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4. Mädchen

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Er war etwas spät dran, daher konnte er die Zigarette nicht zu Ende rauchen. So locker Frau Macharzenski auch drauf war, sie hasste Unpünktlichkeit. Als Markus in den Laden kam, war von seiner Chefin nichts zu sehen. Vermutlich war sie selbst rauchen. Nur eine blonde Frau in hellblauer Jeansjacke war da. Vor dem Regal, ihm den Rücken zu gewandt, bei den Romanen. Markus hastete nach hinten in das Lager. Frau Macharzenski nickte ihm von der geöffneten Tür, die in den Hof führte, zu. Natürlich hielt sie eine Kippe in der Hand. „Ich mach mal kurz Pause“, sagte sie. Markus nickte und ging zurück in den Laden. Er tänzelte an einem Stapel Bücher vorbei und überprüfte die Kasse. Immerhin 150 € hatten sie heute schon eingenommen.

Sie hatten hier wenig Laufkundschaft. Die meisten Leute, die in die Buchhandlung vorbei schauten, waren Anwohner oder Rentner, die schon seit Jahrzehnten herkamen. Markus checkte die Bestellungen am PC und räumte den Stapel Bücher, Reiseführer für Portugal und Spanien, in den Ständer gleich neben der Kasse. Die junge Frau drückte sich nach wie vor bei den Romanen rum. Vermutlich stöberte sie. Aber da ihn Frau Macharzenski gut eingelernt hatte, wusste Markus, wann es an der Zeit war, einen Kunden zu fragen, ob Hilfe benötigt wurde. Und das war jetzt.

„Entschuldigung? Kann ich ihnen helfen?“ Die Frau drehte sich zu ihm. Sie war jung. Sein Alter. Vielleicht sogar ein bisschen jünger. Sie war kaum geschminkt und das schulterlange blonde Haar wirkte ungekämmt – sie sah verdammt cool aus. „Ich gucke nur“, wimmelte sie ihn leicht genervt ab. „Alles klar“, Markus ging zurück an die Kasse. Er mochte die Art Kunden, die keine Hilfe brauchten. So hatte er seine Ruhe. Ihm ging es ja selbst so, wenn er einkaufen war. Er beobachtete sie zwischen Computer und dem Bücherturm an der Kasse. Er hatte sie hier noch nie gesehen. Wohnte sie in der Gegend oder war sie nur zufällig hier vorbei gekommen?

„Ich suche einen Roman, kann ihn aber im Regal nicht finden,“ nach einer Weile war das Mädchen doch zu ihm an die Kasse gekommen. „Die Entdeckung der Langsamkeit.“ Markus musste den Titel erst gar nicht in das System eintippen. Er wusste auch so den Namen des Autors (Sten Nadolny) und dass sie das Buch nicht da hatten. Ihr Bestand setzte sich aus Kitsch und Thriller zusammen, oder was sonst gut lief. Angebot und Nachfrage, sagte Frau Macharzenski. Ein Antiquariat wäre ihr zwar lieber, aber sie musste ja auch über die Runden kommen.

„Das haben wir gerade nicht da. Aber ich kann es dir bestellen.“ Bewusst siezte er sie nicht. Nicht jemanden der so aussah. „Morgen Nachmittag gegen drei ist das Buch im Laden.“ Das war gelogen. Das Buch wäre schon am Vormittag da, würde er jetzt bestellen. Aber Markus wollte das Mädchen morgen nochmal sehen, und er arbeitet nun mal nur nachmittags.

„Ok.“ „Alles klar, auf welchen Namen darf ich das Buch vormerken?“ „Marlies Michlfelder.“ Markus nickte und tippte den Namen in das Formular ein. Marlies. Lisa oder Nina würden so viel besser passen. Marlies. Er kannte niemanden, der so hieß. Marlies. So hießen Omas, die kleine Deckchen in Pastelltönen häkelten.„Ist bestellt!“ Marlies Michlfelder nickte. „Alles klar, dann bis morgen.“ Mit ihren eisblauen Augen starrte sie ihn an. „Bis morgen!“

Die Glocken klingelten länger nach als sonst, nachdem Marlies Michlfelder den Laden verlassen hatte. „Hat sie was gekauft?“, hörte Markus Frau Macharzenski aus dem Lager rufen. „Sie war immerhin lang genug da.“ „Nein, aber sie hat was bestellt. Einen Roman. Kommt morgen.“ Ohne es zu sehen wusste Markus, dass Frau Macharzenski zufrieden nickte. Das tat sie immer.

Markus war am nächsten Tag überpünktlich im Laden. Frau Macharzenski beäugte ihn skeptisch über die Ränder ihrer Brille, als er um drei nicht mal eine Raucherpause einlegen wollte. „Kannst schon ruhig raus gehen. Ich bin ja da.“ „Nee, danke.“ „Willst du etwa aufhören?“ Markus lachte. „Niemals. Aber vielleicht ein bisschen weniger Machen.“ Das war gelogen. Markus wollte rauchen. Sehr sogar. Aber er hatte Angst, Marlies Michlfelder zu verpassen. Er hoffte, sie würde bald kommen, damit er in Ruhe im Hinterhof rauchen konnte.

Der Nachmittag verging langsam. Zwei „Pixie“-Bücher hatte er einer aufgedrehten alten Dame für den Besuch ihrer Ur-Enkelin verkauft, außerdem zwei Thriller. Wie immer was von Sebastian Fitzek. Er hatte die Bestellungen abgearbeitet und die neuen Lieferungen ausgepackt. Der bestellte Roman von Marlies Michlfelder, „Die Entdeckung der Langsamkeit“, lag neben der Kasse. Frau Macharzenski hatte sich schon gewundert und das Buch weggeräumt. Markus hatte es sich wieder zurückgeholt. Ganz heimlich. „Irgendwie bist du heute komisch“, meinte Frau Macharzenski als sie zu einer Raucherpause nach hinten schritt.

Es war halb sechs. 30 Minuten vor Ladenschluss. Markus war nervös, ihm fehlte das Nikotin. Noch immer keine Spur von Marlies Michlfelder. Heute Abend würde Markus die erste Schicht der Woche in der Kneipe arbeiten. Mittwoch war gut. Mittwoch war meisten nicht sonderlich viel los. Er würde Zeit haben mit Eva zu ratschen.

Scheppernd ging die Tür auf. Die kleinen Glöckchen wollten sich gar nicht mehr beruhigen. Marlies Michlfelder blickte sich erschrocken um. Sie trug die gleiche Jeansjacke wie gestern, nur hatte sie heute die Haare zu einem schlampigen Zopf gebunden. „Das passiert öfter mal“, sagte Markus. Es war gelogen. „Man darf die Türe nicht so ruckartig aufreißen.“ Leicht verunsichert kam sie zur Kasse. „Ich hab ein Buch bestellt.“ Markus kramte betont langsam im Regal hinter ihm herum, obwohl er genau wusste, dass das Buch direkt unter der Kasse lag. „Die Entdeckung der Langsamkeit für Marlies Michlfelder, richtig?“ „Ja, richtig.“ „Einen kleinen Moment. Ich muss es nur noch finden.“ Er hoffte, er konnte sie damit beeindrucken, dass er ihren Namen noch kannte. Vielleicht aber dachte sie dadurch, die Buchhandlung würde so schlecht gehen, dass sie die einzige Kundin war, die gestern ein Buch bestellt hatte und er daher noch ihren Namen wusste. „Für was brauchst du das Buch?“, fragte er. „Zum Lesen. Eine Freundin hat es empfohlen. Klang ganz spannend.“ „Ah, ich dachte, du würdest es vielleicht fürs Studium brauchen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein mit dem Studium bin ich schon fertig. Jetzt habe ich den Luxus nur noch zum Vergnügen zu lesen.“ Markus schmunzelte. „Was hast du studiert?“ „Medienwissenschaften,“ antwortete sie knapp. „Und was machst du jetzt?“ Sie lachte abfällig. „Ich kellnere im Café gegenüber.“ Café war übertrieben. Es war eher eine Bäckerei, in der sich nachmittags die Rentner zu Kaffee und Kuchen trafen. Markus hatte sie da noch nie gesehen. „Ich hol mir da ganz gerne mal einen Kaffee.“ „Ich arbeite erst seit dieser Woche da. Meine Tante ist die Geschäftsführerin.“ „Irgendwie muss man ja die Miete bezahlen. Ich hab auch mal studiert. Allerdings abgebrochen. Eigentlich wollte ich wieder damit anfangen, aber irgendwie ...keine Ahnung. Ich glaube, ich bin durch mit der ganzen Uni-Sache.“„Ich würde vermutlich auch nicht mehr studieren. Oder zumindest etwas anderes machen. Was Sinnvolleres, Marlies Michlfelders Miene verdunkelte sich. „Ha, hier ist es ja!“, Markus hob triumphierend das Buch nach oben. „9,99.“ Marlies drückte ihm zwei fünf Euroscheine in die Hand. „Willst du eine Tüte?“ „Nee, geht auch ohne“, sie stopfte das Buch in ihre dafür eigentlich zu kleine Ledertasche. Zu ging die Tasche aber trotzdem. „Was hast du denn studiert?“ „Kunstgeschichte.“ „Oh, also kennst du auch die ganzen doofen Taxifahrer-Sprüche.“ „Oh ja, zu genüge ...“ „Komm doch mal auf einen Kaffee rüber.“ „Klar, gerne! Ich liebe Kaffee.“ Marlies grinste zum ersten Mal in dem Gespräch. „Ich auch. Und das Gute an dem Job ist, ich kann so viel trinken, wie ich will. Geht alles aufs Haus.“ „Das ist gut.“ „Ja, und die Rentner sind nett und lieb und geben ordentlich Trinkgeld. Eigentlich kann ich nicht klagen.“ „Gut, dann komm ich mal vorbei, Marlies.“ „Ach, eigentlich heiß ich Mimi“, sagte sie. „So, ich muss dann mal los. Man sieht sich!“ Mit einem Krachen fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Wieder schepperten die Glocken. „Manche Leute haben einfach kein Feingefühl was Türen angeht!“, hörte er Frau Macharzenski im Lager wettern. „Vielleicht sollten wir die Glocken auch wegmachen, nervt doch nur. Und die Alten erschreckt sie teilweise.“ „Nein! Die Glocken bleiben da! Das war bei meinem Vater schon so. Sonst wissen wir ja auch gar nicht, wenn jemand in den Laden kommt. Das mit den Raucherpausen könntest du dann auch vergessen. Auch wenn du jetzt reduzieren willst.“

Als Markus Mimi das nächste Mal sah, war er übermüdet. Und das war leicht untertrieben. Die Schicht in der Kneipe war wieder mal eskaliert. Eine Gruppe Studenten hatte einfach nicht gehen wollen. Sie waren lustig drauf gewesen und Markus musste Eva hoch und heilig versprechen, dass er sich nach einem letzten Bier rauswerfen würde. Aus einem Bier wurde drei. Er hatte natürlich mit getrunken.

Mimi sah er schon vom Schaufenster aus. Auf einem Tablett balancierte sie Kaffee und Kuchen. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und eine hellblaue Jeans. Um die Taille hatte sie eine weiße Schürze mit Spitzenborte gebunden. Das ganz wirkte ziemlich altmodisch, aber besser als diese hässlichen grellen Polo-Shirts mit Stickerei auf der Brust, die das Personal in anderen Bäckereien trug. „Die Schürze hat Stil“, meinte er. Erschrocken drehte sich Mimi um. „Ach du“, sie lächelte. „Willst du einen Kaffee?“ „Klar.“ „Gut.“ „Milch und Zucker stehen hier vorne.“ „Danke, aber ich trinke ihn schwarz.“ „Beeindruckend.“ Sie stellte ihn den dampfenden Kaffeebecher hin. „Der Erste geht aufs Haus. Aber nicht weiter erzählen.“

Gegenüber Kaffee holen wurde schnell zum Ritual. Und das obwohl sie in der Buchhandlung einen 1A-Filter-Kaffee hatten, aber Frau Macharzenski hatte schon lange aufgehört sich zu wundern. Markus genoss die kurzen Pausen, wenn er mit Mimi herum albern konnte. Bald lief ein kleiner Deal zwischen den beiden, ganz stillschweigend. Er gab ihr zehn Prozent auf Bücher, den eigentlich nur Familienmitglieder bekamen, und im Gegenzug bekam er den zweiten Kaffee umsonst. Manchmal nach Ladenschluss sogar ein Stück Kuchen oder eine Kirschtasche, was eben so übrig geblieben war.

Nach Feierabend, wenn beide bis 18 Uhr arbeiten mussten, schlenderten sie oft gemeinsam zur Tram-Halstestelle. Mimi liebte lesen. Ihr Traum war es, in einem Verlag als Lektorin zu arbeiten. Seit eineinhalb Jahren war sie mit dem Studium fertig und seitdem auf Jobsuche. Ein paar Monate war sie im Ausland gewesen. Mit dem Rucksack in Südamerika. In der Hoffnung, dass es danach auf dem Stellenmarkt etwas besser aus. Es hatte etwas besser ausgesehen und immerhin für ein einjähriges schlecht bezahltes Praktikum in einem kleinen Reisebuchverlag gereicht. Für eine Festanstellung war das Budget der Redaktion dann leider doch zu wenig und Mimi war, wie vor der Reise und dem Praktikum, verzweifelt auf Jobsuche. Sie schimpfte etwas von Zeitverschwendung und falschen Hoffnungen. Ihre Tante hatte ihr schließlich den Job in der Bäckerei vermittelt. Gott sei Dank, wie Mimi stets betonte. Noch immer wohnte sie in ihrer Studenten-WG, aus der sie dringend heraus wollte. „Der Mietmarkt in München ist ja unter aller Sau“, hatte sie gesagt und war wütend mit ihren Chucks in eine Wasserpfütze getreten.

Mimi war generell oft wütend. Sie hasste Ungerechtigkeiten und wurde nicht müde, sich darüber zu beschweren. Sie war oft sauer, wenn sie etwas nicht bekam, was ihr, nach ihrem Ermessen, eigentlich zu stehen hätte sollen. Das hatte Markus schnell gemerkt, als sie von einer Kollegin erzählte, die das Trinkgeld ungerecht verteilte. Markus wusste aus eigener Erfahrung, wie scheiße das war, aber noch nie hatte er jemanden so lange darüber reden hören wie Mimi. Vermutlich hätte sie noch weiter darüber geschimpft, wäre ihre Tram nicht gekommen. Markus hatte bei ihrem Monologe immer wieder lachen müssen. Das hatte Mimi zwar kurz aus dem Konzept gebracht, den roten Faden aber verlor sie nicht. Markus bewunderte ihre Hartnäckigkeit. Ihre Gespräche dauerten nie länger als zehn Minuten, weil entweder ein Kunde kam oder die Tram einfuhr. Manchmal sahen sie sich tagelang nicht. Oft waren die Gespräche der Höhepunkt Markus Tages. Sie redeten viel über Musik. Mimi liebte Sixties. The Kinks, The Sonics, The Velvet Underground. Sie lachte, als Markus erzählte, dass er als Kind Gitarren-Unterricht hatte, aber so schlecht war, dass die Lehrerin ihm empfohlen hatte aufzuhören. Gerne hätte er ihr von Sebastian und seinen Erfolgen als Musiker erzählt, aber dann rollte auch schon wieder die Tram ein. „Ich komm dich mal besuchen in der Kneipe!“, rief sie ihm nach. „Komm Samstag! Da ist es meist besser.“ Als die Tür schloss und sie ihn nicht mehr sehen konnte, grinste er.

Und tatsächlich. Sie war ins „Rabatz“ gekommen. Im Schlepptau hatte sie eine Freundin. Mimi grinste ihn unsicher an. Sie war nervös, das merkte er gleich. Der Laden war voll und er hatte viel zu tun. Bierflaschen öffnen, Gin Tonic mischen, abkassieren. Und Markus musste ein Auge auf Patrick haben, der hier erst vor ein paar Wochen zum Arbeiten angefangen hatte. Alles um ihn herum dröhnte von den vielen Gesprächen und der lauten Musik. Die Mädels kämpfen sich durch das Gedränge. Bei Eva bestellten sie zwei Bier, die er schnell seiner Kollegin abnahm. „Geht aufs Haus!“, stellte er ihnen die Flaschen hin.

Er wusste, dass Mimi ihn verstohlen beobachtet. Immer wenn er hinsah, kicherte sie mit ihrer Freundin. Als ein Platz frei wurde, setzten sie sich in die Ecke. Irgendwann verlor Markus sie aus den Augen. Einen Abend, an dem so viel los war, wie heute hatte er lange nicht mehr erlebt. Ihm war heiß, der Schweiß rannte ihm von der Stirn.

Und dann saß sie am Tresen. Es war schon recht spät und langsam leerte sich das „Rabatz“ endlich. Mimi war betrunken. Sie kämpfte mit der Müdigkeit und dem Rausch. Sie war ganz blass und ihre Augen glasig. Immer wieder musste sie gähnen. Gerade war ihre Freundin gegangen. Ein dickes Mädchen mit langen braunen Locken. Ziemlich mutig von Mimi, dass sie noch geblieben war. Sie hatte sich wohl von dem Abend etwas erwartet.

„Hey, magst du noch ein Bier? Sorry, dass ich vorhin so wenig Zeit für dich hatte. Aber es war echt die Hölle los.“ „Kein Problem. Ich bleib noch ein bisschen.“ Markus grinste und öffnete zwei Bier.

Es war kurz nach halb vier, als der letzte Gast aus der Türe torkelte und Eva zusperrte. Mimi war immer noch da. Zwischen durch hatten sie immer mal wieder kurz geredet. Er hatte die ganze Zeit über ein schlechtes Gewissen gehabt, sie da alleine sitzen zu lassen. Aber er musste arbeiten. Teilweise hatten sich die Gäste schon beschwert, weil er sie so lange warten ließ.

„Alles gut bei dir?“, fragte Markus. Sie nickte. Das Bier vor ihr war auch schon wieder leer. „Ich räum die noch schnell weg und dann!“

Dann was? Das wusste Markus ja selbst nicht. Er war plötzlich ziemlich nervös. Verstohlen wischte er sich die schwitzigen Hände an der Hose ab. Ihn verwunderte es, warum sie noch da war. Gut, dass er so viel getrunken hatte. Mit Patrick sammelte er die letzten Flaschen und Gläser ein und stellte die Stühle hoch. Eva machte wie immer die Kasse. Heute hatten sie bestimmt guten Umsatz gemacht. Wenn er sich zu Mimi umblickte, tippte sie etwas auf ihrem iPhone. „Was geht mit euch?“, fragte Patrick. Markus zuckte mit den Schultern. „Geh halt zu ihr. Ich schaffe das schon allein. Ist ja nicht mehr viel.“ Nachdem die Kasse gemacht war, verabschiedete sich Eva. „Ich räum hinter der Bar noch auf!“, rief Markus ihr hinter her. „Du kannst ruhig heim gehen“, wandte er sich an Mimi. „Oder noch ein Bier mit mir trinken.“ „Bier.“ Markus öffnete geschickt zwei Flaschen und stellte sie an der Theke ab. Patrick winkte und verschwand durch den Lagerraum. Er wollte noch irgendwo tanzen gehen, hatte er gesagt. Jetzt waren sie allein.

Markus spürte, wie ihm das Bier die Kehle hinunter rannte. Kalt und irgendwie viel langsamer als normal. „Jetzt wo wir unter uns sind: Einen speziellen Musikwunsch?“ Mimi schloss die Augen und grinste. „The Sonics. Have love will travel.“ Markus suchte das Lied auf Spotify. Während die ersten Töne erklangen, schmiss er die Spülmaschine an. „In einer Kneipe zu arbeiten ist viel lustiger als in einem Café“, Mimi beugte sich über den klebrigen Tresen zu ihm rüber. „Ja, aber auch viel Anstrengender. Stressiger. Viel mehr Betrunkene, viel mehr Glasscherben.“ „Na und! Dafür kriegst du mehr Trinkgeld. Und die Musik ist besser“, Mimi stemmte sich hoch. Sie schwankte jetzt richtig. „Du erlebst hier was! Ich räume Teller ab und putze nach Feierabend die Kaffeemaschine.“ „Das stimmt. Aber wir haben hier auch eine Kaffeemaschine zum Putzen.“ Er deutete hinter sich auf die blinkende Maschine. „Die müsste ich eigentlich auch noch sauber machen. Du als Fachfrau kannst mir dabei sicher helfen.“ „Scheiß auf die Kaffeemaschine! Ich will tanzen!“, Mimi stürmte aufgedreht wie ein kleines Kind, das zu viel Cola getrunken hatte, die Tanzfläche. Sie schüttelte ihr blondes Haar in alle Richtungen. Beim Tanzen verrutschte ihr langes schwarzes T-Shirt immer wieder. Ob ihr das alles morgen wohl peinlich sein würde? Markus nahm sich eine Zigarette und gesellte sich zu ihr. Sie tanzten. „Für diesen Scheiß werd ich mich morgen so schämen,“ lallte sie. Markus musste lachen, als sie sich weiter im Kreis drehte. „Kannst du die Musik lauter machen?“ Jetzt lachte er. „Ich hol mir noch ein Bier. Für dich besser keins.“ „Ja, für mich besser keins. Und für dich auch nicht. Tanz lieber mit mir!“ „Fuck, es ist schon wieder Sonntag.“ Und dann küsste er sie. Im Hintergrund lief „Golden Cage“ von The Whitest Boy Alive. Keine Ahnung, wer das in der Spotify-Playlist eingestellt hatte. Er mochte den Song nicht mal. Gut, dass er so betrunken war. Gut, dass sie so betrunken war. Mimi musste lachen. „Findest du das etwa witzig?“ „Nein“, schüttelte sie ihre Haare. Dann sprang sie wieder wild hüpfend zur Musik auf und ab.

„Hey“, flüsterte er irgendwann Mimi gefühlt Stunden später zu. Sie tanzten noch immer. Zumindest Markus. Mimi war fast an seiner Schulter eingeschlafen. Sie war ziemlich besoffen. „Wir müssen langsam abhauen. Die Putzleute rücken bestimmt gleich an.“ Mimi nickte. Ihre Haare waren verstrubbelt und die Wimperntusche verschmiert. Markus ging hintern den Tresen und schaltete Licht und Musik aus. Sonnenlicht fiel durch die getönten Scheiben. Auf der Tanzfläche, wo vor ein paar Minuten noch Mimi und Markus waren, tänzelten nun die Staubflußen. „Ich will nicht nüchtern werden. Das wird ein böser Kater“, sie setzte sich wieder auf einen der Barhocker. „Und was jetzt? Willst du noch zu mir? Auf nen Kaffee?“ Mimi lachte und schmiss dabei ihren Kopf nach hinten. „Auf einen Kaffee? Ja, warum denn eigentlich nicht?“ „Zwei Wegbier?“

Sie hatten Glück, gerade noch so schafften sie die Tram. Während der Fahrt hielt Markus Mimi im Arm. Immer wieder musste er sie ansehen. Sie war eingeschlafen. In ihrem Armen hielt sie ihr Bier. Markus musste selbst bei seiner Flasche aufpassen, dass er sie nicht auskippte. Hastig trank er den letzten Schluck „Wir müssen hier raus.“ Mimi lies ihr noch halbvolles Bier an der Tram-Station stehen.

Müde torkelten die beiden zu Markus Wohnung. „Wie du das nur aushalten kannst?“, fragte Mimi im Treppenhaus. „Was?“ „Die Arbeit in der Kneipe. Ich bin ja nach einmal schon total im Arsch.“ „Vorhin fandst du es noch ziemlich cool und warst neidisch“, Markus sperrte die Wohnungstür auf. Hoffentlich sah es nicht schlimm aus. „Ich bleib ja nicht jeden Abend so lange. Heute ist es schon etwas ausgeartet.“ „Ausgeartet? Das klingt gut. Das gefällt mir“, Mimi betrat seine Wohnung. „Willst du gleich einen Kaffee?“ Sie nickte. Während Markus Kaffee aufbrühte, sah sie sich um. Andächtig schritt sie durch die kleine Wohnung und stolperte dabei über Bücher und Klamotten, die verstreut auf dem Boden lagen. Als sie im Bad war, hörte Markus noch ein: „Oh Gott, ich seh ja furchtbar aus!“ Er grinste.

Wieder zurück setzte sie sich auf den Küchentisch. „Ich bin noch total betrunken. Kann ich eine Kippe haben?“, fragte sie. „Ich dreh sie mir auch selber.“ Markus warf ihr den Tabak zu. Ihn überraschte wie geschickt sie jetzt noch war. „Ich habe früher verdammt viel geraucht“, erzählte sie mit dem Filter im Mundwinkel. „Richtig, richtig viel. Eigentlich wollte ich aufhören, habs aber nicht geschafft. Immerhin konnte ich reduzieren.“ Markus stellte Kaffee und Tassen auf den Tisch. Er drehte sich selbst eine. „Du trinkst viel Wein?“ Mimi zeigte mit ihrer Kippe auf die aufgereihten Weinflaschen vor der Heizung. „Da kommt manchmal gut was zusammen.“ „Bist du zufrieden mit deinem Leben?“ Markus überlegte. „Im Großen und ganzen.“ „Hast du dir dein Leben so vorgestellt?“ „Nee, ich dachte immer, ich würde ein berühmter Maler werden“, Markus lehnte sich mit seinem Stuhl zurück, wie ein kleines Kind. „Ein Maler?“ „Daher die Staffelei.“ Das rote Bild blickte ihn drohend, fast fordernd an. Er hatte schon lange nicht mehr daran weiter gearbeitet. „Sehr beeindruckend.“ „Ich male viel zu selten.“ Mimi gähnte herzhaft. Asche fiel auf den Boden. „Macht nichts“, sagte Markus. Schweigend saßen sie da, tranken Kaffee, und genossen rauchend den Rest ihres Rausches. „Ich glaube, ich fahr heim. Ich bin echt im Arsch“, sagte Mimi. Markus nickte. „Du kannst auch gerne hierbleiben.“ „Lieber nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.“ „Wir sollten das unbedingt wiederholen“, Markus brachte Mimi zu Tür. „Unbedingt!“ Er küsste sie. Und dann nochmal.

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