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KAPITEL 1: DIE WUNDERHEXE

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Berlin im Sommer 2025: Temperaturen von bis zu 40 Grad Celsius herrschten über ganz Deutschland. Die Menschen litten unter der Bruthitze, die sogar Todesopfer forderte. Besonders der Süden Deutschlands war betroffen, Städte wie München, Stuttgart, Nürnberg und Ingolstadt stöhnten unter der Wärmeglocke und auch in Berlin war es nicht kühler und der Kampf um die letzten kühlen Plätze am Spreefluss fing schon früh am morgen an.

Dieser Sommer war zweifellos seit 2003 einer der heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen und für die Menschen mehr als unangenehm. Auch die Nächte waren kaum kühler, denn es ging kein Wind, dafür freuten sich die Firmen über einen Spitzenumsatz für Ventilatoren und Klimaanlagen.

An einem Freitag Mittag, Mitte August in der Firma PHARMA-CELL, die Arzneimittel aller Arten herstellte, sausten verschiedene Menschen umher teilweise mit Reagenzgläsern, in denen sich undefinierbare farbliche Flüssigkeiten befanden. In manchen Glasbehältern stieg Rauch hoch, manche blubberten leicht, andere wiederum beinhalteten eine zähe, schleimige Flüssigkeit. Die meisten trugen Mundschutz, denn die Mittel rochen nicht nur sehr scharf, sie waren in konzentrierter Form sogar hochgiftig. An den Regalen in denen viele der Reagenzgläser standen, befanden sich Schilder mit verschiedenen Warnzeichen wie der bekannte Totenkopf.

Unter den anwesenden Leuten befand sich auch ein Mann um die 70. Es war Direktor Thiele, der einst mit 4 Mitarbeitern die Firma aufgebaut und expandiert hatte. Inzwischen waren es über 900 Mitarbeiter. Sie hatte nicht nur Apotheken unter den Kunden, auch Supermärkte waren darunter.

Direktor Thiele leitete dieses Unternehmen. Da PHARMA-CELL Zweigstellen in ganz Europa unterhielt, reiste er ständig von einer Firma zur anderen.

Direktor Thiele war trotz seines Alters ein sehr attraktiver Mann. Viele Frauen schwärmten für ihn, denn er war trotz aller Geschäftshärte ein Mensch, der für seine Mitarbeiter immer ein offenes Ohr hatte, ob es nun der Azubi war, der in Pausen unbedingt seine neuesten Astronomiekenntnisse zum Besten gab, oder die schon etwas angegraute, aber immer schick, modern und geschmackvoll gekleidete Sekretärin, die den Amtspapierwust zur Bewunderung vieler Mitarbeiter mit Bravour meisterte und manchmal selbstgemachten leckeren Erdbeer- oder Obstkuchen an die erfreuten Kollegen verteilte und lächelnd mit einem leicht verschmitzten Lächeln darüber hinwegsah, wie Herbert, der schon seit ca. 15 Jahren im Labordienst der Firma stand, sie mit schmachtenden Blicken beim Betreten ihres Büros anhimmelte. Trotz vieler Arbeit marschierte der Chef oft durch die Hallen und Räume und erkundigte sich des Öfteren, ob alle Sicherheitsvorschriften auch genau eingehalten wurden, denn die Sicherheit seiner Mitarbeiter war ihm besonders wichtig. Aber nicht nur die: Er hatte sogar Freizeiträume verschiedener Arten einrichten lassen, um für Entspannung zu sorgen, sowie eine Bibliothek, in der sich die Mitarbeiter immer auf den neuesten Wissensstand auch arbeitstechnisch bringen konnten, in einem Regal standen Forschungswerke von Mitarbeitern, die aber hinter einer verschlossenen Tür verborgen waren, und zu der nur wenige Firmenangehörige Zutritt hatten.

Begonnen hatte das eigentlich bereits im Jahr 1963. Damals hatte Thiele die erste Halle eingerichtet, in der alleinerziehende Mütter und Väter ihre Kinder hinterlassen konnten, solange diese noch nicht im Schulalter waren. Hausfrauen und ehrenamtliche Helferinnen waren immer zur Unterhaltung und Sicherheit der kleinsten Besucher da. Diese erste Idee galt bis heute als die genialste. Allerdings stammte sie nicht von Thiele, sondern, wie sollte es anders sein, von einem alleinerziehenden Vater. Damals hatte Josef Pichler seine Frau durch einen Unfall verloren und seine damals 2-jährige Tochter, die auf den klingenden Namen Carmen hörte (Pichler`s verstorbene Frau liebte die Operette Carmen, sie fuhr deswegen extra einmal nach Italien) nirgends unterbringen können. So wurde der Pichler-Kindergarten gegründet, der bis heute bestand.

In einem Raum sausten Menschen hin und her oder standen an den Tischen. Unter ihnen war auch Chemie-Laborantin Katrin Bauer. Sie hatte rote Haare und eine recht aufregende Figur, die sie unter einem weißen Kittel verbarg. In ihren blauen Augen blitzte viel Temperament, das sie unter gewissen Umständen zu einem unangenehmen Zeitgenossen werden ließen. Das war auch typisch für sie, denn Katrin war vom Leben immer verwöhnt gewesen, was sie auch dazu veranlasste, dass sie manchmal zu Drogen und Alkohol griff und auch auf vielen Parties glänzte, wobei sie Künstlerparties am meisten inspirierten, weswegen sie auch viele Maler, Musiker und Schmuckdesigner persönlich kannte, ein goldenes sternförmiges Gebilde am Hals, mit einem Anhänger, das den Fantasievogel Phönix in kunstvollen Formen mit Edelsteinen besetzt zeigte. Zudem verdiente sie nicht schlecht und war außerdem bei den Männern sehr begehrt. Doch sie reagierte nicht darauf, schließlich hatte sie schon jemanden an ihrer Seite. Eine Frau wie sie blieb grundsätzlich nie lange allein, wenn sie es nicht wollte.

Sie arbeitete bereits seit vier Jahren in der Firma und an sich kam sie sowohl mit ihren Kollegen als auch mit dem Chef gut zurecht. Doch wie es in einem großen Betrieb nun üblich ist, ein Stinkstiefel war auch hier darunter.

Katrin war gerade dabei, eine neu entworfene Flüssigkeit in ein Reagenzglas zu schütten. Das übergab sie einem Kollegen.

„Das muss gleich zu Dr. Praster.“ sagte sie unmissverständlich zu ihm. „In einer Stunde muss es verarbeitet und dann eingefroren sein.“

„Bin schon unterwegs.“ sagte der Mann, der um die 40 sein mochte, packte das Glas und ging aus dem Raum.

Unterdessen machte sich Katrin an die Entsorgung von alten Farb- und Lackdosen. Vorher hatte sie die restlichen Farben und Lacke mit Hilfe einer von ihr entwickelten Lösung entfernt. Aus diesen Resten konnte ihre Firma neue Farben, Lacke und auch Medikamente machen, indem man die Ingredienzien stark verdünnte und neu mischte. Mit Hilfe dieser Lösung, die aus einer einzigartigen Mischung von Inhalten wie Terpentin, Methanol und Benzol bestand, konnte man sämtliche Chemikalien nicht nur lösen, sondern auch neu nutzen. Katrin, die vor über 20 Jahren eine Ausbildung in Sachen Chemie gemacht hatte, wusste genau, wie sie vorgehen musste.

Übrigens hatte die in Chemie hochbegabte Frau vor einigen Wochen eine Substanz entwickelt, die unheilbare Krankheiten heilen könnte. Das Ergebnis lag noch nicht vor, doch lange konnte es nicht dauern, denn ihr genialer Kollege Dr. Praster, dem sie sehr vertraute, verfeinerte immer ihre Rezeptur. Er war es, der ihre Ideen weiterentwickelte, was zu seinen Aufgaben gehörte.

Inzwischen war eine Stunde vergangen. Katrin war gerade mit den Entleerungen und der Neumischung fertig, als plötzlich ein älterer Mann hinter ihr stand. Es war Direktor Thiele. Doch Katrin war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihren Chef nicht bemerkte. Erst, als sie sich umdrehte, um die leeren Dosen zu entsorgen, sah sie ihn. Vor Schreck ließ sie alles fallen. Sie atmete heftig und nahm ihre Hände an die Brust.

Das war typisch für sie, denn schon als Kind hatte sie Angst vor Männern. Ständig war sie ihrem älteren Bruder Jörg auf die Nerven gegangen, weil sie Nacht für Nacht einen schwarzen Mann unter ihrem Bett gesehen haben wollte. Natürlich stimmte das nicht und Jörg hatte sie schon damals für verrückt erklärt.

„Aber, meine Liebe.“ ertönte die sanfte Stimme des Unternehmers. „Seh´ ich denn wie ein Gespenst aus?“

„Natürlich nicht, Herr Thiele.“ gestand sie. „Ich hab´ Sie nur nicht bemerkt.“

„Wahrscheinlich könnte neben Ihnen eine Bombe hochgehen, ohne, dass Sie es merken.“ scherzte der Direktor.

„Nur nicht übertreiben.“ lachte Katrin. „Aber ich arbeite doch so gern hier und es macht richtig Spaß. Hier kann ich meine Ideen realisieren.“

„Dass Sie ein gutes Händchen für Chemie haben, weiß ich schon lange.“ bestätigte der Direktor. „Das war auch der Hauptgrund, warum ich Sie eingestellt habe.“

Katrin wusste auch den zweiten Grund: Thiele kannte ihren Vater recht gut. Das war typisch. Die Chemikerin schätzte ihren Chef sehr. Trotz vieler Arbeit war er immer für seine Mitarbeiter da. Doch Katrin ahnte, dass er aus irgendeinem persönlichen Grund bei ihr sein musste. Der Gedanke war nicht von der Hand zu weisen, denn Direktor Thiele und Katrin´s Vater waren alte Freunde. Dadurch hatte sie auch damals ihre Stellung bekommen und Thiele erlebte es immer wieder, dass seine Entscheidung, Katrin einzustellen, richtig war. Schließlich hatte sie ein Dutzend Chemikalien entwickelt, die mit großem Erfolg auf dem Markt erschienen waren. Dass der Direktor jetzt vor ihr stand, mochte wahrscheinlich mit dem neuen Präparat zusammenhängen, das sie vor wenigen Tagen entwickelt hatte.

„Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier?“ fragte sie.

„Soweit ich weiß, waren Sie es doch, die das Parazilin entwickelt hat.“ sagte Thiele. „Aber was bezwecken Sie damit?“

„Ich will damit versuchen, Krankheiten zu heilen, die bisher nicht zu heilen waren.“ erklärte Katrin. „Krebs, HIV und solche Sachen. Wir alle kennen doch das Problem. Die Viren ändern sich ständig, so dass wir keinen Impfstoff entwickeln können. Verschiedene Giftarten, die in hoher Konzentration für Menschen tödlich sind, wie auch das Gift der Klapperschlange, könnten hochaufgelöst und stark verdünnt vielleicht die Lösung sein. Ich habe wochenlang damit experimentiert, aber ich müsste die Ingredienzien erst genau abstimmen. Die Frage ist nur, wie. Es ist so schlimm, dass ich nicht weiß, wie ich alles zuordnen soll.“

Katrin hatte nicht bemerkt, dass ein Mann um die 50 hinter ihr stand. Er verfolgte das Gespräch, mischte sich aber nicht ein. Er mochte etwa 50 Jahre alt sein, hatte weißes schütteres Haar und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem legendären Physiker Albert Einstein.

„Aber die Idee, aus Schlangen- und Spinnengifte einen Mix zu machen, ist doch nicht schlecht.“ erklärte ihr Chef. „Vielleicht haben Sie doch Erfolg. Die meisten Erfolge in der Wissenschaft passieren durch Zufall.“

„Sie haben mir doch einmal gesagt, es gibt keine Zufälle,“ widersprach Katrin. „sondern nur das Gesetz von Ursache und Wirkung.“

Herr Thiele lachte.

„Aber bleiben wir bei der Sache.“ fuhr Katrin fort. „Vielleicht haben Sie recht und ich bekomme das Serum noch hin, irgendwie. Aber ob das mit meiner Methode möglich ist, keine Ahnung, ich weiß es nicht.“

„Aber ich.“ ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Sofort wandten sich beide um.

„Dr. Praster.“ stieß Katrin erfreut aus.

„Ich habe gerade Ihre neue Entwicklung untersucht.“ erklärte der Mann. „Also, auf so eine Idee muss man erst kommen. Chemikalien, die sich eigentlich gegenseitig zerfressen, aber von anderen Ingredienzien zusammengehalten werden. Und daraus auch noch ein Serum zu entwickeln, das Krebs bekämpfen könnte, ist genauso gut. Ich muss sie erst noch auswerten, dann kann ich näheres sagen. Aber ich bin gleich dabei. Ich wollte ihnen nur sagen, dass Ihre Idee genial ist. Ich muss sie nur analysieren und auswerten. Wie sind Sie eigentlich auf diese Idee gekommen?“

„Weiß ich auch nicht so genau.“ gestand Katrin. „Ich habe kürzlich einen Artikel in „Mensch Gesundheit“ gelesen. Da standen Einzelheiten über die natürliche Zusammensetzung der Krebsmetastasen. Naja, und das habe ich am Computer analysiert. Das Problem war nur, weil sich doch die Viren immer wieder ändern und gegen alle Medikamente resistent werden, so dass man kein beständiges Medikament entwickeln kann. Außerdem stellt sich für mich die Frage ob und wie ich die genaue Zusammensetzung herausbringen kann. Aber vielleicht können Sie das. So, wie Sie das mit den anderen Sachen gemacht haben.“

„Ich möchte es so sagen:“ meinte Dr. Praster. „Was nützen Weiterbearbeiter, wenn die Idee nicht da ist? Das ist in jedem Beruf so. Erst kommt der Entwurf, dann die Ausführung.“

„Ich bin doch keine Modedesignerin oder sowas.“ sagte Katrin.

„Auch Gebäude aller Arten müssen zuerst entworfen und geplant werden, bevor man sie bauen kann.“ erklärte Dr. Praster. „Und in diesem Fall ist es Ihre Idee, die ich jetzt weiterentwickeln werde.“

„Na, da haben Sie ja unserer Firma wieder einen großen Dienst erwiesen.“ meinte Herr Thiele.

„Das weiß ich noch nicht.“ gab Katrin zurück. „Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Aber vielleicht doch.“

„Nun seien Sie doch nicht so bescheiden.“ entgegnete Dr. Praster. „Ich habe etwas herausbekommen, was Ihr Serum angeht. Das mag zwar eine Art Rohmaterial sein, aber es kann dennoch ein Hilfsmittel daraus werden. Vielleicht kann man daraus ein Serum machen, das Krebsmetastasen abbauen könnte.“

„Sind Sie sicher?“ fragte Katrin.

„Noch nicht ganz.“ gestand Dr. Praster. „Aber vielleicht krieg ich das doch noch raus.“

„Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück.“ sagte Thiele und ging weiter.

Katrin schaute ihm nach.

„Solche Chefs sollte es öfter geben.“ murmelte Katrin.

„Da muss ich Ihnen recht geben.“ grinste Dr. Praster bestätigend und verließ den Saal.

Schon tauchte Katrin´s Kollegin Helga auf. Die hatte zufällig das Gespräch verfolgt.

„Aah, unsere Wunderhexe hat schon wieder was neues erfunden.“ sagte sie in einem süffigen Ton. „Was ist es denn diesmal?“

Helga war für die Reproduktionen neuer Medikamente zuständig, die sie von Dr. Praster bekommen hatte. Sie war eine freche, selbstbewusste Frau, die sich von niemanden etwas sagen ließ. Auch Katrin, mit der sie zwar nicht befreundet war, aber gut auskam, kam nicht richtig an sie ran. Sie wusste nur, dass Helga nicht in einer festen Beziehung lebte, weil sie es nicht wollte. Vielmehr hatte sie des Öfteren One-Night-Stands, denn einmal hatte sie gesagt:

„Ein Mann ist mir zu langweilig.“

„Für mich wär das nichts.“ gab Katrin damals zurück.

Jetzt stand sie ihrer Kollegin gegenüber.

„Was willst du denn?“ fragte sie.

„Fragen, wie es der Wunderhexe geht.“ antwortete Helga.

„Was geht dich das an?“ wollte Katrin wissen.

„Eigentlich nichts.“ meinte Helga. „Oder doch, ich meine dienstlich. Schließlich muss ich doch deine Erfindungen verarbeiten.“

„Aber erst, wenn ich mit meinen Ideen völlig sicher bin.“ erinnerte Katrin. „Solange bleiben sie meine Geheimnisse.“

„Weiß ich doch auch.“ meinte Helga. „Aber könntest du in diesem Fall nicht eine Ausnahme machen?“

„No.“ kam es von Katrin zurück. „Auch du wirst warten müssen, bis alles sicher ist.“

„Wir sehen uns später.“ sagte Helga.

Kaum war sie weg, tauchte ein stämmiger, unansehnlicher Kerl auf, der sich sofort an Katrin heranmachte. Er hieß Matthias Lohmann und war ein ausgesprochener Playboy. Keine Frau war vor seinen verbalen Attacken sicher und jedes Mal erhoffte er sich, ans Ziel zu kommen. Manches mal hatte er tatsächlich Erfolg gehabt, doch bei Katrin biss er auf Granit. Aber gerade das reizte ihn. Monatelang stellte er ihr nach, aber sie war auf seine Annäherungen nie eingegangen. Weshalb auch? Ihren neuen Freund kannte sie erst wenige Monate, nachdem sie ihr früherer Lebensgefährte nach 3 Jahren sang- und klanglos verlassen hatte. Schon deshalb hatte sie keine Lust, auf die Strichliste des Firmencasanovas zu kommen.

Langsam schlenderte er auf sie zu und sprach sie an:

„Heißes Wetter heute oder nicht, Katrin? Da tut ein Eis wohl.“

„Bei deiner Gegenwart wird mir sowieso schon kalt.“ gab Katrin zurück. „Außerdem habe ich jetzt Feierabend.“

„Wie der Zufall so spielt, ich auch.“ feixte Matthias. „Wollen wir nicht zusammen fahren?“

„Ich bin schon zusammengefahren, als ich dich das erste Mal gesehen habe.“ konterte sie im unterkühlten Ton. „Außerdem gedenke ich, den Rest des heutigen Tages mit meinem Freund zu verbringen.“

„Der kann doch warten, oder?“ sagte Matthias.

„Überschätz´ dich nicht.“ gab Katrin kühl zurück und ging weiter. Matthias folgte ihr.

„Na, was ist?“ fragte er sie.

Wortlos verschwand sie durch die Tür, als ihre Kollegin Helga auftauchte.

„Widerlich, dieser nachgemachte Gockel.“ sagte Katrin verächtlich. Dabei zog sie ihren Kittel aus und packte ihre Sachen, während sie von ihrer Kollegin gemustert wurde.

„Dann müsstest du mich für eine vorgemachte Henne halten.“ lachte sie. Dabei schloss sie ihre Augen und fuhr fort:

„Endlich wieder Wochenende. Heute abend gehe ich wieder aus und werde mir einen ganz süßen Schnuckel holen.“

„Immer noch keine Lust auf eine feste Beziehung, oder Helga?“ fragte Katrin.

„Ich sagte doch schon, das wäre mir zu langweilig.“ erklärte ihre Kollegin. „Immer derselbe Mann, das wäre nichts für mich. Wie du das aushältst?“

„Bist du eine Nymphomanin oder sowas?“ wollte Katrin wissen.

„Das kann dir doch egal sein.“ gab Helga zurück, während sie ihren Kittel auszog.

Katrin lächelte und erwiderte:

„Das hatte ich noch nie nötig, Helga. Schließlich bin ich ja in festen Händen.“

„Wenn man´s aushält.“ kam es zurück. „Sag´ ‚mal, was machst du denn am Wochenende?“

„Heute werde ich zuerst im Schaukelstuhl sitzen.“ sagte Katrin.

„Und dann?“ bohrte Helga weiter.

„Dann fange ich langsam an zu schaukeln.“ ergänzte Katrin.

Beide lachten.

„Nein, im Ernst.“ sagte Katrin. „Ich werde endlich einmal entspannen und alte Kontakte wieder festigen.“

„Hattest du denn nicht gesagt, du willst das Wochenende mit deinem Freund verbringen?“ wollte Helga wissen.

„Ach Quatsch.“ konterte Katrin. „Das habe ich doch nur zu dem blöden Matthias gesagt. Tommi ist heute Morgen im Auftrag seines Konzerns zu einem Kongress nach München gefahren und ich will nicht gestört werden.“

„Manchmal bist du zu beneiden.“ schwärmte Helga.

„Wenn man´s aushält.“ gab Katrin zurück.

Ihre Kollegin schaute sie erwartungsvoll an, doch sie bekam nichts mehr zu hören.

Katrin hatte sich gerade umgezogen und wollte in Richtung Ausgang marschieren, als ihr Chef wieder vor ihr stand.

„Gibt´s was?“ fragte sie etwas verwirrt.

„Ich muss etwas Persönliches mit Ihnen besprechen.“ gestand der Direktor. „Haben Sie einen Moment Zeit? Es ist wichtig.“

Katrin schaute ihren Chef an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr sagen wolle, er wäre in sie verliebt, denn er war ihr gegenüber immer sachlich gewesen. Doch was wollte er? Katrin wollte es herausfinden.

„Bitte.“ sagte sie zustimmend und folgte dem Direktor in sein Büro. Helga sah die beiden und folgte ihnen leise. Sie war von Natur aus neugierig und glaubte, dass Katrin vielleicht ein Verhältnis mit dem Direktor haben könnte. Nachdem sie beobachtet hatte, wie der Direktor mit Katrin in seinem Büro verschwand, setzte sie sich auf den Stuhl, der auf der anderen Seite des Raumes stand.

„Setzen Sie sich.“ forderte Thiele die Chemikerin auf.

Katrin nahm auf der anderen Seite seines Schreibtisches Platz. Sie kannte ihren Chef, der kam ohne Umschweife zur Sache.

„Klaus hat mich angerufen.“ erklärte er.

Katrin horchte auf. Das konnte nur ihr Vater ein, der mit Thiele sehr befreundet war.

„Und?“ kam es von ihr zurück.

„Ihrem Großvater geht es sehr schlecht.“ berichtete er. „Ihr Vater hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Sie ihn besuchen sollen.“

„Ach, und Jörg soll natürlich auch dabei sein?“ fragte Katrin erbost. „Verstehen Sie das immer noch nicht, dass ich ihn hasse?“

„Ihr Großvater bittet nur um einen letzten Besuch von Ihnen und Ihrem Bruder.“ erklärte Thiele. „Er wünscht sich doch so sehr, dass Sie und Ihr Bruder ihn gemeinsam besuchen.“

„Ich denk überhaupt nicht daran.“ gab Katrin giftig zurück. „Opa hat mich nie richtig leiden können, außerdem hat er immer nur mit Jörg gespielt. Das war doch damals bei Onkel Josh auch nicht anders. Warum soll ich dann hingehen, zumal Jörg auch da sein soll?“

„Weil Ihr Großvater es so will.“ erklärte der Direktor.

Katrin dachte nur kurz nach und sagte:

„Ich will Jörg nicht sehen.“

„Ich weiß von Ihrem Streit mit Ihrem Bruder.“ gestand Thiele. „Ich kenne ihn zwar nicht, aber warum sollte Ihr Großvater darauf bestehen, dass Sie beide zu ihm kommen sollen?“

„Weil Opa nicht richtig tickt.“ meinte Katrin. „Der hat doch Alzheimer oder sowas. Ich will nicht hin.“

„Ihr Großvater ist todkrank.“ erinnerte der Direktor seine Angestellte. „Sie sollten ihm den letzten Willen erfüllen. Schließlich sind Sie und Ihr Bruder die einzigen Verwandten, an denen er wirklich hängt.“

„Ach, das ist doch nur gehackter Pfannkuchen.“ entgegnete Katrin argwöhnisch. „Ich will nicht hin, ist das angekommen?“

„Ich kann es Ihnen nur anbieten.“ sagte Thiele.

„Danke, keine Lust.“ sagte Katrin, stand auf und verließ das Büro.

Draußen wartete Helga. Katrin sah auf und fragte:

„Sag´ ‚mal, was machst du denn hier?“

Helga erkannte sofort, dass ihre Kollegin eine schlechte Nachricht bekommen haben musste, denn ihr Gesichtsausdruck war eindeutig.

„Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass er von dir verlangt hat, du sollst ihm einen blasen.“ sagte Helga. „Was war denn los?“

„Was geht dich das an?“ kam es verächtlich zurück, doch dann gestand sie. „Ich soll mit Jörg zu Opa gehen.“

Helga horchte auf.

„Jörg?“ fragte sie. „Das ist doch dein Bruder. Warum sollst du zu ihm kommen?“

„Ach, keine Ahnung.“ antwortete Katrin. „Und es interessiert mich auch nicht.“

„Du solltest aber trotzdem hingehen.“ meinte Helga. „Versöhn dich doch mit Jörg, wenigstens um eures Opa´s Willen.“

„Brauchst du eine Vollklatschenreinigung oder sowas?“ fragte Katrin. „Jeder nervt mich mit seinen blöden Bemerkungen. Du hörst dich echt so an, wie der Chef. Ich will meine Ruhe haben. Was soll der Quatsch?“

„Es gibt Menschen, die dir nahe stehen, ohne, dass du es merkst.“ erklärte Helga. „Wenn ich dir einen gutgemeinten Ratschlag geben darf: Triff dich mit deinem Bruder, versöhne dich mit ihm und geh mit ihm zu eurem Opa.“

„Ach, lass mich in Ruhe.“ herrschte Katrin ihre Kollegin an und verließ die Firma. Draußen auf dem Parkplatz stiegt sie in ihren Wagen und brauste davon.

In der Zwischenzeit ertappte sie sich dabei, wie sie an die früheren Zeiten mit ihrer Familie dachte. Ob Helga und ihr Chef recht hatten? Es konnte nur eine Antwort geben. Wieder mit ihrem Bruder Kontakt aufzunehmen und den Opa besuchen. Doch bald verwarf sie den Gedanken wieder, außerdem musste sie sich auf den Verkehr konzentrieren. Aber immer wieder dachte sie an ihren Bruder. Jahrelang hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, doch jetzt kam alles wieder hoch. Immer wieder versuchte sie, es zu vergessen, doch die Gedanken kamen immer wieder, bis ihr klar wurde, dass es dennoch besser wäre, wenn sie mit ihrem Bruder Kontakt aufnehmen sollte, doch wieder verwarf sie den Gedanken.

Etwa zehn Minuten später war sie zuhause angekommen. Sie stieg aus ihrem Wagen und marschierte zielgerecht auf das Haus zu. Sie fuhr mit dem Lift nach oben und öffnete die Tür. Dann lehnte sie sich an die Eingangstür und stöhnte:

„Mann, war das wieder ein Tag!“

Danach ließ sie sich in ihren Sessel fallen und stöhnte.

Katrin war allein, denn ihr Freund Thomas wollte erst am Sonntag Abend wieder in Berlin sein. Das kam ihr wie gelegen, denn sie wollte heute mit einer Freundin ausgehen. Immerhin hatte sie Gabi Peters schon lange nicht mehr gesehen. Da sie wusste, dass Gabi ebenfalls zuhause war, rief sie dort an.

„Peters.“ meldete sich eine weibliche Stimme.

„Hi, Gabi, ich bin´s, Katrin.“

„Ach, servus.“ kam es im Hörer zurück.

„Kommst du heute mit zum Cafe Kaiser?“ fragte Katrin ohne Umschweife. „Ich muss mit dir reden. Kannst du gleich zu mir kommen?“

„Bin schon unterwegs.“ sagte Gabi.

Schon eine Stunde später war die blondgelockte Frau angekommen. Katrin hatte wegen der Hitze ihren blauen Minirock angezogen. Außerdem wollte sie beweisen, dass sie noch durchaus Erfolg bei Männern haben konnte. Leider hatte sie nicht daran gedacht, dass sie ein anderes Ziel anlocken könnte. Gabi dagegen kam in einem unvorteilhaften und geschmacklosen beigen Zweiteiler mit weiter knielanger Hose. Den Grund sagte sie Katrin.

„Wie siehst du denn aus?“ fragte diese.

„Na, im Gegensatz zu dir habe ich an anderen Männern kein Interesse.“ erklärte Gabi.

„Was heißt denn andere Männer?“ fragte Katrin. „Hast du etwa einen Mann?“

„Schon länger.“ gestand Gabi. Aber das ist doch egal.“

„Und mir sagst du nichts?“ fragte Katrin verwundert.

„Ach, wen kümmert´s.“ meinte ihre Freundin.

„Geh´n wir?“ fragte Katrin.

„Nehmen wir den Wagen oder fahren wir mit der U-Bahn?“ wollte Gabi wissen.

Schon waren die Frauen unterwegs. Gabi saß am Steuer ihres Autos.

„Also, du musst mir von diesem Typen erzählen.“ bohrte Katrin neugierig.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“ kam es von ihrer Freundin zurück. „Es gibt einen uralten Glamrocksong aus dem Jahr 1971. Der heißt Hot Love von T. Rex. Wir haben zusammen getanzt, und beim Tanzen blieb es zunächst, bis mehr daraus wurde.“

Am Kurfürstendamm angekommen, fand Gabi einen Parkplatz und parkte ein.

Nun gingen beide zum Cafe Kaiser. Da Katrin´s Freund recht gut verdiente, konnte sie etwas Geld zurücklegen. Ab und an haute sie auf den Putz. Auch Gabi war nicht gerade das, was man einen armen Schlucker nennt. Sie war Abteilungsleiterin in einer großen Firma und verdiente dabei auch nicht schlecht.

Kaum saßen die beiden im Eiscafe zusammen, ging es schon los.

„Hör zu, Katrin.“ begann Gabi. „Es gibt zwar einen Mann an deiner Seite, dennoch darfst du nicht die Menschen vergessen, die dich in deiner Kinderzeit begleitet haben.“

„Was wird denn das?“ fragte Katrin zurück. „Ein Kreuzfeuer?“

„Keineswegs!“ gab ihre Freundin zur Antwort. „Du bist einfach zu impulsiv. Was ist zum Beispiel mit Jörg?“

Katrin schreckte auf.

„Was soll das?“ fuhr sie ihre Freundin an. „Hört denn das nie auf?“

„Was meinst du damit?“ wollte Gabi wissen.

„Erst mein Chef, dann meine Kollegin Helga und jetzt du.“ gab die Chemikerin zurück. „Warum werde ich so attackiert?“

„Ich habe nie erfahren, was zwischen euch passiert ist.“ bemerkte Gabi. „Schließlich seid ihr Geschwister.“

„Das geht auch keinen etwas an.“ unterbrach Katrin ihre Freundin barsch. Doch dann wurde sie ruhiger und erwiderte:

„Na schön. Besonders gut verstanden haben wir uns eigentlich nie. Zumindest seit der Teenagerzeit nicht.“

„Aber ich hörte, dass ihr als Kinder oft zusammen gespielt habt.“ erinnerte Gabi.

„War auch so.“ bestätigte Katrin. „Ich weiß heute noch, wie wir damals in dem alten Haus bei Potsdam den Dachboden unsicher gemacht haben. Eigentlich war das ganz lustig. Aber als wir älter wurden, veränderte sich Jörg. Tja und dann, vor 10 Jahren, hat´s zwischen uns richtig gekracht. Wegen einer Kleinigkeit, jedenfalls war´s da ganz aus. Als er auszog, hat er mir noch gesagt, mich sollten die Ratten auffressen.“

„Zwei Kinder, die sich hassen, weil sie keine Kinder mehr sind.“ stellte Gabi fest.

„Machst du Witze?“ entfuhr es Katrin.

„Glaubst du nicht, dass er es inzwischen bereut hat?“ erkundigte sich Gabi. „Immerhin habt ihr euch ewig nicht mehr gesehen.“

„Der und bereuen?“ kam es äffend aus Katrins Mund.

„Das wäre doch immerhin möglich.“ glaubte Gabi.

„Jörg ist mir inzwischen gleichgültig.“ gab Katrin zurück. „Keine Ahnung, was er jetzt macht. Ich habe zwar seine Adresse und seine Telefonnummer, doch ich habe mich nie bei ihm gerührt.“

„Versteh´ ich irgendwie nicht.“ meinte Gabi. „Woher hast du dann seine Nummer?“

„Von Pa.“ erklärte Katrin. „Naja, das letzte, was ich über ihn weiß, war, dass er inzwischen seine Dauerfreundin geheiratet hat. Ich kenne sie übrigens aus der Zeit, als das mit Onkel Josef passiert ist.“

„Meinst du den Onkel, der damals ermordet wurde?“ fragte Gabi.

Katrin senkte ihre Augen und flüsterte:

„Genau der. Jörg war immer sein Liebling. Ich musste mir ständig mit ansehen, dass er bei Onkel Josef auf dem Schoß sitzen durfte, während ich von ihm abgewiesen wurde.“

„Ist deshalb der Streit zwischen euch entstanden?“ wollte Gabi wissen.

„Nein, das kam erst später.“ erklärte Katrin. „Ich glaube, es hat damit zu tun, weil ich besser aussehe, als er. Wir haben oft Parties besucht. Die Jungs schwirrten um mich, und er ging leer aus.“

„Weil er schon eine feste Freundin hatte, wie ich annehme.“ glaubte Gabi. „Hast du eigentlich darüber nachgedacht, dass er es gelernt hatte, sein Licht unter den Scheffel zu stellen?“

„Jörg ist ein Angeber.“ behauptete Katrin. „Was auch immer passierte, es musste nach seinem Dickschädel gehen. Jedenfalls herrscht seitdem nur noch Funkstille zwischen uns, und das ist auch besser so.“

„Findest du?“ wollte Gabi wissen.

„Ich kenne Jörg.“ sagte Katrin. „Der ist sowas von abgebrüht, das glaubst du gar nicht. Er könnte sogar jemanden umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken. Selbst wenn man ihn in kochendes Wasser steckt, pisst er Eiswürfel.“

Gabi versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, denn so etwas hatte sie noch nie gehört. Doch dann fasste sie sich und urteilte:

„Das klingt aber gar nicht sehr nett. Hör zu, Katrin. Wenn du jemals darüber hinwegkommen willst, solltest du Jörg aufsuchen. Ich bin sicher, dass er darauf wartet.“

„Wie kommst du denn darauf?“ fragte Katrin entrüstet.

„Du hast doch eben gesagt, er wäre abgebrüht.“ erinnerte Gabi sie. „Kann es nicht auch daran liegen, dass du dazu geführt hast?“

Katrin stand auf.

„Jetzt ist Schluss.“ giftete sie ihre Freundin an.

„Na, dann kannst du doch bei mir sitzen.“ ertönte plötzlich eine Männerstimme.

Katrin wandte sich um. Ein Mann, etwa in ihrem Alter, gutaussehend und mit dem gewissen Etwas stand neben ihr. Mit einem Blick, aus dem ein Eisstrahl hätte entstehen können, sagte sie leise:

„Kusch!“

„Warum so unfreundlich?“ kam es zurück.

„Gerade deswegen.“ antwortete Katrin. „Ich sagte Kusch.“

„Schnepfe.“ erwiderte der Mann und verschwand.

Katrin wollte sich gerade setzen, als vier Männer um sie herumstanden.

„Was soll denn dieser Ochsenauflauf?“ rief Katrin. „Hört denn das nie auf?“

Und ehe die Männer ihr nahe kommen konnten, hatte sie bereits ihr Handy aus der Tasche gerissen, und eine Nummer gewählt. Schon waren die Männer verschwunden.

Doch Katrin hatte eine Nummer nur vorgetäuscht. Gabi amüsierte sich darüber und meinte:

„Es ist eben doch nicht so vorteilhaft, gut auszusehen, besonders, wenn man eine Frau ist.“

„Was willst du damit sagen?“ fuhr sie Katrin an.

„Eigentlich nicht mehr und nicht weniger als die Tatsache, dass du beim nächsten Ausgehen keinen Minirock anziehen solltest.“ grinste Gabi und trank aus ihrem Glas.

„Männer sind blöd.“ verwahrte sich Katrin.

„Frauen auch.“ bemerkte Gabi. „Aber willst du mir nicht doch erzählen, warum es zwischen euch zum Streit kam?“

Katrin saß wieder auf ihrem Stuhl und sagte:

„Ich weiß nicht, ob dich das interessiert.“ meinte sie. „Schließlich ist das schon so lange her.“

„Ach komm schon, red´ einfach darüber.“ forderte Gabi sie auf. „Es wird dir sicher helfen. Wann hat das Ganze eigentlich angefangen?“

Zunächst druckste Katrin herum und sagte dann:

„Eigentlich ging es schon los, als er von zuhause auszog. Jörg war damals 19. Damals hat er sich so verändert. Als wir noch Kinder waren, hatten wir oft in dem alten Haus in Potsdam gespielt. Aber dann…ich weiß nicht.“

„Sag´s ruhig.“ kam es von Gabi.

„Naja,“ begann Katrin. „Also wie gesagt, als er von zuhause auszog, weil er damals Moni heiraten wollte, gab es den ersten großen Streit.“

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig, bloß weil er mit ihr immer noch zusammen ist?“ wollte Gabi wissen.

„Ich weiß nicht.“ gestand Katrin. „Natürlich ist so ein Gefühl nicht angenehm.“

„Wie hat er sie denn kennen gelernt?“ fragte Gabi.

„Jörg kennt sie aus der Schule.“ erklärte Katrin. „Er hat ihr ein paar Gewürzschnitten gegeben, weil ihre Eltern so arm waren.“

„Gab´s sowas damals?“ wollte Gabi wissen.

„Also, wir waren auch nicht gerade Millionäre.“ erklärte Katrin. „Aber wir konnten uns doch einiges leisten. Zum Beispiel den Farbfernseher, das war damals noch Luxus. Pa hat ja nicht schlecht verdient. Jörg hatte damals Taschengeld, ich nicht.“

„Oha,“ bemerkte Gabi. „Jetzt wird´s interessant. Übrigens finde ich es nicht nett, wie du deinen Bruder beschreibst.“

„Weil du ihn nicht kennst.“ erklärte Katrin. „Wenn er will, kann er Menschen umbringen, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Hat er das schon gemacht?“ wollte Gabi wissen.

„Keine Ahnung.“ gestand Katrin. „Aber zuzutrauen wär´s ihm.“

„Ach übrigens, ich hab dich vorhin unterbrochen, wie er seine Frau kennen gelernt hat.“ erinnerte Gabi die Chemikerin. „Sie sollen sich doch Gewürzschnitten geteilt haben.“

„Ach ja, stimmt.“ bestätigte Katrin. „Eigentlich hat sie die meisten verschlungen. Dadurch sind sie Freunde geworden und wesentlich später wurde mehr daraus.“

„Wie alt war er eigentlich?“ wollte Gabi wissen.

„Er muss damals 14 gewesen sein.“ erinnerte sich Katrin. „Ich war ja auf derselben Schule und habe die beiden täglich auf dem Pausenhof gesehen. Das war echt ekelhaft. Immer waren sie zusammen, manchmal kam er erst spät heim. Sie haben ihre Schularbeiten immer zusammen gemacht. Jörg war damals schon ein Zahlenakrobat, und in Deutsch und Englisch war er genauso gut. Meist kam er sehr spät heim und wir wussten, warum.“

„Haben deine Eltern nie nachgeforscht, was die beiden so trieben? Ich könnte mir schon vorstellen, dass zumindest euer Vater da ganz schön nachgehakt haben muss.“

„Beide wussten von Anfang an über die Beziehung Bescheid.“ sagte Katrin. „Zwischen den beiden lief zunächst nicht. Sie haben sich nicht einmal geküsst, zumindest anfangs nicht. Sie waren einfach nur Schulfreunde. Moni kam oft zu uns und wir aßen zusammen. Und wenn sie ging, nahm Jörg einfach Abschied von ihr. Sie wirkten damals nicht als Paar. Sie waren nur Freunde. Außerdem waren es damals andere Zeiten. Erst später wurde mehr daraus. Moni mochte damals keine Jungs, wahrscheinlich, weil sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber Jörg hat es doch irgendwie geschafft, sie rumzukriegen. Weiß der Geier, wie.“

„Durch Geduld natürlich, das hast auch du zu spüren bekommen.“ meinte Gabi. „Ich meine, so, wie du ihn beschreibst. Ich hab ihn zwar nie richtig kennen gelernt, aber er scheint ein süßer Kerl zu sein. Auch, wenn du anders denkst.“

„Du weißt, wie ich über ihn denke.“ gab Katrin verächtlich zurück. „Und ich kann mir nicht vorstellen, wie du mich vom Gegenteil überzeugen willst.“

„Dann leg dich hin und träum ein bisschen.“ lachte ihre Freundin. „Vielleicht fällt es dir dann ein, was ich meine. Ach übrigens, dein Bruder war doch der DJ von damals in der Schule bei der Abschlussfeier.“

„Ja, das war vielleicht lustig.“ bestätigte Katrin. „Er hatte damals wirklich die besten Songs aufgelegt.“

„Er hatte damals mit seinen CD-Spielern und dem Haufen CD´s wirklich das beste geliefert.“ bestätigte Katrin. „Ich kann mich noch erinnern, dass einer nicht einmal auf die Toilette wollte, weil er Angst hatte, einen guten Song zu versäumen.“

„Und wie sieht´s heute aus?“ fragte Gabi.

„Woher soll ich das denn wissen?“ gab Katrin zurück. „Ich weiß doch nicht einmal, ob er heute noch wo auflegt. Das kann sich doch grundlegend geändert haben.“

„Und was ist mit damals, als ihr in dem alten Haus gespielt habt?“ bohrte Gabi weiter. „Da müsst ihr euch noch besser verstanden haben.“

„Mag sein.“ meinte Katrin. „Aber das gehört jetzt der Vergangenheit an. Jörg ist nun mal, wie er ist.“

Bald darauf fuhren die Frauen wieder zurück. Gabi meinte:

„Wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, Katrin. Willst du Sicherheit haben, solltest du deinen Bruder aufsuchen und dich mit ihm versöhnen. Es könnte sein, dass ihr das beide dringen nötig habt.“

„Ich nicht.“ sagte Katrin mit fester Stimme. „Niemals.“

Bald darauf waren die Frauen angekommen und Katrin ging in Richtung zu ihrer Wohnung.

Das Geheimnis der 5 Arme

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