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Kapitel 3

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Die Ohrfeige

Montag, 14. November 2011

»Sie benutzt tatsächlich Wäschestärke, und Herbert hatte recht. Sie behandelt damit hauptsächlich die Talare ihres Mannes und die Altartücher in der Kirche.«

Evi überschlug sich fast, als sie am Montagvormittag bei Doris anrief.

»Sehr gut, Evi. Dafür spendiere ich Ihnen eine Flasche Likör.«

»Einen Auftrag habe ich übrigens auch erhalten«, verriet sie kichernd. »Einen Mantel aus Angorawolle. Das wird nicht billig.«

»Herzlichen Glückwunsch! Wir sollten uns alle umgehend treffen. Am besten gleich heute Nachmittag.«

Um 15 Uhr hatte sich der Club abermals versammelt, diesmal ohne Reinhold.

»Das Geschäft geht vor, liebe Evi«, sagte er zu mir, »vor allem dann, wenn es sich um eine so aussichtslose Angelegenheit wie die einer gewissen Beatrice Walther handelt.« Sie hob ihre Hände, als wollte sie sich für Reinholds Worte entschuldigen, doch Beatrice winkte nur ab. »Reden Sie einfach weiter.«

»Er bat darum, dass wir ihn telefonisch auf dem Laufenden halten. Dann hat er noch betont, dass er bis zum Wochenende komplett ausgebucht sei.«

»Dieser Lackaffe«, sagte Herbert verächtlich und verschränkte seine Arme vor der Brust.

»Wollen wir dann zum Thema kommen oder weiter über Reinhold lästern?«, fragte Doris.

»Beachten Sie ihn am besten gar nicht«, empfahl Margot und sah ihren Mann strafend an.

»Also«, eröffnete Doris ihren Bericht. »Es geht um das Taschentuch. Ich fürchte, dass wir damit nichts anfangen können. Selbstverständlich muss es sorgfältig aufbewahrt werden. Wer weiß, ob wir es irgendwann nicht doch der Polizei übergeben müssen. Aber keine Sorge. Wir haben etwas viel Besseres. Evi, wenn Sie so freundlich wären.«

Die Schneiderin berichtete von der Wäschestärke, die sie im Pfarrhaus entdeckt hatte und deren Duft mit dem auf dem Briefbogen identisch ist.

»Vielleicht riecht der Brief gar nicht wirklich danach«, sagte Herbert. »Wenn das Zeug im Poncho von Backhaus steckt…«

»Talar«, bemerkte Evi knapp.

»…und auch im Altartuch, dann müsste ja die ganze Kirche danach riechen. Verstehst du? Du hattest den Geruch so stark in der Nase, dass du dir nur eingebildet hast, dass der Brief danach riecht. Die Lehrerin hat das mit den Kochdünsten verglichen, und ich finde das auch. Jedes Mal, wenn Margot Erbsensuppe kocht, kann man das schon draußen am Eingang riechen, und bis sich der Mief verzogen hat, können schon mal Tage vergehen.«

»Mief? Meine Erbsensuppe?« Margots Gesicht schwoll vor Ärger rot an.

»Der Brief riecht aber danach, verdammt noch mal«, erwiderte Beatrice aufgebracht. »Wieso glaubt mir hier eigentlich niemand?«

»Ich habe es doch auch gerochen«, beruhigte Evi. »Und ich habe eine kleine Probe mitgebracht.«

Aus ihrer Handtasche kramte sie ein Plastiktütchen hervor, in der sich ein Wattebausch befand. Sie nahm ihn heraus und reichte ihn Beatrice. »Hier, riechen Sie mal dran.«

Beatrice lüftete ein wenig den Verband, damit sie die feuchte Watte so dicht wie möglich unter ihre Nase halten konnte. »Genau so riecht der Brief«, bestätigte sie siegessicher. »Putzen Sie sich mal die Nase, Klöbelschuh. Vielleicht hilft das Ihrem Riechorgan auf die Sprünge. Jedenfalls ist das der Duft. Kein Zweifel.«

»Dann können wir also davon ausgehen, dass der Brief tatsächlich im Pfarrhaus geschrieben wurde«, sagte Evi und steckte Tüte und Wattebausch zurück in ihre Tasche.

»Das ist aber eine ziemlich gewagte Behauptung«, warf Lothar ein. »Dieses Zeug findet man wahrscheinlich in jedem zweiten Haushalt, und dass sowohl der Brief als auch Barbara danach riechen, beweist höchstens, dass beide damit in Berührung gekommen sind, sagt aber überhaupt nichts darüber aus, ob nun zuhause oder irgendwo anders. Es könnte ja auch Waschpulver sein oder Haarspray, vielleicht auch Weichspüler oder …«

»…Backofenspray?« Evi griff genervt nach ihrem Glas und schluckte den Inhalt in einem weg. »Es handelt sich weder um den Duft eines Waschpulvers noch um den eines Weichspülers. Er kam mir gleich bekannt vor, und dann fiel es mir wieder ein. Eine ausländische Kollegin hatte vor Jahren dieses Mittel wegen seiner hohen Qualität und des besonderen Dufts von Moschus verwendet, und genau das gleiche benutzt Charlotte. Wozu sonst sollte sich das Zeug in ihrem Haus befinden? Aber wenn Sie das immer noch nicht überzeugt, dann vielleicht das: Wenn es sich um ein deutsches Produkt handeln würde, wären Ihre Zweifel sicherlich gerechtfertigt, aber es ist ursprünglich ein amerikanisches, das in einigen Ländern Europas vertrieben wird, unter anderem auch in der Schweiz. Und jetzt hören Sie gut zu: Im August des vergangenen Jahres haben Charlotte und Hortensius Backhaus in der Schweiz an einem internationalen Kirchentreffen teilgenommen!«

»Da waren sie bestimmt nicht die Einzigen«, konterte Lothar.

»Ach hören Sie doch auf!«, widersprach Evi verärgert. »Warum wollen Sie nicht einfach zugeben, dass dies kein Zufall sein kann? Sie besitzt davon drei Kanister zu zehn Litern und mindestens vier volle Sprühflaschen. Sie stehen alle in ihrer Waschküche.«

»Und da konnten Sie unbemerkt rumschnüffeln?«, fragte Margot ungläubig.

»Natürlich nicht. Ich hatte für den Besuch extra mein ältestes Kleid angezogen und ungeschickterweise Kaffee darauf vergossen, Sie verstehen? Charlotte, die sich darüber erschütterter gab, als ich selbst überhaupt vortäuschen konnte, bugsierte mich sofort in ihre Waschküche, wo wir uns gemeinsam abmühten, den Fleck herauszuwaschen. Ohne Erfolg natürlich, aber wie ich schon sagte. Es war ein altes Kleid, vollkommen aus der Mode und viel zu lang.«

Gefolgt von den Blicken der anderen sah sie auf ihre makellosen Beine mit den entblößten Knien und tippte einige Male geziert mit der Spitze ihres Pumps auf den Boden.

»Ich könnte in diesen Dingern nicht laufen«, bemerkte Margot und rümpfte ihre Nase.

»Wie auch? Bei den …«

»Evi!«

»Schon gut, Frau Vorsitzende. Nachdem ich nun wusste, wo sie das Zeug aufbewahrte und wir wieder ins Wohnzimmer zurückgegangen waren, trank ich noch zwei weitere Tassen von Charlottes dünnem Kaffee. Jeder vernünftige Mensch kann sich denken, dass ich alsbald die Toilette aufsuchen musste. Den Weg dorthin kannte ich bereits. Er führt direkt an der Waschküche vorbei. Mit einem Satz bin ich hinein, schraubte den Verschluss von einem der Kanister auf und tauchte den Wattebausch hinein.«

Doris nickte anerkennend und sagte: »Gute Arbeit, Evi.«

Endlich schien Lothar klein beigeben zu wollen. »Dann ziehen wir den Sack jetzt zu und benachrichtigen die Polizei. Dabei ist es doch vollkommen gleichgültig, ob nun die Tochter oder deren Mutter drin stecken wird.«

»Sind Sie noch ganz bei Verstand?« Es war Beatrice, die sich mit einem Ruck aufrichtete und Lothar wütend anfunkelte. »Sie können doch ein 13-jähriges Kind nicht einfach der Polizei ausliefern. Wir haben nichts als diese alberne Wäschestärke. Die Polizei würde, sollte Barbara die Zeilen wirklich geschrieben haben, die Angelegenheit als einen Kinderstreich abtun, womit sie recht hätte, wie ich meine. Das würde dem Kind aber den Schock nicht ersparen, vor den Augen ihrer Eltern von der Polizei vernommen zu werden.«

»Wenn Sie dieser Meinung sind, frage ich mich, warum wir hier eigentlich noch rumsitzen und uns den Kopf zerbrechen«, schoss Lothar zurück.

»Lothar. Wir sitzen hier nicht rum, sondern versuchen, uns Klarheit zu verschaffen«, erinnerte Doris. »Beatrice ist mittlerweile davon überzeugt, dass Barbara nichts mit der Sache zu tun hat, und ich bin es auch. Sie befürchtet aber, das Vertrauen des Kindes verlieren zu können. Und abgesehen davon, dass sie erst dreizehn ist, hätte sie überhaupt kein Motiv. Beatrice und sie sind Freundinnen, die sich bestens verstehen. Ich möchte fast sagen, dass Barbara zu Beatrice aufsieht, sie sich sozusagen als Vorbild nimmt, weil sie in ihren Augen etwas Besonderes ist.«

»Weil sie diese Bücher schreibt und Leute aufzieht?«, platzte es Herbert heraus. »Jemand sollte die Kleine endlich mal aufklären. Vorbild. Dass ich nicht lache.«

»Ich ziehe keine Leute auf, verdammt noch mal. Ich halte ihnen den Spiegel vor. Wann werden Sie das endlich begreifen, Sie Holzkopf!«

Doris ging über Beatrices Wutausbruch hinweg, als sei nichts geschehen. »Ein Kind, das so etwas täte, müsste schon einen sehr verdorbenen Charakter haben.«

»Wenn Sie daran zweifeln, leben sie offenbar in der Vergangenheit«, lachte Lothar auf. »Heutige Kinder sind noch zu ganz anderen Taten imstande. Sie brauchen nur die Zeitung aufzuschlagen.«

»Mag sein«, winkte Doris ab. »Doch Sie alle kennen Barbara, ein Mädchen so sanftmütig wie ein Lamm. Wie sollte sich sozusagen über Nacht eine derartige Wandlung ihrer Persönlichkeit vollzogen haben?«

»Ich kenne sie keineswegs«, widersprach Lothar. »Aber wenn sie wirklich so lammfromm ist, warum vergessen wir sie dann nicht endgültig und konzentrieren uns nur noch auf Charlotte? Soweit waren wir doch schon einmal, oder? Wir fragen Sie rundheraus, ob der Brief von ihr stammt und ob sie diese Appretur verwendet. Und falls sie leugnet, können wir ihr immer noch mit der Polizei drohen. Das Mädchen braucht davon gar nichts mitzubekommen. Aber am besten, wir lassen es ganz sein. Ich habe ohnehin den Eindruck, als seien Sie an einer Aufklärung kaum noch interessiert.«

Er sah Beatrice geradewegs in die Augen, doch sie hielt seinem Blick stand.

»Ich bin an einer Aufklärung sogar sehr interessiert, Herr Bölker«, schnappte sie zurück. »Aber egal, wie wir es anstellen würden, irgendeine Winzigkeit würde doch durchsickern. Ich möchte kein Aufsehen erregen. Barbara und letztlich auch mir selbst zuliebe.«

»Wie?«, ereiferte sich Lothar. »Sie waren es doch, die den Namen Barbara als Erste genannt hat, und Sie haben Eleonore von vorneherein ausgeschlossen. Wenn Sie so besorgt sind um das ach so zarte Mädchen, warum haben Sie nicht einfach Ihren Mund gehalten? Und wieso haben Sie überhaupt erwähnt, dass diese Eleonore etwas mit dem eigenen Bruder hatte? Niemand außer Ihnen drei wusste davon. Niemals hätte irgendjemand irgendetwas darüber erfahren können. Aber offenbar diente Ihre Beichte nur dazu, sich wichtig zu machen. Die Gier danach, im Mittelpunkt zu stehen.«

»Das reicht jetzt, Lothar!« Doris Stimme zitterte vor Ärger. »Es war richtig, dass sie uns davon erzählt hat. Nur so wissen wir jetzt, wer vielleicht dahintersteckt. Nicht Barbara, aber deren Mutter und vielleicht auch der Vater.«

»Sie hätten doch niemals akzeptiert, wenn ich keinen Namen genannt hätte«, fauchte Beatrice. »Eher wären Sie vor Neugier geplatzt.«

»Sie hat recht«, lenkte Doris abermals ein. »Vor allem ich drängte sie dazu.«

»Nein, Reinhold hat recht«, widersprach Lothar und schlug mit der flachen Hand so fest auf den Tisch, dass die Eiswürfel im Flaschenkühler klirrten. »Wir taugen nicht zum Detektivspielen. Einmal Barbara, dann wieder nicht Barbara, dann Eleonore, die zwar eine brutale Schlägerin, aber keine Mörderin ist, und inzwischen sind wir bei den Eltern angelangt, die sich vor Inzest ekeln und Drohbriefe mit Nagelscheren an Haustüren spießen.«

»Es ist doch nur eine Theorie. Sie könnten es aber gewesen sein, weil sie Beatrice aus Mänzelhausen raus haben wollen. Wie lautete der letzte Satz, Margot?«

»Gehst Du fort von hier, wird Dir vergeben.«

Das Läuten des Telefons unterbrach die Kontroverse. Doris erhob sich und ging hinaus in die Halle, wo das Telefon stand. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. Sie hatte die Tür offen gelassen, so dass die anderen hören konnten, was sie sagte. Ihre Stimme klang sogleich einen Ton sanfter, als sie gewahrte, wer am anderen Ende der Leitung sprach. »Ah, Sie sind es. Wie schön, Ihre Stimme zu hören. - Nun ja, es ist ein wenig mühsam. Die Meinungen gehen doch ziemlich auseinander. Haben Sie etwas Neues für uns? - Was Sie nicht sagen. Wie haben Sie …? - Tatsächlich? Natürlich werde ich es den anderen sofort mitteilen. Wann werden wir Sie wiedersehen? - Ach, diese Woche vielleicht nicht mehr. Schade, denn wir vermissen Sie. - Sicher, das Geschäft geht vor. - Oh, selbstverständlich verstehen wir das. Trotzdem auf bald.«

Sie legte auf und kam zurück ins Wohnzimmer. Acht Augen beobachteten, wie sie die noch fast volle Champagnerflasche aus dem Kühler zog und sich einschenkte. Mit einem Lächeln sah sie von einem zum anderen und prostete ihnen zu.

»Das war Reinhold. Wir wissen jetzt, wo Eleonore wohnt.«

*

Während in Mänzelhausen an diesem Nachmittag Reinholds neuer Vorstoß im Club für Jubel sorgte, brütete in Offtenheim Eleonore Eisenschmidt über Beatrices Buch.

Es war genau zwei Wochen her, dass sie in ihrer Lieblingsbücherei nach einem schönen Buch Ausschau gehalten hatte. Die Auswahl war wie immer schwindelerregend gewesen. Tausende, wenn nicht Zehntausende von Werken oder Werkchen, Bestsellern und solchen, bei denen kein vernünftiger Mensch je verstehen würde, wieso die Leute sich darum rissen, standen in bis unter die Decke reichenden Regalen und auf wackligen Ständern, lagen auf Tischen, die sich unter ihrer Last bogen, während reichlich Personal Platz für wichtige und nicht so wichtige Neuerscheinungen schaffte.

Sie bevorzugte Bücher, die die großen Themen des Lebens berührten, weil sie nie an Aktualität verloren und Männer und Frauen mehr bewegten als jede Politik.

Meist ging es dabei um Liebe und Verrat, Enttäuschung und Hoffnung, aber auch um die Fülle der liebevoll gepflegten Lebenslügen und deren oft schmerzvollen Bearbeitung. Geschichten über falsche Entscheidungen und verpasste Chancen, über geleugnete Affären oder boshafte Anschuldigungen füllten unzählige Seiten ebenso wie die Beschreibungen gelungener und misslungener Selbstfindungsprozesse. Schilderungen leidvoller Befreiungsversuche, denen jahrelange Ehemartyrien vorausgegangen waren, beschäftigten die Autoren und Autorinnen wie zu allen Zeiten, denn Eifersucht, Misstrauen und Täuschung waren bis zum heutigen Tag unausrottbare und gefährliche Begleiter wohl der meisten Menschen. Kurzum: Autobiografisch oder fiktiv, positiv oder negativ, hoffnungsvoll oder deprimierend, schuldbeladen oder frei von Sünde… In ihrem eigenen Leben gab es von allem etwas.

Oft reichten schon wenige Sätze oder ein Kapitel, die sie aufhorchen ließen, weil es sich anfühlte, als sei sie selbst die Protagonistin der Erzählung. Vieles hatte sie am eigenen Leib so oder so ähnlich erfahren, und manches raubte ihr auch nach einer halben Ewigkeit immer noch den Schlaf.

Ihr eigenes Schicksal würde Stoff für wenigstens zwei Bücher liefern. Doch angenommen, sie hätte das Talent dafür, alles aufzuschreiben und würde sogar einen Verlag finden, der Interesse an ihrer Geschichte zeigen würde, hieße das automatisch, dass die Menschen da draußen es auch lesen wollten? Doch selbst wenn, mit welchen Reaktionen müsste sie rechnen? Waren die Menschen denn wirklich so tolerant, wie sie häufig beteuerten? Würden sie sich nicht vielmehr angeekelt abwenden von ihr, weil sie Dinge getan hat, die in den Augen vieler nicht sein durften? Würde man, was sie selbst als Unglück empfand, vielleicht gerade noch als selbstverschuldetes Pech durchgehen lassen?

Beatrices »Am seidenen Faden« war ein schönes Buch. Es hatte sofort ihr Interesse geweckt, weil der Titel sie anrührte. Die wunderschön geschwungenen Buchstaben der drei Wörter passten perfekt zum Umschlagbild. Es bestand aus einer Naturlandschaft, in deren Vordergrund drei Personen abgebildet waren. Zwei Frauen und ein Mann. Eine der Frauen stand dem Mann gegenüber, und sie blickten einander scheinbar ratlos in die Augen. Die andere befand sich abseits. Ihr Gesicht drückte Bestürzung aus, und es war offensichtlich, dass es zwischen den dreien nicht zum Besten stand. Ein Drama, so ließ schon der Titel vermuten. Genau das Richtige für sie.

Noch besser hatte ihr der Name der Autorin gefallen. Beatrice Walther. Wie elegant und kultiviert sich das anhörte, ja beinahe vornehm. Wie mochte ein Mensch mit solch einem Namen wohl aussehen, war ihr in den Sinn gekommen, und sie hätte viel dafür gegeben, die Autorin einmal persönlich kennenzulernen.

Vermutlich lebte sie in einem modernen Appartementhaus, hoch über einer der großen Städte des Landes, abgeschirmt von neugierigen Blicken und Belästigungen irgendwelcher Paparazzi.

Ihren Kleidungsstil stellte sie sich passend zum Namen vor. Klassisch-elegant, auf keinen Fall modisch- prätentiös. Ihr Haar trug sie wenigstens schulterlang, weil sie eine Dame war und nicht aussehen wollte wie eine Fünfzigjährige im Alt-Herren-Look.

Sie dagegen war nur eine unbedeutende, alleinstehende Lehrerin mit einem winzigen Zwei-Zimmer-Bad-Bungalow aus den 60iger Jahren, den sie sich vom Munde abgespart hatte, bis sie ihn vor zwei Jahren endlich ihr Eigen nennen durfte. Viel Geld für Vergnügen war da nicht übriggeblieben, nur hin und wieder war sie in Urlaub gefahren, aber nach einer Woche Hotelaufenthalt war ihr Budget aufgebraucht, und sie musste nach Hause fahren.

Lesen vertrieb die Trübsal und Schalheit ihres Lebens. Deshalb sah man sie so häufig in der Bücherei. Umso mehr wunderte es sie, dass ihr „Am seidenen Faden“ nicht viel früher aufgefallen war. Immerhin handelte es sich um einen Bestseller, und das schon seit vielen Jahren!

Als sie vor zwei Wochen begonnen hatte, das schöne Buch mit dem ansprechenden Einband und dem klangvollen Namen der Autorin zu lesen, hatte sie zuerst gar nichts bemerkt. Vielmehr freute es sie, sich bei den vielen Büchern, die sie in den Händen gehalten und kurz angelesen hatte, für genau das richtige entschieden zu haben. Schon nach wenigen Seiten war ihr das Herz aufgegangen, so gefühlvoll waren die Worte wiedergegeben, so sanft die Formulierungen gewählt. Wie unglaublich ausdrucksvoll diese Beatrice Walther schreiben konnte. Nie hatte sie Ergreifenderes gelesen.

Doch dann hatte sie gestutzt, denn der Erzählung über die tiefe Zuneigung eines Ehepaares füreinander war auf einmal die hässliche Beschreibung einer Affäre zwischen dem Ehemann und einer anderen Frau gefolgt, und noch ein paar Seiten später fiel das Wort Inzest. Da erkannte sie, wer der Mann und die beiden Frauen waren. Nur mit dem Kind stimmte etwas nicht. Hatte diese Lügnerin völlig den Verstand verloren?

Es war ihr nicht leicht gefallen, das Buch zu Ende zu lesen. Es strotzte vor Unwahrheiten und niederträchtigen Beschuldigungen, aber, und das anerkannte sie, war ihrer Erzfeindin eine ergreifende Geschichte gelungen. Auch wenn das meiste darin gelogen war, so doch wenigstens mit schönen Worten. Als sie mit der letzten Seite fertig war, hatte sie das Buch in die Ecke geschleudert und ihre Hände zu Fäusten geballt. Nein, es war ihr nicht um ihre eigene Rache gegangen, als sie beschloss, Beatrice Walther zu bestrafen. Sie wollte es für Cornelius tun. Das war sie ihrem Bruder schuldig. Das und vielleicht noch mehr.

*

»Sie lebt immer noch in Offtenheim, und zwar im Schwabenweg 14. Wissen Sie, wo das ist, Beatrice?«

»Keine Ahnung, früher wohnte sie woanders.«

Beatrices gelangweilte Antwort auf Doris‘ Frage zum Trotz sorgte die unerwartete Nachricht für neuen Schwung, und schon floss wieder der Champagner, so dass die angebrochene Flasche im Handumdrehen geleert war. Nur Lothar ließ sich von der guten Laune nicht anstecken.

»Und was haben wir davon? Soll sie nun doch den Brief geschrieben haben? Ihr toller Reinhold hatte sich von dieser Theorie doch schon verabschiedet, oder habe ich da etwas falsch verstanden?«

»Er ist nicht mein toller Reinhold«, erwiderte Doris scharf. »Eleonore ist für uns immer noch ein Thema, weil wir nicht völlig ausschließen können, dass sie nicht doch noch einmal hier auftaucht und Beatrice etwas antut.«

»Und Sie glauben tatsächlich, dass diese unmögliche Person Sie überhaupt nur anhört? Ich muss mich wirklich über Sie wundern, Doris.« Lothar verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte zur Unterstreichung dessen, was er für vollkommen aberwitzig hielt, seinen Kopf.

Plötzlich sprang Beatrice auf und schlug Lothar mit dem Handrücken ins Gesicht.

»Was sind Sie doch für ein unerträglicher Nörgler!«, schrie sie ihn an. »Einer, der nichts unversucht lässt, anderen Menschen auf die Nerven zu gehen. Glauben Sie, es macht mir Spaß, über all diese Dinge zu spekulieren und das ausgerechnet gemeinsam mit Ihnen? Es war ein Schock für mich, als ich die Warnung erhielt und der Verdacht in mir wuchs, er könne von Barbara stammen. Es erschien mir absurd und völlig unmöglich, deshalb habe ich gezögert, ihren Namen zu nennen. Ja, ich sagte, dass Eleonore sich nicht mit Briefeschreiben aufhalten würde. Aber es ist lange her, dass ich sie sah. Sie kann sich verändert haben, und sie wird vielleicht wiederkommen. Und was Barbaras Eltern betrifft: Ihre Mutter tut nur so, als habe sie das Denkvermögen eines Schafs, und trotzdem war sie so blöde, ihre Duftmarke auf dem Brief zu hinterlassen. Und Backhaus mimt nur den gelehrten Pfaffen, in Wirklichkeit ist er ein engstirniger Moralapostel und für die Erziehung eines Mädchens wie Barbara vollkommen ungeeignet.«

»Und Sie sind eine nur schwer zu ertragende Diva, die uns seit vier Tagen mit einer absurden Geschichte auf Trab hält. Wenn wir aufgrund Ihrer Verletzung nicht wüssten, dass der Überfall echt war, würde ich behaupten, Sie haben ihn erfunden.«

Lothar rieb seine Wange, die ebenso glühte wie sein Zorn.

Doris, geschockt wie selten zuvor, starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die beiden Streithähne, wohingegen sich die von Margot mit Tränen füllten, doch nicht aus Mitgefühl für Lothar, sondern weil sie sich vor Schreck auf die Unterlippe gebissen hatte. Evi, so wenig schockiert wie leidenschaftslos, zündete sich eine neue Zigarette an, und Herbert fragte: »Kommst du mit, Lehrerin?«

Die Schockstarre der Vorsitzenden war mit einem Schlag vergessen. »Sie meinen nach Offtenheim?«

»Na klar. Wenn die Schreiberin keine Polizei will, dann müssen wir das in die Hand nehmen!«

»Herr Klöbelschuh, Sie sind der Größte!«, jubelte Doris. »Ihre Spontaneität kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.«

»Gern geschehen, Lehrerin«, brummte Herbert und blickte verlegen auf seine schweren Hände.

Reinholds Anruf hatte die Situation vollkommen verändert, und Doris war entschlossener denn je, den Nebel, der die Geschichte umgab, aufzulösen.

»Evi, müssen Sie bei Charlotte nicht Maß nehmen?«, bestürmte sie die Schneiderin. »Das wäre die Gelegenheit, ihre Fingerabdrücke zu beschaffen. Die von Backhaus selbstverständlich gleich mit.«

Evi machte hm, was sich zumindest so anhörte, als wolle sie es versuchen.

»Lothar, was ist mit Ihnen?«

»Mich können Sie von allen Aufgaben ausschließen. Ich halte es wie Kratz.«

»Oh, Reinhold hat seine Mithilfe nun doch zugesichert.«

»Und wenn schon. Ich bin draußen.«

»Na schön. Wie Sie wollen.«

»Wie hat er denn herausgefunden, wo sie wohnt?«, wollte Evi wissen.

»Beatrice«, wandte sich Doris an die Schriftstellerin. »Sie nannten uns doch den Namen der Schule, wo Eleonore Ihres Wissens zuletzt gearbeitet hatte: »Laurentius- Schule«. Er war dort und hat Schüler ausgefragt.«

»Was? Hat er sonst nichts zu tun?«, unterbrach Lothar. Er spitzte seine Lippen und äffte Reinholds Stimme nach: »Das Geschäft geht vor, liebe Evi.«

Das war selbst Herbert zu viel. »Halt die Klappe, Bölker!«, befahl er in derart rüdem Ton, dass Lothar zusammenzuckte und seinen Kopf einzog.

»Also. Sie wird fragen, was wir von ihr wollen. Was willst du dann antworten, Lehrerin?«, fragte Herbert, nachdem er Lothar zum Schweigen gebracht hatte.

»Dass wir mit ihr reden möchten. Darüber, was geschehen ist und über die Frage, warum es geschehen ist. Ferner, ob damit zu rechnen sei, dass weitere Angriffe folgen. Selbstverständlich werden wir alles ganz sachlich vortragen, ohne Kritik und laute Worte. Sonst schlägt sie uns die Tür wahrscheinlich gleich vor der Nase zu. Dennoch werden wir ihr zu verstehen geben, dass eine Anzeige nicht ausgeschlossen ist. Reinhold ist zwar der Meinung, dass sie sich Genugtuung verschafft hat, doch darauf möchte ich mich lieber nicht verlassen.«

»Sie möchten sich nicht darauf verlassen, natürlich«, höhnte Lothar und verzog sein Gesicht zu einem falschen Lächeln. »Sie platzen vor Neugier, das ist es! Um Beatrice geht es Ihnen doch gar nicht. Oder haben Sie schon einmal daran gedacht, sie vor Beginn Ihrer Aktion um ihre Einwilligung zu bitten? Sie hat doch klipp und klar gesagt, dass sie mit dieser Furie auf keinen Fall mehr etwas zu tun haben will und deswegen ablehnt, sie anzuzeigen. Und nun wollen Sie ihr einen Besuch abstatten, was nur Staub aufwirbeln wird, also genau das Gegenteil von dem, was Beatrice möchte.«

»Wieso sind Sie denn auf einmal so besorgt um sie?«, stichelte Margot. »Nach dieser Ohrfeige. Ihre Wange glüht ja immer noch.«

Doch Beatrice schien ihre Meinung geändert zu haben. »Wenn Sie damit erreichen können, dass Eleonore mir nie wieder zu nahe kommt, will ich Ihnen gerne mein Einverständnis geben.«

»Wirklich? Das ist ja wunderbar«, rief Doris und strahlte in die Runde. »Sie haben es alle gehört. Sie auch, Lothar?»

Doch der hatte nur noch ein Maulen übrig. »Lassen Sie mich doch in Ruhe.«

»Zunächst sorgen wir dafür, dass unserer Freundin kein Haar mehr gekrümmt werden wird, und danach beschäftigen wir uns mit dem Verfasser des Drohbriefes«, setzte Doris die Erläuterung ihres Planes fort.

Lothar holte tief Luft und schüttelte seinen Kopf. Dabei streifte sein Blick Beatrice, die mit hochgezogenen Schultern geradeaus ins Leere blickte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte er und schien die Ohrfeige bereits vergessen zu haben, denn er griff beherzt nach ihrer Hand und presste sie an seine Wange. »Sie ist ja eiskalt!«

»Großer Gott, richtig erfroren sieht sie aus«, stellte nun auch Margot bestürzt fest. »Sie müssen gleich etwas Heißes trinken, Tee vielleicht oder einfach nur heißes Wasser, so wie es die Chinesen bei jeder Gelegenheit tun.«

»Die Chinesen trinken heißes Wasser? Woher hast du das denn?«, krittelte Herbert abschätzig.

»Ich habe darüber gelesen«, erwiderte sie und suchte Doris’ Blick, die offenbar verstanden hatte, denn sie sprang sogleich ein. »Ja, ich hörte auch schon davon. Danach soll heißes Wasser wahre Wunder bei Erkältungen bewirken. Aber vielleicht tut es auch eine schöne Tasse Tee. Pfefferminze, Hagebutte, Kamille, Fenchel. Sie brauchen es nur zu sagen.«

»In den Teebeuteln ist bestimmt nur noch Staub«, lästerte Herbert. »In diesem Palast hier ist nur der Champagner frisch. Aber ich trink sowieso keinen Tee.«

»Wenn du doch einmal still sein könntest und aufhören würdest, unsere Vorsitzende zu beleidigen«, fuhr Margot ihn an. »Es tut mir leid, Doris, er weiß sich einfach nicht zu benehmen.«

»Wahrscheinlich hat er sogar recht«, lachte Doris. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Blick mehr in den Vorratsschank getan.«

»Ein starker Kaffee wäre gut«, unterbrach Beatrice und massierte ihre Schläfen. »Wenn möglich mit einem Spritzer Zitrone. Ich habe heftige Kopfschmerzen, und diese Mischung hilft zuverlässiger als jede Schmerztablette. Aber ich möchte Ihnen keine Umstände machen.«

»Es macht mir keine Umstände. Geben Sie mir drei Minuten?«

Doris verschwand und war kurze Zeit später mit Kaffee und Zitrone zurück. »Ich besitze eine echte italienische Espressomaschine. Das hätten Sie nicht gedacht, was? Und der Kaffee ist garantiert frisch.«

Sie reichte Beatrice die Tasse, wobei Margot jede Bewegung mit kritischem Blick verfolgte. »Das wird Ihnen vielleicht die Kopfschmerzen nehmen, aber garantiert auch den Schlaf rauben. Koffein ist ein Aufputschmittel, aber was Sie jetzt brauchen, ist tiefer und erholsamer Schlaf«, sagte sie und machte ein pikiertes Gesicht, als Beatrice ihren Belehrungen keine Beachtung schenkte und das pechschwarze Gebräu in zwei Schlucken wegtrank.

»Ich werde heute Nacht wieder in meinem eigenen Bett schlafen«, verkündete sie anschließend. »Im Übrigen habe ich kurzfristig einen Termin morgen früh beim Zahnarzt bekommen. Ich muss zeitig aufstehen, was mir schwer genug fallen wird, aber es muss sein. Ich möchte Sie auf keinen Fall stören.«

»Wenn Sie unbedingt nach Hause möchten, werde ich Sie selbstverständlich nicht daran hindern, auch wenn ich nicht gerade glücklich bin über diese Entscheidung«, bedauerte Doris.

»Nicht gerade glücklich?« rief Margot entsetzt. »Wenn Sie jetzt alleine nach Hause gehen, können Sie Ihren Kopf auch gleich in der Toilette versenken.« Sie räusperte sich verlegen, als sie Doris‘ tadelnden Blick bemerkte und fügte rasch hinzu: »Ich mache mir doch nur Sorgen. Aber wenn Sie schon so unvernünftig sein wollen, dann sollte heute Nacht wenigstens einer von uns bei Ihnen bleiben.« Sie sah Lothar an. »Was meinen Sie dazu?«

»Um Gottes willen!«, wehrte Beatrice erschrocken ab und erhob sich eilig. »Ich möchte alleine sein und zur Ruhe kommen. In meinem Kopf hämmert es unablässig, und je leidenschaftlicher Sie diskutieren, umso schlimmer wird es.«

Doris bemühte sich erst gar nicht, ihre Hilfe anzubieten, sondern sah wie die anderen wortlos zu, wie Beatrice in ihrem leuchtend gelben Morgenmantel den Raum verließ. Nur Margot versuchte noch einmal, sie umzustimmen. »So bleiben Sie doch wenigstens bis morgen früh hier.«

Doch nichts half. Zehn Minuten später steckte Beatrice ihren Kopf durch die Tür und sagte: »Auf Wiedersehen.«

Niemand bot ihr an, sie nach Hause zu begleiten, und keiner versprach, am nächsten Morgen nach ihr zu sehen. Lothar saß in sich zusammengesunken da und kämpfte mit den Tränen.

Zunächst herrschte noch Stille, dann begann ein Räuspern und Seufzen, doch es folgten keine Bemerkungen über den plötzlichen Aufbruch und auch nicht darüber, dass Beatrice offenbar keinen Anlass gesehen hatte, sich bei ihren Freunden zu bedanken.

»Wann werden wir aufbrechen?«, fragte Doris und sah Herbert erwartungsvoll an.

Doch Margot mochte die Euphorie der beiden nicht teilen. »Am liebsten würde ich dir diesen Unfug verbieten«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich habe ein ganz komisches Gefühl. Und das macht mir Angst.«

Evi nickte nachdenklich, während sie eine ihrer berüchtigten Qualmwolken hinauf zur Decke blies: »Es wird etwas Böses geschehen. Das sagt mir meine Gicht.«

Kopfüber in den Tod

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