Читать книгу Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen - Klaus Eulenberger - Страница 6

Kriegsgefangene

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„Aber Oma, du weißt doch genau, dass Kriegsgefangene nicht mit am Tisch ihrer Herrschaft sitzen dürfen. Dies hat auch der Ortsgruppenleiter der NSDAP immer wieder betont“, sagte mit angstvoller, zarter Stimme meine Mama. Als BDM-Mitglied (Bund Deutscher Mädchen) war sie immer furchtsam darauf bedacht, alles exakt so zu tun, wie ihre nazistische Vereinigung dies vorschrieb.

„Das gäb’s noch! Leute, die für uns arbeiten, dürfen auch mit uns am Tisch sitzen, bekommen zu essen und zu trinken. Kommt alle herein – wir machen Abendbrot!“, antwortete befehlsgewohnt, wie immer, unser Generalfeldmarschall, meine Oma Martha.

„Nun seid doch mal nicht so schüchtern, kommt einfach her und stellt euch vor. Gretel, wo treibst du dich denn wieder herum? Du hast sie doch alle hergeholt, nun mache doch endlich einmal alle miteinander bekannt!“

„Ich komme ja schon, Oma, kann mich ja auch nicht zerteilen. Bitte alle eintreten, seid nicht so zurückhaltend, Johann und Marcel.

Also, dies sind meine Mutter Martha, mein Vater Alfred, Schwester Friedel … geht doch bitte einfach weiter in die Stube – ohne Scheu! In der Stube essen wir immer alle. Weiter geht’s – das ist die Helga, die Tochter von Friedel. Hier ist die Erika, die Frau von meinem Bruder Heinel. Na ja, ich sehe ein, das wird alles viel zu viel für euch auf einmal. Also, das ist Marcel, er kommt von einem Bauerngehöft aus Belgien und das ist Johann, Bauer aus Frankreich. Ach, euch habe ich doch ganz vergessen – das sind mein Sohn Klaus und Lothar, der Sohn von Friedel. Na ja, ich weiß, das ist alles extrem aufregend für euch. Kommt her ihr beiden.“

Johann hatte mit Marcel schon ein Weilchen geheimnisvoll geflüstert – beide hatten sehr bedrückte und ernste Gesichter, aber sie sprachen offensichtlich beide die gleiche Sprache. Langsam und auch ein wenig widerstrebend kamen sie zur Eingangstür der Stube. Johann schlurfte widerstrebend als erster, Marcel blieb weit zurück. Auffällig war, dass die schönen, dunklen Augen von Johann aggressiv blitzten. Mama und Oma schienen dies zu spüren – sie gingen spontan beide zu den jungen Männern hin und gaben ihnen äußerst freundlich und warmherzig die Hand. „Guten Tag ihr zwei, keine Sorge, wir kriegen das schon gemeinsam gut hin.“

Johann reagierte als erster, indem er aufschaute. „Bonjour!“ Seine Gesichtszüge waren jetzt entspannter und freundlich. Ich kleiner Knirps ging zu ihm hin und gab ihm auch meine kleine Hand. Seine war für mich riesengroß, sehr rau, brüchig und schwielig. Darüber erschrak ich und wollte meine sofort zurückziehen. Johann nahm aber seine zweite Hand, drückte meine kleine Hand warm und fest mit seinen beiden großen Händen, aber nicht zu fest. Gott sei Dank. Dann hob er mich ganz einfach hoch, so weit, dass ich waagerecht in der Luft hing. Ich war zunächst sehr erschrocken, strampelte mit Armen und Beinen, aber da alle schallend lachten, gefiel mir plötzlich dieser Heidenspaß und auch ich lachte mit meiner dünnen Kinderstimme. Als er mich wieder zu Boden ließ, flitzte ich auf ihn zu und umklammerte seine Oberschenkel. Alle freuten sich und hatten plötzlich gute Laune – ich war überglücklich. Johann lachte auch befreit auf, nur Marcel schaute immer noch etwas kummervoll zu Boden. Johann sprach irgendwelches unverständliches Zeug zu ihm. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass es in französischer Sprache war. Schon schaute er etwas gelöster in die Welt und zu uns hin.

Ganz hinten, dort wo es von der Küche wieder in den Kuhstall geht, standen mit gesenktem Blick zwei ganz junge Menschen. Sie schauten so intensiv zu Boden, als ob dort eine Reichsmark zu finden wäre. Sie waren vollkommen verängstigt, das Mädchen war kräftig gebaut – entschieden im Gegensatz dazu stand ihr angstvolles Zittern. Der junge Mann neben ihr war sehr schlank, aber es war zu sehen, dass er muskulös und sportlich war. Schlimm war nur, wie die beiden aussahen. Dies hing allerdings mehr mit ihrer Kleidung, sofern man diese Bezeichnung überhaupt anwenden konnte, zusammen. Beide hingen nur in Lumpen. Sie waren schmutzig, heruntergekommen und hatten Holzschuhe an. Die Haare waren fast kahl heruntergeschoren. Es war schon ein recht deprimierender Anblick. Für mich hatte der junge Russe, aus heutiger Sicht, einen hellbraunen Kasack an, welcher in der Hüfte von einem sehr einfachen Gürtel zusammengehalten wurde. Unter den Pluderhosen waren dicke, lange Socken zu sehen. Auf dem Kopf trug er eine braune Mütze mit einem kleinen Schild. Das Mädchen hatte ein durchgängig vorn geknöpftes Strickkleid an und unten an den Füßen ebenfalls solche Socken wie der junge Mann. Tatsache war aber eines – das konnte ich als Kind damals noch nicht erkennen – die zwei jungen Russen waren in ihrer Kleidung dermaßen verschlampt und abgewirtschaftet, dass es den Hund samt der Hütte schüttelte. Weiße, graue und schwarze Dreckflecken, der Stoff schmierig und mit Löchern, ganz einfach extrem eklig, richtig arme und bedauernswerte junge Russen.

Tante Friedel flitzte rasch zu den beiden hin, nahm das junge Mädchen bei der linken Hand und führte beide in den Vorsaal. „Gretel, komm mal bitte mit und hilf mir!“ Sofort rannte Mutti auch dorthin. Mutti und Tante Friedel erzählten später, dass sie die beiden komplett ausgezogen und die Lumpen gleich unter dem Kessel verbrannt hatten. Danach erhielten sie Bademäntel, die immer in der Küche hingen, umgehängt und wurden in eine Zinkwanne im Zugang zum Kuhstall gesteckt. Sie waren ängstlich, machten aber bereitwillig alles mit. Natürlich erfolgte dies der Reihe nach, da Tascha sehr schüchtern und unsicher zur Seite schaute. Sie wurde erst einmal in die Stube geführt, solange der junge Mann an der Reihe war. Dann suchten Mutti und Tante Friedel neue Anziehsachen für die beiden heraus und kleideten sie einigermaßen vernünftig an. Sie spürten, dass dies zu ihrem eigenen Wohle war und schauten schon etwas dankbarer und offener in die Welt. Nach dieser Prozedur ging Mutti mit einladendem, freundlichem Blick auf die beiden zu, nahm das junge Mädchen bei der Hand und führte sie ins Wohnzimmer. Dort sagten Friedchen und Mutti: „Wir haben die beiden etwas versorgt und eingekleidet. So fühlen sie sich sicherlich etwas wohler. Das ist Tascha aus Russland – mir wurde gesagt, dass sie auf einem Kolchos als Viehzüchterin gearbeitet hat.“ Während meine Mama sprach, stand Tascha immer noch sehr verkrampft da, das Zittern hatte jedoch etwas nachgelassen. Sie schaute aber immer noch mit fast waagerechtem Kopf auf den Fußboden. Mama streichelte sie an der Wange, da hob sie leicht den Kopf und wurde puderrot.

„Setz dich dahin, Tascha“, kommandierte meine Großmutter. Ihr Blick war aber gütig und warm.

Der junge Mann stand immer noch nahe der Tür zum Kuhstall und Mama rief sehr laut: „Komm bitte auch zu uns Nikolajewitsch, oder so ähnlich – so heißt du doch?“

Er hob den Kopf, kam vorsichtig und ich fand, ein wenig devote, langsam in die Stube und schaute meine Mutter an: „Ich heiße Nikolai, Strawstwui.“

„Guten Tag Nikolai, am besten du setzt dich mit Tascha hier an das Fenster.“

„Marcel und Johann, bitte an die Längsseite.“

Aufgeregt quasselte ich dazwischen: „Oma, ich will zu Johann – der ist Klasse und wirft mich in die Luft.“

„Wenn du denkst, mein Junge, dann mache das so und du Lothar, gehst zu Marcel.“

Nun saßen alle am Tisch und es trat eine peinliche Stille ein. Immerhin waren wir jetzt vier Personen mehr und darunter Fremde, die uns zur Arbeit zugeteilt worden waren. Alle spürten diesen Druck und die Ungerechtigkeit, dem die vier ausgesetzt waren. Immerhin waren sie durch die Nazis aus ihren Familien und der üblichen Umgebung herausgerissen worden und dies sicherlich mit brutaler Gewalt, es war eine entmündigende Deportation – die Erwachsenen wussten das.

Oma und Mama waren in die Küche gegangen, um das Essen für das Abendbrot hereinzuholen. Damit fehlten die Hauptpersonen, die vorhin alles geregelt und viel gesprochen hatten. Die vier Kriegsgefangenen schauten auf den Tisch – die Gesichter hatten sich wieder verdüstert. Alle anderen schauten zum Fenster hinaus oder, unangenehm berührt, auf den schon etwas sanierungsbedürftigen Putz an den Wänden. Nur Opa Alfred und ich trugen etwas zur Unterhaltung bei. Ich hatte bei Opa den Verdacht, dass er die Situation retten und etwas besonders Kluges unternehmen wollte. Er schrie mit seiner dunklen, verraucht-kratzigen Stimme überlaut plötzlich in die Runde: „Nun habt ihr doch alle großen Hunger, vor allem ihr, die ihr eine so weite Reise auf euch nehmen musstet. War denn im Zug alles in Ordnung und bequem? Wie lange dauerte denn die Fahrt? Konntet ihr denn da schlafen? Haben euch die deutschen Soldaten gut betreut oder musstet ihr euch ärgern?“

So eine umfangreiche Rede hatte ich von Opa lange nicht gehört – er schien selbst sehr verdutzt über sich zu sein und da ihn alle fragend anschauten, wurde er plötzlich unsicher und spuckte den letzten Rest von seinem Kautabak auf den Holzfußboden. Tante Friedel ärgerte sich sehr darüber: „Opa, ich habe dir schon hundert Mal gesagt, du sollst den Kautabak nicht auf die Erde spucken, noch dazu hier in der Stube, wo wir essen wollen. Das ist ja ein Skandal. Hebe das sofort auf!“

Als sie aber sah, wie der ehemalige Fleischermeister unsicher und brummelig in die Runde guckte, tat es ihr wieder leid und sie hob selbst das kleine Stückchen braunschwarzen schmierigen Tabaks auf und schaffte es in die Küche, um es in die Asche zu legen.

Anders ich. Ganz stolz saß ich neben Johann, nahm heimlich seine rechte Hand (ich saß rechts von ihm), drückte sie und himmelte ihn an: „Bist du auch froh, Johann, dass du neben mir sitzt? So können wir uns immer schön unterhalten“, schrillte ich mit meiner Fistelkinderstimme.

Johann schaute mich väterlich an, sagte: „Oui, tu as raison“, gab mir den Mittelfinger und sagte etwas Unverständliches – es klang wie: Zieh hier! Dann gab er mir den Finger, nahm meine rechte Hand und drückte sie als Umklammerung um seinen Finger. Dann zog er seine Hand weg – meine Hand war mit dabei: „Non, non, non.“ Jetzt kam vollkommen wirres Zeug aus seinem Mund, fand ich zumindest, und er schob meine umklammernde Hand wieder zurück. Danach umfasste er mit seiner rechten Hand den Mittelfinger seiner linken Hand und zog mit großer Gewalt daran. Es knackte fürchterlich und ich erschrak. Johann wiederholte das Ganze und dann noch einmal, es knackte ständig. Nach dieser Aktion griff er in seine Hosentasche, kramte ein Weilchen und gab mir dann ein kleines längliches, rechteckiges Stück Papier. Da ich nicht so recht etwas damit anzufangen wusste, nahm es Johann mir aus der Hand und wickelte die Umhüllung aus. Den Inhalt gab er mir – es war eine längliche dünne graue Masse. Johann bedeutete mir mit dem Zeigefinger, es in den Mund zu stecken, was ich natürlich sofort tat. Ich kaute – es schmeckte nach Pfefferminz. Prima, dachte ich. Lothar schrie aufgeregt: „Ich will auch so etwas!“

Plötzlich kamen Mutti und Oma mit großen Abendbrotplatten wieder herein. Mama schaute mit ihrem üblichen Kontrollblick (das war mir immer zuwider, ich konnte es einfach nicht leiden!) auf mich. „Was kaust du denn da schon? Mit dem Essen geht es jetzt gleich los, aber erst, wenn Oma zum Abendbrot aufgefordert hat. Das weißt du doch, Klaus.“

„Das hat mir der gute Johann geschenkt. Es ist etwas zum Kauen und schmeckt wunderbar.“

„Nimm das sofort heraus, Klaus, und wirf es weg!“

Ich dachte daran, wie es gerade Opa mit seinem Kautabak ergangen war, nahm die Masse aus meinem Mund und klebte sie hinter das linke Ohrläppchen. Der Besitzer des Kontrollblickes schüttelte nur erstaunt und etwas unwillig den Kopf.

Nun wurde endlich aufgetragen. Es gab Quark, Butter, Brot und Salz, aber auch Speck mit Senf. Meine Tante Friedchen ging plötzlich auch in die Küche und kam mit drei Heringen, welche auf einem dicken Holzbrett lagen, zurück.

„Das sind Matjes Heringe“, verkündete sie stolz.

„Wo haste denn die nun wieder aufgetrieben, rührige Friedel? Naja, ist ja eigentlich auch egal – Hauptsache wir haben etwas zu futtern.“

Plötzlich stand Oma auf und ging mit der Bemerkung: „Mir fällt gerade noch etwas Tolles ein – ich habe noch etwas ganz Feines – wartet mit dem Essen“, mit einem strahlenden Gesicht, fast wie eine Heilige, noch einmal hinaus. Alle sahen dies mit einer gewissen Spannung – auf der anderen Seite hatten sie das lange Warten auch satt, da allen der Magen in der Kniekehle hing.

Mir ging es auch so und aus lauter Verzweiflung, da es mit dem Essen keinen Anfang nehmen wollte, wandte ich mich wieder meinem väterlichen Freund zu und fing an, an seinen Fingern zu ziehen. Offensichtlich stellte ich mich nicht mehr so anfängerhaft an wie vorhin – es knackte ab und zu, ich strahlte vor Freude über das ganze Gesicht.

Als Mutti das sah, rief sie, schon wieder ganz besorgt: „Nein, nein Klaus und Johann, das dürft ihr nicht machen. Das tut doch dem Johann weh.“

„Non, non“, entgegnete dieser sehr leise und dann hörten wir noch: „So Ordnung, gut.“

Aufgeregt rief Mama: „Johann, kannst du etwa Deutsch?“

„Non, non, wenig, schlecht, muss denken.“

Mama rief erfreut aus: „Das ist ja wunderbar, Johann, da können wir uns ja in wichtigen Fragen verständigen.“

Mich interessierte das ganze Geschwätz weniger, ich war weiter damit beschäftigt, an Johanns Finger zu zerren, was mir auch gut gelang. Nur knacken wollte es nicht immer. Da sagte Johann in seiner bärigen Art: „Mehr Kraft.“

Es gelang mir. Ich war überglücklich – ich konnte mit Johanns Fingern knacken. Ab jetzt tat ich das ausgiebig und immer, wenn ich Gelegenheit dazu hatte. Das war schön, denn so hatte ich immer mit Johann Kontakt und konnte mit ihm quasi spielen.

Endlich – es wurde ja nun auch wirklich Zeit – trat Oma mit einem triumphierenden Lächeln in die Türöffnung. Alle schauten interessiert zu ihr hin. Sie hielt einen ziemlich großen geräucherten Schinken in der Hand. Na, das war doch was. Alle schauten fröhlich in die Runde. Ehrfürchtig schaute ich zu Johann hin – mir schien, als wenn sein Blick jetzt glücklicher, vor allem erleichterter war. Vielleicht ging ihm durch den Kopf, dass es mit dieser Familie doch recht harmonisch sein könnte und seine Unruhe verschwand ein wenig.

Unser Anführer Oma legte den Schinken feierlich in die Mitte des Tisches, setzte sich hin und sagte: „Guten Appetit allerseits.“ Alle murmelten das gleiche, nur die Kriegsgefangenen hielten sich zurück. Marcel und die zwei Russen schwiegen, nur Johann sagte: „Bon Appetit“, verbesserte sich aber sofort: „Gooten Appetit.“

Meine Mama schaute sofort glücklich in die Runde, als sie von Johann deutsche Worte hörte.

Nikolai und Tascha langten zuerst zum Speck mit Senf und Brot, Johann schmierte sich eine Schnitte mit Butter und Quark. Es herrschte eine gefräßige Ruhe. Mutti hatte mir gerade eine Bemme geschmiert und brachte sie mir. Ich wollte erwachsen erscheinen, schaute Johann selbstsicher an: „Das kann ich doch alles selbst, Mutti.“

Wir kamen aber immer noch nicht zur Ruhe, denn plötzlich ging mit einem lauten Knall die Tür auf und herein kam der blödeste und unsympathischste Mensch, den ich je kennengelernt hatte – es war Schinderhannes. Ohne Guten Tag zu sagen, trampelte er mit seinen schmutzigen Gummistiefeln in die Wohnstube und meckerte: „Mich kann wohl keiner zum Essen einladen – ich darf nur arbeiten – was ist denn hier los?“

Mutti stand sofort auf und ging zu ihm hin. Man hörte sie flüstern: „Hannes, sei doch ruhig und vernünftig. Heute sind die vier Kriegsgefangenen eingetroffen und es gab viel Hektik. Wir wussten doch gar nicht, wo du bist. Du musst auch ordentlich Bescheid sagen, welche Arbeiten du verrichtest. So geht das einfach nicht.“

„Ach so, da sind nun die Kriegsgefangenen da und ich werde nicht mehr gebraucht. Ihr seid ja eine tolle Bagage und denkt nur an euch. Ich kann nur schuften – Pfui Teufel mit euch.“

„Hannes, jetzt ist aber Schluss“, empörte sich meine Mutti nun endlich. „Setz dich und gib Ruhe. Über die Arbeitseinteilung reden wir morgen früh.“

Da schrie Hannes: „Was heißt hier Arbeitseinteilung – die mache gefälligst immer noch ich und niemand anders. Ich gehe jetzt die Kühe füttern, denn sonst gibt es ja niemanden, der etwas Vernünftiges tut.“

Ich schaute genauer zu Hannes hin – seine hellblaue Arbeitshose stand vor Dreck, die immer liederlich offene Jacke in ehemalig gleicher Farbe war ebenfalls sehr verdreckt und ramponiert, von seinen Schultern fiel Getreidespreu. Sein vergammelter, schmieriger Hut war nach oben geschoben und saß schnapp ab auf seinem kahlen Schädel.

„Oma, der Hannes hat an seinen Stiefeln Kuhscheiße, genauso an seiner Hose und an der Jacke – das ist doch eine große Schweinerei“, meckerte ich empört. Ich wollte meine Empörung bei Oma anbringen, stattdessen hob meine Mama verärgert die Stimme. Sie wurde aber übertönt von einem extrem beleidigten Hannes: „Das geht dich kleinen Zwinsch überhaupt nichts an, lerne erst mal arbeiten und das im Dreck und im Mist.“ In höchster Wut fügte er noch hinzu: „Wenn sich hier schon die Kinder in die Arbeit Erwachsener einmischen, da ist das Chaos nicht mehr weit.“

Dann knallte er heftig die Tür zu, das heißt er ging so trampelig hinaus, wie er hereingekommen war und hinterließ einen unangenehmen Geruch im Zimmer, welcher mir schon, von anderen Bauern her, vertraut war. Dieser hier war aber besonders unangenehm – es roch nach Getreide, Kuh und Pferd, Gras, Mist und Scheiße. Diese Ausdünstungen empfand ich immer als äußerst eklig.

Alle schauten betreten – die Stimmung war dahin. Ich hatte sogar den Eindruck, dass die Gefangenen nach dieser unschönen Aktion nicht nur verunsichert, sondern sogar verängstigt waren.

Ich wollte Hilfe geben und schaute Johann liebevoll in sein Gesicht: „Lass dich nicht beirren, Johann, der Hannes ist immer so dämlich. Wenn du wüsstest, wie der die Tiere schindet. Einmal hat er unsere Kuh Elsa mit dem Knüppel so sehr geschlagen, dass sie fast gestorben ist – wir mussten den Tierarzt holen. Vorgestern hat er meinen Liebling, Kater Moritz, mit Rattenfutter vergiftet und das nur deshalb, weil er keine Ahnung hat, in welche Löcher man das Rattengift stecken muss, damit nur Ratten hinkommen und es keine Katze erreichen kann. Der ist so etwas von dumm und will alles immer besser wissen. Uns Kinder schreit er immer an und nennt uns faule Rotzlöffel. Ich kann den überhaupt nicht leiden.“

Aber was passierte nun? Ich ahnte es schon. Mama schaltete sich ein: „Also, Klausmann, dir kommt es überhaupt nicht zu, über Erwachsene so zu reden, noch dazu so frech. Sei still, iss jetzt in Ruhe und schaue dir bei Johann ab, wie man mit Messer und Gabel isst.“

„Nie darf ich etwas sagen – wir Kinder dürfen überhaupt nichts!“ Ich war zu Tode beleidigt, zog einen Schmollmund und ließ den Kopf hängen. Johann drückte meinen Kopf an seine Schulter und streichelte mir über den Kopf.

Oma beruhigte: „Lasst euch den Abend nicht verderben. Wir wollen jetzt in Ruhe essen und unsere neuen Gäste und Arbeiter ordentlich begrüßen, wie sich das halt so gehört. Ich habe noch eine Überraschung für euch und zwar habe ich noch einen schönen Kirschbrand im Keller. Den holen wir, wenn wir alle fertig gegessen haben.“

Nachdem alle gespeist hatten, wurde es wieder etwas lauter. Marcel flüsterte leise mit Johann, Tascha und Nikolai taten das gleiche. Mama, Tante Friedel und Tante Erika räumten das Geschirr und das übrig gebliebene Essen in die Küche nebenan. Dabei ließen sie natürlich die Tür auf und man konnte hören, wie Friedel und Mama laut kicherten. Nachdem der Tisch gesäubert und abgewischt worden war, trat eine erwartungsvolle Stille ein. Nur Lothar rief laut: „Klaus, komm doch mit auf den Hof, die Peunerts wollten uns doch zwei kleine Kätzchen bringen.“

„Nein, Lothar, jetzt nicht, ich will hier dabei sein.“

Opa zündete sich eine Zigarre an und paffte wie eine Rangierlok. Oma stand auf, um in den Keller zu gehen und den Schnaps zu holen. Kaum war sie wieder oben, ließ sie Friedel die kleinen Schnapsgläser holen. Danach wollte sie die Einliterflasche öffnen, wusste aber nicht wie, da diese oben auf dem Korken mit einer Art Siegellack verschlossen war. Hilflos schaute sie in die Runde und bekam Hilfe von Opa. „Martha, wir haben das als Soldaten immer so gemacht, dass wir den Flaschenhals abgeschlagen haben.“

„Alfred, also so ein Unsinn. Diese Flasche wird ordentlich geöffnet. Findet sich denn in diesem Kreis niemand, der das sauber erledigen kann? Da geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte und zwar stand Nikolai auf, ging langsam zur Oma und fragte auf Russisch: „Darf ich? Soll ich die Flasche öffnen?“

Natürlich hatte keiner etwas verstanden, aber es war ja klar, dass er helfen wollte. Er nahm die Flasche, griff in seine Hosentasche, holte ein Messer heraus und begann den Siegellack abzuschneiden. Bis auf ein paar Reste gelang dies sehr ordentlich. Dann drehte er an dem überhängenden, großen Korken, bis mit einem „Floppp“ die Flasche auf war, sagte „Choroscho“ und setzte sich wieder hin. Während dieser Aktion schaute ihm Oma wohlwollend und mit Freude zu.

„Danke Nikolai, das hast du fein gemacht. Wenn das auch auf den Feldern oder mit den Tieren so gut geht, das wäre ja wunderbar.“

Nun ging es ans Gläserfüllen. Friedel stand auf, nahm die Flasche und wollte diese Aufgabe übernehmen. Sie goss Kirschbrand in das vor ihr stehende Glas ein, aber ihre Hand zitterte mächtig und mit einem großen Schwups überschüttete sie das Glas – mindestens die Hälfte landete auf der blank gescheuerten Holzplatte.

„Auweia“, dachte ich. Dann ging sie zum nächsten, welches bei Opa stand. Da war aber nach ihrer Schüttaktion wieder zu wenig drin. Außerdem zitterte ihre Hand, es war schon der gesamte Arm, immer mehr – wahrscheinlich war sie vom Zuschauen der vielen Männer beeindruckt.

Mama sah dies und sagte: „Johann, ihr Männer habt da doch mehr Übung, sei so gut und gieße die Gläser voll, vielen Dank.“

Johann stand ruhig auf, ging ringsherum von Glas zu Glas und führte die Aktion ruhig und souverän aus.

Nun war dies endlich vollbracht und Oma erhob ihr Glas: „Also, eehm, iihm“, stolperte sie sprachlich ein wenig, was man von ihr kaum kannte. „Hiermit möchte ich unsere neuen Arbeiter Marcel, Johann und …“, leise sagte sie, „die zwei Russen – Gretel hilf mir mal, wie heißen die doch gleich?“

„Natascha und Nikolai.“

„… also Tascha und Nikolai herzlich auf unserem Gut begrüßen. Ich wünsche Ihnen, dass sie, nachdem sie aus ihrem Zu Hause mit ihren Familien herausgerissen wurden, bei uns rasch heimisch werden. Wir werden uns, so denke ich, miteinander, bemühen, dass wir uns alle gut verstehen und vor allem, dass die notwendigen Arbeiten, die auf unserem Bauerngut geleistet werden müssen, auch gut geschafft werden. Es ist ja bei uns der Zustand, dass Opa auch nicht mehr der Jüngste ist, der Hannes ist vollkommen überfordert und brüllt ständig nur herum, und beide die Arbeiten schon längst nicht mehr schaffen. Was ich mitbekommen habe, sie sind alle vom Land und erfahren in der Tierzucht und bei der Bodenbearbeitung. Das ist sehr gut so. Also, viel Erfolg wünsche ich uns allen.“

Alle, auch die Kriegsgefangenen, hatten Oma aufmerksam angeschaut. Verstanden hatten die Kriegsgefangenen unter Garantie nichts, höchstens ein paar Fetzen. Plötzlich setzte Oma noch einmal an: „Was ich Ihnen Kriegsgefangenen noch sagen wollte: Sind Sie nicht allzu traurig, dass Sie von zu Hause weg mussten. Sie sollen doch hier nur eine Zeit lang arbeiten, bis der Krieg gewonnen …, ich meine bis der Krieg beendet ist. Dann können Sie wieder nach Hause zu Ihren Familien und in Ihre Heimat. Prost.“

Da niemand gleich reagierte, rief sie noch einmal: „Allerseits zum Wohl.“

Opa, Friedel, Mama und all die anderen riefen ebenfalls überlaut: „Prost, Prost.“

Ich schaute auf Johann. Er hob sein winziges Glas hoch und sagte leise „Prost“, Marcel sagte wie üblich nichts, auch Natascha blieb ruhig, nur Nikolai rief: „Na starowje.“

„So, nun erhalten unsere zusätzlichen Leute die Zuweisung für ihre Betten, bzw. wo sie schlafen. Gretel, Friedel und Erika, ihr drei begleitet jetzt die Neuen auf ihre Zimmer und bereitet alles mit Betten, Liegen und Decken entsprechend vor. Wo ist denn überhaupt die Tante Marie, die könnte doch schön mithelfen?“

„Mutti, du weißt doch, dass sie mit Grippe im Bett liegt. Das mit den Zimmern, Betten und Liegen ist leicht gesagt von dir, aber wie soll denn die Zuordnung sein? Außerdem scheinen unsere Zimmer nicht zu langen. Decken und Betten fehlen auch. Nikolai und Natascha können auf keinen Fall in einem Zimmer schlafen“, entgegnete meine Mama.

„Naja, das weiß ich selbst, dass wir die beiden trennen müssen. Johann und Marcel bekommen das Zimmer im ersten Stock am Gangende zum Eingangstor, dort sind sogar zwei Betten drin. Nikolai kann in dem Zimmer im ersten Stock neben der Toilette schlafen. Da müssen wir aber noch eine Liege und Decken besorgen. Für Natascha“, murmelte sie, „da müssen wir uns noch etwas einfallen lassen.“

Sie erhielt eine Zuweisung in eine Besenkammer, welche von den drei Frauen ausgeräumt werden sollte. Außerdem sollte noch eine Liege von der Stube hochgeschafft werden. „Na endlich, so geht es doch“, triumphierte Oma.

Da sagte Johann plötzlich leise, aber bestimmt: „Waschen, sauber sein, langer Tag.“

„Ich zeige es dir, Johann, komm mal mit“, schaltete sich meine Mutter ein. Sie gab Johann in der Küche einen Waschzuber und zeigte auf einen großen Bottich mit warmem Wasser, welcher auf dem Kachelofen stand. Johann musste nur auf die Ofenbank treten, um die Höhe des Waschbottichs zu erreichen. Er füllte das gut temperierte Wasser ein in den Zuber und schleppte ihn gemeinsam mit Marcel in den Kuhstall, der nur durch eine Tür von der Küche getrennt war. Mama flitzte davon, kam mit zwei großen Badetüchern zurück, die sie nebst Seife und Bürste den beiden in den Kuhstall nachbrachte.

„Aber Johann, ihr sollt Euch doch in der Küche waschen. Das machen wir doch immer so und da ist es viel wärmer und sauberer für euch.“

Nun schien alles für nächtliche Ruhe erbracht worden zu sein. Lothar und ich kamen nun an die Reihe. Es war das übliche Gezerre zwischen uns, wer zuerst an die Waschschüssel heran durfte. Nach all den vielen neuen Eindrücken mit den vier neuen Arbeitskräften waren wir aber versöhnlich gestimmt und langten parallel in die Schüssel, wenn wir uns auch teilweise behinderten und vollspritzten. Lothar wollte sich nie die Zähne richtig putzen, was mir überhaupt nicht in den Kopf ging. Ich rumpelte gern und lange mit der Zahnbürste auf meinen restlichen Milchzähnen herum und erhielt prompt auch jedes Mal von Tante Friedel und Mama ein Lob. Nun war bald Ruhe. Friedel und Mama schafften Lothar und mich ins Bett. Mama musste sich immer zu mir aufs Bett setzen und mir eine Geschichte erzählen. Da sie aber oft nicht wusste, was sie erzählen sollte, berichtete sie davon, was sie in der Gemeinde getan hatte und wie alles denn so lief. Ich fragte immer so lange, bis ich einschlief.

Aktuell und aufregend für mich war natürlich, dass wir die vier neuen Leute, die Kriegsgefangenen bei uns hatten. Also fragte ich neugierig: „Mutti, wieso kommen denn die vier neuen Leute hierher? Haben die sich bei uns beworben? Die kommen ja von so weit her, woher kommen sie denn eigentlich?“

„Ach du, kleiner Klausmann, du hast ja wieder hundert Fragen. Also, beworben haben sich die vier auf gar keinen Fall. Das Gegenteil ist der Fall, sie wurden gezwungen, hierher zu kommen und für uns zu arbeiten.“

„Das glaube ich nicht Mama, dem Johann gefällt es doch so gut bei uns und er ist immer so freundlich zu mir.“

„Wenn du alles wüsstest, mein kleiner Junge“, sagte sie ahnungsschwer.

„Warum seufzt du denn so, Mama? Außerdem, ich bin schon ein großer Junge, kann gut Zähne putzen und neben Johann sitzen.“

„Ja, ja, sicher, nun erzähle ich dir einmal, wie es dazu kam. Danach musst du aber gleich schlafen, es ist schon sehr spät. Bei uns in der Gemeinde gehen immer Schreiben vom Kreisamt Freiberg ein, wo Festlegungen drin stehen, was die Bauern anzupflanzen haben, wie viel sie an den Staat abgeben müssen und so weiter und so fort. Vor kurzem kam ein Schreiben von der NSDAP. Darin stand …“

„Mama was ist denn DP?“

„Klausmann, jetzt hörst du einmal durchgängig zu und fragst nicht immer dazwischen. Sonst kommen wir überhaupt nicht weiter. Die NSDAP ist die führende Partei in Deutschland, die alles festlegt und regelt – sie heißt Nationalsozialistische Partei Deutschlands. Diese hat festgelegt, dass Arbeiter aus den von Deutschland besetzten Ländern zu uns kommen, um das Land in dieser schweren Zeit des Krieges zu unterstützen.“

„Aber Mama, wenn die Arbeiter aus diesen Ländern wegmüssen, dann können sie doch dort nicht Felder bebauen, Getreide ernten und Tiere züchten. Da haben ja dann die Kinder in diesen Ländern da nichts zu essen.“

„Ja, du hast nicht ganz unrecht, aber es ist eben so, dass die Partei dies für Deutschland festlegt und das, was sie festlegt, ist gut für die Menschheit und dient uns allen. Unsere BdM-Leiterin erläuterte uns das immer und immer wieder, dass es um die Zukunft und die Sicherheit Deutschlands geht.“

„Mama, wie war denn das nun mit dem Herbringen der Arbeiter? Mussten sie hierher laufen?“

„Nein, sie kamen alle mit dem Zug. Wir bekommen in der Gemeinde immer Schreiben, welche Züge mit welchen Arbeitern und aus welchen Ländern bei uns eintreffen. Für Arbeitskräfte müssen sich die Bauern oder Betriebe bewerben. Dies wird dann von uns eingeschickt, geprüft und eventuell bestätigt. Bei uns tut das der Ortsgruppenleiter in Verbindung mit dem Bürgermeister. Für unser Gut hatte ich mich um drei Arbeitskräfte beworben. Vorgestern kam zehn Uhr auf dem Hauptbahnhof in Freiberg ein Zug aus dem Westen an, eine halbe Stunde später kam ein Zug aus dem Osten. Aus dem ersten wählte ich Johann und Marcel aus und aus dem zweiten Natascha und Nikolai.“

„Wieso hast du denn gewusst, dass es für uns die richtigen Leute sind?“

„Jeder Zug hat mehrere Begleiter und die habe ich gefragt, wer Erfahrung in der Landwirtschaft hat. Danach hat Natascha in der Tierzucht gearbeitet, Nikolai auf dem Feld, Johann und Marcel waren auf großen Bauerngütern, wir würden Rittergüter sagen, tätig, das heißt sie können alles.“

„Aber wer hat sie denn in den Ländern ausgewählt, Mama?“

„Klausmann, das ist aber jetzt die letzte Frage, dann schläfst du. Unsere Soldaten in den besetzten Ländern haben diese Arbeiter ausgewählt, zum Zug gebracht und nun sind sie hier. Genügt das, kleiner Mann?“

„Ja, aber die sind doch nicht freiwillig mitgegangen – der Johann wollte doch sicherlich bei seiner Mama bleiben, dort, wo er geboren ist. Ich verstehe das alles nicht so richtig. Am Ende muss der Schinderhannes noch nach Frankreich, um dort zu arbeiten oder jemand anders muss das tun. Kann das passieren Mutti? Ich kapiere das nicht, wenn ich mich auch freue, dass Johann bei uns ist.“

„Klaus, jetzt ist endgültig Schluss, höre mit der ewigen Fragerei auf und schlafe süß.“ Sie küsste mich auf die Stirn, deckte mich zu und ich musste nun sehen, wie ich mit diesem Sack von Fragen zurechtkam.

Mitten in der Nacht erschrak ich zu Tode. Auf dem Gang hörte ich, wie jemand barfuß in äußerster Angst an das Gangende rannte und immer schrie. Das Schreien war für mich unverständlich – es klang so hart und fremdartig, mit schriller Stimme. Ich hatte große Furcht und rief Mama, welche sofort senkrecht im Bett saß und mit Bestürzung in der Stimme sagte: „Pst, Pst, das ist etwas Gefährliches.“ Dann ging sie aber doch hinaus – ich hinter ihr her, indem ich mich hinten an ihr Nachthemd klammerte. Sie versuchte mich mit der Bemerkung abzuschütteln: „Klaus, geh sofort ins Bett, das ist alles viel zu gefährlich für dich.“ Auf dem Gang war es stockdunkel. Mama versuchte eine Taschenlampe anzuschalten. Ihr Licht war aber zu duster, als dass man etwas erkennen konnte. Da rief Opa: „Mach doch mal Licht, Gretel, bei dir ist doch der Schalter, gleich nach dem Fenster hinten.“

Mama schaltete und es wurde einigermaßen hell. In einer Art Nachthemd, es sah eher aus wie ein dickes Kleid, stand Natascha da, schrie laut und zitterte am ganzen Körper. Mutti versuchte sie zu beruhigen – es gelang nicht. Dann gingen die Frauen, Tante Friedel und Tante Erika waren inzwischen auch da, in das Zimmer von Natascha, das heißt den Besenschrank. Dort schrie Natascha immer: „Tam, Tam, Tam.“ Sie war ganz weiß im Gesicht und hörte nicht auf zu brüllen. Meine Mutti nahm Nataschas linke Hand, Friedel nahm ihre rechte Hand, drückten, jeder von seiner Seite, ihren Kopf an Nataschas Kopf und sprachen mit Engelszungen: „Mädchen, sei ruhig – wir sind hier bei dir – ganz ruhig, ruhig. Wir helfen dir doch. Was ist denn passiert, warum schaust du denn immer auf die eine Stelle?“

Friedel nahm ihren Zeigefinger und wies in die Richtung, wo Natascha hingezeigt hatte. Sie ging mit ihrem Zeigefinger immer näher zur Wand. Wenn es irgendwie nach Ansicht Nataschas falsch war, rief sie: „Njet, Njet.“ War es die richtige Richtung, rief sie: „Da, Da, Da.“ Das Spielchen ging so eine ganze Weile, bis Tante Friedels Finger an die Schnittstelle zwischen Fußboden und senkrechter Wand an eine bestimmte Stelle kam. Da wurde Natascha ganz wild und schlug beide Hände vors Gesicht. Mutti und Tante Friedel beratschlagten: „Was kann denn das nur sein, Gretel? Was denkst denn du?“ Ich hing immer noch an Muttis Nachthemd in Höhe ihres Popses, wobei ich mich nur noch mit der rechten Hand festhielt. An der Stelle, die Tante Friedel zeigte, sah ich eine kleine dunkle Stelle: „Seht ihr da nicht das kleine schwarze Loch?“ Sie wisperten miteinander eine ziemlich lange Zeit und verkündeten dann vollkommen aufgelöst und erregt: „Das ist doch nur ein Mauseloch, so schlimm ist das gar nicht, Natascha. Du kannst beruhigt wieder ins Bett gehen.“

Die blutjunge Russin wurde auch tatsächlich ruhiger. Sie streichelten sie ständig, ihr Zittern am ganzen Körper hatte fast aufgehört. Ich dachte schon, nun wäre alles überstanden. Übrigens, ich fror ganz jämmerlich. Also wollte ich die Sache beschleunigen und sagte: „Legt doch Natascha einfach wieder ins Bett, damit endlich Ruhe wird. Ich will wieder schlafen gehen.“

„Ach, der Junge ist ja auch noch hier. Klaus geh sofort ins Bett, es ist viel zu kalt und zu aufregend.“ Ich ging hinaus, schlunzte aber durch einen Türspalt noch hinein. Die beiden versuchten, Natascha ins Bett zu bringen. Da passierte etwas Furchtbares – Natascha fing wieder an, am ganzen Körper zu zittern, schrie noch mehr als vorher und rannte barfuß an das andere Ende von dem unheimlich langen Flur. Mama sagte: „Uns bleibt hier nichts weiter übrig – Natascha kommt mit zu Klaus und mir ins Zimmer, sonst ist die Nacht rum. Das junge Mädchen hat eine derartige Furcht, wir müssen dem einfach Rechnung tragen.“

Da sahen die beiden, was das erneute Chaos verursacht hatte. Eine Maus raste in der Besenkammer hin und her und da Opa in der Nähe des Mauseloches stand, war ihr der Rückzug versperrt. Sie jagte auf den Gang hinaus und verschreckte die arme Tascha vollends. Opa rannte in dem dusteren Licht mit einem langen Besen in der Hand hinter ihr her und wollte sie erschlagen. Jetzt wurde Tante Friedel energisch: „Jetzt ist Schluss! Opa, du hörst mit der Jagd nach der kleinen Maus sofort auf! Wir müssen jetzt zur Ruhe kommen!“ So wurde es dann auch. Opa schleppte den Strohsack in unser Zimmer, Friedel brachte Laken und Kopfkissen und Mutti die zwei Decken. So langsam aber sicher trat Ruhe ein.

An dieser Stelle drängt es mich, einen zeitlichen Vorgriff vorzunehmen. Als das Erntefest nahte, kam auf uns alle ein absolutes Chaos zu. Das Haus wurde auf den Kopf gestellt und der Hausputz blühte. Unter anderem wurden die Strohsäcke auf den Hof geschleppt, sie sollten eine neue Füllung bekommen. Also wurde das alte Stroh herausgeschüttet – bei Nataschas Strohsack kam, außer dem alten Stroh, ein Nest mit kleinen, nackten Mäusen zum Vorschein. Lothar und ich erschraken unheimlich. Nachdem wir aber den ersten Schreck überstanden hatten, sahen wir genauer hin. Die kleinen Mäuschen waren unheimlich niedlich und taten uns sehr leid. Da wir ahnten, was mit den kleinen Mäuschen geschehen würde (Opa schrie zum Beispiel derb: „Holt mal den Kater Moritz her, hier sind kleine Mäuse.“), verzogen wir uns rasch. Natürlich wurde Natascha von diesem Vorkommnis nicht informiert. Was wäre wohl geschehen, wenn sie es erfahren hätte? Ich könnte mir fast vorstellen, dass sie es aufgeregt ablehnen würde, jemals wieder auf einem Strohsack zu nächtigen.

Am nächsten Morgen wurde ich spät munter, schließlich war es auch eine aufregende Nacht gewesen. Ich schaute mich in unserem Zimmer um. Nataschas Decken waren zurückgeschlagen und Muttis Federbett ebenfalls – natürlich war keiner mehr da. Neugierig, wie ich nun mal bin, stürmte ich vom ersten Stock runter in die Küche. Nur Oma war noch da. „Der Lothar kommt auch gleich, Klaus, wasche dich und putze dir die Zähne.“

„Oma, mich interessiert vor allem – wo ist denn die Natascha?“

„Die ist im Kuhstall und mistet aus.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte ich nebenan in den Kuhstall, sofort erkannte ich sie. „Natascha, wie geht es dir? Bist du noch ängstlich und aufgeregt?“ Als sie mich sah, strahlte sie: „Dobroje utro, Klauuuss.“

Strahlend sah ich mir Natascha näher an. Sie trug ein rotes Kopftuch, welches sie unten am Kinn mit zwei Knoten gebunden hatte. Ihr Blick war jetzt freundlich, fast strahlend, ganz im Gegensatz zu gestern Abend. An dem unteren Teil ihrer linken Wange war ein Grübchen angesiedelt. Ihre rehbraunen Augen blickten sanft. Sie hatte leicht hervorstehende Wangenknochen und ganz rote Wangen – ich fand sie äußerst hübsch, jung und frisch dazu. Gestern hatte ich erfahren, dass Natascha gerade 18 Jahre alt geworden sei.

Plötzlich rief Oma mit ihrer Donnerstimme: „Klaus komm her zum Essen, der Lothar ist auch schon da und außerdem hast du dich noch nicht gewaschen und nicht die Zähne geputzt, so geht das nicht. Du musst besser folgen!“ Leicht verschreckt winkte ich schnell Natascha zu und machte mich schnurstracks auf den Weg in die Küche.

„Lothar, nach dem Essen gehen wir schnell zu Natascha, die ist prima. Vielleicht können wir ihr helfen bei der Arbeit.“

„Eigentlich wollten wir doch mit Tell spielen und ihn als Zugpferd für unseren Handwagen einspannen.“

„Das können wir doch immer noch tun, erst gehen wir mal zu Natascha und da fällt mir ein, wir sollten vielleicht auch mal schauen, was Johann, Marcel und Nikolai so anstellen.“

„Na einverstanden, so machen wir das.“

Nach dem Frühstück gingen wir sofort in den Kuhstall zu Natascha. Sie arbeitete immer noch fleißig und lud die Hinterlassenschaften der Kühe auf einen kleinen Transportwagen. War dieser voll, musste sie ihn hinausfahren. Dies war aber nicht so einfach, sie musste um den Misthaufen herumfahren, dann ging es einen Weg mit Anstieg hoch, damit sie es von oben abkippen konnte. Als sie wieder zurückkam, keuchte sie mächtig, war feuerrot im Gesicht und hatte Schweißtropfen auf der Stirn. Mir tat sie ganz einfach leid, Lothar schaute auch sehr mitfühlend. Ich holte mein Stofftaschentuch aus der Tasche und stupste damit Natascha auf die Stirn. Sie ging aber sofort mit dem Kopf zurück und winkte ab. Lothar zischelte mir zu: „Du Dummkopf, dein Taschentuch ist genauso schmutzig wie meines, wenn das die Mutti hört oder sieht, ist der Teufel los. Wir blamieren uns doch, Klaus, pass doch mehr auf!“

Auch wenn es Lothar nicht passte, ich wollte bei Natascha bleiben. Ihr schien es allerdings nicht ganz recht zu sein, sie war eifrig beim Arbeiten und sagte, leicht aufgeregt: „Ja chotschu rabotatch (ich will arbeiten)!“ Ich verstand zwar ihre Worte nicht, aber dass sie weiter schuften wollte, dies wurde mir schon klar. Sie rief uns noch zu: „Smotrie na Nikolai, Johann und Marcel (schaue zu Nikolai, Johann und Marcel)!“, und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Getreideboden, gleich neben der Tenne.

Also gingen wir, ich zumindest leicht widerwillig, zu dem dritten Gebäude unseres Bauerngutes, wo in der ersten Etage das Getreide lagerte, welches über die Tenne angeliefert wurde. Bereits am Beginn der Tenne angekommen, hörten wir einen Riesenspektakel. Opa hatte mir das ganze schon einmal erklärt – das Getreide wurde mit Dreschflegeln gedroschen. Diese bestanden im Wesentlichen aus zwei zylindrischen Holzkloben, welche gelenkig miteinander verbunden waren. Der untere Holzzylinder wurde mit Gewalt auf das Getreide geschlagen, so, dass das Stroh und die Körner getrennt wurden. Nikolai und Marcel hämmerten wie wild mit den Dreschflegeln. Sie sahen beide knallrot aus, von ihrem Gesicht tropfte der Schweiß sichtbar herab – es war ja auch ein mächtiger Drill. Hannes, der Schinder, trennte Stroh und Körner und schaffte immer wieder neues Getreide heran. Nicolai und Marcel taten mir richtig leid, Lothar hatte ähnliche Gefühle.

„Wollt ihr etwas zu trinken?“, rief ich den dreien zu. Hannes und Marcel hörten sofort auf mit arbeiten, während Nikolai weiter schuftete. Ich ging hin und schubste ihn an der linken Schulter an – er hörte auf und schaute mich fragend an. Wir wiederholten unsere Frage erneut, aber Nikolai verstand nichts. Was tun?

Ich hielt den Kopf etwas hoch, machte den Mund auf und tat, als wenn ich eine Flasche schräg in der Luft halten würde. Nikolai nickte erfreut mit dem Kopf: „Da, Da, Da.“ Auch Marcel und Hannes nickten bestätigend mit dem Kopf. Also gingen wir ins Haus und suchten Oma. Sie war aber nicht da – dafür fanden wir Friedel im Kuhstall, welche Natascha half.

„Tante Friedel, bitte hilf uns, Marcel, Nicolaj und Hannes sind fix und fertig. Die sehen feuerrot aus und der Schweiß fließt nur so. Wir müssen unbedingt etwas zu trinken bringen.“

„Nun übertreibt mal nicht so. Schaut euch mal Natascha und mich an – wir sind auch schon ganz malade.“

„Ja, aber die drei dreschen in der Scheune, das ist eine übelst schwere Schinderei.“

„Kommt mal mit, ihr Quälgeister. Hier ist noch die Kanne mit Malzkaffee, hier haben wir einen Topf mit Milch, da sind drei Tassen und nun ab mit euch. Ihr habt jetzt genug gestört.“

Lothar trug die Kanne Kaffee, ich den Topf, am kleinen Finger baumelten die leeren Tassen. Wir rückten stolz mit unserer Ware an, erschraken aber zutiefst, als wir dort angekommen waren. Was war denn hier los? Marcel lag mitten im Getreide auf dem Fußboden. Nikolai kniete neben ihm und hielt seinen Kopf mit beiden Händen. Auf der Stirn war eine Verletzung zu sehen – Blut rann von der Stirn nach unten. Auweia, Lothar und ich waren vollkommen entgeistert. Hannes schaute noch bedepperter als sonst drein. Wir stellten Kanne und Topf hin und wollten zu trinken geben. Hannes schenkte sich Kaffee ein und trank, aber Nikolai sagte, als er sah, was wir mitgebracht hatten: „Njet,ja chotschu pitch wodu.“

Keiner wusste, was er meinte. Da meldete sich der verletzte Marcel: „Wasser, Wasser.“ Wir flitzten aufgeregt zurück in die Küche. Oma war inzwischen wieder da. Wir erzählten, was sich da in der Scheune abgespielt hatte. „Ich schicke euch sofort die Friedel mit, Kinder, das ist ja eine schlimme Sache.“

Friedel hielt eine Karaffe unter den Wasserhahn, dann marschierten wir drei im Eilschritt los. „Ei Gott“, entwischte es Friedel, als sie Marcel blutend auf der Erde sah. „Nikolai, erzähle! Was war denn hier los?“ Nicolai hob nur entnervt die Hände und schaute sie unglücklich an. „Ach ja, du armer Kerl kannst ja kein Deutsch.“

Plötzlich fing Hannes an zu erzählen: „Lothar und Klaus wollten etwas zu trinken holen. Das war für die beiden gleich Anlass, eine Pause einzulegen. Wir müssen aber mit Hochdruck arbeiten, damit die Hälfte des Getreides heute noch fertig gedroschen wird. Also nahm ich Marcel den Dreschflegel weg, holte aus und da er hinter mir stand, traf ich ihn am Kopf. Es tut mir leid, dass mir das passiert ist.“

„Hannes, du Döskopf, das hat noch ein Nachspiel. Immer machst du solchen Quatsch und es entsteht Schaden. Marcel, kannst du aufstehen?“ Als er fragend und gequält aufsah, wiederholte Friedel: „Aufstehen, hoch, geht das?“ Dazu zeigte sie noch mit beiden Händen von unten nach oben, als sie das Wort hoch aussprach, damit er es verstehen konnte. Kurz und knapp antwortete Marcel: „Oui.“

„Nicolaj und Hannes, ihr führt Marcel, jeder auf einer Seite und stützt ihn, in das Wohnhaus. Wir müssen die Wunde desinfizieren und verbinden.“ Marcel stand vorsichtig, mit Unterstützung von Nicolaj, auf – dabei stöhnte er. „Ist dir schwindlig?“, fragte Friedel, „ich meine, dreht es dir, Marcel?“ Dabei machte sie mit der rechten Hand eine drehende Bewegung.

Marcel begriff: „Non, Non.“

„Gott sei Dank.“ Marcel war sehr schlank und hatte eine stattliche Größe. Seine blonden Haare waren durch den Unfall zerzaust und seine stahlblauen Augen schauten ernst und traurig in die Welt. Oma und Opa erwarteten schon unsere Prozession. „Opa war schon bei unseren Nachbarn und zwar bei Peunerts. Tochter Erika, die als Krankenschwester in Freiberg arbeitet, kommt gleich.“ Fünf Minuten später kam Erika, schaute sich alles gründlich an, desinfizierte, legte Zellstoff auf und dann erhielt Marcel einen ziemlich großen Verband um den Kopf. Dann bekam er noch einen Tee und wurde in sein Bett geschickt. Nicolaj und Friedel begleiteten den Verletzten.

Opa wartete ungeduldig, bis das Ende der medizinischen Behandlung erfolgt war und nahm sich nun, in großer Erregung und Empörung (man sah es deutlich an seinem vor Wut verzerrtem Gesicht) den Schinderhannes vor. „Hannes, du bist ein Tollpatsch und machst so viel falsch, so viel Scheiße. Wenn das so weitergeht, werfe ich dich raus. Was mich am meisten aufregt ist, dass du immer der Größte, Stärkste, Schnellste und der Fleißigste sein willst, dazu noch einen großen Mund hast und anderen ständig übers Maul fährst!“ Während Opa sprach, war er aufgeregt hin- und hergelaufen und hatte mit seiner Fleischermeister-Donnerstimme dermaßen geschrien, dass meine Mama, die gerade ins Haus trat, aufgeregt und ängstlich guckte: „Opa, bitte, nicht schon wieder, sei still!“

Irgendwie beruhigte sich das Ganze doch einigermaßen. Auf alle Fälle war die Großspurigkeit, zumindest in diesem Moment, von Hannes abgefallen – er wirkte sehr niedergeschlagen.

Nun wollten Lothar und ich natürlich unbedingt zu Johann schauen. Wir wussten, dass er pflügte und zwar hinten auf dem großen Grundstück am Wald vor der Leipziger Straße. Also liefen wir zwei hin und schwatzten natürlich dabei und schwatzten und schwatzten – am meisten redeten wir über unser geplantes Ziegengespann. Vor allem Lothar drängte darauf, dass wir endlich eine Fuhre mit der Ziege machen. Ständig lag er mir in den Ohren: „Klaus, ich mach das nicht mehr lange mit. Wir reden schon so lange davon, dass wir mit der Ziege einmal mit unserem Handwagen fahren wollen – nie wird etwas daraus. Du bist schuld daran, weil du keine rechte Lust hast.“

Wir wussten aber nicht genau, wie wir die Ziegen am Handwagen befestigen sollten. Lothar hatte den Vorschlag, dass wir es mit einem Strick versuchen sollten und ich hatte dazu meine Bedenken, da ich daran dachte, wie die Pferde, mit dem Geschirr versehen, die Wagen zogen. Also stritten wir, diskutierten wie wild, doch ohne Ergebnis. Lothar war vor Eifer ganz rot im Gesicht.

Da sahen wir von Ferne schon das Gespann von Johann. Wir schrien und riefen laut mit unseren hohen Fistelstimmen: „Johann – wir kommen.“ Dieser hörte uns nicht, da er schon wieder, wir hatten es schon von Ferne gesehen, Probleme mit unserem Ochsen hatte. Dieser blieb einfach stur stehen und zickte, mit sich und der Welt offensichtlich unzufrieden. Johann tat sein Möglichstes – er sprach mit ruhiger Stimme auf den Ochsen ein und schwang die Peitsche vor seinen Augen und knallte neben seinem dicken Hintern. Er praktizierte das Ganze viel verständnisvoller als Hannes, der mit einem riesengroßen Knüppel auf unsere Kuh Elsa eingedroschen hatte.

Begeistert rufend rannten wir zu Johann. Ich schlang beide Arme um seine Hüfte, auch Lothar schaute begeistert in sein Gesicht. „Bonjour, Guten Tag, Kinder.“

„Wie geht es denn mit dem Pflügen?“

„Ochse will nicht, faul, ich muss geben Futter, Wasser.“

„Sollen wir es für dich holen, Johann?“

„Oui.“

„Johann, wir holen für dich Heu und Wasser.“

„Non, in Stall ist Kübel, Möhren und Wasser.“

„Ja, das tun wir für dich“, schrien wir begeistert.

„Non, vor mir – vor Tier.“

Nun hatten wir zwei eine Aufgabe. Wir stolperten vor Eifer über das Feld. Wir liefen im Eiltempo und als ich vorschlug zu rennen, antwortete Lothar sofort, nicht mit einer Diskussion, sondern mit einer praktischen Tat. Er flitzte nämlich plötzlich davon, ich kam kaum hinterher. Nach vielleicht fünfzig Metern hatten wir unsere Körner bereits verschossen und gingen in den gemütlichen Trab über. Dabei keuchten wir noch immer wegen der ungewohnten Hundert-Meter-Sprinterei. Durch den Hausflur stürmten wir in die Küche, es war aber niemand da. Also – nebenan in den Kuhstall. Tatsächlich, hier stand ein Holzbottich mit Henkel, indem verschiedenes Gemüse lag – Möhren, Sellerie, grüner Salat, Kohlrabi und anderes mehr. Begeistert quietschten wir: „Lothar, das meinte der Johann.“

„Klaus, hier sind die Möhren.“

Wir versuchten, ihn gemeinsam anzuheben. Mit äußerster Anstrengung konnten wir den Kübel geradeso hochheben. „Lothar, wir müssen den Handwagen nehmen. Der Kübel ist ja wie am Boden festgewachsen, viel zu schwer.“

Wir holten den Handwagen aus der Scheune und fuhren damit gleich vom Hof durch das Kuhstalltor hinein. Da wir den Kübel höchstens dreißig Zentimeter hoch brachten, machten wir die hintere Querstrebe des Wagens auf einer Seite los und konnten sie damit zur Seite drehen. Nun war der Kübel dran – es war eine große Schinderei, aber wir schafften es, dass er nun endlich auf dem Wagen stand. Wir drehten die hintere Querstrebe wieder zurück und befestigten sie an dem rechten Holm des Wagens. Nun schoben wir den Handwagen rückwärts aus dem Kuhstall. Das war schon verdammt schwer, da hier unregelmäßige Natursteinplatten verlegt waren. Es war ein holpriges Fahren, aber nun waren wir auf dem Hof und konnten den Wagen um 180° drehen. Jeder erfasste einen Griff der Deichsel und wir zogen den Wagen über den Hof. Auch das war ziemlich anstrengend, da dieser mit grobem Pflaster versehen war, teilweise fest gestampfte Erde – es war mühselig. Wir berieten: „Wie sollen wir denn den Weg hoch zum Feld und dann auf dem Weg die vielleicht Tausend Meter bis hin zu Johann schaffen?“

„Lothar, ich hab’s. Wir müssen Paul, die weiße Edelziege, einspannen.“

„Du hast Recht – guter Gedanke. Das rettet uns.“

Verwundert schaute uns die Ziege an, als wir in ihren Stall kamen: „Määhhh, Määhhh.“ Aber wie befestigen wir nun den Paul? „Sieh doch mal hier, hier hängt doch das, ich weiß nicht, wie es heißt, was den Tieren um den Hals gehängt wird.“

„Ja, richtig und siehst du da – dort sind Riemen. Die müssen wir rechts und links am Handwagen befestigen und dann müssen die Paul um den Hals gehängt werden, damit dieser ziehen kann.“ Wir fanden einen Ring aus Leder, an dem wir die Riemen befestigten konnten. Der Ring wurde Paul um den Hals gehängt. Auf alle Fälle schafften wir es, dass die Ziege am Wagen befestigt war und zwar links von der Deichsel. „Lothar, die haben doch immer noch, ja, jetzt weiß ich es – einen Zügel, der vorne bis zum Kopf des Pferdes geht, na, hier neben der Ziege. Diesen nimmt der Fahrer in die Hand und führt damit das Pferd. Am vorderen Teil ist so ein Stahlteil, welches in das Maul kommt.“

„Klaus, das Ding, also den Zügel, brauchen wir nicht. Ich lege vorn meine Hand auf das Genick beziehungsweise den Hals von Paul und schiebe ihn, das wird schon gehen.“

„Naja, mag ja so gehen, Lothar, wir müssen aber Paul noch an der Deichsel befestigen.“ Wir fanden zwei lange Riemen, welche wir um Paul und um die Deichsel wanden und dann an den Schnallen befestigten. Alles war jetzt festgezurrt. Wir fuhren los – die ganze Chose ging mehr schlecht als recht.

„Klaus, wir haben doch das Wasser vergessen.“

„Verdammt, das ist vielleicht belastend.“

Wir holten aus dem Kuhstall einen vollen Eimer mit Wasser, den wir wieder gemeinsam tragen mussten. Auch dieser war wieder sehr schwer – wir keuchten. Das Ganze war schon eine ziemliche Plackerei, die wir uns nicht so vorgestellt hatten. Aber was soll’s. „Paul, zieh.“ Wir gaben Paul einen Klaps auf sein linkes Hinterteil und tatsächlich, Paul zog den Wagen. Lothar war vorne bei Paul und ich schob an dem hinteren Querholm. So kamen wir mühselig vom Hof auf den ziemlich steilen Anstieg, welcher vom Hof bis auf den oberen Weg führte. Aber, was war denn das? Paul wollte nicht mehr. Er blieb einfach stehen. Wir redeten auf ihn ein, gaben ihm mehrere Klapse auf sein Hinterviertel, drückten am Hals, gaben ihm eine Möhre – nichts, er bewegte sich nicht mehr. Paul zickte.

Erschöpft setzten wir uns auf einen Stapel Rundholz, welcher sich gleich neben dem Misthaufen befand. Beide hatten wir den Kopf in die Hände gestützt, die Ellbogen ruhten auf den Knien. Wir waren verzweifelt. „Vielleicht sollten wir ihm Wasser geben“, schlug Lothar vor. Gesagt, getan. Wir holten einen Becher und hielten ihn Paul vor das Maul. Erstaunt sahen wir, dass er trank. Wir freuten uns, gaben ihm die Möhren von vorhin noch einmal und siehe da – er fraß sie auf. „Los, Klaus, jetzt geht’s weiter.“ Tatsächlich lief Paul, zwar langsam, aber er lief wieder weiter. Wir wurden übermütig, bestürmten die Ziege mit lauten Rufen, noch schneller zu laufen, jubelten, gaben Klapse auf den Po und zerrten an Paul herum. Wir wollten, dass er Galopp läuft. Tatsächlich wurde er auch schneller. Wir schafften den Anstieg und wollten auf den Weg einschwenken. Wie solche Wege halt so sind – rechts und links tiefe Fahrspuren, in der Mitte eine meist sehr hohe Grasnarbe und neben dem Weg ebenfalls hohe Aufwerfungen. Wir versuchten, auf diesen Weg einzuschwenken und brüllten, wie vorhin beschrieben, auf Paul ein.

Plötzlich drehte sich das linke Vorderrad von der Grasnarbe auf die Fahrspur stark nach rechts – die Ziege zog ebenfalls in diese Richtung und unser Gefährt kippte nach links um. Das Schlimmste war, dass Paul von dem Wagen und der Deichsel nach unten gerissen wurde und mit seinem Körper auf die Deichsel krachte, welche zerbrach. Mit einem Wort: Die Ziege, welche an der Deichsel festgebunden war, wurde zu Boden gerissen und lag strampelnd und meckernd im Dreck. Ihre Augen waren vor Schreck geweidet – sicherlich hatte sie Todesangst. Ihr Spitzbart am Kinn zitterte beträchtlich und das Meckern nahm unheimlich zu. Wir gerieten in panische Angst und knübberten aufgeregt an den zwei Riemen, mit denen Paul an der Deichsel befestigt war. Uns zitterten die Hände vor Aufregung, es gelang uns aber, die Riemen zu lösen. Paul hatte von der Deichsel einen Schlag abbekommen, meckerte aufgeregt und rannte wie wild los. Dabei stolperte er über die Deichsel und stürzte erneut hin, sodass beide Vorderbeine zusammensackten. Wir konnten ihn gerade noch gemeinsam am Hals zurückhalten wegzurennen und richteten das aufgeregte Tier auf.

„Um Himmels willen – kannst du dir vorstellen, Lothar, wenn Paul ein Bein gebrochen hätte. Da hätte Opa die arme Ziegel tot gemacht, so machen die das doch immer, wenn ein Tier verletzt ist.“

Den Wagen wieder aufzurichten, war uns unmöglich. Der Kübel, das Gemüse und der Wassereimer fielen herunter. Da Lothar links vom Wagen lief, ergoss sich das gesamte Wasser auf seine Beine. Es war ein Desaster. Wir waren beide sehr durcheinander und trauten uns nicht zu, die Fahrt fortzusetzen. „Lothar, du musst nach Hause gehen und Hilfe holen.“

„Und wieso ich, schau mal auf meine Beine und Schuhe – alles nass. Jetzt habe ich endgültig die Schnauze voll – so eine Scheiße“, schimpfte er. Ich versuchte, Lothar ein wenig zu beruhigen und ging nun natürlich selbst los, um Hilfe zu holen. Zurück kam ich mit Hannes, der wieder einmal (eigentlich wie immer) schlechte Laune hatte: „Herrjeminee, was macht ihr denn wieder für einen Rotz? Die Ziege einzuspannen – seid ihr denn verrückt? Dazu muss man Ahnung haben und die nötige Ausrüstung. Ihr wisst wohl gar nicht, dass man dazu ein Komet, einen Ortgang und ordentliches Zaumzeug mit Zügeln benötigt?“

Hannes richtete unseren Handwagen auf und lud alles wieder auf – den Kübel mit Gemüse und den leeren Wassereimer. Dann nahm er die Deichsel in die Hand und zog los mit der Bemerkung: „Um den Paul müsst ihr euch selbst kümmern. Passt ja auf, dass er nicht ausreißt. Wenigstens einen Strick um den Hals hättet ihr der Ziege legen können, ihr habt richtiggehend keine Ahnung. Ich werde alles der Frau Straßburger, Herrn Straßburger und euren Müttern sagen. So geht das nicht, ich mach das einfach nicht mehr mit. Was ihr euch einbildet – am liebsten würde ich euch mal richtig verprügeln.“

Tatsächlich hob Hannes die Hand und wollte uns eine knallen. Da Lothar ihm am nächsten stand, hätte es ihn erwischt. Er war aber sehr schnell und drehte sich rasch um und war weg. Obwohl ich ziemliche Angst vor Hannes hatte, maulte ich: „Hannes, wenn du uns etwas tust, dann fliegst du endgültig raus. Das hat der Opa bereits gesagt. Ich sage meiner Mutter, der Oma und dem Opa Bescheid. Du wirst schon sehen – warte nur ab!“

Nun bekam Hannes auf einmal Angst und redete auf mich ein: „So schlimm war das nun auch wieder nicht gemeint. Ihr müsst aber in Zukunft mehr fragen und nicht einfach irgendwas machen, wovon ihr keine Ahnung habt. Am besten, wir sagen ganz einfach, dass es nicht ganz geklappt hat mit der Ziege und beschuldigen uns nicht gegenseitig. So kann euch nichts passieren und mir auch nicht. Einverstanden?“ Aha, dachte ich, da hat er jetzt doch Angst bekommen vor Opa. Gut, dass ich so energisch rangegangen bin. Das muss ich mir für die Zukunft merken.

Also marschierten wir gemeinsam, Lothar war inzwischen wieder zurückgekommen, zu unserem Dreiseitenhof. Die Ziege wurde wieder im Stall angebunden und wir räumten den Leiterwagen weg. Hannes schaffte den Gemüsekübel in den Kuhstall und Lothar schleppte den leeren Wassereimer wieder an seine Ursprungsstelle. Wir waren wieder zu Hause.

Wir merkten schon, als wir auf den Hof einrückten, dass irgendetwas anders als sonst war. Aus dem Haus und vor allen Dingen aus dem Kuhstall drangen laute, aufgeregte und heftige Stimmen. Wir gingen näher heran und sahen, dass Tante Friedel und Tante Erika heftig in Fehde lagen. Sie waren beide sehr aufgeregt und brüllten sich ohne Rücksicht an. Friedel stand, gemeinsam mit Tascha, oben auf dem Heuwagen, welcher halb außerhalb des Tores und halb im Kuhstall stand. Sie hatte eine Mistgabel in der Hand und war glühend rot im Gesicht. Ihr Kopftuch, welches sie trug, war verrutscht und ihre struppigen Haare hingen wirr hervor. Wir hörten nur: „Alles muss ich hier allein machen, Heu aufladen, Heu abladen, Tiere füttern, ausmisten, melken und so weiter und so fort – das ist eine unheimliche Schinderei. Und was tust du? Du hängst ständig in deinem Zimmer rum und kümmerst dich um deine Tochter Elisabeth. Das ist alles. Wir haben hier aber ein Bauerngut und müssen uns alle davon ernähren.“

Erika konterte: „Die Gretel arbeitet aber auch nicht mit auf dem Feld oder im Stall.“

„Die Gretel arbeitet in der Gemeinde, gibt davon Geld an uns alle ab und außerdem haben wir große Vorteile, dass sie in der Gemeinde ist, da wir so über alles Bescheid wissen. Ich meine damit, dass sie uns Wissen vermittelt, was günstig anzubauen ist, wie die Preise für Hähnchen, Eier und so weiter sind – all das ist von Vorteil für uns. Außerdem kümmert sie sich um unsere Kinder. Sie würde das auch für die Elisabeth tun.“ Der Streit ging immer weiter so in diese Richtung, er wurde sogar noch heftiger. Wir gingen zu Oma hinein, die das schon mitbekommen hatte und gerade zu den Streitenden gehen wollte.

„Erika, Friedel – hört sofort mit dem Gebrüll auf. Im Übrigen, du kennst meine Meinung, Erika, du solltest ganz einfach einmal mitarbeiten, so wie es alle tun und wirst sehen, dass es eine ziemlich harte Arbeit ist, es muss aber sein.“

Erika zitterte am ganzen Leibe und schrie zurück: „Ich hab genug mit meiner Familie zu tun. Ich weiß überhaupt nicht, was ihr wollt. Hoffentlich kommt der Heinel bald nach Hause, ich werde mich bei ihm über euch beschweren. Ihr benehmt euch unmöglich zu mir und meinem Kind.“ Sie war über alle Maßen beleidigt und rannte mehr, als das sie ging, davon – in den ersten Stock zu ihrem Zimmer.

Oma ging zu meiner Tante, um sie zu beruhigen: „Friedchen, rege dich nicht so auf, wir wissen doch alle, dass du enorm viel für das Gut tust. Die Erika ist nun mal so. Sie hat zu uns kaum Kontakt, sie ist überhaupt kein Kollektivmensch und macht ihr Ding so für sich allein, etwas verknöchert, immer schnell beleidigt und immer etwas einsam. Die werden wir nicht mehr ändern – ich möchte mal wissen, wie der Heinrich zu ihr gekommen ist. Wahrscheinlich ist es doch so, dass er sie nur geheiratet hat, weil sie schwanger war. So etwas Ähnliches hat ihre Mutter, die Marie, schon angedeutet. Die Marie lässt sich ja auch kaum noch sehen, gestern Abend war sie wieder nicht beim Abendbrot. Wahrscheinlich machen sie sich oben in ihrem Zimmerchen etwas zurecht – sonderbares Benehmen. Man kann sich da nur wundern.“

Tascha schaute mit schreckgeweiteten Augen auf das Krakeele und hatte offensichtlich große Angst. „Ach, kleine Natascha, schau nur nicht so traurig. Wir sind doch alle nett zu dir, bald gibt es Abendbrot, da sehen wir uns wieder in der Stube.“ Sie ging zu Natascha hin, die mit der Gabel in der Hand immer noch auf dem Heuwagen stand und flüsterte freundlich zu ihr: „Komm her, du kleines Mädchen, beuge dich mal herunter zu mir.“

Natascha hatte unter Garantie null verstanden, aber erstaunlicherweise beugte sie sich zu Oma runter, die sie an der Hand tätschelte und die Wange streichelte: „Hab nur keine Angst, Kleine, es ist doch alles gut. Wir haben dich doch auch lieb.“

Ich fand den immer wieder aufkommenden Streit mit Tante Erika nervend und aufregend – er vergiftete unser nettes Miteinander. Innerlich war ich ganz stark auf Friedels und Omas Seite, denn zur Tante Erika hatte ich keinen Kontakt und sie schien darauf auch keinen Wert zu legen. Ich wusste, dass Lothar die gleiche Meinung hatte: „Klaus, die Erika kann mir gestohlen bleiben, die ist einfach gegen mich, zieht immer ein langgezogenes Miesepeter-Gesicht. Da bekommt man richtig Schiss vor ihrer schlechten Laune.“

Nach dem Abendessen sagte Mutti zu Oma: „Du, Mutti, ich habe etwas mit dir zu besprechen. Können wir das gleich hier in der Stube tun? Mir wäre lieb, wenn der Klaus gleich dabei sein könnte, da ich ihm, im Anschluss, noch etwas zu sagen habe.“

Als ich das hörte, war mir sofort klar, dass ich wieder eine Reformande verpasst bekomme. „Mutti, können wir das nicht morgen erledigen?“

„Nein, gleich im Anschluss!“

Unsere Stube bestand aus zwei sehr großen Räumen. In dem einen aßen wir und der andere war mehr als gemütliche Wohnstube mit weichen Lehnsesseln, weichem Sofa und niedrigem Tisch eingerichtet. Von der Essstube ging man durch einen breiten Durchgang in eben diesen Teil. Hier fand die Geheimberatung statt. Ich kannte das schon, weil Mama, wenn sie mal ein ernstes Problem mit mir hatte, und das war relativ häufig, mich immer in die gleiche Ecke mitschleppte, um mit mir zu reden und zwar so, dass es niemand mitbekam.

Nachdem das Abendbrot vorbei und alle hinausgegangen waren, fragte sie: „Denkst du, dass wir es verantworten können, dass der Johann mit dem Wittasch, Erhart in unsere zerbombte Wohnung in Chemnitz fährt, um dort noch Verwertbares zu holen?“

„Was, meinst du den Wittsch – den Mörder? Das meinst du aber nicht im Ernst? Der hat doch einen so schlechten Ruf im Dorf. Am Ende passiert noch irgendetwas.“

„Aber Oma, der Wittasch ist ein ganz passabler Mensch. Das, was man über ihn spricht, glaube ich einfach nicht. Für mich ist er kein Mörder. Die Verhandlungen waren und er wurde freigesprochen – Punkt um!“

„Muss es denn gerade däääär sein – wer weiß, was die Leute über uns dann reden.“

„Oma – es ist weit und breit der einzige, der ein Auto hat. Er hat doch den ‚F7‘ mit der Holzkarosse. Auf alle Fälle hat der einen großen Laderaum und der Mann ist auch durchaus beweglich und intelligent. Für mich ist das größere Problem, dass der Johann als Kriegsgefangener unser Gut nicht verlassen darf. Du musst dir aber mal überlegen – wir haben fast alles verloren. Nachdem, was ich gesehen habe, ist das Bad vollkommen zerstört, die Schlafstube auch, aber aus Vorsaal, Küche und Stube könnten wir noch etwas holen. Der Herbert und ich – wir haben ja fast gar nichts mehr, außer dem, was wir auf dem Leibe tragen. Ich bin einfach der Meinung, wir müssen es riskieren.“

„Meine liebe gute Gretel“, Oma hatte Tränen in den Augen und drückte ihre Große liebevoll, „ich stimme ja zu, auch wenn das Risiko hoch ist und es schwerfällt, zuzustimmen. Auf alle Fälle musst du dem Wittsch …“

„Sag doch nicht immer Wittsch, Oma – das macht mich noch ganz krank.“

„Auf alle Fälle musst du dem, na du weißt schon, eine Vollmacht mitgeben, dass er berechtigt ist, in der Grenadierstraße 6 in Chemnitz im ersten Stock nach verwertbaren Dingen zu suchen und deine eidesstattliche Erklärung, dass du der Wohnungsmieter bist und zur Sicherheit noch, dass du im Gemeindeamt Kleinwaltersdorf arbeitest. Das gibt dem Ganzen noch einen amtlichen Anstrich. Ach – noch etwas fällt mir ein. Du musst dem Wittsch …“

„Oma!“

„… sagen, und dem Johann übrigens auch, dass der Johann nicht reden sondern nur etwas zeigen, darf. Sonst merken die, dass er ein Ausländer und etwas faul ist.“

„Ja, Mutti, so machen wir das. Es ist alles schon sehr kompliziert und schwer – hoffentlich kommt mein Herbertl bald von der Front zurück oder der elendige Krieg ist bald vorbei.“

„Bravo, meine Große, so habe ich dich doch noch nie reden gehört, der Krieg ist eine Schande für unser gesamtes Land.“

„Pst, lass das nur nicht unsere Volksgenossen hören. Ich habe da manchmal richtig Angst bei dir, Oma.“

„Na ja, Gretel, ich bin ja auch nicht im Bund deutscher Mädchen gewesen, wie du. Ich kann ja mal meine Meinung frei und offen sagen.“

„Oma, du wirst dich nie ändern.“

Nachdem dies nun abgearbeitet war, kam ich an die Reihe. Mir war schon ganz schön mulmig zu Mute. Zunächst einmal kam der Vorfall mit der am Leiterwagen eingespannten Ziege und dem kleinen Unfall an die Reihe: „Lothar und du, ihr habt überhaupt kein Recht, eigenmächtig so etwas zu tun. Ihr könnt nicht einfach die Ziege einspannen und damit losgehen. Da braucht es etwas Erfahrung und das richtige Geschirr – das wird euch der Johann schon noch zeigen. Außerdem dürft ihr nicht einfach mit dem Handwagen ins Dorf fahren. Das ist viel zu gefährlich. Also nochmals Klaus, wenn ihr das Gut verlassen wollt, müsst ihr mich oder Oma oder Friedel fragen. Anders geht das ganz einfach nicht. Hast du das nun endlich verstanden und wirst du dich danach richten?“

„Ja, Mama, das werde ich.“ Es war überstanden. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn ich immer gegenhielt, superzornig wurde und ich nur das Gegenteil erreichte.

Am nächsten Tag kam der Wittsch mit seinem F7 in den Hof gerollt. Am Abend zuvor hatte Mutti, nach der Reformande an mich, zusammen mit Oma, ein Sechsaugengespräch mit Johann geführt und dieser hatte zugestimmt, zusammen mit dem „Mörder“ nach Chemnitz zu fahren.

Der Herr Wittasch stieg aus dem Auto aus – er war relativ klein, stark übergewichtig mit ziemlich dickem Bauch, welcher durch ein Sakko eingehüllt wurde. Neugierig schaute ich hin und überlegte mir: „Das Sakko ließe sich niemals über diesem dicken Bauch schließen, der Knopf hätte keine Chance in das Knopfloch zu gelangen.“ Auf seinem fast kahlen Schädel war nur ein Haarkranz sichtbar, seine Schiebermütze war verrutscht und saß auf Pfiff auf einer Seite. Mutti war sofort da und rief: „Sagt bitte sofort dem Johann Bescheid – das Auto ist da.“ Nach kurzer Zeit kam auch Johann und wurde dem Autofahrer vorgestellt. Als Johann die etwas verschobene Figur des Herrn Wittasch mit Gehstock sah, schien es mir, als wenn er schmunzeln würde, sein schwarzes Menjoubärtchen zuckte belustigt. Danach wurden ein großer, offener Pappkarton und drei Holzkisten (die schönen Plastikkästen von heute gab es ja damals noch nicht) in den hinteren Teil des Autos hineingelegt. Mutti übergab Herrn Wittasch noch einen Umschlag mit Schreiben – Johann holte sich schnell noch eine Jacke und ab ging die Post durch unser großes Tor. Wir alle winkten freundlich hinterher, vor allem Tante Friedel gestikulierte sehr begeistert. Mehrfach hatte sie schon zu ihrer Schwester Gretel gesagt: „Ach, weißt du, der Johann ist ein richtig hübscher Mann, der könnte mir sehr gefallen. Ich mag solche dunklen Typen mit schwarzen Haaren, er ist einfach ein schöner Mann.“

„Sicher hast du Recht, Friedchen, ich sehe es genauso – du solltest aber zurückhaltend sein. Dein Herbert wird schon bald wieder hier sein. Nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst. Schließlich ist der Johann uns hier als Gefangener zugeteilt.“

„Aber Gretel, du machst mir richtig Angst, du siehst ganz blass um die Nase aus und außerdem bist du ja so dünn – das ist mir bisher nie aufgefallen.“

„Mach dir keine Sorgen, Friedel, ich bin nur etwas unruhig, weil der Johann mit nach Chemnitz gefahren ist und doch eigentlich unser Gut nicht verlassen darf. Außerdem ist der Wittasch wirklich ein komischer Kerl, hoffentlich passiert da nichts.“

„Komm Gretel, wir gehen ins Haus, setzen uns an den Kamin und schwatzen ein wenig – das ist doch immer gemütlich.“

Am späten Abend kam das Auto von Chemnitz zurück. Johann stieg als Erster aus – wirkte ruhig wie immer, aber Mutti, die schon lange auf dem Hof wartete, spürte irgendetwas. „Johann, schön, dass ihr gesund wieder angekommen seid. War alles in Ordnung? Habt ihr in dem Dreck und Durcheinander etwas gefunden und mitgebracht?“

„Oui, ja, ja – ier schauen.“ Johann zeigte auf all die Dinge, die sie mitgebracht hatten: eine Decke (es war ein Federbett), noch eine Decke (es war aber nur ein Kopfkissen), viel Bettwäsche, einen großen Packen gefalteter Hemden und Pullover, Handtücher, Taschentücher, Wischtücher, Kaffeekannen und viele Bilder von Spitzweg. Das wichtigste für meine Mutti war aber das Rosenthaler Porzellan – das Speiseservice mit vielen tiefen und flachen Tellern, Vorlegetellern, Soßiere, Suppenterrine und vor allem das komplette Kaffeeservice mit kleinen und großen Zuckerbehältern, Kuchentellern. Als sie das sah, strahlte sie und nahm eine Tasse. „Ach, Johann schau mal das wunderbare dünne Porzellan“, ging auf Johann zu und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. Dieser war erstaunt, nahm den Kuss aber freudig entgegen, er lächelte. Oma, die dies sah, schmunzelte und sagte zu Mama: „Na Gretel, lass das nur nicht den NSDAP-Ortsvorsteher sehen.“

Aufgeregt quakte ich dazwischen: „Johann, du solltest mir doch meinen braunen Teddybär, den Brummi und die Puppe ‚Freche Liese‘ mitbringen.“ „Klous (so richtig Klaus auszusprechen, gelang ihm selten), haben wir nicht gesucht, non, non, isch meine, nicht funden. Aber hier – sieh – ein Auto und Kugeln.“ Er übergab mir meinen Holzlaster und ein paar Murmeln. Das war natürlich nicht gerade viel, aber besser als gar nichts. Ich nahm es zufrieden entgegen und drückte Johann dankbar die Hand.

Mama ging zur Haustür und rief hinein: „Oma, bring mal bitte den Nicolaj und den Marcel mit. Die sollen mal alles ins Haus hineintragen.“

Während all dieser Gespräche hatte sich nun natürlich auch Herr Wittasch aus dem Auto geschält. Er sah etwas mitgenommen und äußerst unzufrieden aus. Das traf übrigens auch auf Johann zu, welcher erschöpft und abgespannt wirkte. Wittasch ging sofort auf Mutti zu und speckerte äußerst unzufrieden los: „Frau Eulenberger, da lief wieder mal einiges schief. Als wir ankamen, haben wir uns sofort bei der Familie Goldmann gemeldet, welche ins Nachbarhaus zu Bekannten gezogen ist. Sie wussten auch Bescheid und haben sich sehr interessiert, wie es Ihnen geht. Dann haben wir begonnen zu suchen. Es war aber äußerst risikovoll, weil wir immer dachten, dass noch ein Teil der Decke einstürzt. Plötzlich rief ein alter Mann von unten mit Donnerstimme: ‚Was tun Sie denn hier? Das ist verboten. Kommen Sie sofort herunter – auf der Stelle!‘

Der Mann stellte sich als Herr Lehmann vor und war für diesen Distrikt der Luftschutzobmann und verantwortlich für zivile Verteidigung, wie er uns sagte. Zudem sagte er uns noch, dass er uns anzeigen müsste, da wir eine illegale Räumung durchführen würden. Dazu bräuchte es eine Genehmigung vom Zivilschutz. Bei diesem hätten wir die Entsorgung von persönlichen Dingen beantragen müssen. Mit ernsten Worten sagte er, es gehe um Deutschland und da müsse sich jeder ganz diszipliniert verhalten – sein NSDAP-Abzeichen auf dem Revers blitzte in der Sonne. Ich bekam richtig Angst, dass er uns anzeigt und redete mit Engelszungen, dass wir das alles einsehen würden und in Zukunft passiert das nie wieder. Er ließ sich kaum erweichen und wir bekamen richtiggehende Furcht. Ich schaute zu Johann – der schaute recht bedrückt und schüttelte den Kopf. Plötzlich sagte er: ‚Bitte, Verständnis – Familie kein Haus mehr.‘ Na, da war vielleicht etwas los. Der Alte kreischte: ‚Ist hier etwa ein Ausländer dabei, vielleicht noch ein Feind Deutschlands? Das muss ich jetzt auf der Stelle anzeigen.‘ Unsere Sorgen stiegen ins Unermessliche, Johann begriff, dass er für diese negative Entwicklung verantwortlich war und wurde immer blasser. Plötzlich sagte er: ‚Kein Ausländer, isch will nur elfen.‘ Mir war wie Hefe in der Magengegend – ich öffnete mein Portmonee, holte fünf Reichsmark heraus, gab sie dem Luftschutzobmann in die Hand mit der Bemerkung: ‚Mein Kollege hilft mir hier nur. Wir sollten jetzt aber weiterarbeiten, Herr Lehmann. Haben Sie doch Verständnis für uns – alles Gute für Sie und wollen wir hoffen, dass nie wieder eine Bombe auf unser schönes Deutschland fällt.‘“

Mutti hatte aufgeregt mit gefalteten Händen dem ellenlangen Vortrag des „Mörders“ zugehört. Immer dann, wenn ich eine Frage zwischendrin loswerden wollte, zischte sie mich an: „Ruhe, Klaus, jetzt nicht!“ Ich traute mich gar nicht mehr zu atmen, ging zu Johann und hielt seine Hand.

„Herr Wittasch, das haben sie wunderbar gemacht. Ich bin ihnen ja so dankbar und muss sie für diese tolle Leistung einmal drücken“, was sie auch wirklich tat. Der „Mörder“ strahlte vor Freude, riss seine Schiebermütze von seinem Schädel und sagte strahlend: „Man tut halt, was man kann, gel Johann?“ Mutti fiel jetzt auf, dass sie Johann überhaupt nicht in ihre Dankesrede eingeschlossen hatte, also ging sie zu ihm hin, drückte ihn ebenfalls (einen Schmatz hatte sie ihm ja schon gegeben) und sagte mit ziemlich zittriger Stimme: „Johann, vielen, vielen Dank. Du bist ein ganz Lieber.“

Nun griff sie in ihre Geldbörse und suchte lange darin. Mir war klar, dass sie nicht mit den fünf Reichsmark an den Luftschutzmenschen gerechnet hatte und demzufolge überlegte. Dann gab sie sich plötzlich einen Ruck, griff hinein und gab dem „Mörder“ fünfzehn Reichsmark, die dieser dankend entgegennahm. Parallel zu diesem gesamten Geschehen, hatten Marcel und Nikolai alles ins Haus geschafft und Oma rief: „Gretel, ich hab alles in die Stube legen lassen, du kannst dann selbst aufräumen.“

Rotz am Backen, Scheiß am Been - ach wie ist das Läähm scheen

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