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Die Natur erhob ihr Haupt

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Die COVID-19-Krise hat uns gezeigt, dass unser System durch seine Komplexität an einer Virus-Pandemie kollabieren kann. Was wir jedenfalls anhand der Corona-Krise sehen ist, wie unwahrscheinlich anfällig global vernetzte Systeme und Produktionsketten sind. Knock out – shut down – durch ein simples Grippevirus! Die Kabelbäume aus China fehlen, die riesigen Lederhäute aus Italien können nicht hergestellt werden, die entsprechenden Sitzbezüge in Rumänien daraus nicht genäht werden, verschiedene weitere Zulieferindustrien aus Polen und Frankreich haben ebenfalls ihre Pforten geschlossen und BMW muss nicht als einzige deutsche Automarke ihre Produktionsbänder für Wochen stoppen.

Den Überraschungseffekt hätten wir uns ersparen können, wenn wir in der Vergangenheit etwas mehr auf die Expertise von Virologen und Systemanalytikern gehört hätten. Die wunderten sich nämlich schon länger, dass ein mit COVID-19 vergleichbares Szenario nicht viel früher eingetreten ist.

Die rasant steigende Zahl der Weltbevölkerung, eine enorme Verdichtung in Ballungszentren, die rapide Erhöhung der Geschwindigkeit in allen Lebensbereichen, globalisierte Transportwege, Massenmobilität, ein extrem hohes und damit immunschwächendes Stressniveau, all das lässt einen klaren Rückschluss zu: Es wird enger, sogar sehr eng, um es genauer zu sagen, zu eng. Die Menschheit selber, so dicht gepackt und ständig auf der Achse, ist ein großartiger Wirtsorganismus für ein Virus.

Doch was uns so sehr zum idealen Wirt macht, ist tatsächlich nicht in erster Linie durch unsere Biologie als großes warmblütiges Säugetier festgeschrieben. Die wirkliche Nahrung der globalen Pandemie, das Sprungbrett des viralen Erfolgs, findet sich in unserer Lebensweise und der dahinter liegenden Geisteshaltung. Oder ganz einfach ausgedrückt: Die biologische Krise COVID-19 spiegelt in erster Linie eine ideelle Krise der gesamten Menschheit wider. Diese Erkenntnis geht durch Mark und Bein, weil sie uns einige brutale Wahrheiten auf dem Serviertablett präsentiert.

Erstens. COVID-19 ist, auch wenn es im Kleid einer Naturkatastrophe einherkommt, eine zivilisatorisch bedingte Krise. Unser Verhalten, unser Denken, unser Wertekanon, eben unser »way of living« dienen als Nährboden in der Petrischale des Globus für Pandemien wie den Corona-Ausbruch.

Zweitens. COVID-19 ist mit seiner Verlaufsform, sich rasant über den ganzen Globus auszubreiten, tatsächlich nicht unvorhersehbar über uns hereingebrochen, sondern folgte klaren systemtheoretischen Gesetzmäßigkeiten. Achtsamkeit in Bezug auf Grenzen des globalisierten Wachstums und kritische Reflexion bezüglich unserer Werte und Handlungsmuster sind eine viel effektivere Prävention als Masken, Impfungen und Sicherheitsabstände. Mit all diesen Maßnahmen können wir auch in Zukunft den Ereignissen immer nur einen Schritt hinterher hinken. Im besten Fall vermögen wir das Feuer zu löschen, doch nicht den Brand zu verhindern, und stehen am Ende in den rauchenden Trümmern.

Drittens. COVID-19 macht deutlich, dass einige bisher sakrosankte Paradigmen wie zum Beispiel das Streben nach grenzenlosem Wirtschaftswachstum und endlosem Konsum ausgedient haben müssen. Das Limit ist unsere eigene Biologie als verletzliches, sterbliches Wesen, denn die Mechanismen und Abläufe der Lebenswelt der Steigerungsgesellschaft töten uns.

Doch wir hatten Glück im Unglück. COVID-19 wird uns nicht ausrotten, sondern ist nur ein Schuss vor den Bug. Ein kräftiger, der ganzen globalen Menschheit spürbar hingeknallt, der uns zwingt, uns zu besinnen. Denn der Ausbruch der Pandemie macht sichtbar, dass diese gesamte Zivilisation weltumspannend im Eilzugtempo an die Wand fährt, wenn sie ihren Kurs beibehält.

Der Eilzug ist auch ein gutes Bild, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu verdeutlichen. Wir sitzen alle im Zug. Die Alten sitzen ganz vorne und werden von der Wucht des Aufpralls voll getroffen, vielfach mit Todesfolge. Die Jungen sitzen im letzten Waggon und können dem Crash vergleichsweise entspannt entgegenblicken. Doch wer sagt, dass bei der nächsten Fahrt nicht auch die Jungen auf den vordersten Plätzen gebucht sind?

Dieser Tage begegnet mir in Gesprächen mit Freunden oft das Bild der geknechteten Natur, die sich gegen ihren Peiniger, die Menschheit, auflehnt. Wen wundert es? Nicht zuletzt dank Fridays for Future sind die toten Flüsse, die gerodeten Amazonas-Wälder, die verheerende Verschmutzung der Weltmeere, die abschmelzenden Polkappen, die Sturm- und Hochwasserereignisse und sämtliche anderen Klimakatastrophen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zum dramatischen Wendepunkt eines Thrillers ist es dann nicht mehr weit: Die versklavte Natur liegt schwer atmend vor ihrem arroganten Widersacher im Dreck. Doch dann geschieht das Unerwartete. Ein bislang nicht gekanntes Virus schwingt sich zur Rettung der Totgesagten auf. Mit letzter Kraft, aber dennoch würdevoll, hebt die Natur ihr Haupt, um die Spezies Mensch mit ihrer eigenen Lächerlichkeit im Angesicht einer tödlichen Seuche zu konfrontieren. »Du hältst dich für die Krone der Schöpfung?«, höre ich die Natur langsam, mit bedächtiger Stimme sprechen und als Zuschauer ahnt man bereits, dass sich jetzt gleich eine faktische Realität unabweislich enthüllen wird. »Mit dem Allerkleinsten, einem simplen Virus, vermag ich dich zu vernichten!«

Begann mit COVID-19 wirklich eine Dystopie, wie wir sie aus pathetischen, dunklen Katastrophenfilmen kennen? Ich behaupte, nein. Dies, obwohl ich mir bewusst bin, dass meine Behauptung von meinem Glauben an die reflektierenden Kräfte der globalen Gesellschaft und der Hoffnung, sie mögen den Diskurs bestimmen, getragen wird. Ich bin mir dabei bewusst, dass auch andere Optionen im Angebot sind. Aber ich habe neben Glauben und Hoffnung auch noch ein paar handfeste Argumente im Gepäck. Ich will sie in meinem Plädoyer »Machen wir uns startklar für einen Aufbruch in eine neue Welt« Ihnen als den Geschworenen und Richtern, die über das weitere Schicksal des Delinquenten namens Zivilisation entscheiden, präsentieren. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Die COVID-19-Krise könnte die Auftaktveranstaltung für die gelebte Utopie eines Goldenen Zeitalters werden. Wir müssen nur die Zeichen richtig deuten und entsprechend handeln.

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