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Frisör Ali

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Sid hatte mal bei einem Großmeister der Zeitgeistanalyse gelesen, dass Türken - im Unterschied zu Deutschen, Österreichern und Ungarn - grundsätzlich nie schlecht frisiert wären, doch wie das Leben so spielt, wurde er eines Besseren belehrt. Die neue Mode der Vierzehn- bis Vierzigjährigen Türken, sich die Haare mit der Schermaschine auf zwei Millimeter kürzen zu lassen und nur oben eine Art Krönchen von zwei bis acht Zentimetern Höhe übrigzulassen, ließ das Argument des Wortgewaltigen obsolet erscheinen. Lange hatte sich Sid gefragt, warum die jungen und mittelalten Türken sich freiwillig dieser stilmäßigen Peinlichkeit unterwarfen, bis er dann selbst wieder mal bei Frisör Ali saß und einer der Kunden nach einer Boxerfrisur verlangte. »Bruda, machst ma Frisur wie Boxer?«, sprach der im Sessel.

Der Lehrling dahinter hatte aber eh schon die Schermaschine in der Hand, weil ihm klar war, dass der Kunde danach fragen würde. Dem Lehrling war selbst nicht bewusst, wie hässlich dieser Schnitt aussieht, wie auch, er hatte selbst eine Boxerfrisur. Alle waren zufrieden und damit schloss sich der Kreis. Sid nannte diese ganz spezifische Gruppe von Unbefangenen Tussi-Türken, wobei eine Tussi für ihn eine Person war - egal ob Mann oder Frau - die keinen eigenen Stil hatte und sich deshalb außer Haus einen borgen musste.

Sid selbst wurde lediglich gefragt: »Wie immer?« und mit einem Kopfnicken war alles gesagt. Fünf Minuten später war Frisör Ali mit seinen blitzschnellen Handgreiflichkeiten einschließlich Schultermassage und Ohrhaare-Ausbrennen durch und Sid stand wieder auf der Straße.

Ja, auf der Straße.

Denn er gehörte nicht dazu. Nicht mal zu denen im unteren Bereich des sozialen Mittelfeldes, die sich Boxerfrisuren verpassen ließen. Sid gehörte nirgends dazu. Er überlegte, ob er ein wenig prokrastinieren sollte, obwohl, er hatte heute erst vier Zeilen geschrieben. Er wünschte, er könnte öfter, und vor allem jetzt, an Sashimis Seite liegen, doch sie war fast nie in der Stadt und er ja eigentlich selbst nicht schwul genug und für eine Beziehung völlig ungeeignet. Also ein frommer Wunsch, soviel war klar.

Er ertappte sich beim Grübeln.

»Verdammt, was ist nur los mit mir? Warum prüft mich das Leben hier und jetzt mit Boxerfrisuren?« Natürlich wusste er: Tussi-Türken hatten nichts damit zu tun, dass er einen schlechten Tag hatte. Oder doch?

»Wie komm ich dazu? Ich will meine Ruhe. Hab ich mir das etwa ausgesucht, in einer Welt zu leben, wo … Und schon befand er sich auf der schiefen Ebene des Welt- und Selbstzweifels, einschließlich umfangreicher Gedankenschleifen über grassierendes Elend und die verschattete Zukunft des Planeten. Zum Trost versuchte er sich Welten vorzustellen, die noch schlimmer und in denen Boxerfrisuren Ausdruck höchsten Stilempfindens waren, und das half etwas. Es gab immer etwas, oder zumindest die Vorstellung von etwas, das noch schlimmer war als, als… na, als das hier eben.

Seine selbst programmierte virtuelle Gedanken-Überwachungsdrohne schlug Alarm. Hatte er sich nicht gerade eben auf die Sinn-Hinterfragungs-Ebene begeben? Und wusste er nicht schon, wohin das führen würde? Es ekelte ihn vor Philosophischem und der Gipfel der Scheußlichkeit war erreicht, wenn er sich selbst auf die Suche nach Antworten begab. Er hatte sich angewöhnt, dies rasch und schonungslos abzustellen.

Sid stand vor der verspiegelten Auslage des Frisörsalons Ali und sah sich an. Oder nein, er sah sein Spiegelbild und das war schließlich nicht er selbst. Darüber hinaus wunderte er sich jedes Mal, wenn er sich gespiegelt begegnete und fragte sich, was er sich eigentlich zu sagen hatte. Was sahen denn andere Menschen, wenn sie einen Zwischenstopp vor dem Spiegel einlegten? Wie gingen normale Menschen oder solche, die sich selbst als normal bezeichneten, mit sich um? Sagten die einfach zu dem Konterfei: Prima Kerl! Oder: Na, heute siehst Du aber nicht so toll aus! Und das war ´s? Kein in die Augen schauen und fragen: Verdammt noch eins! Wer ist denn DAS da?

Sid war stets verunsichert und musste Grimassen vor dem Spiegel schneiden, um zu verhindern, dass ihn das kosmische Unwirklichkeitsgefühl einholte. Doch manchmal versuchte er es und sah sich bewusst in die Augen. Wenn er den so entstehenden Eindruck mit dem Geschmack einer Speise hätte vergleichen sollen, hätte er gesagt, dass sie reichlich mit schwach schmeckenden Gewürzen versehen war, nach anfänglicher Schärfe einen süßen Nachgeschmack hinterließ und gleichzeitig exotisch und langweilig schmeckte. Und der Eindruck veränderte sich, je länger er in den Spiegel sah. Es ist so wie mit den Worten. Jeder kennt das: Denkt man über ein einzelnes Wort zu lange nach und wiederholt es im Geiste immer wieder, so schwindet bald der inhaltliche Sinn und die Silben wirken willkürlich aneinandergereiht. Begriffe wie glutenfrei oder Bergbauernförderung verlieren jegliche Bedeutung, wenn man sie öfter als dreißig Mal repetiert. Kennt jedes Kind.

So erging es Sid vor dem Spiegel. Je länger er sich betrachtete, desto unheimlicher und unsinniger wurde das Bild, das er sah.

Das Mädchen mit dem Fisch

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