Читать книгу Die Kinder Paxias - Laura Feder - Страница 3

Kapitel 1

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„Da ist etwas passiert!“ Ohne zu überlegen, rannte Kaeli los.

„Kaeli, warte!“, rief Arn ihr entsetzt hinterher.

Vergeblich.

Cecil setzte zur Verfolgung an, während Arn und Saya sich in ratloser Fassungslosigkeit anblickten.

Sie standen auf dem Scheitelpunkt eines kleinen Wiesenhügels und blickten über offene Landschaft auf das kleine paxianische Fischerdorf an dem Küstenabschnitt unweit ihrer Position.

Idyllisch gelegen, erbaut inmitten der weitläufigen Sanddüne, die flach in einen weißen Strand abfiel, besaß es mehr für den allgemeinen Gebrauch erbaute Hütten als Wohnhäuser.

Das größte Gebäude, das unmittelbar am Ufer gelegene Bootshaus, war umgeben von Booten, die zu dieser frühen Tageszeit, dem Sonnenaufgang, eigentlich ins Meer gehört hätten – samt der Fischer, die ihrer Arbeit nachgingen.

Doch auch diese waren vor Ort, versammelt am Wasser.

So klar, wie dies für die Gefährten zu erkennen war, so gut mussten auch sie für die Paxianer zu sehen sein. Etwas, das sie eigentlich unter allen Umständen hatten vermeiden wollen.

Dennoch rührten sich weder Saya noch Arn von ihrem Platz, starrten abwechselnd auf die entschwindenden Gestalten von Kaeli und Cecil und auf die Bewohner des Dorfes, die sich, ihrer Anzahl nach zu schließen, vollständig bei den im Sand ruhenden Booten befanden.

Aber die Gefahr ihrer Entdeckung schien für den Moment auch gering.

Alle Aufmerksamkeit war auf das kleine im Meer schwankende Boot gerichtet, welches unter offenkundig großen Mühen das Ufer ansteuerte und nur langsam vorwärtskam.

Es hatte große Last zu tragen, denn es lag ungewöhnlich tief im Wasser.

Die ersten Paxianer, stämmige Männer, wateten ins Meer dem voll beladenen Boot entgegen, um zu helfen.

Der vereinzelt auffrischende Seewind trug unverständlich das Wirrwarr rufender Stimmen zu ihnen, aus denen sie lediglich die Emotionen zu interpretieren vermochten. Sorge, Angst und immer wieder klagendes Weinen.

Nun erkannten sie auch die Fracht des kleinen Bootes: Paxianer.

Oder besser formuliert, paxianische Leichen.

Sie erkannten es an der Art, wie die beiden rudernden Fischer den herbeieilenden Männern mit schmerzlich verzogenen Mienen und verneinendem Kopfschütteln zu verstehen gaben, dass ihre Hilfe nicht erforderlich sei.

Sie packten dennoch mit an, halfen das Boot durch den flachen Sand ans Ufer zu ziehen, wo erneutes Wehgeschrei anfing, als auch die übrigen Bewohner begriffen, dass jede Hilfe zu spät kam.

Das einsetzende Chaos der Trauer, während die toten Körper langsam abgeladen und im Sand platziert wurden, ließ sie endgültig begreifen, dass sie mitten in das Drama einer tragischen Bergung geraten waren.

Aber auch, dass sie nichts zu tun vermochten.

„Wir sollten Kaeli und Cecil folgen“, meinte Saya leise, „und von hier wegbringen. Es kommt ja doch jede Hilfe zu spät.“

„Du hast Recht“, meinte Arn ernst und blickte noch einmal prüfend Richtung Dorf.

„Ich denke, vorerst wird niemand auf die Idee kommen, der Umgebung außerhalb der Küste Beachtung zu schenken. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Ich schlage vor, du hältst dich hinter meinem Rücken. Groß genug, dich vor Blicken zu verbergen, bin ich ja.“

Sie nickte zustimmend, und sie traten gemeinsam den kurzen Weg bis zu den ersten Häusern des Dorfes an. Unerkannt bewegten sie sich in den Gassen zwischen den Hauswänden, bis nur noch eine letzte sie vom Strand trennte – der Abschnitt, der dem Bootshaus gegenüber lag.

Suchend blickten sie über die trauernde Versammlung und die versteinerten Mienen der Männer, die nach wie vor damit beschäftigt waren, die Leichen im Sand aufzureihen.

In Arns Kopf flammten bei diesem Anblick die Erinnerungen an die zahllosen Toten seines Volkes auf. Die Unmengen lebloser Körper, die er auf seinen Armen getragen und der Todesschlucht übergeben hatte: Die erstarrten Gesichter von Kranken, Schwachen, Alten, Kindern … Babys.

Aufkeuchend wich er zurück. Das Grauen dieser Bilder in seinem Geist und vor seinen Augen ertrug er nicht. Er musste sich abwenden. Diesem Zwang gehorchend stieß er Saya plötzlich seitlich an.

„Was ist?“, zischte sie flüsternd. Sie war in Sorge über seine Reaktion und die lodernde Erregung, die auch jetzt noch in den Flammen seiner Augen zu erkennen war. Aber sie folgte dem Weisen seiner Hand.

Unweit vor ihnen standen Kaeli und Cecil, verborgen hinter dichtem Dünengras.

Saya zögerte nicht und machte sie mit einem leisen Schnalzen auf sich aufmerksam.

Cecil sah sie als Erster und machte sich nicht die Mühe, Kaeli über ihre Anwesenheit aufzuklären. Er packte das Mädchen entschlossen an der Hand und zog sie einfach hinter sich her – Erleichterung in seiner Miene, die jedoch nicht die Betroffenheit über die herrschende Situation der Paxianer verbarg.

Als Kaeli endlich Cecils Handeln begriff und sie entdeckte, hellte sich auch ihr Gesicht auf, aber ihre Augen waren dunkel vor aufgewühlter tiefer Traurigkeit.

„Es war ein Sturm“, kam es tonlos von ihren Lippen. Tränen schillerten in ihren Augen und strömten gleich darauf unaufhaltsam über ihre Wangen.

Das lautlose Weinen erschütterte ihre Gefährten, doch Kaeli brachte keine weiteren Worte hervor. Ihre Hilflosigkeit überwältigte sie selbst. Der Fluch ihrer Machtlosigkeit, der es ihr nicht gab, Unglücke solcher Art abzuwenden.

Cecil zog sie in den Schutz seiner Arme und strich besänftigend über ihren Rücken, was Kaeli dazu brachte, erstickt aufzuschluchzen.

„Hör auf mit den Selbstvorwürfen“, sagte er eindringlich, aber mit weicher Stimme. Verständnis lag in seinen Augen. „Du hättest nichts tun können – ob mit deiner Macht oder ohne. Wir waren zu spät hier.“

Die Worte, die dazu gedacht waren, Trost zu spenden, öffneten stattdessen die Pforten hemmungslosen Weinens. Kaelis Körper bebte unkontrolliert.

Arn und Saya verharrten stumm, verstörte Zeugen dieser Szene unverstandenen Leides.

Cecil erbarmte sich ihrer.

Ohne das Mädchen aus seiner Umarmung zu entlassen, ergänzte er Kaelis unzureichende Information.

„Letzte Nacht muss ein gewaltiger Sturm getobt haben, in den ein Schiff geraten war, dessen Ankunft hier erwartet wurde. Die Insassen kämpften vergeblich um den Erhalt – der Sturm war stärker. Es kenterte.

Sobald das Meer sich beruhigt hatte, hatten die Paxianer hier mit der Bergung begonnen. Das Boot mit den Toten war die letzte Fahrt.

Es gibt nur wenig Überlebende.“

Nun begriffen Arn und Saya.

Auch das, was Cecil in seiner eigenen Betroffenheit als Angehöriger des Reichs des Windes übersehen hatte.

„Es wäre niemals passiert, richtig?“, fragte Saya erstaunlich sanft.

„Ja!“, entfuhr es Kaeli verzweifelt unter Schluchzern. „Mein Vater hätte niemals zugelassen, dass Leben in Gefahr geraten. Paxias Geschöpfe sind unserer Gesetze gemäß unantastbar.“ Sie hob ihr verweintes Gesicht ihnen entgegen.

Und erstarrte.

„Bei Paxia!“

Ihre Tränen versiegten abrupt. Schock spiegelte sich in ihrer Miene, die Augen fast weiß.

Die anderen folgten ihrem schreckgeweiteten Blick.

Arn hörte Saya neben sich laut aufkeuchen und seine Verwirrung wuchs.

Beiden Mädchen fixierten einen Punkt abseits der klagenden Menge. Doch er sah dort nur eine einsame Gestalt – ein Kind.

Dann kam Leben in Kaeli.

„Cassia!“ Ein weiteres Mal eilte sie ungeachtet der Gefahr, entdeckt zu werden, los. Diesmal folgte Saya ihr auf dem Fuß.

Durchnässt, erschöpft und mit schmerzlich hängenden Schultern hockte das kleine Mädchen auf einem Fass. In ihren Armen lag ein Baby. Beide waren in warme Decken gehüllt, doch die bläulich verfärbten Lippen verrieten ihr Frieren.

Beim Klang ihres Namens hob Cassia suchend den Blick.

Als sie Kaeli und Saya nahen sah, erhellte sich ihre Miene sichtbar. Doch ihre tiefgrünen Augen waren erfüllt von Hilflosigkeit, Grauen und Trauer.

Sie wollte vom Fass rutschen, um die Mädchen zu begrüßen, doch Kaeli erreichte sie schneller und umarmte sie ungeachtet ihrer triefenden Nässe.

„Cassia, was ist geschehen? Wieso bist du hier?“, sprudelte es aus Kaeli hervor. Sie war entsetzt vom Zustand des Kindes.

Die Kleine setzte zum Sprechen an, doch kein Ton kam aus ihr heraus. Ihre Zähne schlugen wie im Frost aufeinander. Schreck und Kälte tobten zu mächtig in ihr.

„Cassia, wo sind deine Eltern?“, wollte Saya mit ausgestrahlter Ruhe wissen, die sie selbst nicht fühlte. Aber das Kind stand offensichtlich unter Schock und konnte weitere Aufregung nicht brauchen. Sie selbst blieb auf körperlichem Abstand, damit die Kälte ihrer Haut keinen weiteren Schaden anrichtete.

Cassia antwortete wieder nicht, aber ihr Blick glitt zum Strand – zu den abgelegten Opfern des Sturms.

Kaeli schrie leise auf, als sie die leblosen Körper Cassias Eltern erkannte. Nur Cassia zuliebe drängte sie die aufsteigenden Tränen zurück und umfasste das Mädchen fester. „Es tut mir so leid“, flüsterte sie schmerzvoll.

Saya stieß innerlich die schlimmsten Verwünschungen aus, derer sie habhaft wurde. Sie hatte mittlerweile genug vom Familiengefüge der Paxianer erfahren, um den Verlust und die Folgen für das Kind zu begreifen. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun wäre. Hier konnten sie nicht einfach rücksichtslos ihrer Wege ziehen.

„Saya.“ Erschrocken fuhr sie zusammen, als Arns leise Stimme in ihre Gedanken drang. Er und Cecil waren zu ihnen getreten und schirmten sie mit wachsamem Blick vor dem Strand ab. „Dies ist kein Ort zum Verweilen. Wir müssen hier weg“, meinte er besorgt.

Sie stimmte ihm zu, ein weiterer Entschluss formte sich in ihrem Hinterkopf.

„Cassia“, machte sie das Kind auf sich aufmerksam, „wir dürfen nicht bleiben. Die Paxianer könnten uns sehen. Gib Kaeli das Baby. Arn hier, aus dem Reich des Feuers, wird dich tragen. Du brauchst keine Angst zu haben, aber im Gegensatz zu mir, wirst du bei ihm nicht frieren. Du bist unterkühlt und brauchst Wärme.“

Wenn irgendjemand über ihre Anweisungen erstaunt war, ließ er es sich nicht anmerken. Die Entschiedenheit ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch. Und so beeilten sie sich, Folge zu leisten.

Cassia nickte nur schwach, als Kaeli ihr das winzige Bündel aus den Armen nahm, dessen Tiefschlaf davon keine Unterbrechung erfuhr, und überließ sich Arns behutsamen Händen. Als dieser die Kälte des Kindes spürte, wickelte er es eilig aus der Decke, damit es näher an seine Körperwärme gelangte, und legte die Decke abschließend um sie beide, so dass sich seine Hitze stauen konnte. Cassias einzige Reaktion war ein wohliges Seufzen, mit dem sie sich vertrauensvoll an seine Schulter kuschelte.

Dann machte sich die kleine Gruppe eilig auf den Weg.

Sie ließen das Fischerdorf hinter sich und kehrten zurück zu dem Wiesenhügel, von dem aus sie zuvor das Geschehen beobachtet hatten. Auf dessen anderer Seite befand sich ein kleiner Waldhain, der sie vor Entdeckung schützte und ihnen die Möglichkeit eines Lagerfeuers gab, welches Cecil eilig entfachte.

Kaeli, die zwar über keine Erfahrung in der Behandlung von Säuglingen verfügte, aber auch keine Berührungsängste kannte, entkleidete das Baby eilig und wickelte es in eines von Cecils Ersatzhemden.

Saya verfuhr mit Cassia im Schutz von Arns Wärme ebenso, so dass die beiden Paxianer in kurzer Zeit trocken und gut beheizt in ihrer Mitte weilten.

Nun endlich war Cassia in der Lage zu sprechen.

„Ich danke euch“, waren ihre ersten leisen Worte. In ihrer Stimme lag ein zittriger Unterton, sonst wirkte sie erstaunlich gefasst – was jedoch auch eine Nachwirkung des Schocks sein konnte.

In Erinnerung an ihre letzte Begegnung, bei der sie das kluge, vernunftbegabte Kind und seine Fähigkeit, in einer Stresssituation besonnen zu handeln, kennengelernt hatte, verwarf Saya diesen Gedanken. Gleichzeitig war sie taktvoll genug, das Kernthema behutsam anzusprechen.

„Kannst du über das Geschehene reden?“

Cassia nickte, suchte aber Kaelis Hand, die sie ihr nicht verwehrte.

„Es hat ein großes Feuer gegeben.“ Ihre Worte klangen belegt und rau, und sie räusperte sich mühsam. „Unser Haus ist verbrannt, uns war nichts mehr geblieben.“

„Ein Brand?“ Entsetzen kroch in Arn hervor, Übelkeit … Er war erstaunt, dass sie nicht vor ihm zurückgewichen war. Cassia wandte sich ihm kurz zu, ihre dunklen Augen verharrten in der Beobachtung der zuckenden Flammen in seinen Pupillen, aber es schien sie nicht abzustoßen. Vielmehr wirkte sie abgelenkt in der Faszination ihrer Betrachtung.

Ihre nächsten Ausführungen erklärten ihre mangelnde Ablehnung.

„Ein Blitzschlag. Die ständigen Unwetter hatten bereits den Stall und unsere Ernte zerstört. Das Boot meines Vaters ist bei einem Orkan aus seiner Vertäuung gelöst und aufs Meer getragen worden. Und schließlich hatten wir auch unsere Bleibe verloren.

Meine Eltern entschlossen sich zur Flucht auf diese Seite Paxias.

Unser Schiff war das letzte verbliebene, welches zwischen den Kontinenten pendelte. Dies sollte seine letzte Fahrt werden, da die Wetterbedingungen nicht länger vorhersehbar waren.

Unsere neue Heimat war bereits in Sicht, als der Sturm begann.

Binnen Momenten bildeten sich schwarze Wolken, sammelten sich über uns, als wären wir das Ziel. Wellen erhoben sich – wir hatten keine Aussicht, diesen Kampf zu gewinnen.

Als der Regen einsetzte, flutete er das Deck – es war zu rutschig, um darauf zu laufen. Die Rettungsboote liefen voll und krachten aus ihren Befestigungen – zerschellten am Bug des Schiffes.

Die ersten Wellen schlugen über uns zusammen, rissen viele in die Fluten.

Mich eingeschlossen.

Ich weiß kaum, wie es mir gelungen ist, an die Wasser­oberfläche zu gelangen, die ganze Zeit schien es, als zerre es mich zurück in die Tiefe.

Aus der Entfernung beobachtete ich, wie das Schiff auseinanderbrach – es war ohrenbetäubend.

Es gelang mir, an ein großes Stück Treibholz zu kommen, an dem ich mich festklammerte.

Dann war plötzlich alles still.

Mir kam alles wie ein böser Traum vor: Ich trieb schaukelnd im Wasser, es war völlig windstill. Wäre der Schaum an der Oberfläche überall nicht gewesen, ich hätte geglaubt, einfach nur aufwachen zu müssen und alles wäre gut.

In der Ruhe hörte ich schließlich das jämmerliche Schreien des kleinen Kerlchens hier. Wie durch ein Wunder hielt er sich strampelnd über Wasser. Ich nahm ihn an mich, und kurze Zeit später hörte ich das Rufen der Männer dieses Dorfes. Sie kamen, um Überlebende zu bergen.

Viele gab es nicht.“ Cassia sah in die schweigend lauschende Runde, in die mitfühlenden und betroffenen Mienen der Gefährten, schlug dann die Augen zu dem Baby in ihrem Arm nieder.

„Er ist zur Waise geworden – ebenso wie ich.“

Ihre letzten Worte waren kaum zu verstehen, dennoch blickten Saya und Kaeli sich in nachdenklicher Sorge an.

Maya und Cedric – die beiden Paxianer kamen ihnen sofort in den Sinn.

Es gab niemanden, der geeigneter war, sich um die verlassenen Kinder zu kümmern. Sie würden es tun, da waren sich beide sicher.

Doch sie lebten auf Paxias anderer Seite, abseits der Brennenden Berge – unweit Cassias ursprünglicher Heimat. Sie würden die Kinder unmöglich auf gleichem Weg zurückschicken können. Weder schien es ein weiteres Schiff zu geben, welches diese Fahrt noch wagen würde, noch konnten sie so kurz nach dem erlebten Grauen von Cassia verlangen, wieder an Bord zu gehen und das Wagnis einer Fahrt auf sich zu nehmen, welche nicht weniger gefährlich war und ebenso schrecklich enden konnte. Leider war die Wahrscheinlichkeit eines Schiffbruchs durch die launische Willkür des Meeres sehr hoch.

Was immer die Ursache für die anhaltenden Katastrophen war – sie schienen zielgerichtet auf Chaosverbreitung und Unglück, und Saya war immer überzeugter, dass es einen Feind geben musste.

Diese Häufung von Kontrollverlust, gefolgt von Tod, Trauer und Leid, konnte einfach nichts sein, was Paxias Hände über sie aussähten.

Es war grausam.

Und Grausamkeit war nichts, was die Natur Paxias ihnen gab.

Dies alles durfte nicht in ihrer Absicht liegen.

Darauf vertraute Saya.

Aber nun galt es, eine Lösung für Cassia und den kleinen Jungen zu finden.

Da auch der Weg durch die Brennenden Berge keine Option barg, mussten sie sich etwas anderes einfallen lassen.

„Gibt es jemanden, der Anspruch auf dich oder deinen kleinen Gefährten erhebt?“ Kaeli stellte diese Frage zögernd, ihre Gedanken hatten einen ähnlichen Verlauf erfahren.

„Du willst wissen, ob es einen Ort gibt, zu dem wir nun gehen können?“ Cassia formulierte die vorsichtige Andeutung der Freundin direkter. Sie verstand das Dilemma der Gefährten, plötzlich mit der Verantwortung für zwei paxianische Kinder konfrontiert zu werden – mochte sie auch noch so freiwillig übernommen worden sein.

Auf Kaelis Nicken antwortete sie ehrlich, aber spürbar bemüht, ihnen die Last ihrer Gegenwart nicht aufzubürden. Und das, obwohl deutlich war, dass sie sich bei ihnen sicherer fühlte als in dem unbekannten Fischerdorf, welches ihre Eltern ihnen als neue Heimat bestimmt hatten.

„Ich habe keine Verwandten – nirgendwo. Meine Eltern waren bereits verwaist, als sie sich kennenlernten. Unsere kleine Familie war alles was existierte.

Und von dem kleinen Jungen hier weiß ich weder den Namen noch zu wem er gehörte. Ich sah ihn im Wasser das erste Mal.

Allerdings gab es auch keinen im Dorf, der sich seiner angenommen hatte. Alle gingen wohl davon aus, dass er mein Bruder wäre. Und das ist es, was er von heute an sein wird.

Ich glaube aber, dass wir im Dorf bleiben können. Sicher werden wir von einer Familie aufgenommen, wenn ich um Hilfe bitte.“

Warum Cassia dies noch nicht getan hatte, war allen klar.

Ihr Selbsterhaltungstrieb, der sie vor Schaden bewahren sollte, hatte es ihr instinktiv unmöglich gemacht.

Wie könnte sie es auch ertragen, jeden Tag aufs Neue an den tragischen Verlust ihrer Eltern erinnert zu werden? Sei es, indem sie aufs Meer sah und bei jeder hohen Welle ihren eigenen Überlebenskampf neu erlebte, oder indem sie auf den Strand blickte, der die letzte Ruhestätte ihrer toten Eltern sein würde, und immer wieder ihre leblosen, starren Gesichter sehen würde.

Cassia sollte trauern – sie würde diese Phase brauchen, um Vergangenes zu verarbeiten und ihren Schicksalsschlag hinter sich zu lassen. Aber es musste eine gesunde Form der Trauer sein.

Im Augenblick war sie am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper und Geist hatten einen Nothalt eingelegt, der ihr Fassung und bewundernswerte Klarheit gab.

Doch es würde andere Zeiten geben.

Zeiten, in denen sie unbeschreibliche und unkontrollierbare Wut spüren würde, Traurigkeit, überwältigende Sehnsucht, grenzenlose Einsamkeit und viel – sehr viel Verzweiflung.

In diesen Zeiten sollte sie Abstand haben von diesem Ort und dem Meer. Die Konfrontation mit ihren eigenen Emotionen würde ausreichend an ihren Kräfte zehren – die Belastung, ständig diesen Küstenabschnitt mitsamt des Dorfes vor Augen zu haben, sollte nicht dazugehören müssen.

Außerdem würde Cassia einen Halt brauchen, eine oder mehrere Bezugspersonen, denen sie vertraute und mit denen sie ihr Leid teilte.

„Maya und Cedric“, wiederholte Kaeli ihre kreisenden Gedanken murmelnd. Sie fühlte sich ratlos und hilflos in dem Wissen um die perfekte Lösung, ohne die Möglichkeit diese umzusetzen. Sie blickte nochmals zu Saya, ein stummes Flehen in den Augen.

Doch Saya hob langsam die Schultern.

„Schwimmen, gehen, fliegen – es gibt keinen Weg. Resus ist uns versperrt.“

In ihrer Stimme lag das gleiche Bedauern, das Kaelis Haltung ausdrückte. Bei diesen endgültigen Worten sackte sie noch weiter in sich zusammen.

Dann mischte Arn sich ein. „Was ist mit Biran?“

„Biran?“ Durch Saya ging ein Ruck. Auch Kaeli richtete sich hoffnungsvoll auf und suchte Arns Blick.

„Ja.“ Er nickte mit der Andeutung eines Lächelns. „Wenn ich euch richtig verstanden habe, seid ihr davon überzeugt, dass sie bei Maya und Cedric ein neues Zuhause finden würden. Doch von jener Seite Paxias sind wir den Ereignissen zufolge abgeschnitten.

Also bleibt uns nur dieser Kontinent.

Nun, Sanjo und Gareth sind Freunde Mayas und Cedrics. Und auch wenn sie keine Paxianer sind, sind sie doch liebende Eltern.

Da Cassia offensichtlich in unsere Existenz eingeweiht ist, wird sie keinen zusätzlichen Schaden erleiden beim Anblick der elfischen Bewohner. Und auch ihr Weltbild wird nicht in seinen Grundfesten erschüttert.

Was also sollte dagegen sprechen, sie zu ihnen zu bringen?

Ich bin sicher, Sanjo und Gareth werden sie bereitwillig aufnehmen und zu gegebener Zeit, wenn Paxias Gleichgewicht wiederhergestellt und die Wege wieder sicher passierbar sind, nach Resus bringen.“

„Das ist die perfekte Lösung!“, entfuhr es Kaeli begeistert. Sie gab Arn einen lauten Kuss auf die Wange und drückte Cassia an sich, um ihr leise zu erklären, was Arns Vorschlag für sie bedeutete.

„Ich werde dich nicht so überschwänglich überfallen“, begann Saya mit deutlichem Respekt in der Stimme und einem Schimmern in den Augen, das man nur als Erleichterung interpretieren konnte. „Aber auch ich danke dir für deine Weitsicht. Ich finde keine Schwächen in deiner Idee, die so einfach ist, dass es mich ärgern würde, nicht selbst auf den Gedanken gekommen zu sein, wenn es hierbei nicht um das Wohl der beiden Kinder gehen würde.“

Die Gefühlstiefe, die Sayas Worte verriet, verblüffte die anderen. Fast ungläubig betrachteten sie die Gelehrte, als sähen sie eine ganz andere Person.

Doch dann schüttelte Saya den Kopf.

„Ich muss mich korrigieren“, stellte sie voller Grimm und mehr zu sich selbst fest. „Ich bin wütend, dass mir etwas so Naheliegendes nicht eingefallen ist.“

Das erstickte Geräusch Cecils ähnelte verdächtig einem belustigten Glucksen, und Saya blickte irritiert auf. Einigermaßen skeptisch traf sie auf die Wärme Arns Blick, dem ihr Ärger nicht standhalten wollte.

„Ich habe meine Intelligenz erheblich höher eingeschätzt, als ich heute unter Beweis gestellt habe“, gab sie zu, mit sich selbst äußerst unzufrieden und in kaum unterdrückter Aggression.

„Du warst zu involviert“, erklärte Arn sanft und erntete Unverständnis. Sein Blick glitt bedeutsam von Cassia zu Saya.

„Das Schicksal dieser Kinder ist dir nicht gleichgültig. Du hast heute bewiesen, dass Cassias Existenz und ihr Wohlergehen eine Bedeutung für dich hat, die groß genug ist, dass du dich eher ihrer annimmst und sie unter deinen Schutz stellst, als sie dem guten Willen Unbekannter zu überlassen. In dir war also überzeugte Hoffnung, dass du eine bessere Alternative finden würdest.

Es war dieser Anspruch an dich selbst, der deine Überlegungen blockierte. Das ist ganz normal und heißt auch nicht, dass du diese Blockade nicht überwunden hättest, um dieselbe Idee zu entfalten. Du hättest lediglich etwas länger gebraucht.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob mir diese Entwicklung gefällt“, murmelte Saya, gespalten zwischen Grimm und Nachdenklichkeit.

„Grenzen finden und sie durchbrechen braucht Zeit und Geduld“, erinnerte er sie behutsam an ihr Gespräch vor wenigen Tagen, bei dem er ihr den Rat gegeben hatte, aus sich herauswachsen zu lernen.

„Ich fürchte, Geduld ist ebenfalls eine meiner Grenzen.“

Diesmal war es Arn, der leise lachte.

„Wie werden wir nun weiter vorgehen?“, brachte sich Cecil in die Situation ein und verließ damit erstmals seine Position als stiller Beobachter. „Wahrscheinlich ist es nicht besonders klug, wenn wir alle nach Biran zurückkehren. Jemand sollte hier zurückbleiben und sicherstellen, dass kein Suchtrupp nach dem plötzlichen Verschwinden der beiden Kinder zusammengestellt wird, der bei Nacht und Nebel die Umgebung durchforstet.

Dies würde uns das unentdeckte Passieren auf unserem Rückweg erheblich erschweren.“

Saya stimmte seinem Gedankengang zu. „Denkst du, du bist in der Lage, dir etwas einfallen zu lassen, um das zu verhindern? Dich würde jeder als Paxianer akzeptieren.“

Ein kurzes Grinsen zuckte in seiner Miene auf, und er hob selbstsicher die Brauen. „Da bin ich sicher.“

„Ich würde ebenfalls gern hier verweilen“, meldete Kaeli sich zu Wort und erntete überraschte und zweifelnde Blicke. Herausfordernd sah sie in die Runde.

„Mir ist klar, dass ich nicht ohne Weiteres als paxianisch durchgehe, und ich werde mich so gut es geht verbergen. Aber es besteht die Möglichkeit, dass ich hier jemanden aus meinem Reich antreffe. Bei einem Dorf so nah am Meer ist das nicht unüblich. Ich halte das zwar nicht für sehr wahrscheinlich, aber es ist eine Gelegenheit, eventuell etwas über das Ergehen meiner Angehörigen zu erfahren, der ich mich nicht entziehen darf.“

In Cecils Augen stürmte der Widerspruch, aber Saya akzeptierte Kaelis Entscheidung.

„Dann ist es also beschlossen. Cecil und Kaeli erfüllen hier ihre Mission, und Arn und ich eskortieren Cassia und ihren Bruder nach Biran.

Wenn wir Tag und Nacht reisen, könnt ihr uns in zwei Nächten wieder hier erwarten.“

Die Kinder Paxias

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