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KAPITEL 2

Thermalquellen, Orangen und Kinderliga

Die frühe Kindheit in Salto

Señora Gladys war 84 Jahre alt, als ich sie besuchte, sah aber jünger aus. Sie trug einen hellblauen Pullover, eine Halskette mit passenden Ohrringen und eine pfiffige Brille. Soeben war sie mit ihren Einkäufen in der Hand aus einem Laden gekommen und über die Straße geeilt. Anschließend hatte sie freundlich ihre Besucher begrüßt und ihnen die Tür geöffnet, wachsam beäugt von einer wuscheligen schwarzen Katze, die wie ein Gartenzwerg auf der Mauer saß.

Durch einen langen Flur ging es in die mit Erinnerungsstücken übersäte Küche. Dort erzählte Gladys aus ihrem Leben: zwei viel zu früh verstorbene Ehemänner, keine Kinder. Und sie sprach über ihre Nachbarn, die Familie Suárez Díaz. „Sie haben nebenan gewohnt“, sagte Gladys. „Ja, genau da.“ Es war ein Fertighaus mit grauem Blechdach und braunen Holzwänden mit einem grünen Vorgarten, gelegen an der Kreuzung von Calle 6 de Abril und Grito de Asencio. Das Gedächtnis von Señora Gladys war untrüglich. Sie erinnerte sich noch gut an Luis Suárez: „Er hat vor dem Haus mit seinen Brüdern gekickt. Pausenlos. Und ich habe immer gesehen, wie er zur Schule ging – Escola Salto Numéro 64 – und anschließend zurückkam.“

Salto liegt im Nordosten Uruguays, etwa 500 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Mit dem Fernbus dauert die Fahrt vom Busbahnhof Tres Cruces in Montevideo sechs Stunden, vom argentinischen Concordia (Provinz Entre Ríos) sind es 20 Minuten. Salto hat 104.000 Einwohner und ist damit die drittgrößte Stadt Uruguays. Es ist Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und nach zwei Wasserfällen in der Region benannt, Salto Grande und Salto Chico.

Die Provinz Salto ist für ihre saftigen und aromatischen Orangen bekannt. Die Einheimischen bezeichnen sie als die besten in ganz Südamerika. Berühmt sind außerdem die Thermalbäder von Arapey und Damyán. Nicht von ungefähr lautet die erste Frage an Besucher Saltos: „Warst du schon in den Thermen? Da musst du unbedingt noch hin.“ Begleitet von: „Die werden dir guttun. Danach fühlst du dich wie neugeboren.“ Das Wasser der Thermalbäder von Arapey und Damyán lindert allerlei Leiden und Schmerzen. Entdeckt wurde es von Arbeitern, die in den 1940er und 1950er Jahren nach Öl bohrten. Heute kommt während der heiligen Woche vor Ostern, von den nicht ganz so Gläubigen auch „Touristenwoche“ genannt, Groß und Klein zum Besuch der Bäder in die Stadt.

Ansonsten lebt Salto von der Landwirtschaft: Zitrusfrüchte, Wein, aus dem der für Uruguay sehr bedeutende Tannat gekeltert wird, Viehzucht und seit einiger Zeit Blaubeeren. Auch Tourismus gibt es hier schon seit Ewigkeiten.

Den Historikern zufolge wurde Salto am 8. November 1756 von José Joaquín de Viana gegründet, dem damaligen spanischen Gouverneur des Territoriums Banda Oriental. Er war auf dem Weg zu einer Zusammenkunft mit dem Marqués de Valdelirios, dem Beauftragten des Königs für die neue Grenzziehung, und dessen portugiesischem Amtskollegen. Dabei machte Viana beim heutigen Salto Zwischenstation und ließ eine erste Siedlung mit einigen Lagerhäusern und Baracken für seine Truppen errichten.

Heute spielt sich das Leben in Salto hauptsächlich in Ost-West-Richtung entlang der Calle Uruguay ab. Die Straße schneidet mitten durch die Stadt und endet an einem Park kurz vor dem Río Uruguay. Hier schaukeln festgemachte Motorboote auf dem Fluss, jagen große Vögel nach Insekten und Fischen und spiegeln sich die Verwaltungsgebäude des Bezirks. Es gibt Klamottenläden, Buchhandlungen, Restaurants, Wechselstuben, Banken und Bars, vor den Geschäften erklingt Musik aus Lautsprechern, während sich eine schier endlose Blechkarawane zwischen den bunten Häusern hindurchschiebt. Schlendert man weiter in Richtung Fluss, kommt man rechterhand an die Calle Joaquín Suárez. Haus Nr. 39 ist eine der beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten Saltos: das Larrañaga-Theater.

Errichtet im klassizistischen Stil mit großen weißen Säulen, blauen Türen, viel rotem Samt, goldenem Stuck, goldenen Fresken und Kristallleuchtern, ist es ein Schmuckstück inmitten baufälliger Häuser. Die Planung geht auf den englischen Ingenieur Robert Alfred Wilkinson zurück, der für die Bahngesellschaft Ferrocarril Noroeste arbeitete. Die Eröffnung erfolgte am 6. Oktober 1882 mit einer monumentalen Aufführung von La Hija Única durch das italienische Theaterensemble Oreste Cartocci unter Leitung von Gustavo Salvini. Der wundervolle Abend bildete den Auftakt zu einer Reihe hochklassiger Veranstaltungen mit Künstlern wie Luisa Tetrazzini, Teresa Mariani oder Leopoldo Fregoli.

Nach Jahren des Verfalls und diversen Spukgeschichten über das Haus wurde das Theater 2009 renoviert und erstrahlt nun wieder in altem Glanz. In dem als Museum dienenden Bau finden auch Revuen, Opern, Konzerte und Aufführungen statt – eine Hommage an eine glorreiche Vergangenheit, so wie übrigens auch die Suite Nr. 32 des Hotels Concordia, in dem der große Tangosänger Carlos Gardel nach einem seiner Auftritte abstieg.

An Saltos Geschichte und seine vielen berühmten Söhne und Töchter erinnern u. a. der futuristische Monolith zu Ehren von Giuseppe Garibaldi (1807–1882) sowie das Haus des Schriftstellers Horacio de Quiroga (1878–1937). Garibaldi, der „Held zweier Welten“, lebte von 1845 bis 1846 in Salto und kämpfte während des uruguayischen Bürgerkriegs in den Schlachten von Itapebí und San Antonio.

Die Casa de Quiroga, ein Mausoleum, Museum und Kulturzentrum, ist ein älteres Gebäude in der Avenida General Viera. Quiroga, der als Verfasser von Kurzgeschichten, kleinen Romanen und Gedichten innerhalb der lateinamerikanischen Welt wirkte, nutzte es für die Sommerfrische. Heute beherbergt es eine Ausstellung und die Urne mit seiner Asche. Quiroga ist häufig mit Edgar Allan Poe verglichen worden, den der Uruguayer selbst für einen Meister seines Fachs hielt. Sein Leben verlief dramatisch und war geprägt vom Tod, bevor er sich mit 59 Jahren das Leben nahm. Seine Werke, wie die Geschichten von Liebe, Irrsinn und Tod oder – für Kinder – die Urwald-Geschichten, sind für Schüler in Salto Pflichtlektüre.

Die heutigen berühmten Söhne Saltos sind allerdings anderer Natur. Quer über der Calle Uruguay hängen zwei riesige Werbebanner der Stadtverwaltung, die Edinson Cavani und Luis Suárez im Trikot der Celeste zeigen, umgeben von Karnevalstänzerinnen in Pailletten. Die Karnevalswoche mit ihren Paraden ist eine weitere Attraktion Saltos – eine bunte Mischung aus Samba, Candombe und Batucada sowie afrikanischen und europäischen Rhythmen. Unter dem Klang der Trommeln paradieren die Karnevalsköniginnen fast wie im Sambódromo von Rio de Janeiro die Straßen entlang.

Doch nicht nur die Stadt selbst nutzt die Konterfeis der Kicker: „Gewinnen leicht gemacht“, ruft Suárez breit lächelnd den Passanten an der Kreuzung von Calle Uruguay und Calle Sarandí zu. Er wirbt damit für Cablevision, die lokale Kabelfernsehfirma. Etwa 20 Blocks entfernt vom Stadtzentrum, auf einem Hügel im Viertel El Cerro, befindet sich das Haus, in dem Luis Alberto Suárez Díaz in den ersten Lebensjahren wohnte. Suárez kam am 24. Januar 1987 im Krankenhaus von Salto als Sohn von Sandra und Rodolfo zur Welt. Er hat drei ältere Geschwister – Paolo, Giovanna und Leticia – und zwei jüngere Brüder, Maximiliano und Diego.

Luis – dünn und wegen seiner dichten schwarzen Haare auch „Cabeza“ oder „Cabezón“ („großer Kopf“ bzw. „Dickkopf“) genannt – war ein kerngesundes Kind. Anders als seine Geschwister bekam er noch nicht einmal die Windpocken. Mit zwei Jahren zog er sich allerdings eine Blinddarmentzündung zu und bekam zwei Tage nach der Operation eine Bauchfellentzündung, eine dabei gelegentlich auftretende Komplikation. Die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein; nicht einmal Aufstehen war dem kleinen Luis möglich. Die Ärzte mussten den Zugang erneut öffnen und die Ursache beheben. Danach verheilte die Infektion allmählich.

Lila Píriz, Luis’ Großmutter väterlicherseits, wartete im Hof ihres Hauses in der Calle Ozimane auf mich. Sie brauchte ein bisschen, bis sie die Tür öffnete, und entschuldigte sich, den Besucher nicht ins Esszimmer bitten zu können – dort schliefen Leute. Am nächsten Tag sollte es nämlich ein großes Fest anlässlich ihrer Diamanthochzeit mit Atasildo Suárez geben. Aus ihrer Ehe waren sechs Kinder hervorgegangen, die ihnen 23 Enkel und 23 Urenkel schenkten, und viele von ihnen waren aus Montevideo zur Feier gekommen.

In der Küche werkelten bereits zwei Frauen, die Brotteig kneteten. Draußen im Hof krächzte ein Papagei in seinem Käfig. Lila warnte davor, sich ihm zu sehr zu nähern: „Kommen Sie mit dem Finger in die Nähe, beißt er zu.“ Ihr Mann Atasildo döste derweil auf einem Liegestuhl. Im Hintergrund blickte man auf das viele Grün von Salto. Lila sprach natürlich auch über ihren Enkel: „Er war ein guter Junge. Fußball war sein Ein und Alles. Der spielte von morgens bis abends und hat sich immer gut mit allen verstanden. Es ist ja jetzt schon ein paar Jahre her, dass er weg ist; erst nach Montevideo und dann nach Europa.“ Und Atasildo fügte noch hinzu: „Nein, Luis kommt nicht zur Diamanthochzeit. Aber für uns reicht es auch, bei seinen Erfolgen dabei gewesen zu sein. Und zu wissen, dass er auf der ganzen Welt berühmt ist, macht uns sehr stolz.“

Mehr war den Großeltern zu ihrem Enkel nicht zu entlocken. Allerdings hatten sie auch schon ganze Heerscharen neugieriger Journalisten aus aller Herren Länder zu Besuch gehabt, die allesamt mehr über die Familie Suárez erfahren wollten. Auch in Salto selbst halten sich diverse Gerüchte über den Kicker und seine Angehörigen. So brachte eine Lokalzeitung Anfang 2014 eine Story über María Josefa Reyes Pelusa, Luis’ damals 65-jährige Großmutter mütterlicherseits. Sie sei nach Salto zurückgekehrt, da es ihr nicht gut gehe und sie kein Dach über dem Kopf habe. In der Hoffnung auf größere Auflage fuhren die Zeitungen schweres Geschütz auf, als sie den großen Skandal witterten. Alles Mögliche wurde behauptet: Der Sohn von Reyes Pelusa habe die Stadt gedrängt, ihr ein Haus zu bauen; Luis hätte jegliche Zahlung verweigert und auch sonst nichts getan, um der Großmutter in ihrer schwierigen Lage beizustehen. Es gab Geschichten, dass Luis nichts von der Sache wisse, oder auch andersherum, dass er Geld geschickt habe, nachdem er davon erfuhr. Eigentlich war es eine private Familienangelegenheit, der die Presse aber unbedingt nachgehen musste …

Luis’ Vater Rodolfo Suárez war wie schon der Großvater Soldat und diente im 7. Infanteriebataillon „Ituzaingó“ – dem Präsident Pepe Mujica beim 100-jährigen Jubiläum 2010 übrigens als Zeichen der Annäherung zwischen der linken Regierung und den Streitkräften persönlich die Ehre erwies. Die General-Artigas-Kaserne, in der das 7. Bataillon gemeinsam mit der 3. Infanteriebrigade stationiert ist, liegt nur ein paar hundert Meter vom Haus von Lila Píriz und Atasildo entfernt.

Die Kaserne besteht im Wesentlichen aus einer großen grünen Fläche mit einigen Silos; drumherum sind ein Zaun mit Türmen, auf denen Soldaten mit Gewehren Wache stehen, und Schilder mit der Aufschrift „Militärisches Sperrgebiet. Betreten verboten“. Neben der Kaserne befindet sich eine Reihe kleiner gelber Häuser, in denen die Familien der Soldaten wohnen. Hierher, in die Nummer 1.120, zog auch die Familie Suárez Díaz. Allerdings kann sich kaum jemand an den kleinen Luis Suárez erinnern – die Häuser werden alle vier Jahre neu vergeben. Und doch ist hier der Ort, an dem „El Pistolero“ ernsthaft mit dem Fußballspielen begann: auf dem Fußballplatz des 1964 gegründeten Club Deportivo Artigas, dem Verein der Armeeangehörigen und deshalb auch „Soldatenklub“ genannt.

Miguel, der gerade das Dach des Klubheims ausbesserte, erklärte mir: „Während der Militärdiktatur kriegte der Verein ordentlich Kohle, auch für Material und Plätze. Da konnten damals nur wenige Klubs mithalten.“ Deshalb wären die „Milicos“ (was etwas flapsig für „Militärs“ steht) auch immer Fußballfans gewesen. Viele in Salto erinnern sich noch gut an den langanhaltenden Lärm der Bataillonssirenen nach Uruguays Sieg gegen Südkorea bei der WM 2010 – so wie schon 1950, als Uruguay im Maracanã Brasilien schlug und seinen zweiten WM-Titel gewann.

Rodolfo Suárez war ein guter Abwehrspieler. Er spielte rechts als Manndecker, und man kam nicht ohne Weiteres an ihm vorbei. Seine damaligen Gegenspieler haben ihn als unermüdliche Klette in Erinnerung. Außerdem als einen, der auf dem Platz nie den Mund halten konnte und sich gerne mit seinen Gegenspielern anlegte, kurzum: ein „dreckiger“ Spieler. Ein harter Hund, der je nach Situation auch ziemlich ausgekocht sein konnte, eine Qualität, die Luis anscheinend von ihm geerbt hat.

Heute ist Deportivo Artigas – nach eigenen Worten der „Klub für die ganze Familie“ – ein eigenständiger Verein. Armeeangehörige, Gewerkschafter und Arbeiter spielen Seite an Seite. Angeboten werden eine ganze Reihe von Sportarten, darunter Leichtathletik, Schwimmen, Rugby oder Hockey. An der Kreuzung von Calle Apolón de Mirbeck und Avenida Feliciano Viera, nicht weit entfernt von der Kaserne, hat Deportivo Artigas einen Sportkomplex errichtet, auf den man durchaus neidisch werden kann.

Auf dem Rasen vor der Anlage begegnet man zunächst einer Büste von Uruguays Nationalhelden José Gervasio Artigas. Dahinter steht das Vereinsheim, das ein wenig an eine Ranch auf dem Land erinnert. Es beherbergt einen großen Saal für Festivitäten und ein kleines Büro voller Pokale, Medaillen und Wimpel sowie einer nicht gerade kleinen Madonnenstatue. Auf einem Banner heißt es: „Fußball ist nicht einfach, er ist unkompliziert.“

Auf der Anlage befinden sich neben dem obligatorischen Grill für asados, Barbecues nach südamerikanischer Art, drei Fußballplätze: einer mit Kunstrasen für die Kindermannschaften und zwei mit Naturrasen (darunter das Stadion mit 800 Tribünenplätzen). Hinzu kommen Umkleideräume, ein Schwimmbad und eine Halle für die ebenfalls angebotene Hippotherapie.

Die Sportanlagen wurden 2010 eröffnet. Den Bau hatten die Vereinsmitglieder durch freiwilligen Arbeitseinsatz und Spenden unterstützt, hinzu kamen 400.000 Dollar vom US-amerikanischen Verbindungsbüro für Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen (dem in ähnlicher Form auch in Deutschland existierenden Office of Defense Cooperation) und von verschiedenen uruguayischen Institutionen.

Anfang der 1990er Jahre stand an dieser Stelle allerdings noch nichts. Spiele und Training fanden auf dem Platz in der Kaserne statt. Hier traf sich auch der Nachwuchs des Viertels. Nach der Schule warfen die Kinder Hefte und Ranzen zu Hause ab und huschten dann hinüber zur Kaserne, um entweder selbst zu spielen oder den Vätern beim Training zuzuschauen. Dabei auch nur einen Tag zu fehlen, kam einem Verbrechen gleich.

Wenn die Plätze belegt waren, wurde einfach auf improvisierten Bolzplätzen oder auf den Straßen von El Cerro gekickt, die bis heute nicht asphaltiert sind – barfuß und mit irgendetwas Ballförmigem. So fing auch Luis an. Mit vier oder fünf Jahren nahm ihn sein sieben Jahre älterer Bruder Paolo mit, und der Kleine bolzte erst einmal mit deutlich älteren Jungs. Die Spiele dauerten ewig, unterbrochen nur von den Mahlzeiten. Sogar zu Hause ging es weiter, mit Kopfbällen und Ball hochhalten. Einmal machte Luis dabei sogar das Bett seiner Eltern kaputt.

Doch es wurde nicht nur zu Hause, auf den Straßen und auf staubigen Freiflächen gebolzt – es gab und gibt in Uruguay auch einen organisierten Kinderfußball, der sich großer Beliebtheit erfreut. Zuständig dafür ist die ONFI – Organización Nacional de Fútbol Infantil –, die Wettbewerbe mit Fünfermannschaften austrägt. Die Kinder haben viel Ballkontakt, zumal die Spielfelder klein sind, und das Tempo ist hoch. So bekommen die Kleinen bereits viel Selbstvertrauen, bevor sie später auf das Großfeld wechseln.

Wegbereiter der Kinderwettbewerbe in Salto war Don Alfredito Honsi, Jahrgang 1923, ein kleiner Mann mit weißem Haar. In den 1960er Jahren rief er die Liga de Baby Fútbol del Ceibal ins Leben, im Jahrzehnt darauf die Liga Salteña de Baby in Salto und 1987 schließlich die Mini Mundialito, eine WM für die Kleinen. Teilnehmen konnten Kinder zwischen vier und sechs Jahren, gespielt wurde im Dezember und Januar während der Schulferien. Dann fanden jeden Abend vier bis fünf Begegnungen von zweimal 15 Minuten statt.

Zu den Spielen kamen viele Zuschauer, die fünf Pesos Eintritt entrichteten, umgerechnet nur ein paar Cent. Mit dem Geld wurden die 400 Medaillen – für jedes teilnehmende Kind eine – und die Preise bezahlt: Schulhefte, Schreibutensilien, Radiergummis, Federmäppchen und Buntstifte. Das Turnier – das heute in veränderter Form für ältere Kinder ausgetragen wird – fand seinerzeit auf dem Hof des Freizeitzentrums in Salto-Ost statt. Heute ist dieser Hof überwuchert von Unkraut und zugewachsen mit Bäumen, deren Kronen bereits über die Mauer ragen. Die Tore sind verwittert, die Netze fehlen. Nur zwei Hunde dösen im Schatten und halten Wache.

Alfredo Honsi, Don Alfreditos Sohn, betreibt in der Nähe den lokalen Radiosender Impactos FM. Er berichtet, dass die Stadtverwaltung den Hof eigentlich wieder herrichten lassen wolle, damit dort wieder Baby Fútbol, aber auch Tanz, Theateraufführungen und Festivitäten stattfinden können. Dann erzählt er: „Ein paar Leute aus Montevideo wollen hier für einen Dokumentarfilm drehen. Weil auf diesen Betonsteinen sowohl Luis Suárez als auch Edinson Cavani mal angefangen haben. Der eine im Trikot von Deportivo Artigas, der andere in dem von Nacional de Salto. Und wer die meisten Tore geschossen hatte, stand dann hinterher ruckzuck vor dem Eisstand zehn Meter weiter. Der heiß begehrte Hauptpreis war nämlich eine große Tüte Eis.“

Luis wurde von seinem Onkel trainiert, von Sergio „El Chango“ („Junge“) Suárez. „Er hat ihm beigebracht, gegen einen Ball zu treten, als er vier Jahre alt war. Damals war er das Vereinsmaskottchen“, sagte Honsi. Auch „El Chango“ wohnte an einer unbefestigten Straße in El Cerro, einem eher ärmlichen, aber stolzen Stadtviertel. Als ich bei ihm vor der Tür stand, wurde ich sogleich von seinen Kindern, den Cousins und ihren Freunden in Empfang genommen. Das kleinste von ihnen trug ein Spiderman-Kostüm und war etwas verlegen gegenüber dem Gast, aber das Mädchen bat mich freundlich herein. Sergios Frau erklärte, dass ihr Mann bei der Arbeit sei, zum Mittagessen aber zurückkomme.

„El Chango“ war pünktlich. Er rollte mit seinem Motorrad vor, stieg aber noch einmal auf, bevor er es endgültig parkte, nahm Spiderman auf den Sitz und donnerte mit ihm einmal vor dem Haus hin und her. Anschließend setzte er sich in seinem blauen Arbeitsoverall im Esszimmer vor seine Vorspeise und fing mit sanfter, ruhiger Stimme an zu erzählen – über seine Arbeit als Tischler und seine Zeit als Fußballspieler bei Deportivo, Phoenix und Colombia, drei nicht mehr existenten Amateurklubs.

Zur Zeit gibt es in Salto keine Profiteams, dafür aber fünf Amateurligen: Liga Salteña, Liga Colonias agrarias, Liga de fútbol comercial, Liga Senior (Alte Herren/Ü35) und Liga Master (Altliga/Ü45). Nicht mitgerechnet sind dabei die Stadtauswahl (Selección Salteña) und der Nachwuchsbereich. Aus diesen Ligen stammen diverse starke Spieler, darunter Alexander Medina (u. a. Nacional und FC Cádiz), Gonzalo de los Santos (u. a. Peñarol, FC Málaga, FC Valencia), Bruno Fornaroli (u. a. Nacional und Panathinaikos) und Edinson Carvani (u. a. SSC Neapel und Paris Saint-Germain).

Aber zurück zu Luis. Was war er für ein Typ? „Er war genau wie heute auch“, lachte Sergio. „Fußball war sein Ein und Alles. Er ist mit einem Ball aufgewacht und mit einem Ball schlafen gegangen. Er hat genauso auf der Straße gespielt wie die da.“ Dabei zeigte er nach draußen auf die Kinder, die, statt am Computer zu spielen oder fernzusehen, lieber ihre Ballkünste trainierten.

„Am Anfang war Luis ein bisschen ungeschickt am Ball, aber er ist jedem Ball hinterhergelaufen. Er hat immer nachgesetzt. Er wollte gewinnen, und er wollte auf jeden Fall das Tor machen. Genau wie heute“, erzählte Sergio weiter. Ich konnte es nicht glauben. Der Torschützenkönig der Premier League 2014 und der Primera División 2016 konnte echt nicht mit dem Ball umgehen? Sergio antwortete: „Im Tor war er besser. Bei Mannschaften, von denen ich wusste, dass sie uns in die Mangel nehmen würden, habe ich ihn in den Kasten gestellt. Gut fand er das nicht, aber er hat sich ordentlich geschlagen. Er hat oft die Kastanien aus dem Feuer geholt.“

Es war seltsam, sich Luis Suárez als Torwart vorzustellen. Sergio erhob sich vom Sofa und verschwand kurz irgendwo im Haus. Kurze Zeit später kam er mit einer Plastiktüte zurück. Sie trug das Konterfei von Mafalda, der Hauptfigur der gleichnamigen Comicserie des argentinischen Cartoonisten Quino. In der Tüte verbargen sich Erinnerungen aus alten Zeiten. Da stand Sergio nun, graues Haar und runde Brillengläser. Mit einem Lächeln, das an seinen Neffen erinnerte, beugte er sich über den Tisch, und ein Schnappschuss nach dem nächsten kam zum Vorschein.

Ein Foto zeigte die Kinder von Deportivo Artigas mit Luis vor dem Tor, ein anderes den Hof des Freizeitzentrums Salto-Ost, auf dem Kinder mit verschränkten Armen und ernstem Gesichtsausdruck in die Linse schauen – genau wie die erwachsenen Spieler vor wichtigen Partien. Die Trikots waren rot mit weißen und blauen Streifen, die Hosen hellblau. „Die Hemden sind mehr oder weniger die gleichen wie bei Independiente aus Argentinien“, meinte Sergio.

Aber wo war Luis? Den konnte man kaum erkennen. „El Chango“ deutete mit dem Zeigefinger auf einen Jungen in der zweiten Reihe: ein großer Kopf mit dunklem Haar und breitem Grinsen. „Aber hier müsstest du ihn erkennen“, meinte Sergio beim nächsten Bild. Die Kinder standen der Größe nach aufgereiht neben einem ziemlich holprigen Rasenplatz. Auf dem Foto befand sich auch Sergio, deutlich jünger und mit dunkelbraunem Haar. Luis war der Dritte von unten. Er trug ein wenig zu große Hosen und unterdrückte ein Lachen – es sah aus, als stünde er kurz vorm Platzen.

Ein weiteres Foto des Stürmers in spe im Tor: Pilzkopffrisur, Typ Beatles in den 1960er Jahren. Auf einem anderen steht Luis in orangenem Trikot mit den Händen hinter dem Rücken in der zweiten Reihe, direkt neben seinem Onkel. Der versucht gerade verzweifelt, ein anderes Kind zu bändigen, das einfach nicht stillstehen will. Es folgte das nächste Foto, dieses Mal eines seiner eigenen Söhne, bei einem Spiel der Junioren von Nacional. „In meiner Familie spielen wir alle Fußball“, sagte er. „Mein Sohn hat es in der Jugend von Nacional versucht, aber sie haben ihn am Ende doch nicht genommen.“

Noch ein Familienfoto, dieses Mal der Onkel mit Luis und dessen Bruder Maxi. Neben ihnen steht Braian Rodríguez, ebenfalls ein Profi aus Salto, der später in Spanien bei Betis Sevilla spielte. Dann war es Zeit für das Mittagessen. Ich wollte nicht länger stören, auch wenn Sergios Frau meinte, dass man doch nach dem Essen noch weitergucken könne. Aber bevor ich ging, hatte ich noch eine Frage: „Was ist denn deine verrückteste Erinnerung aus der Zeit?“

Sergio lachte und antwortete: „Das Lustigste, woran ich mich erinnere, war, als Luis einmal mitten im Spiel die Hand hob. Dann fragte er den Schiedsrichter, ob er das Spiel anhalten könne, damit er mal kurz aufs Klo gehen kann. Ein anderes Mal, als er so ungefähr fünf Jahre alt war, stand er auf dem Platz und sah plötzlich seinen Bruder Paolo unter den Zuschauern, wie der gerade eine leckere heiße Pizza mampfte. Luis kickte daraufhin den Ball weg und lief zu Paolo rüber, weil er auch ein Stück abhaben wollte. Aber Paolo sagte ihm, er solle gefälligst abhauen und weiterspielen. Luis hat das überhaupt nicht eingesehen und angefangen zu heulen. Er wollte doch auch Pizza.“

Allerletzte Frage: „Luis hat oft gesagt, dass du ihm gezeigt hast, wie man mit dem Ball umgeht. Was genau hast du ihm beigebracht?“ Sergio antwortete: „Gar nichts habe ich ihm beigebracht. Die Grundlagen hatte er ja schon. Alles, was er erreicht hat, hat er sich selbst zu verdanken.“ Bei Braian Rodríguez hörte sich das ganz anders an. Ich besuchte Braian beim Abschlusstraining vor der Partie gegen UD Almería. Der damalige Betis-Stürmer, der im Kindesalter ebenfalls bei Deportivo Artigas spielte, hatte die Ratschläge von „El Chango“ noch genau im Ohr: „Er hat uns die Liebe zum Fußball gelehrt und dass man sie mit Leidenschaft leben muss. Das waren wichtige Ratschläge, die wir seit der Kindheit verinnerlicht haben.“

Braian weiter: „Er hat uns gezeigt, wo man auf dem Platz hinlaufen muss, wie man mit dem Ball umgeht, wie man ihn erobert, wie man sich freiläuft, wie man einen Spielzug abschließt. Er hat uns eingebläut, dass Fußball ein Mannschaftssport ist und kein Einzelwettbewerb; dass man den Ball auch abspielen muss. Alles Dinge, die ein Kind nicht unbedingt weiß und sofort versteht. Er war ein toller Lehrer. Ohne seine Hilfe wären wir keine Profis geworden.“

Bevor er nach Trainingsende unter die Dusche ging, sinnierte Braian, den Ball zwischen den Füßen und ein Lächeln im Gesicht, noch einmal über seine ersten Fußballerjahre: „Das waren schöne Zeiten. Wir hatten einfach Spaß, und wir haben eine Menge gelernt. Wenn der Dezember vor der Tür stand und wir die Termine für die Mini-WM wussten, waren wir total aufgeregt. Alle wollten gewinnen und den Titel holen, beste Mannschaft und Torschützenkönig werden. Für uns war das einfach nur ein großes Fest.“

Über Luis sagte Braian: „Mein Vater war auch in der Armee, genau wie der von Luis. Er stand bei Deportivo Artigas im Tor. Als Kind habe ich zusammen mit Luis im Verein gespielt. Im Tor hat er gut gehalten, draußen war er schnell und ein Schlitzohr, genau wie sein Vater. Er konnte mit seiner Spielweise locker zwei oder drei Gegenspieler stehen lassen.“

Und weiter: „Gegen unsere Mannschaft hat keiner gewonnen. Keiner wollte gegen uns spielen. Etwas später, als Luis sieben Jahre alt war, ist er mit seiner Familie nach Montevideo gezogen. Noch ein paar Jahre später bin ich dann auch dorthin, weil ich bei Cerro angefangen habe. Viele Spieler aus Salto entwickeln sich dank der Kinderliga, der Bolzplätze und des Kickens auf der Straße super und träumen bald davon, nach Montevideo zu gehen, zu Nacional oder Peñarol. Und danach kommt vielleicht der große Sprung nach Europa. In eine andere Welt.“

1994 tat Rodolfo Suárez dann etwas, was eigentlich nur wenige tun: Er bat um seine Versetzung zu einem Infanteriebataillon in Montevideo. Nur Luis wollte nicht aus Salto weg. Niemand konnte ihn überzeugen, weder mit Zuckerbrot noch mit Peitsche. Also blieb er noch einen Monat bei seiner Tante, bevor er dann doch der Familie hinterherzog. Danach kam er nur noch gelegentlich nach Salto.

Heute ist Luis ganz auf Montevideo fixiert, anders als Cavani, der erst mit 16 Jahren nach Montevideo ging und bei jeder Gelegenheit wieder nach Salto kommt. Dann frönt er seinem Hobby – Angeln im Río Uruguay –, besucht die Familie, trifft sich mit Jugendfreunden und lädt seine Akkus wieder auf. Luis dagegen hat den Großteil seiner Jugend in Montevideo verbracht, dort leben seine Mutter, sein Vater und seine Geschwister. Auch Einladungen der Stadt Salto und seiner Grundschule hat er ausgeschlagen. Deshalb heißt es mitunter, er sei kein echter „Salteño“. Eigentlich aber ist es nur die klassische Geschichte von einem, der früh im Leben fortzog – er hat der Kindheit in Salto ganz einfach „adiós“ gesagt.

Luis Suárez

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