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Romantische Phantasie

Die magische Laterne

In dem Briefroman „William Lovell“ von Tieck verzweifelt der romantische Held an seinen Gefühlen. Die Gefühle, denen er bisher in seinem Leben gefolgt ist, liegen nun tot und geschlachtet um ihn herum. Die „magische Laterne“, die ihm zur Orientierung diente, ist zerschlagen.46 Die Gefühle, auf die er sich bisher verlassen konnte, kann er nun nicht mehr vertrauen. Sie können ihm nicht mehr zur Orientierung dienen, sondern sie führen in die Irre. Es ist eine Enttäuschung mit Folgen. Mit einem Male kann er seinem Edelsinn nicht mehr glauben, seinem Herzen nicht mehr vertrauen.47

Der Kompass der Phantasie, dem er gefolgt ist, er ist nunmehr verschwunden.48

Die Suche nach der „reinen Liebe“ scheint wie vergessen; jetzt kommt es für ihn nur noch darauf an, auf gute Art den Verliebten spielen zu können.49

Von nun an wird in dem Roman von Tieck das Tor zur Manipulation des Anderen weit aufgestossen. Aus der Geschichte eines „Schwärmers“ wird ein Trauerspiel; aus der als erhabenen empfundenen Periode seines Lebens folgt der steile Abstieg in die Empfindungslosigkeit.

Tiecks Briefroman „William Lovell“ beschreibt auf seine Weise „Lehrjahre des Gefühls“, die Erkenntnis, das nicht nur Ikarus auf seinen Flügel sich von der Erde entfernen kann, sondern dass das auch möglich ist, mit den Flügeln der Phantasie.

Wie ist dieses Scheitern der Phantasie zu verstehen?

Ist es nicht erstaunlich, dass in einem Roman der Romantik von seinem Scheitern der Phantasie erzählt wird, wo doch die ästhetische Lebensform gerade von den Romantikern zum Ideal erklärt wird?

Bekanntlich kann ohne Poesie in der Romantik selbst die Philosophie nicht gedeihen; d.h. das romantische Denken erklärt die Poesie zu einem Organ der Philosophie, was im deutlichen Gegensatz zu einem Denken steht, für das die Philosophie lediglich mit der Lehre von der Vernunft identisch ist.50

In dem Roman von Tieck wird von einem Helden erzählt, der sich auf eine bestimmte Weise mit Hilfe der Phantasie orientiert und schließlich im Laufe der Erfahrung resigniert: Poesie und Kunst sind nun eine verhüllte Wollust.51

Das Scheitern des Helden in dem Text von Tieck weist vermutlich darauf hin, das für das romantische Denken die Phantasie nicht nur eine Grundkraft der Poesie ist, sondern dass sie zugleich auch ein falscher Zauber sein kann.

Eine Frage, die sich daher stellt, ist, was ist aus Sicht des romantischen Denkens der Grund für das mögliche Scheitern eines Lebens ist, das von der Phantasie geleitet wird?

Aber wieso kommt es überhaupt zu dieser besonderen Bedeutung der Phantasie für die Philosophie, bzw. warum wird die ästhetische Lebensform in der Romantik zu einer geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, in einem Zeitalter, das im wesentlichen durch die Aufklärung geprägt war?

Wird diese Bedeutung der Phantasie z.B. - was die Philosophie betrifft - nicht dadurch sichtbarer, wenn man verstehen lernt, welches Problem diese besondere Verbindung von Philosophie und Poesie im Denken lösen sollte, die die romantische Philosophie charakterisiert? Womit noch nicht gesagt ist, dass dieser Versuch des romantischen Denkens auch gelungen ist. Folgt man Schlegel, so sollte das Leben und die Gesellschaft nämlich poetisch gemacht werden; Poesie ist für ihn eine „progressive Universalpoesie“.52 Gemessen an diesem Anspruch, ist wohl nicht nur, wie die Geschichte der technologischen Entwicklung zeigt, eher das Gegenteil in der Gesellschaft Wirklichkeit geworden. Aber der Maßstab für die Kritik des romantisches Denkens misst sich schließlich nicht lediglich an der Erfüllung eines Anspruchs auf eine gesellschaftliche Veränderung, sondern vor allem an seiner Berechtigung.

Beschädigtes Leben

Adorno's moralische Aphorismen tragen den Untertitel: Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Am Anfang dieser Reflexionen, die er wohl als ein Versuch im Rahmen einer Philosophie der subjektiven Erfahrung versteht, stellt er den Satz von Kürnberger: „Das Leben lebt nicht“. Folgt man Adorno, so ist dieser Versuch alles andere als selbstverständlich, denn dass die Lehre vom richtigen Leben einmal seit undenklichen Zeiten ein bedeutender Gegenstand der Philosophie war, das ist nach ihm in Vergessenheit geraten.53

Aber was hat dieser Satz von Kürnberger mit der Philosophie der Romantik zu tun?

Ist nicht die Erfahrung eines beschädigten Lebens schon das Ausgangsproblem zur Zeit der Romantik?

Brechen die sogenannten „Schwärmer“ nicht in die Natur auf, weil sie das Leben als unwirklich erfahren? Sind sie nicht auf der Suche nach einem neuen Gefühl für das Leben? Wenden sie sich nicht von denen ab, die die lebendige Natur verachten, um die „dürre Klippe“ der abstrakten Vernunft zu besteigen, um so dem Himmel näher zu sein?54

Diese Suche stößt allerdings auf wenig Verständnis auf der Seite der vernünftigen etablierten Bürger, wie es in 'William Lovell' heißt; für sie sind die „Schwärmer’“die verlorenen Söhne der Natur, die sich nur selbst peinigen.55

Die Erfahrung eines beschädigten Lebens kann also auch als das Zündkraut der Philosophie der Romantik und nicht nur der Kunst beschrieben werden.

Schlegel nennt seine Philosophie eine Philosophie des Lebens, eine Philosophie, die das, was er als das Streben nach dem „reine Gefühl“ beschreibt, in den Mittelpunkt des Denkens stellt.56 Es ist ein Streben, das er als Antwort des Denkens auf ein unwirkliches, abstraktes Leben, versteht.

Auch Kierkegaard charakterisiert die allgemeine Erfahrung des „beschädigte Lebens“ zur Zeit der Romantik als die Wirklichkeit eines elenden Spießbürgertums.57 Wie er schreibt, waren die Menschen gleichsam zu Stein erstarrt in den endlichen sozialen Verhältnissen: „Man lebte nicht, wie Schwärmer tun, leichtsinnig ohne Achtung für Stunde und Glockenschlag, solche Gottlosigkeit versuchte sich vergeblich einzuschleichen. () Alles geschah auf den Glockenschlag. Man durchschwärmte die Natur am Johannistag, man war zerknirscht am großen Buß- und Bettag, man verliebte sich, wenn man das zwanzigste Jahr erreicht hatte, man ging Schlag zehn Uhr zu Bett“.58

In einer solchen Welt erwacht mit einem Mal nach Kierkegaard wieder das verzauberte Schloss, erwacht die romantische Phantasie: die Bewohner dieser Erde werden wieder wach, „vom Walde kommt ein leichter Hauch, die Vögel singen, die schöne Prinzess lockt wiederum den Freier an () es duften die Auen, Lieder und Gesänge reißen sich los aus dem Schoße der Natur und flattern ringsum“.59

Eine ähnliche Atmosphäre wie in der Beschreibung von Kierkegaard findet sich auch in der romantischen Literatur wieder. Der Romantiker fühlt sich „selig, wenn er sein Auge wieder an der Schönheit der Landschaft weidet“, wie es in „William Lovell“ heißt.60

Die schöne Natur wird zum Idealbild des Lebens in Opposition zur Erfahrung eines beschädigten, unwirklichen Lebens, in dem sich die Menschen wie klappernde Marionetten bewegen, die an Drähten hängen.61

Das romantische Denken sucht die Heilkraft gegen das beschädigte Leben in der unberührten Natur. Man geht von der Voraussetzung aus, dass die Anschauung der schönen Natur das Heilmittel gegen das abstrakte Leben ist. Wie zum Selbstverständnis der Lebensphilosophie wird auch zur Romantik die These gehören, das zum Umgang mit, d.h. der Beherrschung der Natur auch ihre Abtötung gehört. Eine Natur, die rein menschlichen Zwecken unterworfen wird, lebt in diesem Sinne nicht mehr.62

In der Tat gehört zur modernen Naturbeherrschung durch die Naturwissenschaft die Einsicht, dass die Erkenntnis mittels einer reinen Anschauung der Natur ihre Bedeutung verloren hat. Die Naturwissenschaft berechnet die Natur, macht sie verfügbar; für sie ist die Anschauung keine höhere Form der Erkenntnis mehr, wie das noch in der platonischen Tradition des Denkens möglich war.

Im Gegensatz dazu steht das romantische Denken, dass die Form der Anschauung wieder hervorheben möchte. Wenn es darum geht, wie es in einem Text heißt, „die heilige Schrift der schönen Natur“ zu verstehen, so kann dieses Streben für die Romantik nur eine Sache der Anschauung sein und nicht der Berechnung, d.h. die Natur wird ästhetisiert.63

Was als wirkliche Natur in Betracht kommt

Was gilt in der Naturwissenschaft als Wirklichkeit? Anders gefragt, was gilt in ihr als Natur? Steht daneben nicht eine Erfahrung der Natur in der Lebenswelt, die davon zu unterscheiden ist? Husserl hat das behauptet und auf die Unterschiede der Erfahrung der Natur, auf das Spannungsfeld von Lebenswelt und Naturwissenschaft explizit aufmerksam gemacht. Nach Husserl stülpt die Naturwissenschaft der Natur ein passendes Ideenkleid über und erhebt dabei den Anspruch, zu wissen was Natur ist, besser, was als Natur in Betracht kommt.64

Nun ist dieses Spannungsfeld von Wissenschaftswelt und Lebenswelt schon ein Gegenstand des romantischen Denkens. Schon in der Romantik wird das, was Marquard den Abstraktheitsschaden der Naturwissenschaft in Bezug auf die Lebenswelt des Menschen nennt, erfahrbar bzw. so empfunden.65

Das liegt daran, dass die Naturwissenschaft eingrenzt, was als Wirklichkeit, d.h. Natur in Frage kommt. Wirklich ist in diesem Sinne für die Naturwissenschaft nur das, was sich auch kontrollieren lässt, was messbar und z.B. in einem Experiment bestätigt werden kann. Die Natur wird mit den Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften gleichgesetzt, was allerdings so nicht richtig ist, denn auch mein Körper gehört zur Natur, indem ich lebe und der daher nicht lediglich ein Messobjekt ist.66

Schon Kant hat den Bereich der Wirklichkeit für die Wissenschaft bestimmt, indem er behauptete, dass die Natur in den Naturwissenschaften nur als Erscheinung gilt. Allerdings kannte er daneben noch das Ding „an sich“, das sich der positiven Bestimmung durch die Erkenntnis entzog. Für Kant gab es noch etwas, das sich der positiven Bestimmung entzog und dennoch von Bedeutung war. Nicht so ist es allerdings später in einer Philosophie, die die exakte Wissenschaft der Natur sich zum Vorbild nimmt, wie z.B. dem Pragmatismus. Sätze der Metaphysik haben für den Pragmatismus keine Bedeutung mehr, sie sind auszuschließen.67

Aber was im Pragmatismus schon zum Programm gehört, dass es selbstverständlich in einer modernen Wissenschaft ist, z.B. von einem „Wesen“ der Natur nichts zu wissen, wurde schon zu Beginn ihrer Entwicklung z.B. durch das romantische Denken widersprochen. Die Verfahren der modernen Wissenschaft sind aus dieser Perspektive nicht nur der Grund für den technischen Fortschritt, sondern das naturwissenschaftliche Verfahren, setzt auch voraus, dass die Natur in Hinsicht auf ihren Wert „neutralisiert“ wird.68

Man kann die Romantik geschichtlich in der Nachfolge der Aufklärung als eine Art Widerstand gegen diese „Neutralisierung’“des Wertes der Natur verstehen; gegen eine Intention des Denkens, nach der das Wesen der Dinge in der Natur generell keine Bedeutung mehr haben, keine Verbindlichkeit mehr beanspruchen soll, so wie das tatsächlich in einer Wirklichkeit geschieht, die potentiell vom naturwissenschaftlichen Denken bestimmt wird.

Die Philosophie der Romantik ist in diesem Sinne der Ausdruck für ein Zeitalter des Übergangs, in dem die ehemals vorherrschende Orientierung des Denkens an der Natur der Dinge, an ihre „Essenz“, ihre Bedeutung zu verlieren beginnt.

Das romantische Denken kann daher als eine Opposition gegen diese Entwicklung des Denkens, als der Versuch einer „Reessentialisierung“ interpretiert werden. Wobei es bei der romantischen Rekonstruktion des Platonismus nicht lediglich um eine reine Übernahme geht, sondern um einen Umbau des platonischen Modells unter Einbeziehung der christlichen Religion.

Das Höhlengleichnis

In Frage steht zur Zeit der Romantik, was die Orientierung des philosophischen Denkens betrifft, vor allem das platonische Modell der Philosophie, dass bis in die Moderne hinein in allen möglichen Formen seine Anziehung behalten sollte. Man denke z.B. an die Phänomenologie von Husserl.

Dieses Modell hat Plato in unvergleichlicher Art und Kürze in einem Gleichnis dargestellt, dass zugleich die theoretische Struktur und die wesentlichen Spannungen seines Denkens ausdrückt. Die Welt wird bei Plato zu einer dualen Konstruktion, Wesen und Erscheinungen sind getrennt. Es gibt nach diesem Modell eine Welt des Unveränderlichen und eine Welt des Veränderlichen.

In dem Höhlengleichnis des Plato sind die Menschen Gefangene, Gefangene der Sinne. Sie leben in einer Welt der Erscheinungen, die sie für ihre Wirklichkeit halten. Von einer anderen höheren Welt wissen sie nichts, bis zu dem Moment, wo ein Philosoph ihnen von dieser anderen Welt erzählt und den Ausweg ins Licht weist, d.h. in die Welt der Ideen.

Welcher Weg führt daher aus der Höhle hinaus? Die Negation der sinnlichen Neigungen. Vorausgesetzt wird, die Dinge, die gesehen werden, sind Repräsentanten eines sinnlich nicht wahrnehmbaren Eidos. Neben dem Sinnlichen und Veränderlichen, d.h. Zeitlichen gibt es daher in der platonischen Philosophie ein Unveränderliches, eine letzte Realität. In diesem Sinne bedeutet die Suche nach Wahrheit, die Suche nach einer Übereinstimmung mit dieser letzten Realität.

Was Plato voraussetzt, ist, dass das Verlassen der Höhle, das Verlassen der Welt der Erscheinungen auch gewünscht wird. Was aber ist, wenn die Gefangenen durchaus zufrieden sind mit ihrer Welt der Erscheinungen und diese nicht verlassen wollen? Die Erscheinungen mögen nur Schattennahrung sein, aber doch nur für denjenigen, der beansprucht, mehr als sie zu besitzen und dieses mehr doch nur in Aussicht zu stellen vermag. Wohlgemerkt, es ist nur ein Versprechen.

Dass es neben einer Wirklichkeit des Scheins, die von diesem Denken als eine Gefangenschaft interpretiert wird, noch eine höhere Wirklichkeit gibt, ist eine Voraussetzung des platonischen Denkens. Eine Voraussetzung allerdings mit Folgen für die Geschichte der abendländischen Kultur, impliziert sie doch auch eine Abwertung des Sinnlichen durch das Denken. Die Konstruktion der platonischen dualen Transzendenz setzt die Vorstellung eines Unvergänglichen über das Vergängliche.

Nun kennt auch die Philosophie der Romantik den Anspruch, die Menschen aus einer Gefangenschaft zu befreien, die allerdings mit der Höhle des Plato, diesem Gleichnis der Transzendentalphilosophie nicht zu verwechseln ist. Für das romantische Denken ist der Ausgang aus dieser Höhle, in denen die Menschen gefangen sind ein anderer als im Platonismus. Das romantische Denken kennt keine zwei Welten mehr wie im Platonismus, die in dieser Form entgegengesetzt sind, eine Welt unvergänglicher Ideen und eine Welt des Scheins, ein Diesseits und ein Jenseits.

Nach Schlegel ist nämlich Ewigkeit unendliche Zeitfülle und nicht Zeitabwesenheit.69

Zeit ist für Schlegel die Welt selbst, der Inbegriff alles Werdens und er nennt sie an einer Stelle: eine werdende Gottheit.70

Der Platonismus kennt nur ein abwertendes Verhältnis zur Zeit; in der Romantik ist es dagegen eine Intention der Philosophie dieses Verhältnis aufzuwerten.

Auch ist der Führer aus der Gefangenschaft nicht mehr der Philosoph wie bei Plato, der auf dem Weg der reinen Erkenntnis die Welt der Ideen, das Licht des Seins erblickt hat und nun zu den Gefangenen zurück kehrt und ihnen von der Möglichkeit einer anderen höheren Wirklichkeit erzählt, sondern nunmehr ist es der philosophische Poet, der Gedanken-Dichter, dem diese Aufgabe zufällt.71

Eine Philosophie ohne Poesie und das heißt ohne Phantasie ist nämlich für das romantische Denken keine Philosophie.

Die Poesie, d.h. auch das anschauende Denken, wird zum Organ der Philosophie.72

Von was aber soll dieser philosophische Schriftsteller den Gefangenen in der Höhle berichten, wenn er es denn kann? Oder anders ausgedrückt, was wird nach der romantischen Vorstellung zur wesentlichen Aufgabe der Philosophie?

Nach Schlegel ist die Philosophie der Statthalter einer höheren Wahrheit.73 An anderer Stelle nennt er die „Philosophie des Lebens“ eine Kunst und Wissenschaft, die sich auf das Göttliche bezieht.74 Die „Philosophie des Lebens“ versteht sich daher nicht von ungefähr auch als eine Art angewandter Theologie. Vorausgesetzt wird mit anderen Worten, dass die Philosophie noch eine Philosophie der letzten Ziele sein kann, ein Anspruch, der zur Recht seit der Aufklärung in Frage gestellt wird. Das, was Jaspers später einmal das Zeitalter der „Entgötterung der Welt“ nennen wird, ist für die Romantik alles andere als selbstverständlich.75

Kant hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis auf die Welt der Erscheinungen begrenzt, die Erkenntnis einer jenseitigen Welt, war positiv nicht möglich. Für den Romantiker Schlegel ist dagegen das naturwissenschaftliche Denken wohl nur lediglich eine Art technischer Verstand, d.h. ein gesunder „unphilosophischer Verstand“.76

Die Philosophie der Romantik kann dagegen als ein Versuch angesehen werden, ein Denken zu widerlegen, dass sich lediglich zur Transzendenz-befreiten-Zone erklärt. Aber es wendet sich auch gegen die platonische Tradition des Denkens, der es vorrangig um eine Entwicklung der Vernunft und der Begriffe geht und d.h. um eine Trennung von Rationalität und Sinnlichkeit.

Idee des Unendlichen

Nach Schlegel geht aus dem Bewusstsein des Unendlichen alle Philosophie hervor.77 Diese Behauptung stimmt allerdings so nicht ganz, denn für die antike Philosophie ist das infinitum, - worauf Blumenberg hingewiesen hat, - mit dem Verständnis von Rationalität nicht vereinbar. Auch ist Unendlichkeit noch nicht ein Attribut Gottes.78

Nach Schlegel hingegen besteht das Wesen der Philosophie aus der Sehnsucht nach dem Unendlichen und der Ausbildung des Verstandes. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen wird zum Notwendigen im Menschen erklärt.79 Schlegel grenzt sich dabei von Plato ab und behauptet, dass dieser Bewusstsein nur einseitig als Vernunft und Verstand begriffen habe, während die ursprüngliche Form des Bewusstseins ein Begehrungsvermögen, ein Sehnen sei.80 Gegenstand der Philosophie wird in der Romantik neben Vernunft und Verstand, das Gefühl. Ohne Gefühl gibt es nach Schlegel keinen Verstand. Das Gefühl wird zu einer Quelle des Wissens.81

Es ist diese Bedeutung des Gefühls, die das romantische Denken als Argument gegen die platonische Tradition des Denkens verwendet. Vernunft, Logik und Rationalität sind danach nicht die höchsten Weisen bewusster Wirklichkeit.82 Das betrifft auch die Vorstellung einer Transzendenz in der Philosophie. Die platonische Philosophie der Transzendenz wird zum Irrtum erklärt, die Vorstellungen von „Substanz“, „Ding“ und „Sein“ zum Ausdruck einer abstrakten Vernunft.83

Im Unterschied dazu wird in der Romantik das Gefühl zum Ausgangspunkt einer möglichen Vorstellung von Transzendenz. Es ist allerdings nicht irgendein Gefühl, es ist die Sehnsucht nach dem Unendlichen.

Es ist das „reine Gefühl“ der Sehnsucht, das nach Schlegel nichts anderes ist als der Wunsch nach einer höheren Wirklichkeit; es ist nach ihm das höchste Streben im Menschen, der „Instinkt der Ewigkeit“.84

Plessner wird später einmal behaupten, dass alles Endliche mit einem Unendlichen verschränkt ist, was allerdings noch offen lässt in welcher Form das geschieht und für wen diese Verschränkung gilt.85 Übernimmt man diesen Gedanken, so ist das Besondere in der Romantik, dass diese Verschränkung als bedingt durch ein Gefühl beschrieben und zum besonderen Fundament der Philosophie erklärt wird.

Wie schon Plato in seinem Höhlengleichnis voraussetzt, dass alle Höhleninsassen von einer höheren Welt erfahren möchten, dass sie nach einem Ausgang aus der Höhle der Schatten suchen, was durchaus nicht der Fall sein muss, so gilt das auch für die Philosophie der Romantik, der die Erregung der Sehnsucht nach dem Unendlichen zur Aufgabe wird. Der Unterschied ist allerdings, dass Plato noch von einer Ontologie des Unveränderlichen ausging, während die Romantik eine Ontologie der Zeit anstrebt, d.h. das Veränderliche, das Werden wird zum ontologischen Maßstab, wobei allerdings der duale Rahmen der platonischen Konstruktion erhalten bleibt.

Das Sinnliche ist daher in der Romantik nicht mehr das Negative und Grund einer Beschränkung wie bei Plato bei dem es dem Menschen lediglich möglich ist, die höchste unendliche Realität nur negativ und unvollkommen zu erkennen.86 Für das romantische Denken gilt also auch nicht mehr uneingeschränkt die platonische Maxime: auf die Sinne kann man sich nicht verlassen.

Nach Plato war der Weg der Erkenntnis letztlich ein Weg zum Absoluten, in der Romantik ist es das Gefühl. So verschieden und entgegengesetzt beide auch in der Ausführung dieses Anspruchs sind, beide verbleiben in einem ontologischen Rahmen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Beides sind von ihrer Konstruktion des Denkens her ontologische Steigerungsspiele, sind Ausdruck eines ontologischen Komparativs d.h. die höhere „Wirklichkeit“, die sie in Aussicht stellen, bleibt lediglich ein Versprechen auf Evidenz. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese duale Konstruktionen ohne Bedeutung sind; siehe die unübersehbare Wirksamkeit der Tradition des platonischen Denkens bis in die Gegenwart hinein.

Ein Ideal der Spekulation

Für die Romantik ist die Idee des Unendlichen eine metaphysische Idee. Wenn das romantische Denken daher von einer Sehnsucht nach dem Unendlichen spricht, so bedeutet das zugleich, dass die Idee des Unendlichen in der Anschauung nicht vorkommen kann. Sie ist, wie Schlegel es ausdrückt, ein Ideal der Spekulation.87

Aber sie ist für die romantische Philosophie nicht nur ein Ideal, sondern sie soll auch umgesetzt werden, d.h. durch die Philosophie „erregt“ werden. Und das geschieht nach Schlegel dadurch, dass sich die Philosophie die unbestimmte Aussicht ins Unendliche als eine ihrer Aufgaben bestimmt.

Das ist wohl so zu verstehen, dass das, was man z.B. das ewige Suchen und nie ganz finden können in den Wissenschaften nennt, und dort leicht zum Stehen kommt, nicht zur Verzweiflung oder Verdrossenheit führen soll. Um das zu vermeiden, bedarf daher es nach Schlegel einer Anregung unserer Sehnsucht nach Wissen.88

Die Nähe dieses Gedankens zum Faust-Motiv von Goethe drängt sich wohl nicht zufällig auf. Man denke an die ersten Zeilen der Faust Tragödie, auch an den Ausdruck von Verdrossenheit.

Eine solche Aufgabe kann allerdings nach Schlegel nicht durch die Wissenschaft ausgeführt werden kann. In der Wissenschaft geht es nach der romantischen Vorstellung um die Mitteilung des Bestimmten, während es nach der romantischen Philosophie darauf ankommt, das Unbestimmte darzustellen. Es geht also bei der zentralen Aufgabe der romantischen Philosophie nicht um Mitteilung sondern um eine bestimmte Darstellung.89

Mit anderen Worten: Die Ausführung der philosophischen Aufgabe wird nach Vorstellung der Romantik zur Aufgabe der Poesie. Der Umstand, dass das Unendliche nach der romantischen Vorstellung nur durch Sinnbilder angedeutet werden kann, liefert damit die philosophische Begründung der Poesie.90

Schon bei Descartes ist das Unendliche eine transzendente Idee. Die Fragestellung in der dritten Meditation gilt der Suche nach einer Idee, von dem man gewiss sein kann, dass der Mensch nicht die Ursache dieser Idee sein kann. Wir sollen wenigstens einen Begriff besitzen, den wir unmöglich aus uns selbst jemals erzeugen könnten. Für Descartes ist es die Idee des Unendlichen; sie ermöglicht es Gott zu denken: „Es ist, sage ich, diese Idee des höchst vollkommenen, unendlichen Wesens im höchsten Sinne wahr.“91

Sowohl für Descartes als auch später im romantischen Denken gibt es so etwas wie eine „wahre“ Unendlichkeit, die den Menschen auszeichnet und zu dem nur er einen Zugang hat. Bei Descartes ist es die Idee des Unendlichen, die sich im Bewusstsein befinden soll, während das romantische Denken von einer Sehnsucht nach dem Unendlichen spricht, d.h. es ist ein Gefühl, ein ursprüngliches Begehren. Wohlgemerkt, es ist eine Annahme des romantischen Denkens, dass das Bewusstsein des Unendlichen nach Schlegel die Quelle aller Philosophie ist.

Von diesem Bewusstsein des Unendlichen weiß man allerdings nach Schlegel im Sinne von Wissen nichts, im Unterschied zu Descartes: es ist ein Gefühl, es ist das Gefühl des Erhabenen. Man hat es nach ihm zu erklären versucht, aber es geht nicht. Nach Schlegel ist es das Letzte und Ursprüngliche, das nicht erklärt werden kann.92 Es ist, wenn man so will, ein vollkommenes Gefühl und nach der platonischen Tradition des Denkens kann das Vollkommene nicht gemacht sein.

Das Gefühl des Erhabenen wird zum Ausdruck einer „wahren Unendlichkeit“. Es ist ein Gefühl der Teilhabe am Ganzen, einer vorhandenen höheren Verbindlichkeit der Natur.

Die Aussicht auf eine Teilhabe an einer möglichen „wahren Unendlichkeit“ findet sich schon bei Kant zum Schluss der „Kritischen Vernunft angedeutet, wenn er das Gefühl für das moralische Gesetz im Menschen mit dem Gefühl vergleicht, dass der Anblick des bestirnten Himmels im Menschen auslöst. Auch bei Kant wird das Gefühl des Erhabenen zum Ausdruck für die Teilhabe des Menschen an einer Transzendenz, wobei allerdings das Gefühl des Erhabenen lediglich als Grund für die besondere Auszeichnung dient, die der Persönlichkeit des Menschen zukommt, weil er das moralischen Gesetz besitzt. Dieser Besitz ist nach Kant eine Auszeichnung, die den Menschen von der Tierheit unterscheidet und die Möglichkeit eines unabhängigen Lebens von der Sinnenwelt offenbart.93

Im Unterschied zur späteren Romantik wird bei Kant allerdings die Teilhabe an einer „wahren Unendlichkeit“ auf das moralische Gesetz im Menschen begrenzt.

Der Begriff einer „wahren Unendlichkeit“, der sich in der Romantik ausdrückt, ist zu unterscheiden von der Idee des Unendlichen, die die moderne Fortschrittsidee charakterisiert, die die Entwicklung vor allem der Naturwissenschaften seit ihren Anfängen bestimmt. Es ist die Idee des Unendlichen, die eine Metaphysik des Fortschritts von der traditionell platonisch-aristotelischen Metaphysik unterscheidet. Die Idee des Unendlichen ist also hier nicht eine Art Leitstern, der auf eine Transzendenz verweist, auf einen absoluten Bürgen, auf Gott.

Es ist die Wissenschaftsidee der Moderne, die die Natur in eine Unendlichkeit, in ein unerschöpfbares Feld theoretischer Zuwendung ohne Ende verwandelt.

James drückt aus pragmatischer Sicht den damit verbundenen Begriff einer unendlichen Erfahrung so aus: „Es gibt nirgends ein ’Heim’ als in der endlichen Erfahrung, aber die endliche Erfahrung als solche, die hat kein Heim."94

Die endliche Erfahrung wird zu einem „Unendlichkeitswort“.

Nach Plessner ist der veränderte Erfahrungsbegriff in der Moderne allerdings auch der Hinweis auf einen Verlust: die moderne Welt ist nach ihm kein Kosmos mehr und daher eine Welt, die kein Heimweh mehr kennt, weil sie kein Zuhause mehr ist.95 Eine Aussage, die wohl zugleich auch dafür zeugt, wie wirksam die platonische Tradition des Denkens noch ist, aber auch wie die Vorstellung eines unendlichen Fortschritts des Wissens den Glücksansprüchen des Menschen widerstreitet, denn Menschen sind endlich.

Poetisch leben

Was heißt poetisch leben? Heißt poetisch leben etwa Genießen, so wie das Kierkegaard im Zusammenhang mit seiner Kritik des romantischen Denkens behauptet?96

Ist es eine Intention des romantischen Denkens, dass das Fleisch den Geist verneint, wie es an anderer Stelle heißt?97 Und das ist eine Kritik, die davon ausgeht, dass die Romantik nicht nur alle Sittlichkeit im Sinne von Sitte und Gewohnheit aufheben möchte, sondern auch jene Sittlichkeit, die die Gültigkeit des Geistes bestimmt, nämlich insofern er sich durch die Herrschaft des Geistes über das Fleisch bestimmt.98

Kierkegaard setzt bei seiner Argumentation die platonische Dualität, die Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Geist als gültigen Maßstab voraus. Das Sinnliche, das Veränderliche und Wandelbare war in diesem Sinne im Platonismus immer das Negative gegenüber einer höheren Welt, die als bleibend und unvergänglich verstanden wurde.

Es ist jedoch diese platonisch-negative Einschätzung des Sinnlichen, die das romantische Denken in Frage stellt. Angestrebt wird eine andere Bewertung des Sinnlichen, die, wenn man so will, im Unterschied zu einem späteren Versuch einer Umwertung durch Nietzsche, nicht danach strebt, den Bezug zur Religion vollständig aufzuheben.

Schlegel drückt es so aus: Durch die Poesie soll der Geist mit der Natur befreundet werden.99

Den Sinnen soll also wieder getraut werden und das musste gegenüber jeder Philosophie, die dem platonischen Erbe folgte, als eine Provokation wirken; es schien so als würde die Welt des Denkens auf den Kopf gestellt, so etwa für Hegel.100 Wohlgemerkt, das romantische Denken stellt die platonische Orientierung des Denkens, die Zwei-Welten Lehre in Frage, d.h. die damit verbundene Bewertung des Sinnlichen.

Auch für Schlegel gilt wie für Plato, das der Geist über dem Körper steht; der Unterschied ist nach Schlegel jedoch, dass Plato das Bewusstsein nur als Verstand und Vernunft aufgefasst hat, während es für Schlegel daneben noch ein Begehrungsvermögen, ein ursprüngliches Sehnen gibt, nach ihm die Quelle allen Bewusstseins.101

Der ästhetische Tempel

Nach Schlegel wird das Endliche mit Hilfe der Phantasie ins Unendliche hinaus getrieben.102 Das ist wohl, so ist zu vermuten, auch im Sinne einer ästhetischen Aufwertung des Endlichen, d.h. des Sinnlichen gemeint. Aufgewertet werden soll in der ästhetischen Einbildung das, was vorher im platonischen Denkgebäude gegenüber der Rationalität abgewertet wurde: das Sinnliche und Endliche. Das Endliche als Endliches ist nach diesem romantischen Verständnis in der Wirklichkeit gar nicht, sondern immer nur in Beziehung auf das Ganze, wobei das Ganze identisch ist mit der absolute Intelligenz, d.h. mit dem „Gedanken der Gottheit“.103 Das Endliche wird also in dieser romantischen Konstruktion nicht wie im Platonismus einem Jenseits entgegen gesetzt, das als ein Unveränderliches gilt.

Schlegel nennt seine Ästhetik auch eine Wissenschaft von der Natur.104 Wobei er unter „Natur“ das Bild der werdenden Gottheit versteht und das Ganze als Individuum denkt; im Gegenteil zur Auffassung der Naturwissenschaft, weil diese nach ihm die Natur als Mechanismus versteht.105 Die Natur lediglich nach Gesetzen zu erkennen, heißt nach Schlegel die Natur in eine Maschine verwandeln.106

Die Aufgabe, die sich Schlegel stellt, ist die Anerkennung der Natur der Dinge, die schon bei Kant angedeutet wird, wenn er vom Ding „an sich“ spricht, das allerdings nach ihm positiv nicht erkennbar ist und trotz dieser unmöglichen Erkennbarkeit seine Bedeutung nicht verlieren soll.

Für Schlegel bedeutet diese Anerkennung, die Dinge in der Natur so zu sehen, dass sie „beseelt“ sind. Der Begriff der Seele steht im romantischen Denken zum Gegensatz einer Natur als gesetzlicher Zusammenhang; „Seele“ ist nach Schlegel das Prinzip allen Lebens.107 Seit der Antike ist Natur schon der Inbegriff des überhaupt Möglichen; in der Romantik ist es die göttliche Natur, die durch Gott geschaffene Natur.108

Es gehört zu einer mythisch-religiösen Vorstellungswelt, wie sie das romantische Denken charakterisiert, eine mögliche gefühlte Verwandtschaft anzunehmen, die das Ganze zusammen hält. Postuliert wird ein wirklicher Wesenszusammenhang der Dinge. Vorausgesetzt wird der Anspruch mittels Poetisierung ein mythisches Elementarerlebnis wiedergewinnen zu können.

Zu erinnern ist auch an Goethes ähnlichen Begriff der „lebendigen Natur“, die dadurch charakterisiert ist, dass in ihr nichts ist, was nicht in Verbindung mit dem Ganzen steht.109

Die ästhetische Aufwertung der Natur, einer Natur, die zum unendliche Schönen wird, von der man nach romantischer Vorstellung nur in Bildern reden kann, ist daher nicht etwa als eine Freikarte für den hemmungslosen Genuss des Sinnlichen zu verstehen.

Das Sinnliche soll vielmehr in der Anschauung ästhetisch veredelt werden, dient lediglich der Suche nach dem für das romantische Denken einzig authentischen Gefühl, der Sehnsucht nach dem Unendlichen.

Allerdings kommt es aus romantischer Sicht darauf an, das „höhere Gefühl“ richtig zu suchen, d.h. das Gefühl, dass sich in der Sehnsucht nach dem Unendlichen ausdrückt.110

In einer Vorlesung von Schlegel findet sich ein Hinweis, warum diese Suche nach dem „echten Gefühl“ auch zu einem Irrweg werden kann. Es gibt danach auch einen falschen Zauber der Phantasie, dem man mit magischer Kraft verfallen kann, d.h. die Kraft des Unendlichen kann nach der romantischen Vorstellung auch falsch angewendet werden.111

In diesem Sinne liegt eine falsche Anwendung dann vor, wenn die Triebe mit Hilfe der Phantasie zur Leidenschaft gesteigert werden.

Schlegel spricht in seiner Philosophie von einem Grundfehler, wenn man versuchen sollte, das Absolute, d.h. bei ihm das Streben nach einem Unendlichen, auf das irdisch Vergängliche anzuwenden, denn es kann durch keinen irdischen Gegenstand, und keinen sinnlichen Genuss oder äußeren Besitz jemals ausgefüllt und ganz befriedigt werden.112 Nach ihm wird die Leidenschaft, die danach strebt im Leben wirklich zu werden, zu einer Lüge und endet im Hass.113

Das romantische Denken interessiert daher im Rahmen dieser Aufgabe nicht die sinnliche Wirklichkeit, vielmehr ist das Sinnliche lediglich als Gegenstand der ästhetischen Kontemplation von Interesse. Mit anderen Worten, es geht um eine ästhetische Distanz zum Sinnlichen, das als Mittel zur Quelle des „reinen“ Genusses wird.

Schlegel übernimmt in seinem Denken das platonische Erbe, die duale Konstruktion der Welt, d.h. das Bewusstsein soll von allen sinnlichen Täuschungen gereinigt werden, es soll von allen fesselnden Leidenschaften befreit werden. Wie bei Plato gibt es auch bei Schlegel zwei Welten, die Welt des Sinnlichen und eine transzendente Welt, die jenseits davon liegt. Man steigt in der Entwicklung des Bewusstsein von Stufe zu Stufe immer höher, ohne dass Schlegel allerdings wie schon Plato erklären kann, wie sich dieser Übergang - diesmal allerdings auf der Gefühlsebene - in eine höhere Wirklichkeit vollziehen soll.114

Zu erinnern ist auch an Platos Höhlengleichnis, an die Befreiung aus der Welt der Erscheinungen ins Licht der Ideen. Wobei der Befreier bei Plato ein Philosoph ist. Allerdings gibt es bei Schlegel im Unterschied zu Plato nur eine angeborene Idee im Gemüt des Menschen: die Erinnerung an die ewige Liebe, wobei der christliche Gott als die Urquell dieser Liebe betrachtet wird.115 Gott ersetzt im romantischen Denken den griechischen Kosmos der Ideen.

Wie bei Plato gilt auch bei Schlegel der Rahmen des ontologischen Komparativs, d.h. der Aufstieg aus dem Reich des Sinnlichen, wobei sich allerdings die Inhalte geändert haben, d.h. entwickelt wird eine Ontologie der Zeit; das Sinnliche soll mittels der Ästhetik als das „wirklich“ Unendliche wahrgenommen werden.

Es ist diese ontologische Stufenleiter, die auch die besondere Bedeutung des Gefühls der Sehnsucht nach Schlegel ausdrückt. Das Gefühl der unendlichen Sehnsucht wird als ein Gefühl beschrieben, das mit einem „immer höher steigen“ verbunden ist, mit dieser Abwendung vom Sinnlichen als Endlichen, wohlgemerkt als Endlichen.116

Das reine Gefühl der Sehnsucht ist nach Schlegel daher nichts anderes als der Wunsch nach einer höheren Wirklichkeit.117 Was schon für Plato gilt, trifft auch bei Schlegel zu. Bei beiden wird eine höhere Wirklichkeit als vorhanden suggeriert, die es nur zu entdecken gilt.

Der Aufstieg mit Hilfe der Poesie in eine „höhere Wirklichkeit“, den das romantische Denken fordert, findet in einem Elfenbeinturm des reinen Gefühls statt. Das Gefühl der Sehnsucht wird zur Ruhestätte, das um seiner selbst willen gesucht wird, denn es gibt für den Romantiker nichts Höheres.118 Ein Gefühl wird zur einzig erstrebenswerten Wirklichkeit, die Natur als Tempel zur Projektionsfläche.

Man kann auch sagen, um die Natur wird durch das romantische Denken ein Tempel errichtet; es soll das heilig gesprochen werden, was einmal im Denken eine wesentliche Bedeutung hatte. Für das romantische Denken ist es eine Selbstverständlichkeit, dass dieser Bezug auf ein Wesen der natürlichen Dinge legitim ist und immer auch war.

Betrachtet man das Denken der Romantik einmal auf dem Hintergrund des Antagonismus von Kunst und Natur, der die europäische Geistesgeschichte seit dem Mittelalter bestimmt und als einen Versuch, eine Antwort auf diesen Antagonismus zu finden, so scheint auf den ersten Blick, wenn man Kunst als Ästhetik versteht, eine Lösung auf der Ebene der Anschauung möglich.

Aber in der Romantik wird eine Versöhnung von Kunst und Natur lediglich auf der Ebene des ästhetischen Gefühls suggeriert, wird zu einer Sache der distanzierenden Betrachtung. Ästhetik wird zur Konstruktion einer erhabenen Traumwelt, zum Ersatz, neben einer unausweichlichen Wirklichkeit.

Auf den Gipfeln des „reinen“ Gefühls der Sehnsucht nach dem Unendlichen ist Ruh, so könnte man das romantische Versprechen beschreiben, wobei die Poesie zu einer Art Meisterschaft wird, um diesen Gipfel zu erreichen.

Aber der Antagonismus von Kunst und Natur gewinnt sofort an Schärfe, wenn man unter Kunst nicht nur die Ästhetik versteht, sondern die Technik' einbezieht.

Das Problem, dass sich seit dem Mittelalter und der Entwicklung von Technik und Wissenschaft in aller Tiefe auftut, ist der Antagonismus von Konstruktion und Organismus, Technik und Natur. Vor diesem Antagonismus betrachtet, erscheint das ästhetische Gefühls, dass das romantische Denken entwickeln möchte, wie ein ohnmächtiger Versuch einer erneuten Rechtfertigung der Natur.

Auch wenn dieser Versuch letztlich ein Ausdruck von Ohnmacht bleibt, so ändert das nichts an der Bedeutung des Problems, das ihm zugrunde liegt und in der Frage mündet, welchen Stellenwert die Natur selbst noch für den Menschen hat, obwohl sie u.U. lediglich nur noch als Material legitimiert erscheint?

Zu erinnern ist in diesem Zusammengang auch an das, was dann in der europäischen Geistesgeschichte als Gegenbewegung folgen sollte: der Antinaturalismus. Von nun an soll nichts mehr die authentische Produktivität des Menschen begrenzen. Das Pathos der Arbeit eines Comte, er spricht von „Antinatur“ - oder Marx richtet sich gegen die Natur. Nach Blumenberg verliert die Natur im Antinaturalismus ihre exemplarische Verbindlichkeit und wird zum Objekt nivelliert, sie wird gar zu einer Gegeninstanz des technischen und künstlerischen Willens.119 Was nunmehr zählen soll, ist das Selbstgemachte durch den Menschen, das Verfügbare. Was die Möglichkeit nicht ausschließt, dass der Mensch selbst auch seine eigene Legitimität als Lebewesen in Zweifel ziehen kann. Zu erinnern ist an Günther Anders, der gar von einer „prometheischen Scham“ in der Moderne sprechen wird: der Scham vor der beschämend hohen Qualität der selbstgemachten Dinge. Man beginnt nach ihm sich gar zu schämen, weil man geworden und nicht gemacht ist.120

Rationalität und Lebenswelt

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