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Kapitel 1 Alle Wege führen nach Deutschland

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„Hier spricht Kiew. Es ist neun Uhr ...“ Der Radiomoderator wurde still, hustete und fügte hinzu: „Entschuldigen Sie, nicht neun, sondern halb zehn.“

Nach der Entschuldigung folgte ein kurzes Lachen, unverständlicher Lärm, danach das populäre ukrainische Lied „Ach, Kalina“.

Petro Schenko hob schwerfällig seinen Kopf vom Kissen, schaute auf die Uhr, die gegenüber dem Bett an der Wand hing, und ließ seinen Kopf mit einem langgezogenen Seufzen wieder fallen.

„Was ist denn los? Nur Lügen. Nicht einmal die Zeit können sie richtig ansagen“, sagte Petro böse, drehte sich auf die andere Seite und rief in den Raum hinein: „Es ist schon fast zehn Uhr! Ihr Monster lügt sogar eure Frauen an, indem ihr ihnen von vorgetäuschten Dienstreisen erzählt.

Wozu das ganze Land anlügen?

Wir sind auch ohne euch bestens informiert.“

Der Besitzer einer kleinen gemieteten Einzimmerwohnung vergrub seinen Kopf im Kissen und begann zu schluchzen. Seine Verzweiflung währte jedoch nicht lange. Unvermittelt schlug der junge Mann die Bettdecke zur Seite, setzte sich auf, betrachtete sich genauer und sprach leise vor sich hin:

„Also, Petro, sieh dich an – du bist ein gutaussehender Mann! Ein Mann in den besten Jahren! Jung, sympathisch, blond, zwei Jahre Wirtschaftsstudium …“ Er warf sein langes Haar aus der Stirn und fuhr fort: „Ich spreche mehrere europäische Sprachen, Ukrainisch, Russisch, ein bisschen Englisch und natürlich Deutsch, das ich in der Schule gelernt habe. Ich weiß so viele verschiedene Schimpfwörter, dass ich daraus eine eigene Sprache machen könnte, und das französische Cherchez la femme kenne ich auch noch aus der Schule. Wenn mich jemand aus Europa fragt, wie es richtig ist: in die Ukraine oder auf die Ukraine in den Urlaub zu fahren, pflege ich zu antworten: Meine Damen und Herren, richtig ist: in die Schweiz! “

Schenko sprang lebhaft vom Bett und begab sich pfeifend ins Badezimmer. Bald waren Geräusche fließenden Wassers zu hören, begleitet von spitzen Schreien. Warmes Wasser gab es in Kiew schon lange nicht mehr. Und hätte Petro gewusst, dass sich andernorts Menschen einen Eimer mit Eiswasser über den Kopf schütteten, um damit auf Sklerose aufmerksam zu machen, wäre er auf seine kalte Morgendusche sogar besonders stolz gewesen.

Der Studienabbrecher führte ein ungeregeltes Leben. Vor ein paar Jahren war er aus Donezk nach Kiew gekommen, um Wirtschaft zu studieren. Sein Großvater hatte in der Garderobe des Stadtrates gearbeitet und seine Vorgesetzten immer sehr beneidet. Mit gebücktem Rücken hatte der Garderobenmann täglich die teuren Mäntel entgegengenommen, sie aufgehängt und dabei vor sich hin geträumt. Seine Fantasien richteten sich ganz auf seinen liebsten Enkel Petro und den Wunsch, dass auch er wohlhabend und gut leben, eine Limousine fahren und teure Sachen würde tragen können. Dass er Urlaub im sauberen Europa und nicht am von schwarzen Ölflecken gezeichneten Strand machen würde.

Seit der Geburt seines Enkels belastete der Großvater ihn tagtäglich mit seinem Wunsch: nach Kiew fahren, studieren und einen staatlichen Posten besetzen. Als der Enkel erwachsen wurde, beschloss er, seinem Großvater diesen Gefallen zu tun. Nach dem Schulabschluss packte der Junge seinen Koffer, fuhr in die Hauptstadt und meldete sich an der Wirtschaftsfakultät an.

Leider verlief nicht alles so, wie er es sich wünschte. Der Großvater starb nach einem Jahr, und ein weiteres Jahr später wurde Petro Schenko wegen schlechter Leistungen von der Universität exmatrikuliert. „Nicht schlimm“, dachte Student Pechvogel, „Rockefeller hat auch nicht studiert, und beim russischen Abramowitsch weiß man es nicht so genau. Aber sie sind Milliardäre! Warum sollte ich es nicht versuchen?“

Petro Schenko mietete einen Kiosk und verkaufte dort Zigaretten und Süßigkeiten. Doch es gelang ihm nicht lange, angst- und sorgenfrei zu arbeiten.

In Kiew wurde der legitime Präsident durch den orangen Majdan1) von jenseits des Ozeans abgelöst. Die Ukraine schielte zum Vatikan hinüber und beschloss, sich ein Beispiel an den Besten zu nehmen. Zwar erzeugte das Verbrennen von Autoreifen nur schwarzen Qualm, aber immerhin: Über dem Majdan stieg Rauch auf und auf dem Thron erschien der neue Papst – der neue proamerikanische Präsident.

Der stickige Qualm des Majdan löste sich auf, im Land aber begannen Auseinandersetzungen und Unruhen. Die Wirtschaft lahmte, fiel wackelig auf die Knie und versuchte sich aus letzter Kraft aufzurütteln, um nicht vollends am Boden zu liegen und komplett den Geist aufzugeben. In dieser Situation hatte sogar der halbgebildete Student begriffen: Es war an der Zeit, sich auf die Socken zu machen. Petros Traum von den Millionen löste sich in Luft auf.

In den nächsten Tagen verkaufte der Kleinunternehmer schnell alles, was er besaß. Das war nicht viel. Mit großer Mühe gelang es ihm, den verfallenen Kiosk für ein paar zerknitterte Euro in andere Hände zu übergeben. – Euro? Weil Amerika über den Ozean schwer zu erreichen war, bis Europa aber war es nur ein Katzensprung. Und Petro hatte nachgedacht: Es war besser, in Europa wie seit der Antike schon zu Fuß zu laufen, als in Amerika einem Cowboy gleich mit einem Pferd herumzuhopsen.

Er konnte sich noch sehr gut erinnern, wie die Ukraine, begeistert von der neuen Schokoladenregierung, begonnen hatte, unter der irrsinnigen Losung „Wer nicht hüpft, der ist ein Moskal“ gemeinsam auf- und abzuhüpfen. Sie waren so lange gehüpft, bis die Halbinsel Krim vor Erschütterung weggefallen war. Petro wollte nichts mehr riskieren. Seitdem hatte er zu hüpfen aufgehört und reagierte nervös auf das Wort sowie alle Fortbewegungsmittel, die man damit in Verbindung brachte.

Im Kopf des zukünftigen Flüchtlings kreiste der immer wiederkehrende Gedanke: „Nach Europa flieht jeder, der Lust hat. Und wenn sie dort jetzt schon mit ein paar Hunderttausend Zuwanderern nicht zurechtkommen, was wird erst, wenn sich vierzig Millionen Ukrainer dorthin auf den Weg machen? Oh, man musste sich beeilen, um dort Fuß zu fassen, bevor die Massen aus der Ukraine herbeiströmten und Europa niederwalzten.“

Europa war groß, aber Petro hatte keine Schwierigkeit bei der Auswahl des Landes. Im ukrainischen Fernsehen, dem er keinen großen Glauben schenkte, hatte er die deutsche Kanzlerin Frau Merkel gesehen. Mit trauriger Stimme und schiefem Lächeln sagte sie: „Deutschland nimmt alle Flüchtlinge auf, die nach Deutschland kommen. Das ist unsere Pflicht, und wir werden sie erfüllen. Herzlich willkommen!“ Frau Merkel glaubte unser junger Ukrainer sofort und vollkommen. „Mir wird es gelingen!“, dachte er voller Überzeugung und hatte ab sofort nur noch ein Ziel vor Augen. Auf nach Deutschland!

Warum nicht fahren, wenn die Kanzlerin selbst einlädt?

Wenig später, als Petro seine Klamotten in den Rucksack packte, fiel ihm plötzlich etwas ein: „Merkel hat ja Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten eingeladen. Ich aber bin ein Ukrainer, wenn auch nur zur Hälfte. Und angeblich haben wir auch keinen Krieg. Es gibt Tote und Verletzte, Tank- und Bombenangriffe, aber keinen Krieg! Nicht einmal Polen will meine Landsleute aufnehmen, obwohl wir wie Brüder sind ...“

Schwere Gedanken trieben Petro in eine Sackgasse. Er setzte sich hin, senkte den Kopf und versank in Überlegungen. „Wohin soll ich denn fliehen? Nach Polen darf ich nicht, weil ich nur väterlicherseits Ukrainer bin. Mütterlicherseits bin ich Russe, ich könnte mich also nach Russland begeben ... Nein, nach Russland möchte ich nicht. Dort muss ich arbeiten, und außerdem ist es dort kalt und man bekommt nur geringe Sozialhilfe. Unser neuer Präsident sagte, dass die Ukraine besser der Schwanz von Europa als ein Randgebiet Russlands sei. Ihm aber geht es in Kiew sehr gut. Und was soll ich machen? Ohne Geld, Unterkunft und ohne Perspektiven? Mir bleibt nichts übrig, als mich am europäischen Schwanz festzuklammern. Dass es unter dem Schwanz oft stinkt, lässt sich überleben. Die Hauptsache ist, nicht abzufallen, wenn er heftig zu wedeln beginnt.

Aber wohin soll ich mich denn nun begeben? Nach Bulgarien? Nein! Wie schade, dass ich für Deutschland kein Flüchtling bin ...“ Unvermittelt schlug Petro sich auf die Stirn, erhob sich vom Sofa und fing an zu tanzen, während er vor sich hin sprach:

„Kluger Junge, was bin ich doch für ein kluger Junge! Meine Cousine Oksana lebt doch in Deutschland! Sie ist schon lange mit einem Deutschen verheiratet. Also, beschlossene Sache, ich fahre zu ihnen. Vordergründig erstmal zu Besuch, und dort wird man dann sehen, wohin das Schicksal führt. Leider ist mir nur ihre Anschrift unbekannt … Aber Hauptsache, ich kämpfe mich durch. Mit Verwandtschaft gehe ich nicht verloren!“

Petro tänzelte zu seinem Rucksack und begann, ihn zu packen. Er steckte zerknitterte T-Shirts, eine Wasserflasche und ein paar Packungen Kekse ein. Über seine weise Voraussicht und auf die bevorstehende Reise nach Deutschland freute er sich sehr.

Auf seinem unrasierten Gesicht leuchtete ein Lächeln.

Küss mich, Deutschland

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