Читать книгу Narbenmeer - Mandy Osterburg - Страница 7

Оглавление

August 2015

Ich verbrachte meinen Sommer am See, in meiner alten Heimat, dem Havelland. Ich hatte mir eine Auszeit genommen, drei Monate für mich allein, weg von zu Hause, weg von diesem Alltagstrott und von Gewohnheiten, die mich zu fest im Griff hatten, die mir die Kehle zuschnürten. In diesen Wochen habe ich alles mit einer nie gekannten Intensität erlebt und in mich aufgenommen. Ich saugte es auf wie ein Schwamm. Mehr brauchte ich anscheinend nicht. Ich war glücklich. Im Haus meiner Eltern fühlte ich mich geborgen und willkommen. Ich spürte, wie sehr sie mich liebten und wie mir all das gefehlt hatte. Die Tage und Stunden gingen so wunderbar leicht ineinander über, dass ich mich zuweilen fragte, ob ich so viel Glück eigentlich verdient hatte. Es war ein Sommer wie aus dem Bilderbuch, sonnig, warm und leicht. Jeden Morgen fuhr ich mit dem Rad zum See, fuhr über duftende Wiesen, goldene Felder und durch summende Kiefernwälder, schwamm ausgiebig und fühlte mich danach herrlich erfrischt. Und am Abend fuhr ich dann noch einmal durch den Wald, sprang ins kühle Wasser und war frei. Ich schwebte förmlich durch die Tage und ließ mich treiben von einer Sorglosigkeit, die ich nicht mehr kannte und von der ich nicht genug bekommen konnte.

Doch da war noch etwas anderes, nicht Greifbares, ein vages Gefühl, das ich in mir gespürt und verdrängt habe. Erklären lässt sich das schlecht. In manchen Augenblicken fühlte es sich an wie das Ende von etwas. Da gab es eine Traurigkeit und auch Wehmut in mir. Irgendetwas veränderte sich. Nur konnte ich es nicht richtig einordnen. Wie auch? Da existierte eine Tiefe in mir, die mir fremd war. Meine Mutter sagte mir später einmal, dass sie das auch so empfunden habe. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und waren uns nah wie nie zuvor.

In den letzten Tagen dieses so wunderbaren Sommers änderte sich dann tatsächlich etwas. Ich hatte Schmerzen in meiner linken Brust und im linken Arm. Zuerst traten die Beschwerden nur nach dem Schwimmen auf. Ich schob es auf die ungewohnte Anstrengung und auf mein Herz, das manchmal stolperte, und ignorierte die Schmerzen einfach. Doch meine Mutter ließ nicht locker. So ging ich zu einem Allgemeinmediziner im Dorf. Er untersuchte mich gründlich, machte ein EKG und sagte, dass alles in bester Ordnung sei und meine Beschwerden wohl vom Rücken kämen. Ich war beruhigt.

Der Sommer war vorbei und ich fuhr mit einem schweren Herzen zurück nach Hause zu Franz, meinem Partner, zurück in ein Leben, das ich nicht mehr wollte. Nur wusste ich das damals noch nicht.

Zu Hause angekommen, wurden die Schmerzen plötzlich schlimmer. Ich hatte sie nun auch nachts, wenn ich auf dem Bauch oder auf der linken Seite lag. An einem Morgen, nur wenige Tage nach meiner Rückkehr, tastete ich meine Brust ab und da spürte ich etwas ganz deutlich. Ich spürte einen großen, festen Knoten in meiner linken Brust. Voller Panik rief ich Franz an. Er sagte etwas Ungeheuerliches: „Ja, ich habe den Knoten auch bemerkt.“ Ich habe ins Telefon geschrien: „Warum hast du dann nichts gesagt?“

Warum hatte er nichts gesagt? Und warum war ich nicht schon viel früher auf die Idee gekommen, meine Brust abzutasten? Ganz egal, in diesem Moment wusste ich, dass ich handeln musste. So wie man spürt, dass man in Gefahr ist und die Flucht ergreifen sollte. Am Nachmittag des gleichen Tages, es war der 21. August, ein Tag, der sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hat, rief ich Dr. Beyer, meinen Frauenarzt, an. Er sagte, dass ich sofort vorbeikommen solle.

21. August

Es ist noch nichts passiert, nichts weiter als ein schlechtes Gefühl und nichts weiter als ein Knoten in meiner Brust. Sicher wird sich alles als völlig harmlos herausstellen. Mein Termin ist einfach nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich will lediglich Gewissheit, sage ich mir wieder und wieder. Doch eine dunkle Vorahnung hat sich bereits in mir breit gemacht, eine unbestimmte Angst. Ich bin nervös und durcheinander, als ich im Wartezimmer sitze. Ich versuche mich abzulenken, nehme eine Zeitschrift und blättere Seite um Seite darin. Doch nichts davon erreicht mich. Alles verschwimmt vor meinen Augen, erscheint plötzlich so belanglos und banal. Ich probiere, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Auch das funktioniert nicht. Ich spüre nichts außer der Furcht meines Herzens in meiner Brust und der Frage in meinem Kopf: Wie lange ist mein letzter Brustultraschall her? Ich kann mich nicht daran erinnern und das bedeutet: Es ist viel zu lange her.

Dann gibt es einen Riss, ein Beben in meinem Inneren, die Zeit davor und die danach. Diese Stunden, die noch immer unfassbar sind und in denen ich hoffe, dass das alles nur ein böser Traum sein kann.

Dr. Beyer ruft mich auf und ich folge ihm ins Behandlungszimmer. Mit jedem Schritt wird meine Angst größer. Mit jedem weiteren Schritt betrete ich ein Minenfeld. Doch ich kann nicht mehr zurück, habe keine Chance umzudrehen. Ich sitze in der Falle.

Als erstes tastet Dr. Beyer meine linke Brust ab. Er versucht, mich zu beruhigen. Doch als er den Knoten ertastet, verschwindet das Lächeln aus seinem Gesicht. Ich lege mich auf die Liege für den Ultraschall. Während der Untersuchung wird Dr. Beyer immer blasser. Er sieht besorgt aus, beinahe schockiert. Mir gefriert das Blut in meinen Adern. „Doch das kann nicht sein. Was soll das schon bedeuten?“, frage ich ihn. Seine Stimme ist brüchig, als er zu sprechen beginnt: „Das sieht nicht gut aus.“ „Wie? Was soll das heißen?“, frage ich verunsichert. Er muss sich irren. Das kann nur ein Traum sein und gleich werde ich aufwachen. Doch er redet weiter: „Das ist ein Tumor und er ist schon relativ groß. Du musst doch etwas bemerkt haben. Warum bist du nicht früher gekommen?“ Ich bin erstarrt, kann nicht mehr sprechen. Wir sind beide zutiefst bestürzt. Ich bebe, kurz darauf breche ich in Tränen aus, schluchze, zittere am ganzen Körper, will hier nur weg. In diesem Moment ist alles zerstört, einfach alles, was ich an Hoffnung verspürt hatte. Angst und Panik wachsen in mir zu einem Ungeheuer heran. Ich spüre, dass es dieses Mal anders ist, dass es nicht harmlos ist. „Der Tumor ist circa drei Zentimeter groß“, sagt Dr. Beyer. Er ist ein erfahrener Arzt und hat schon vieles gesehen. Bestimmt hat er erkannt, dass der Tumor alles andere als harmlos ist. Warum wache ich nicht auf? Er versucht mich zu beruhigen, nimmt mich in die Arme. Doch es hilft nichts. Ich bin verloren. Wir beide sind es. Eine Flut aus Entsetzen und Ohnmacht rollt heran und reißt mich mit sich.

Auf einmal erscheint alles unwirklich, ich falle heraus aus Raum und Zeit und stürze in einen Abgrund. Es hört nicht auf. Ich existiere außerhalb meines Ichs wie ein Geist, wie in Trance, weiß nicht, wie ich mich beruhigen soll, lache plötzlich hysterisch. Ich höre noch, wie Dr. Beyer einen Termin im Krankenhaus, im dortigen Brustzentrum, für mich macht. Den Begriff habe ich noch nie gehört und ich begreife ihn deshalb auch nicht. Ich traue meinen Ohren nicht. Ein Termin am Montag für eine Biopsie. Es muss ein Irrtum sein.

Vier Tage Ungewissheit. Wie soll ich das aushalten? Ich will auf der Stelle wissen, was mit mir los ist. Ich renne aus der Praxis. Ich laufe, bis ich keine Luft mehr bekomme, laufe so lange, bis ich atemlos bin vor Angst und Schrecken. Dann sinke ich zu Boden und schluchze. Vielleicht stöhne ich auch vor Schmerz. Jemand fragt mich, ob alles in Ordnung sei. Ich antworte nicht, kann nichts erwidern, stehe nur auf und taumle wie eine Betrunkene zu meinem Auto. Nichts ist mehr in Ordnung. Ausweglosigkeit. Wohin soll ich nun? Ich fahre betäubt nach Hause. Doch dort halte ich es nicht aus, halte weder Ruhe noch Stillstand aus. Ich muss mich bewegen, nehme mir mein Fahrrad und trete wie wild in die Pedale. Schneller, immer schneller, weg, einfach nur weit weg. Tränen strömen über mein Gesicht, ein ganzes Meer aus Tränen überströmt mich. Ich habe solche Angst, Todesangst. Ist das das Ende? Schreien! Ich möchte den Schmerz aus mir herausschreien. Und dann schreie ich in den Wald hinein. Ich schreie so lange, bis meine Stimme mich verlässt, so lange, bis ich endlich leer bin, leergeschrien.

22. August

Ich werde verrückt, weil ich nichts tun kann. Diese Ungewissheit und das Warten sind grausam. Franz ist die Ruhe selbst. Er sagt, dass alles gut wird, dass ich nicht immer vom Schlimmsten ausgehen darf. Er hat gut reden. Hat er überhaupt keine Angst um mich? Ich schütte mein Herz woanders aus, bei allen möglichen Leuten. Ich hoffe, dass es dadurch leichter wird. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Nein, ist es nicht. Alle sind nur sprachlos. Eine Freundin meiner Mutter ist die Einzige, die mich versteht. Sie hatte bereits zweimal Krebs. Ich rede mir alles von der Seele, rede, rede und rede. Nichts wird besser oder leichter dadurch.

24. August

Die längsten vier Tage meines Lebens sind vorbei. Die Nächte waren am schlimmsten. Ich habe wachgelegen, stundenlang die Decke angestarrt, bin aufgestanden und durch die Dunkelheit gegangen, habe mich wieder hingelegt und auf den Morgen gewartet. Er hat sich sehr viel Zeit gelassen.

Ich sitze im Krankenhaus und warte auf die Biopsie. Der Wartebereich ist steril und anonym. Mir ist kalt und heiß zugleich. Ich zittere am ganzen Körper, mir ist speiübel. Die Angst lähmt mich, diese Furcht vor dem Unaussprechlichen, dem Unvorstellbaren. Die Zeit zerrinnt in meinen Händen wie Sand. Ich habe absolut nichts mehr unter Kontrolle.

Dann ruft der Arzt mich auf. Ich folge ihm in den Behandlungsraum. Er gibt mir die Hand und stellt sich vor. Er sagt: „Guten Tag, ich bin Dr. Bari, leitender Arzt des Brustzentrums.“ Ich bin ein wenig erstaunt, weil ich ihn mir ganz anders vorgestellt hatte. Er ist aus einem Land, in dem schon lange Krieg herrscht und mir kommt sofort der Gedanke: Diesen Mann kann nichts mehr erschüttern, der hat schon alles gesehen und vielleicht sogar erlebt. Ob das gut oder schlecht für mich ist, weiß ich noch nicht.

Er erläutert mir kurz und knapp, wie die Stanzbiopsie ablaufen wird. Zunächst macht er einen Ultraschall links, dann rechts, markiert während der Untersuchung mehrere Stellen an meiner linken Brust und betäubt diese mit einer Spritze. Dann nimmt er das Stanzgerät, das aussieht wie eine große Wasserpistole, hält es an meine linke Brust und plötzlich schießt das Gerät in mich hinein. Ich erschrecke mich fürchterlich und zittere wie Espenlaub. Drei Mal schießt das Gerät und jedes Mal zucke ich entsetzt zusammen. Der Arzt erklärt mir, dass sich an dem Gerät eine Stanznadel befindet, die mit enorm hoher Geschwindigkeit durch den Tumor schießt. Deshalb gibt es auch dieses markerschütternde Geräusch. Um genauen Aufschluss über die Art und Beschaffenheit des Tumors zu erhalten, wird an drei verschiedenen Stellen eine Gewebeprobe entnommen. Dadurch ist es möglich, größere Zellverbände zu erfassen, erklärt er weiter.

Ich bekomme einen festen Brustverband und ein Kühlkissen, weil die Einstichstellen nachbluten können. „In zwei Tagen ist das Ergebnis da“, sagt Dr. Bari. Ich bekomme einen Termin für Mittwoch und verlasse den Behandlungsraum. Jeder Schritt ist ein Schritt in eine neue Ungewissheit, in ein Terrain, das ich nicht kenne. Es fühlt sich an, als ob ich ein weiteres Minenfeld betrete.

Franz wartet vor dem Krankenhaus auf mich. Ich spüre seine Hilflosigkeit und Beklemmung, doch er würde das niemals zugeben. Stattdessen spielt er den starken, durch nichts zu erschütternden Mann. Aber das hilft mir gerade überhaupt nicht. Wenn er besorgt wäre, mich festhalten würde, dann wäre ich nicht so verdammt allein.

25. August

Ich habe es noch nicht übers Herz gebracht, meine Mutter anzurufen, um ihr alles zu erzählen. Ich wäre sofort in Tränen ausgebrochen. Mit meinem Vater zu sprechen, fiel mir leichter. Er ist sachlich und nüchtern geblieben. Ich habe keine Ahnung, wie es wirklich in ihm aussieht.

Zwei Tage lang warte und bange ich. Stunde um Stunde, Minute für Minute werden zur Qual. Die Zeit ist verschwunden. Sie hat keinerlei Bedeutung mehr. Meine Uhren ticken jetzt anders.

26. August

Es ist Mittwoch. Ich sitze im Krankenhaus und warte auf das Ergebnis der Biopsie. Jetzt scheint noch alles möglich, ein Irrtum, ein böser Traum, nichts weiter. Dann ist es so weit. Dr. Bari ruft mich auf. Sein ernster Gesichtsausdruck verrät ihn und ich weiß sofort, dass nichts gut ist. Dann spricht er es aus, langsam und deutlich und tragisch: „Der Tumor ist bösartig. Sie haben Brustkrebs.“ Ich höre das und höre doch nichts. Mein Gehirn will es nicht verarbeiten. Es hat seine Funktion eingestellt. Ich will nur eins: raus hier, raus aus diesem Zimmer, raus aus dieser Wirklichkeit, raus aus meinem Leben. Doch ich sitze wie erstarrt auf dem Stuhl. Dr. Bari sitzt mir gegenüber. Ich möchte schreien. Doch kein Laut kommt über meine Lippen. Während mein Herz zerreißt, mein Kopf explodiert, steht die Zeit still. Es gibt keine Zeit mehr.

Langsam erwache ich aus meiner Starre. Dr. Bari spricht wieder zu mir: „Der Tumor ist zwar bösartig, aber nicht aggressiv böse. Das ist gut. Der Tumor muss entfernt werden. Ich operiere brusterhaltend.“, sagt er. Soll das ein Trost sein? Wie unwichtig erscheint es ob Brüste oder keine Brüste. Es geht um mein Leben, verdammt noch mal.

„Die Operation wird bereits in der nächsten Woche stattfinden. Vorher sind noch einige Untersuchungen notwendig“, teilt er mir mit. Ich schaue die ganze Zeit nur auf seinen Mund. Vielleicht hoffe ich, dass er mir gleich sagen wird, dass das alles ein Irrtum ist, ein Missverständnis. Aber nein, er sagt: „Brustkrebs wächst sehr langsam, streut aber oft. Was bedeutet, dass sich bereits Metastasen gebildet haben können, etwa in den Lymphknoten, der Lunge, der Leber und in den Knochen.“ Sein Mund schließt sich. Es gibt keinen Irrtum. Ich frage mit zitternder Stimme: „Wie bitte? Was soll das bedeuten?“

27. August

Woher soll ich nur die Kraft nehmen aufzustehen? Im Augenblick ergibt nichts einen Sinn und nichts ist mehr, wie es war. Auch wenn vorher nicht alles gut war, übersteigt das hier meine Vorstellungskraft.

Meine Eltern sind gestern Abend angekommen. Wir haben zusammen geweint. Es hat mir das Herz zerrissen. Ich wollte sie trösten, doch ich konnte es nicht. Meine Mutter ist schon jetzt um Jahre gealtert. Mein Vater steckt es besser weg. Er hat eine dicke Haut. Sie wollen erst einmal bleiben, so lange, bis das Schlimmste überstanden ist. Wann das sein wird und was das Schlimmste ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Sie wohnen bei einem Freund meines Vaters.

Die erste Untersuchung ist ein Knochenszintigramm. Mein Vater begleitet mich in die Nuklearmedizin. Die Räume sind steril und kalt. Die Menschen, die hier arbeiten, scheinen es auch zu sein. Mein Vater und ich schweigen uns an. Es gibt keine Worte mehr, nur Angst. Ich werde aufgerufen und die Röntgenassistentin nimmt mich mit in einen Raum. Sie erklärt mir kurz, was auf mich zukommen wird. Dann spritzt sie mir eine radioaktive Flüssigkeit in die Vene. „Es wird jetzt circa anderthalb Stunden dauern, bis die Substanz ihre volle Wirkung erreicht hat. Damit die Beschaffenheit der Knochen im Szintigramm gut sichtbar wird“, sagt sie. Ich soll mindestens einen Liter Wasser trinken, erklärt sie abschließend. Plötzlich breche ich in Tränen aus. Schon jetzt ist das alles zu viel für mich. Ich kann nicht mithalten mit diesem Tempo und erst recht nicht mit dieser Anonymität. Ich brauche Zeit und habe doch keine. Die Assistentin nimmt mich in den Arm. Sie versucht, mich zu trösten, erzählt mir von ihrer besten Freundin, die auch Brustkrebs hatte, die es geschafft hat und der es heute gut geht. Ich sehe sie an, versuche zu lächeln. Es gelingt mir nicht. Mein eigener Schmerz ist so groß, dass ich an gar nichts mehr glauben kann.

Ich gehe in die Cafeteria und trinke einen Espresso. Er weckt meine Lebensgeister. Während ich so dasitze, mich wie ein Häufchen Elend fühle, fallen mir zwei Frauen auf, die mit Infusionsständern und kahlen Köpfen in einer Ecke sitzen und laut reden. Ich brauche nicht erst ihrem Gespräch zu lauschen, um zu begreifen, dass auch sie Krebs haben. Sie schimpfen auf alles und jeden. Ich höre heraus, dass sie schon mehrfach operiert wurden. Sie machen mir Angst, nicht nur weil sie zum Fürchten aussehen und ich vielleicht auch bald so aussehen werde, sondern weil sie so aggressiv und verbittert sind. Oh Gott. Ich möchte niemals so werden wie sie.

Kann ich mir das vornehmen oder wird man einfach so, wenn man Krebs hat und völlig verzweifelt ist? Wenn man von Gott und der Welt verlassen wurde? Ich kann diese Frauen nicht ertragen und gehe. Meine Gedanken überschlagen sich: Was ist, wenn ich schon Metastasen in den Knochen oder anderswo habe? Meine Gedanken und Gefühle gehorchen mir nicht mehr. Meine Welt ist zusammengebrochen. Ich liege am Boden, vor mir ein Trümmerfeld. Es sind die Trümmer meines Lebens.

Es ist so weit. Ich zittere am ganzen Körper und bin auf die Größe einer Erbse geschrumpft. Die Untersuchung dauert lange. Mein gesamtes Skelett wird durchleuchtet. Ich darf mich nicht bewegen, damit die Aufnahmen nicht unscharf werden. Ich liege erstarrt auf einer Platte aus Metall und kann kaum atmen, so nah fährt das Gerät über meinen Körper hinweg. Das alles passiert im Zeitlupentempo. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit. Was mir dabei durch den Kopf geht, ist einfach nur grauenhaft. Mein Herz hämmert wie verrückt, als wollte es in meiner Brust zerspringen. Dann ist es endlich vorbei.

Anziehen, hinsetzen, warten und bangen. Der Arzt ruft mich auf. Er ist kühl und distanziert, schaut sich die Aufnahmen im Schnelldurchlauf an und sagt: „Auf den ersten Blick gibt es keinen Grund zur Sorge.“ Ich bin so unglaublich erleichtert, dass ich den Arzt am liebsten umarmen möchte.

28. August

Ich erwache aus einem unruhigen Schlaf. Der neue Morgen ist grau und trübe. Nichts erinnert mehr an den gestrigen Tag. Es gießt wie aus Kübeln. Das passt hervorragend zu meiner Stimmung und zieht mich noch ein Stückchen weiter nach unten. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Noch immer suche ich die Stopp-Taste in dem Film, der gerade läuft. Es gibt keine.

Ich stehe auf, sehe in den Spiegel. Das bin nicht ich. Eine fremde Frau schaut mich an, eine ängstliche, unsichere, erschrockene, erschütterte Frau. Etwas in meinem Leben geht zu Ende, das spüre ich mehr als deutlich. Ich versuche mich an einem Fünkchen Hoffnung festzuhalten, daran, dass nach diesem Ende ein Anfang steht, ein Neubeginn. Wenn ich daran nicht glaube, dann ist alles nichts. Doch warum das hier passiert, wird mir das Leben, Gott oder wer auch immer jetzt nicht beantworten. Vielleicht werde ich es später einmal verstehen, tröste ich mich. So lässt es sich ein bisschen besser ertragen.

Ich sitze in der Radiologie des Krankenhauses für die nächsten Untersuchungen und fülle schon wieder einen Fragebogen aus, gebe Antworten auf Fragen. Es sind viel zu viele Fragen. Das Wartezimmer ist brechend voll. Mein Vater ist auch heute an meiner Seite. Das ist Fluch und Segen zugleich. Ich bin zu sehr in meiner Angst gefangen und er in seiner Hilflosigkeit. Als erstes wird meine Lunge geröntgt. Ich schwitze fürchterlich vor lauter Anspannung. Ich gehe in den Röntgenraum und bekomme genaue Anweisungen. Zeit für Einzelschicksale gibt es nicht. Was es stattdessen gibt, das sind Untersuchungen am Fließband und das mürrische Gesicht der Röntgenassistentin. Wenig später fülle ich den nächsten Fragebogen für die Mammografie aus. Es ist meine erste. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Es ist ein einziges Warten, Bangen und Hoffen.

Im Untersuchungsraum begrüßt mich die nette Assistentin von gestern, die mir in der Nuklearmedizin die radioaktive Substanz gespritzt hat. Sie macht mir erneut Mut. Bei der Untersuchung geht sie behutsam vor. Trotzdem ist das Einklemmen meiner linken Brust kaum auszuhalten. Der Tumor tut weh, alles tut weh und mein Herz rast. Zwei Aufnahmen links, dann ist die rechte Seite dran. Das ist nicht ganz so schmerzhaft, aber auch unangenehm. Das Gerät fixiert meine Brust, klemmt sie ein und noch ein bisschen, so lange, bis mir kaum noch Luft zum Atmen bleibt.

Die letzte Untersuchung für heute ist der Bauchultraschall. Der Arzt wirkt auf mich routiniert und etwas zu nüchtern. Aber er ist ebenso gründlich während der Sonografie und erklärt mir alles im Detail. Abschließend sagt er: „Es ist alles okay, nichts Auffälliges.“ Ich möchte antworten: „Nein, gar nichts ist okay.“ Doch ich lasse alles über mich ergehen, weil er sich gar nicht für mich interessiert. Der Arzt fährt fort: „Auch die Aufnahmen der Lunge zeigen keine Veränderungen. Den Befund der Mammografie besprechen Sie bitte mit dem behandelnden Arzt. Er muss entscheiden, was zu tun ist.“ Äh? „Was denn entscheiden?“, frage ich ihn. Ich sage noch: „Das verstehe ich nicht.“ Darauf erwidert er nur: „Dr. Bari erhält den ausführlichen Bericht.“ Unser Gespräch ist beendet. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder beunruhigt sein soll. Ich gehe meinem Vater entgegen und falle ihm in die Arme. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann er mich das letzte Mal so festgehalten hat.

Wir verlassen die erdrückenden Mauern des Krankenhauses und ein Stück Anspannung fällt von mir ab. Mein Vater fragt mich: „Wohin sollen wir fahren?“ Und ich antworte: „Weit weg, so weit weg wie möglich von diesem Ort.“ Und wir fahren weit genug, an einen See, an einen Ort, an dem ich früher oft gewesen war. Hier vergesse ich für einen Augenblick, was mir zugestoßen ist. Der Ort ist ursprünglich und verschlafen, genauso wie in meiner Erinnerung. Es gibt noch immer das nette Restaurant in einem alten, eleganten Landhaus. Wir gehen hinein und sofort fühle ich mich geborgen. Wir sitzen da und ich erinnere mich daran, wie jung und unbeschwert ich vor Jahren hier saß und wie mein Leben damals war. Tränen laufen über mein Gesicht, Tränen über Tränen. Das Essen kommt, es sieht fantastisch aus. Doch es hat einen bitteren Beigeschmack. Die Gespenster der Angst haben mich eingeholt und sitzen mit an unserem Tisch und verderben mir den Appetit.

29. August

Ich hatte einen Traum, den ich noch deutlich vor Augen habe.

Ich stehe auf einer verlassenen, finsteren Straße. Es ist Nacht und ich habe mich verlaufen. Mir ist kalt und ich merke plötzlich, dass ich nackt bin und schäme mich fürchterlich. Schutzlos und verloren stehe ich da. Menschen, die aussehen wie Geister, tauchen aus dem Dunkel auf. Sie gehen an mir vorüber und durch mich hindurch, so als wäre ich unsichtbar. Ich will weglaufen, doch kann mich nicht bewegen, stehe wie angewurzelt da und schreie um Hilfe. Aber niemand hört mich. Auf einmal sind die Menschen verschwunden. Ich bin wieder allein mitten auf einer Straße im Nirgendwo, mitten in der Finsternis. Erschrocken wache ich auf.

Meine Realität ist allerdings noch fürchterlicher als der Traum der vergangenen Nacht. Die Angst vor dem Ungewissen, vor der Zerstörung lässt mich nicht los. Vielleicht ist die Angst vor dem Schmerz viel größer als der Schmerz selbst, denke ich. Aber auch wenn dem so ist, macht es nichts leichter. Ich leide fürchterlich. Ich kann und vielleicht will ich mich auch nicht zusammenreißen. Alle sicher gut gemeinten Ratschläge kommen ausgerechnet von Leuten, die so etwas noch nicht erlebt haben. Gerade diese Leute geben vor zu wissen, was gut und richtig für mich ist: „Du musst stark sein. Sonst verlierst du den Kampf gegen den Krebs. Du musst positiv denken.“ Du musst. Du sollst. Reiß dich zusammen. Ach ja, muss ich das wirklich? Was ist, wenn ich es nicht kann, weil ich zu schwach bin? Was ist, wenn ich zusammenbreche? Was ist, wenn ich das Schlimmste befürchte und das Schlimmste eintritt? Wenn ich leide wie ein Hund? Und was ist, wenn ich kämpfe wie eine Löwin und es am Ende trotzdem nicht reicht? Wenn ich sterben werde? Wer bestimmt über Leben oder Tod? Das Schicksal? Der Zufall? Gott?

Ich bekomme auf keine meiner Fragen eine Antwort. Nur die Zeit läuft. Sie vergeht einfach, als ob nichts geschehen wäre. Aber ich habe keine Zeit mehr. Der Krebs, der sich in mir ausgebreitet und eingenistet hat, wartet nicht. Er ist unerbittlich und gefräßig. Ich kann nichts tun, außer abzuwarten, darauf zu warten, dass er ausgerottet wird. Ich will weg, muss hier raus, sonst werde ich verrückt. Deshalb haben Franz und ich beschlossen, nach Holland ans Meer zu fahren. Vier Tage Galgenfrist bis zur OP. Ich würde mich gerne darüber freuen, doch ich kann nicht.

30. August

Unsere Fahrt nach Holland ist entspannt. Mit jedem Kilometer, den wir uns weiter von zu Hause entfernen, spüre ich, wie eine Schwere von mir abfällt. Als wir ankommen, geht es mir erstaunlich gut. Holland und das Meer, wie lange das her ist. Als Franz und ich uns kennenlernten, verbrachten wir unser erstes gemeinsames Wochenende hier in der Nähe. Jetzt fühlt es sich an, als wäre das in einem anderen Leben gewesen. Und unweigerlich frage ich mich: Was ist nur aus uns geworden? Was ist nur mit uns passiert in all den Jahren? Ich schaue Franz an, aber seine Miene ist unergründlich. Mag sein, dass er dasselbe denkt wie ich.

Wir steigen aus und können es kaum erwarten, den Strand und das Meer zu sehen. Doch als wir durch die Dünen zum Strand laufen, ist das Meer verschwunden. Nur sehr weit weg ist es zu erahnen. Ich sehe nichts als Watt, soweit mein Auge reicht. Die Luft ist erfüllt von Schlick- und Modergeruch. Der Strand ist auch nicht besonders schön. Ich bin enttäuscht. Franz sieht mich an und ich weiß, er ärgert sich über mich. „Mein Gott, warum musst du immer enttäuscht sein, wenn wir irgendwohin fahren?“, fragt er mich. Doch es ist gar keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich kann darauf nichts erwidern. Er hat ja recht. Ich bin wirklich jedes Mal enttäuscht. Weil ich immer das Besondere erwarte. Aber ist das denn so schlimm? Ich kann gerade nicht aus meiner Haut und schmolle. Wir gehen eine Weile am Strand, ohne ein Meer, spazieren. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Wir sind beide nicht in der Lage, über unseren Schatten zu springen. Wir sind beide gefangen in uns.

In der scheinbaren Unendlichkeit dieser Landschaft fühle ich mich verloren und einsam. Die Kargheit und Leere machen mir plötzlich Angst. Ich könnte in Tränen ausbrechen, doch ich reiße mich zusammen. Franz würde das falsch verstehen. Ich blicke zum Horizont, dorthin, wo sich in der Ferne das Meer andeutet. Dieser kleine Hoffnungsschimmer ist alles, was es in diesem Augenblick für mich gibt. Anhalten, innehalten, mich festhalten an irgendwas, an irgendjemandem, gehalten werden. Ich versuche, es Franz begreiflich zu machen. Aber ich erreiche ihn nicht. Er hat schon jetzt genug von mir.

Wir kommen an einer Strandbar vorbei und beschließen, eine Kleinigkeit zu essen. Es ist warm genug und wir suchen uns einen Platz draußen in der Sonne. Die Bedienung ist eine junge Schönheit und hat nur Augen für Franz. Mich ignoriert sie völlig. Franz nimmt es gelassen. Vielleicht ist sie nicht sein Typ. Ich sitze neben ihm wie eine Fremde. Denn ich bin mir selbst fremd. Das Essen ist überraschend gut. Ich esse mit großem Appetit und fühle mich besser nach dieser Stärkung. Und dann nehme ich einen erneuten Anlauf, gebe mir und uns und Holland noch eine Chance.

Das Hotel ist bezaubernd. Es besitzt einen Hauch Eleganz und Schick. Unser Zimmer ist geschmackvoll eingerichtet. Ich habe nichts zu meckern, ich bin nicht enttäuscht und kann jetzt endlich über mich lachen. Nur Franz lacht nicht.

Im Schutz dieses Zimmers wage ich so etwas wie ein Urlaubsgefühl, ein Unbeschwertsein, ein Sorglossein, ein Lachen, spüre die Nähe von Franz, seinen Körper, fühle mich geborgen in diesem Augenblick, möchte mich verlieren und vergessen. Wir berühren uns wie zwei Fremde, schlafen miteinander, mehr aus Verzweiflung als aus Lust. Und doch fühle ich mich lebendig dabei. In diesem Augenblick, so weit weg von zu Hause und von allem, was in so kurzer Zeit geschehen ist, scheint alles möglich. Es gibt keinen bitteren Beigeschmack, keine Zweifel, keine Zerrissenheit, keine Angst. Ich möchte diese kurze Zeit genießen, sie mit Franz genießen. Auch wenn ich spüre, dass er das alles anstrengend findet. Ich habe keine Ahnung, was aus uns wird. Ich ertrage den Gedanken daran nicht.

Am Abend gehen wir noch einmal an den Strand. Das Wasser ist nähergekommen. Jetzt höre ich endlich das Rauschen des Meeres. Es ist, wie nach langer Zeit nach Hause zu kommen. Die Abendstimmung ist überwältigend. Alles leuchtet, alles strahlt. Dieses Naturschauspiel, ein Sonnenuntergang über dem Meer, ist genau das, was mich jetzt tröstet. Die Schönheit der Natur ist so viel größer als jede Angst, jede Verzweiflung, jede Verlorenheit und größer als jeder Schmerz. Vergessen, was war, was ist oder sein wird. Ich möchte nur leben sonst nichts.

Wir essen im Hotelrestaurant. Das Ambiente ist toll, die Bedienung und das Essen sind es leider nicht. Wir warten viel zu lange, bis wir endlich wahrgenommen werden. Das Essen ist ein schlechter Scherz. Wir ärgern uns darüber und wissen, wie unwichtig das ist, wie banal, wie nebensächlich. Ich trinke zu viel Wein, weil ich alles vergessen, alles auslöschen will. Als ich im Bett liege, dreht sich das Zimmer, dreht sich die ganze Welt um mich. Die Nacht im Hotelzimmer ist unbarmherzig und kalt. Ich kann nicht einschlafen, wälze mich hin und her. Die Gedanken lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Die Gespenster der Angst sind überall. Franz neben mir schläft tief und fest. Ich würde ihn gern wecken und zusammen mit ihm schlaflos sein, zusammen mit ihm weniger allein sein. Aber das ist auch etwas, was er nicht verstehen würde. Ich habe Schmerzen in meiner linken Brust. Sie werden von Tag zu Tag stärker und das beunruhigt mich.

31. August

Am nächsten Morgen habe ich alles vergessen. Die Morgensonne hat mich wachgeküsst. Das Frühstück im Hotel ist wunderbar. Der Kaffee weckt meine Lebensgeister. Nach dem Frühstück fahren wir nach Renesse. Es hat sich verändert, sehr sogar. Ich erkenne den Ort kaum wieder. Doch das ist unwichtig. Das Wetter ist herrlich. Die Sonne scheint und es ist angenehm warm. Den ganzen Tag sind wir unterwegs und ich fühle mich gut. Am Abend, als wir in einem Lokal am Strand eine Kleinigkeit essen wollen, überkommt mich plötzlich eine so tiefe Verzweiflung und Ohnmacht, dass ich in Tränen ausbreche, mich nicht mehr beruhigen kann. Was mache ich hier in diesem Lokal, unter all diesen Menschen, die so glücklich und zufrieden aussehen? Ich ertrage sie nicht, fühle mich fremd an diesem Ort, wie eine Aussätzige. Franz tröstet mich, so gut er kann. Doch ich spüre sein Unverständnis und auch seine Härte, wo eigentlich Liebe und Verbundenheit sein sollten. Ich bin enttäuscht darüber, sage aber nichts, bin zu sehr in meinem Schmerz gefangen. In diesem Moment wird mir eines klar: Er wird mich nicht retten. Denn er kann es nicht.

Nach dem Essen gehen wir noch eine Weile an den Strand, dem Sonnenuntergang entgegen. Der Wind und das Meer vertreiben meine Traurigkeit. Ich lächle. Franz nimmt mich in seine Arme, küsst mich zärtlich und endlich fühlt es sich gut und richtig an.

Narbenmeer

Подняться наверх