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4. Kapitel

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»Pass doch auf!«

Ein Mann fortgeschrittenen Alters wandte sich behänd einem jüngeren zu und stöhnte. Das Silbertablett, das mit Schwarztee gefüllten Gläsern beladen war, kippte seitlich. Den langen Weg durch den Schauraum hatte der Kellner unbeschadet gemeistert, und jetzt dieses Malheur! Die braune Lure auf dem Tablett drohte, auf Walli Winzers Blazer zu tröpfeln. Im letzten Moment konnte der erfahrenere Mann das Schlimmste verhindern.

»Puh, das war jetzt knapp.« Walli Winzer war rechtzeitig in Deckung gegangen und geschickt ausgewichen. Dabei war sie vom Stuhl aufgesprungen und hatte sich ungewollt einem der Umstehenden angenähert. Sie lächelte entschuldigend, was dieser mit besonderer Höflichkeit erwiderte. Er verneigte sich mit sanft abwehrender Geste vor ihr, die wohl Gleiches verdeutlichen sollte.

»Ömer, du musst schauen, wo du hinsteigst!«, rief ihm dessen Vorgesetzter wenig freundlich zu, dann wandte er sich an Walli: »Entschuldigen Sie. Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?« Er musterte Wallis Blazer.

Walli merkte, dass er stoppte, um ihr nicht zu nahe zu treten, und dass er seine Augen von ihr abwandte. Er winkte eine junge Kollegin herbei, die in der Nähe einer Besuchergruppe stand. Sie sollte seinen Gast auf der Suche nach vermeintlichen Teespritzern auf der Kleidung unterstützen.

Walli neigte sich ein wenig und musterte ihren Blazer, konnte aber nichts erkennen. »Lassen Sie’s. Es passt schon«, entgegnete sie in Richtung der jungen Frau. Diese ließ sich nicht aufhalten und ging um Walli Winzer herum, die jetzt in der Mitte des Verkaufslokals stand. Es war geräumig und voller handgeknüpfter Teppiche. Einige lagen gestapelt im Seitenbereich. An den Wänden hingen in Muster und Farbe aufeinander abgestimmte Kostbarkeiten.

»Da, sehen Sie! Sie haben doch etwas Tee auf der Hose. Seitlich vom Bug. Schauen Sie mal.«

Walli Winzer winkelte ihr Bein ab und stand plötzlich mehr oder weniger nach Balance suchend da. Sie bot eine unfreiwillig komische Pose. Sie wusste nicht, ob es das oder doch eher die Gesamtsituation war, die die Blicke der anderen auf sie zog. Die junge Frau kicherte, als sie Walli Winzer auf einem Bein hin und her hüpfen sah. Walli musste ebenfalls darüber lachen. Sie fuhr sich mit der Hand über den Fleck.

Eine ältere Frau kam auf sie zu und zischte: »Adile, draußen sind noch einige Häppchen hereinzuholen.« Sie machte eine beschleunigende Geste in Richtung der Nebenräume.

Die junge Frau tat, wie ihr geheißen. Ihrem heiteren Gesichtsausdruck tat dies dennoch keinen Abbruch.

»Natürlich ersetzen wir Ihnen die Reinigung. Wir haben eine Putzerei, die das für Sie erledigen wird. Adile Gül wird morgen bei Ihnen vorbeikommen und das Ensemble abholen.«

»Nicht der Rede wert.«

»Doch. Es ist uns sehr peinlich. Aber Ömer ist erst seit vergangener Woche als Praktikant bei uns.«

Walli Winzer lachte: »Da hat er aber tatsächlich noch einiges zu lernen. Vor so vielen Leuten quer durch den Saal zu laufen, ist sicher nicht leicht. Angestarrt zu werden und nicht nervös zu werden, das muss man erst lernen. Beim nächsten Mal kann er es schon.«

Walli wunderte sich über ihre Nachsicht. Vor zwei Jahren, also vor ihrem Waldviertel-Trip, wäre sie in so einer Situation vor Zorn explodiert. Aber jetzt? Keep cool. Alles war ersetzbar.

Sogar ein Hosenanzug von Valentino. Sündhaft teuer zwar, aber ersetzbar.

Repräsentieren war diesmal nicht so wichtig. Denn das Geschäft zwischen Manfred Tuchner und Halim-Istanbul war bereits abgeschlossen. Er hatte bloß darauf bestanden, dass auch Walli sich die Teppiche der Kollektion ansehen sollte.

Die Männer des Teppichgeschäfts Halim-Istanbul hatten sich inzwischen einander zugewandt und besprachen letzte Details zur Vorführung der Stardesignerin Lale Eser. Sie war ein neuer Stern am Firmament des internationalen Kunstmarktes, lebte im Westen, bezog aber ihre Impulse weiterhin stark aus der türkischen-orientalischen Ornamentik. Wiens prominentester Teppichhandel mit exklusiven Kontakten zu ausgewählten anatolischen Teppichwerkstätten hatte von Bachwirken und der Designerin genaue Anweisung erhalten, geeignete Objekte passend zur Stoff- und Tapetenkollektion zu finden.

Junge Männer brachten unter hektischer Anweisung edle Stücke unterschiedlicher Größe in den Schauraum. Einige davon waren offenbar so schwer, dass nur mehrere zugleich die großen Rollen hereintragen konnten.

Beim größten und schwersten Teppich mussten zwei Männer ran. Nachdem sie ihn griffbereit platziert hatten, wurden noch einige oberhalb positioniert. Ein junger Mitarbeiter zog ruckartig an einem der unteren, worauf sich ein höher liegender löste, herabfiel und entrollte.

Der Verantwortliche, Bülent Yüksel, schnaubte vor Wut über die Ungeschicklichkeit, weshalb er kurzerhand auf seinen Mitarbeiter zuging und ihm vor allen einen Klaps auf den Hinterkopf verabreichte. Erschrocken mehr der Schmach als des Schlags wegen zog der Beschämte seinen Kopf ein und machte sich gleich daran, den Schaden zu beheben. Einige Kollegen halfen ihm dabei.

»Ja, bei uns geht’s manchmal ohne viele Worte.« Adile Gül lächelte verlegen. Sie hatte Walli Winzers verwunderten Blick gesehen. »Chef der Mannschaft ist Bülent, ein Verwandter von mir. Manchmal wird er sehr zornig, er meint es aber nicht so.«

»Aha«, sagte Walli überrascht. »Na ja, ich müsste lügen, wenn ich sage, dass ich so etwas nicht selbst kenne. Die g’sunde Watschn, wie man eine Ohrfeige nennt, war bis vor Kurzem in Österreich gang und gäbe. Jetzt sieht man’s zumindest halt in der Öffentlichkeit weniger.« Walli drehte sich von der Szene weg.

Adile gab sich erstaunt: »Mag sein. In meiner Genossenschaftswohnung in Donaustadt schreit oberhalb von mir manchmal ein Zehnjähriger furchtbar laut. Die Mutter schlägt ihn regelmäßig. Alle hören das. Sie sperrt ihn in seinem Zimmer ein. Dort jammert er oft stundenlang. Sie tut nach außen immer sehr freundlich. Niemand macht etwas dagegen.«

»Und Sie?«

»Ich? Denken Sie, dass mir beim Jugendamt jemand glaubt? Als junger Türkin? Gegen eine Österreicherin? Eine Lehrerin noch dazu? Damit ich im Haus alle gegen mich aufbringe?«

Die junge Frau wandte sich ebenfalls ab. »Ich habe Ihnen ein feuchtes Tuch mit ein bisschen Fleckenreiniger darauf geholt. Damit trocknet der Tee nicht zur Gänze ein.«

Walli nahm Adile Gül das Schwammtuch aus der Hand. Tatsächlich hellten die Flecken bereits nach Kurzem auf.

Inzwischen kam auch der Geschäftsführer, Eraydin Turan, aus einem der Nebenräume zielstrebig auf Walli Winzer zu. Von all dem, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte, hatte er nichts mitbekommen. Er stellte sich daher gleich neben sie und gab ihr Unterlagen, die er vor der Schau für sie vorbereitet hatte.

»Ah, ich sehe, die Teppiche sind schon griffbereit gestapelt.«

Die Belegschaft hatte sich ebenso versammelt und blickte erwartungsvoll zu Turan.

»Ich fasse für Sie kurz zusammen, was einen türkischen Teppich, in unserem Fall einen anatolischen, ausmacht: Dass die türkische Knüpfkunst sehr alt ist, wissen Sie. Sie geht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück. Und ihre Einflüsse sind global. Über die Jahrtausende hinweg! Die Muster wären nicht so charakteristisch, wenn es keinen regelmäßigen Austausch mit anderen textilknüpfenden Nationen gegeben hätte. Das sind nicht nur Persien, Indien, Armenien, China, sondern auch Pakistan, Syrien, Griechenland und die Kurden. Sprich: jedes Land, das in der Welt des Teppichs je Bedeutung erlangt hat. Wir werden das gleich sehen. Eine Erlebniswelt vom Feinsten. Eine Reise durch die Jahrtausende.«

Walli Winzer hielt alle Ausdrucke in ihren Händen, war aber nicht interessiert, darin zu blättern, weil sie den Ausführungen Turans lauschen wollte. Sie überlegte bereits, wie sie ihn im Pressegespräch einsetzen könnte. Eine kleine exotische Note wäre in der globalen Kollektionsausrichtung sicher willkommen. Und wer, wenn nicht er, wäre dazu besonders geeignet?

Eraydin Turan erzählte weiter von der turkmenischen und der kaukasischen Tradition. Von der höfischen, feineren Webkunst in Istanbul sowie den hochwertigen Gebrauchsteppichen Anatoliens, Richtung Osten der Türkei.

»Und die Leute lebten tatsächlich für und mit ihren Teppichen?«, fragte Walli zwischendurch erstaunt.

»Ja, der Teppich ist heute noch in unserer Kultur ein wichtiger Bestandteil der Wohnung. Seine Muster erzählen Geschichten. Tiere und Menschen werden selten abgebildet. So wie Bilder an Wänden kaum üblich sind.«

Turan gab Bülent Yüksel den erwarteten Wink. Daraufhin zogen zwei junge Männer einen der Teppiche vom Stoß und rollten ihn nach kurzem Anheben und einem kräftigen Ruck in der Mitte des Schauraums aus.

»Sehen Sie: Türkische Teppiche können unterschiedlich aussehen. Dieser hier wird den höfischen Teppichen zugeordnet und ist in seiner floralen Ornamentik stärker an Persien orientiert. Allein aufgrund der Größe der Türkei gab und gibt es bis heute große regionale Unterschiede, die sich auch in der Webkunst wiederfinden: der Teppich als Ausdruck künstlerischer Eingebung und kultureller Vielfalt.«

Eraydin Turan winkte nach dem nächsten Teppich. Wie zuvor wussten seine Angestellten genau, welche der riesigen Kostbarkeiten sie zu wählen hatten.

Der Experte fuhr fort: »Nomaden hingegen konnten aufgrund ihrer mobilen Verhältnisse keine großen Webstühle aufbauen. Sie spezialisierten sich daher auf kleinere Fertigungen. Charakteristisch sind geometrische Muster, die sich konzentrisch zu verkleinernden Rautenformen verdichten.«

Walli Winzer staunte nicht schlecht.

Turan fuhr fort: »Die Istanbuler Stardesignerin Lale Eser interessiert aber mehr das 21. Jahrhundert, in dem sie die Weiterentwicklung und Gegenüberstellung geometrischer Muster aus dem Narrativ des anatolischen Formenkanons heraus verortet, den sie in ihren neuen Mustern der Pluralität des digitalen Binärcodes im Kontext des stilistischen Formenkanons des Jugendstils künstlerisch gegenüberstellt. Ihre neue Stoff- und Tapetenkollektion für Bachwirken befindet sich in Ihrer Mappe.«

Uff! Das war Walli Winzer nun doch zu hoch. Gedanklich begann sie sich jetzt auszuklinken. Was war denn ein Formenkanon? Sie kannte Kanon nur von der Musikstunde. Das war, was sie in der Schule mehrstimmig miteinander gesungen hatten. Ja, das hatte ihr immer gut gefallen. Aber ein Kanon mit Teppichen? Was sollte das sein?

Sie versuchte dennoch weiterhin gute Miene zur Ausführung zu machen. Auch wenn diese sie langsam zu ermüden begann. Zugegeben, der Totaleinsatz und die Begeisterungsfähigkeit dieses gut aussehenden morgenländischen Prinzen gefielen ihr. Also versuchte Walli Winzer bei der Sache zu bleiben.

»Und jetzt zeigen wir Ihnen noch unseren größten und kostbarsten Teppich aus Ostanatolien. Jahrelang arbeiteten viele Menschen an ihm. Er war für einen mächtigen Sultan bestimmt, der sein Reich einen wollte, und überlebte viele Jahrhunderte. Weshalb und wie er nahezu unbeschädigt so lange Zeit überstehen konnte, ist eines der Geheimnisse, die ihn bis zum heutigen Tag umgeben. Auch die Symbolik der Muster gibt Experten seit jeher Rätsel auf. Sein Mythos ist noch nicht erforscht.«

Walli Winzer war bewegt, als sie das hörte. Ein Mythos barg Faszinierendes. Etwas, das man Presse und dem Publikum gut weitervermitteln konnte. Das für Aufsehen sorgen würde – neben der Künstlerin natürlich.

Diesmal stellte sich eine ganze Riege von Männern in Position, um den Teppich in die richtige Position zu bringen. Dann reihten sie sich im Abstand von einem Meter nebeneinander auf. Der mittlere machte ein Zeichen, worauf alle den Teppich mit einem kräftigen Ruck nach vorne schüttelten. Schwungvoll rollte er auf der weiten Fläche des Schaubodens aus, aber das tat er anders als seine Artverwandten zuvor. Als er sich bis kurz vor Walli komplett entrollt hatte, war da noch etwas anderes, das die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich lenkte.

Das Teppichmuster anzusehen, interessierte augenblicklich niemanden mehr. Der Schrei einer jungen Frau durchfuhr den Raum. Es war Adile Gül. Schockstarre erfasste sie.

Vor ihr lag ein Mann. Nicht nur Walli Winzer erkannte ihn. Alle hier taten das.

Es war Manfred Tuchner.

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