Radio ein paar Sprechchöre auf dem Band hatten.“ Es folgt der 9. Oktober 1989, der Tag der größten Massendemonstration in der DDR seit dem Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953. In Leipzig gehen mehr als 70.000 Menschen auf die Straße. Die Bilder, die Schefke und Radomski aufnehmen, kommen ins Fernsehen und leiten eine neue Ära ein. Schefke hat noch heute den Satz seines Freundes im Ohr, als sie auf dem Kirchturm sind: „Das wird nicht nur Deutschland verändern, das wird die Welt verändern.“

Am 9. November 1989 sind die Beiden in Berlin. Als sie in den Abendnachrichten des DDR-Fernsehens hören, wie Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz verkündet, dass die DDR-Bürger „sofort, unverzüglich“ in den Westen ausreisen dürfen, machen sie sich gleich auf den Weg. Vorsichtshalber versteckt Schefke noch 50 Westmark in seiner Unterwäsche. „Man weiß ja nie.“ Sie gehören zu den Ersten am Grenzübergang Bornholmer Straße. Dort treffen sie auf verunsicherte Grenzbeamte, die keinen rüber lassen wollen. Die Menschen fordern immer lauter die Öffnung. „Es brodelte ganz schön. ‚Nehmen Sie den Dampf aus dem Kessel. Es hieß eben im Fernsehen sofort und unverzüglich können DDR-Bürger ausreisen‘, rief Aram den Grenzern zu. Dann trat ein Major Jäger in Erscheinung. Der ließ die Personalausweise stempeln und öffnete den Schlagbaum. Wir konnten über die Brücke nach Westberlin gehen. Ich hatte immer das Gefühl, jetzt macht die Straße gleich einen Knick und wir sind wieder im Osten. Und da hinten steht ein Auto der Volkspolizei oder der NVA und bringt uns ins Gefängnis.“ Erst später merken sie, dass ihre Ausweise ungültig gestempelt wurden. „Da wurde uns klar, dass sie uns nicht mehr einreisen lassen wollten.“ In West-Berlin besucht Schefke zunächst einen Freund in Schöneberg. Am selben Abend verabredet er sich mit Roland Jahn in der Kreuzberger Szenekneipe „Kuckucksei“. Alle können es kaum fassen, dass die Mauer offen ist. Schefke bleibt gleich für einige Tage in Westberlin. Wenig später fährt er mit einem US-Kamerateam aus New York nach Bitterfeld, „in das Chemie- drecksloch der DDR.“

Danach zieht er sich als Oppositioneller zurück: Mehrere Monate jobbt er als Busfahrer und tourt durch Europa. „Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, dass ich nach den vielen Kämpfen in der DDR eine Pause brauchte.“ Im Frühjahr 1990 hält er an der Europäischen Akademie in Berlin vor 50 Lehrern aus den USA einen Vortrag über die Verhältnisse in der DDR. „Die Gäste hörten und hörten nicht auf zu fragen.“ Es folgt eine achtmonatige Vortragsreihe durch die USA. „Ich glaube, ich war überall außer im Grand Canyon und in Texas, und habe über das verlorene Land gesprochen.“

An eine schnelle Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten glaubt er aber zunächst nicht. „Doch spätestens bei der Einführung der D-Mark und dem Run auf Westprodukte war mir klar, dass das nur zu einer Übernahme führen kann. Für mich gab es eigentlich auch nie einen besseren Sozialismus oder eine neue andere DDR. Ich machte mir da eher Sorgen, was mit den anderen sozialistischen Ländern passieren wird, die keinen West-Partner hatten.“ Am Tag der Wiedervereinigung, am 3. Oktober 1990, ist er in Montreal. „Ich fand es ein wenig ernüchternd, nur 40 Sekunden Berlin dazu im kanadischen Fernsehen zu sehen. Länger dauerte es nicht. Ich dachte: ,Aha das ist nun die Rolle vom neuen Deutschland in der Welt: 40 Sekunden. Also wieder auf den Boden der Tatsachen angekommen.‘“

Zurück in Deutschland arbeitet er an journalistischen Beiträgen, unter anderem über das Bildungswesen in Brandenburg. Er lernt darüber die Autorin Gabriele Pattberg kennen. Im Dezember 1991 fragt sie ihn, ob er sich vorstellen könne, in ihrer Redaktion „ARD-Aktuell“ als Reporter zu arbeiten. „Warum gerade ich?“ will er wissen. „Weil Sie mir nicht auf die Füße fallen werden, wenn die Stasi-Akten geöffnet werden. Bei anderen bin ich mir da nicht so sicher, bei Ihnen schon“, lautet ihre Antwort. „Ich hatte in diesen Tagen noch ein Vorstellungsgespräch bei Greenpeace in Hamburg und bei einer West-Berliner Baufirma. Ich entschied mich für ARD-Aktuell in Dresden. Mein erster Dreh war die Öffnung der Stasi-Akten in Suhl. Das war schon aufregend.“ Später wird er freier Autor beim MDR-Fernsehen. Was ihm in Reportagen immer wieder begegnet, „ist der wirtschaftliche Ausverkauf des Ostens insbesondere durch die Treuhandanstalt. Warum gab es nicht hundertmal mehr solche Macher wie Lothar Späth, der einige Jahre erfolgreich Jena Optik in Thüringen leitete?“, bedauert er.

Seit Mitte der 1990er Jahre betreibt Schefke in Leipzig eine kleine Pension. Morgens brüht er für seine Gäste Kaffee auf, stellt die Brötchen bereit. Dann geht es ab ins Funkhaus oder auf Recherchetour. Er blickt nicht nostalgisch auf die DDR zurück. Vom ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat will er nichts zurück haben. „Ich brauche absolut nichts davon, keine Broiler-Bude, keine Kaufhalle, keine stinkenden Trabis. Die Ampelmännchen können bleiben, sonst nix aus der DDR. Das heißt aber nicht, alles Neue vorbehaltlos hinzunehmen.“ Kritischer Begleiter der Gesellschaft zu sein, ist ihm wichtig, ebenso soziales Engagement. Als 2013 weite Teile Ostdeutschlands im Hochwasser versinken, hilft er Flutopfern spontan beim Schlammschippen. Mittlerweile leben seine Frau und seine Töchter in den USA, in Miami. Dort nehmen sie auch ein Pflegekind auf. Er pendelt zwischen den Welten, zwischen Sachsen und Florida. „Heute ist das möglich.“

Noch einmal holt ihn 2009 die Vergangenheit mit voller Wucht ein. Er bekommt aus heiterem Himmel einen Anruf von seinem ehemaligen Stasi-Führungsoffizier Sven Schwanitz, der lange Zeit nur mit dem Fall Schefke beschäftigt war. Er fragt ihn, ob er bereit sei, sich mit ihm zu treffen. „Das war schon krass. Er wollte mich treffen, um mir zu erklären, wie er mich beschatten und beobachten ließ, um mir zu erzählen, warum bestimmte Sachen und Tage in meinem Leben so gelaufen sind.“ Schefke stimmt einer Begegnung zu. „So erfuhr ich, dass er mir aufgrund meines cleveren Verhaltens den operativen Namen ‚Satan‘ gab. Ameise oder Briefmarke hätte schlecht gepasst. Es gab keine Worte der Entschuldigung. Diese Erwartung hatte ich aber auch nicht, und ich hätte sie auch nicht angenommen.“ Es folgen noch zwei weitere Treffen, aber vor laufender Kamera in Talk-Sendungen. „Das war es dann auch. Solche Gespräche kann man nur begrenzt führen. Wobei die erste Begegnung von mehr Misstrauen und Wut geprägt war. Später ist bei mir der Gedanke gewachsen, dass er nicht als Verräter agiert hat, er hat sich nicht verstellt, er hat im vollen Bewusstsein als Geheimagent gearbeitet und deswegen bin ich gar nicht so sauer auf ihn wie auf Freunde, die mich verraten haben.“

Das Lesen seiner Stasi-Akten kostet ihn viel Kraft. Als er die Zeilen des Freundes und damaligen dritten Kameramanns an den Führungsoffizier sieht, wird ihm anders zumute. „Der schrieb: ‚Ich habe jetzt so viel Material über den Schefke gesammelt, wann sperren Sie den endlich ein?‘ Verrat ist eine der schlimmsten Sachen, die es auf der Welt gibt.“ Ein Gesprächspartner, mit dem er sich auch darüber ständig austauscht, ist Roland Jahn. Jeden Sonntag sind sie fest am Telefon verabredet. „Wenn man so was gemeinsam durchgemacht hat, dann bleibt man ein Leben lang verbunden.“ Die Gespräche sind ein vertrautes Ritual. „Das ist einfach schön. Ich weiß ganz genau, dass die Gedanken über den offenen Umgang mit der Vergangenheit und den Wert dieser Gesellschaft ehrlich sind.“ Über sein heutiges Leben ist Schefke sehr dankbar. „Wer wie ich über 30 Jahre in einer Diktatur wie die in der DDR leben musste, der geht mit dem Begriff Freiheit radikaler um. Niemals wieder möchte ich von einem Staat gezwungen werden, mich vollkommener Presse-, Reise- und Meinungskontrolle unterwerfen zu müssen. Damit stempelt er nicht nur die Bürger unmündig, sondern schränkt die Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung und Freiheit massiv ein. Das ist der größte, denkbare Eingriff in die individuellen Menschen- und Persönlichkeitsrechte. Ich weiß auch, dass die heutige Freiheit da ist, weil ich in einer Demokratie lebe, weil ich in Deutschland lebe und nicht in Usbekistan oder in der Ukraine. Ich bin glücklich, dass meine beiden Töchter - Vater wurde ich erst nach dem Mauerfall – anders aufwachsen können als ich. Dass sie frei leben, reisen und drei Sprachen sprechen können. Eine Tochter besucht heute eine Gesangsschule und singt, was sie will. Die andere studiert Kunst in den USA.“

Für Schefke ist das aber nicht alles selbstverständlich. „Dazu passiert zu viel Verrücktes auf der Welt, wie zum Beispiel die NSU-Morde an türkischen und griechischen Kleinunternehmern in der Vergangenheit zeigen oder wenn wieder Nazis durch die Straßen marschieren. Da muss man wachsam sein“, mahnt er. „Meinungs- und Reisefreiheit gibt es in vielen Teilen dieser Welt nicht. Wir sollten immer im Kopf haben, wie man mit jemandem umgeht“, plädiert er weiter. Und denkt als TV-Journalist da- bei auch in Bildern. Denn nach Feierabend engagiert er sich bei „Reporter ohne Grenzen“. Für seine Verdienste um die Einheit hat er mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter auch das Bundesverdienstkreuz und den Medien- und Fernsehpreis Bambi. Von den Preisgeldern finanziert er Kameras für Journalisten in Syrien, „damit ihre Bilder in die Wohnzimmer dieser Welt strahlen können und die Menschen sehen, was wirklich geschieht.“

Meine Freiheit

Подняться наверх