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Urlaubsreif

Warum nur immer wieder diese Verkehrsampeln. Die Zeit war ohnehin schon knapp und ich fühlte mich unwohl. Unwohl darum, weil mir die Hosen nicht mehr passen wollten, unwohl, weil der Urlaub gerade zu Ende gegangen war und ich mich auf der Reise nach Hause befand und einfach auch unwohl, weil mich die ganze Sache einfach ankotzte. So einfach. Der Urlaub auf der Insel war etwas vom Allerschönsten, was ich in den letzten Wochen und Monaten erlebt hatte. Dies, obwohl ich alleine war und erstmals ohne Begleitung verreiste. Lange hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich nicht besser mit einer geführten Reisegruppe irgendwo nach Mallorca oder Teneriffa reisen sollte. Ätzend. Doch ich hatte Angst vor dem Alleinsein, der Langeweile. Als ich mir diese Reisegruppe dann so vorstellte, abends im Bett, kam mir dann definitiv der erlösende Gedanke: Weg von der Zivilisation – nur ich und die Natur. Das war alles, was ich wollte. Noch mehr wollte ich nicht mit einer Reisegruppe die Sehenswürdigkeiten einer vom Tourismus kaputt gemachten Stadt abspulen – in einem muffigen Reisebus, welcher eher einem Stadtbus glich als einem bequemen Urlaubsgefährt.

Ich lag also in meinem Bett, so wie immer, auf dem Bauch und sah meine 37 Reisegefährten vor mir. Da war beispielsweise René „Nullbock“ Riefer. Er war Kranführer und seine alltägliche Einsamkeit, hoch über der Stadt, kompensierte er während dem Urlaub. Er quatschte alle an, redete, bis die Mundwinkel einzureissen drohten und eigentlich hätte er Reiseführer sein müssen, denn alle mussten sie ihm zuhören. Er verkündete, wie brutal das Fernsehen in letzter Zeit sei, wie ungerecht die Weltpolitik, wie intelligent doch die Ägypter gewesen seien und wie gefährlich das Reisen mit dem Flugzeug sei. War er nicht auch mit dem Flugzeug angereist? Es machte den Anschein, als wollte er seinen Mut unter Beweis stellen mit seiner Aussage. Hörte er Musik, dann musste er umgehend werten. Werten, was für ein Musikstil das gerade sei und warum diese Art der Musik für kleine Kinder nicht gut sei. Kurz, „Nullbock“ Riefer war eine richtige Nervensäge. Seinen Übernamen hatte er bekommen, weil er sich nie für einen der angebotenen Ausflüge entscheiden konnte und wenn, dann wollte er bestimmt nach zwanzig Minuten etwas anderes - oder hatte einfach keine Lust mehr.

Sein Äusseres war auch ein faszinierender Anblick. Die viel zu grosse, total veraltete Videokamera schleppte er überall hin mit. Egal, ob in eine Kirche, an den Strand, zum Essen oder in die Stadt. Alle lachten darüber. Nicht nur deshalb, weil er alles filmte, was sich bewegte, sondern auch, weil Riefer alles kommentierte, was er filmte. Was der für einen Scheiss erzählte. Einfach nur Quatsch. Mir taten vor allem all jene leid, welche sich irgendwann dieses Band ansehen mussten. Vielleicht waren dies Verwandte, Bekannte oder Freunde von der Baustelle. Eigentlich ganz egal. Nur eines wusste ich ganz genau: Es war sicher nicht die Art von Film, welche man sich freiwillig ansah. Wenn man bei einem solchen Videoabend irgendwie die Möglichkeit hatte, Kopfschmerzen zu bekommen, dann würde man sicher alles dafür geben, nur um einen Grund zu haben, möglichst fluchtartig den Ort des Geschehens zu verlassen und den Qualen des Films zu entgehen. Sofort kam mir dabei Onkel Paul in den Sinn. Da wusste ich, dass es solche „Nullbock’s“ in jeder Familie gab – ganz sicher.

Je länger ich darüber sinnierte entdeckte ich, dass diese Videokamera für Riefer auch eine prima Ausrede für fast alles war. Denn: Er konnte ja nicht schwimmen gehen, denn er musste filmen. Er konnte aber auch keine weiten Strecken gehen (was vor allem auf den Ausflügen der Fall gewesen wäre), da die Kamera schlicht und einfach zu schwer war. Prima, so eine Kamera war also multifunktional.

Aber es war ja nicht nur die Kamera. Es kam auch noch so vieles hinzu. Beispielsweise seine Sandalen, welche ja alleine noch keine Katastrophe abgegeben hätten, aber in Kombination mit den verwaschenen gelben und vor allem dicken Kniestrümpfen gab es ein Bild ab wie im Zirkus. Die Clowns würden dieselben Socken anziehen, einfach in Kombination mit diesen viel zu langen, für Clowns typischen Schuhen. Aber zurück zu Riefer. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er auch allen anderen zeigen müsse, dass er sich gerade im Urlaub befand. Sein schönstes Hawaii-Hemd hatte er sich mitgebracht – und er trug es jeden Tag. Zwei ganze lange Wochen. Ohne es jemals zu waschen. Dies konnte ich mit Bestimmtheit sagen, denn ich konnte es von Weitem riechen. Dummerweise ist die Ausdünstung eines Menschen etwas, was einem sehr lange in Erinnerung bleibt. Déjà-vu würde man dem sagen, wenn es sich dabei um einen Ort handeln würde. Vielleicht kennen Sie das auch: Den Geschmack des Schulzimmers, der einem ein Leben lang in Erinnerung bleibt. Aber es war ein schönes Hemd; schön für Riefer, es passte genau zum gesamten Bild. Auch seine hautengen, kurzen weissen Hosen, an den Nähten bereits zerschlissen und ihm eigentlich seit fünf Jahren viel zu klein. Zu Hause würde er diese Hosen nicht einmal mehr auf die Baustelle anziehen. Aber hier im Urlaub war das ja etwas ganz anderes.

Seine Frau, Katharina Riefer, sagte nichts. Während der Anreise nicht, während den Ausflügen nichts und beim Essen schaute sie ihren René mit grossen Augen an, fast schon bewundernd. Es schien, als wären bei den Riefers die Rollen während des Urlaubes genau vertauscht. Vermutlich traf sich Katharina jeweils dienstags, mittwochs und freitags im Kaffee zur Linde mit den anderen Klatschtanten, lästerte dann stundenlang über dieses und jenes und erzählte über ihre Nachbarn alles, was sie erfahren hatte. Verwerflich und unglaublich. Nun befand sie sich in einer Art „Stillstand“, konnte so alles aufnehmen und dann, zu Hause, würde sie wieder lästern können, diesmal über das Hotel, die Leute und das Land. Katharina trug ein hellblaues Kleid mit Blümchen in allen Farben, mit kurzem Saum, so dass man ihre dicken, dunkelblaunen Krampfadern und die starke Beinbehaarung sehen konnte. Das Allerschlimmste war, dass sie alle anderen der Reisegruppe ganz genau musterte. Sie schien die Details einer Person oder deren Umfeld richtig gehend aufzusaugen. Ob sie allerdings diese Eindrücke auch wirklich verarbeiten konnte, war eine andere Frage, die ich mir gar nicht erst stellte, da ich als Antwort ohnehin ein ‚Nein‘ vermutete. Das also waren die Eheleute Riefer, eher am unteren Rand der sozialen Schichten angesiedelt.

Da war auch ein Professor, der sich der Reisegruppe angeschlossen hatte. Er war Professor für alles. Ein richtiger Experte – ebenfalls für alles. Doch wie kann einer Experte für alles sein? Ich wusste genau, dass dies nicht sein konnte. Ich war mir sicher, dass auch Schönhuber, so hiess der Experte, wusste, dass dies nicht ging – schliesslich war er da ja Fachmann. Wie kann einer Experte auf allen Gebieten sein? Unmöglich. Naja, Schönhuber machte allen weis, dass er Professor der Wirtschaft sei und genau wisse, wie ein Hotel zu führen sei. Aber auch für den Fall, dass dem so war, Theorie und Praxis waren ja immer noch und vor allem seit je her zwei total verschiedene Dinge. Dieser Mensch war so schlimm, dass man ihm einfach aus dem Weg gehen musste, wenn man einigermassen einen erträglichen Nachmittag verbringen wollte. Und so kam es dann auch, dass ich mir kein Bild des Schönhubers behalten konnte, um es hier wiederzugeben. Das einzige, was mir blieb, war, dass es mehrheitlich allen so erging wie mir. Keiner wollte einen Nachmittag mit Schönhuber verbringen, keiner am selben Tisch essen und keiner mit ihm einen Drink nehmen. So kam es, dass er vor allem Experte für ‚Alleine Urlaub machen in einer geführten Reisegruppe‘ wurde. Vielleicht plante er dies ja alles auch nur, damit er – wieder zu Hause – Kurse für ausgestossene Pauschaltouristen geben konnte. Auf alle Fälle war er so unscheinbar, dass er nur auffiel, wenn er einem seine Expertisen abzugeben versuchte. Anders als „Nullbock“ Riefer machte er dies jedoch nicht für alle, sondern wollte jeden separat mit Informationen versorgen. So nett war er.

Am absoluten Tiefpunkt der moralischen Grundwerte war Karl Raandboek. Karl hatte seine Gespielin oder Freundin mit dabei. Keiner wusste so ganz genau, was sie war. Auf alle Fälle war sie blond, naiv und hatte keine blauen Augen, sondern braune. Sie lispelte, hatte einen Schmollmund und trug immer ein kurzes Röckchen. Schönhuber meinte gar eines Tages, dass Frauen wie Andrea nie Höschen tragen würden – da sei er Experte und wisse das genau. Nun, auch für den Fall, dass Schönhuber damit recht hatte, so genau wollte es eigentlich keiner wissen. Aber zuerst will ich euch von Karl erzählen.

Er war ein ganz eigenartiger Kerl, trug meist Bermudas, aber dazu dann Turnschuhe mit weissen Socken, welche er so hochzog, als würden sie ihm sonst nicht warm genug geben. Zu den Bermudas trug er ein Poloshirt, unifarben ganz in Beige. Doch da er ein weitgereister Mensch war, der auch mehrmals die Tropen bereist hatte, bestand er darauf, immer eine Kopfbedeckung zu tragen. Nicht etwa aus spirituellen Gründen, wie er immer betonte, sondern um seine angeblich so zarte Kopfhaut vor den negativen Einwirkungen der Sonne zu schützen. Diese Aussage dürfte er allerdings vom Experten gelernt oder zumindest übernommen haben. Gelernt würde ja heissen, dass er den Sinn dieses Satzes verstanden hatte, was ich bis heute anzweifle. Diese Kopfbedeckung bestand – je nach Tageszeit – aus einer Schirmmütze der lokalen Bank, bei welcher er ein Konto hatte, oder aber einem schicken Tropen-Schlapphut nach dem Stil von Albert Schweitzer. Ohne natürlich die Arbeit des seeligen Herrn Schweitzer ins Lächerliche zu ziehen, aber das Tropenoutfit wollte Karl einfach nicht passen. Der ‚Sparkassen-Look‘ war vorwiegend auf Ausflügen und am Strand angesagt. Nur wenn er ganz schlechte Laune hatte, konnte es vorkommen, dass die Schirmmütze auch zum Nachtessen auf dem schütteren Haar verblieb. Obwohl er immer und immer wieder von seinen Äquatorialerlebnissen erzählte, schien er bei konkreten Fragen zu seinen Reisezielen sofort das Thema wechseln zu wollen. Eines Tages aber kam es dann doch an die Oberfläche, dass Thailand, Ostafrika und Rumänien zu seinen bevorzugten Reisezielen zählten. Jetzt wurde mir auch das Tragen der Tropenuniform irgendwie verständlich. Stundenlang durch die heissen Strassen Bangkoks ziehen, bei glühender Sonne, auf der Suche nach einem netten Mädchen, das sich aufdrängt, einem Fremden die Stadt und vielleicht noch ein wenig mehr zu zeigen. Er erzählte sehr oft von den netten und schliesslich auch hübschen Thailänderinnen und plädierte strikte gegen den Sextourismus, der da ja bekannterweise sehr florierte. Diese Statements waren so klar, dass man gleich wusste, dass Karl nicht nur wegen den goldenen Tempeln nach Thailand gereist war. Vermutlich bereiste er auch die Steppen Kenias nicht unbedingt der Zebras wegen - oder aber gerade deswegen. In Rumänien schliesslich gab es zu seiner damaligen Reisezeit noch so gut wie gar nichts zu sehen. Ceausescu holte sich damals alles, was schön anzusehen war, in seinen eigenen Besitz. War darum eine Reise nach Rumänien überhaupt interessant? Nun, Ungarn hätte ich ja noch verstanden, schliesslich hatten die Ungaren eine mit den Österreichern gemeinsame Geschichte, sie hatten das Gulasch erfunden und machten ganz passablen Wein. Was wissen Sie über Rumänien?

Seine Reisegefährtin, Andrea, fand immer alles toll und lustig – Hauptsache, dass ihr Karl was tat, sagte oder fragte. Andrea hatte keine eigene Meinung, keine eigenen Ideen und prinzipiell war ihr alles gleichgültig. Sie verhielt sich wie eine Süchtige und ihre Sucht war Karl. War er nicht gerade zur Stelle, wurde sie nervös, verhedderte sich, stolperte umher oder wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Letzteres wusste sie ohnehin nicht immer so genau, aber ohne Karl kam fast gar nichts mehr. Jeden Morgen hatte sie Augenringe, als hätte sie gar nicht geschlafen und kaum konnte sie sich in einen Tour-Bus setzen, schlief sie auch schon. Kichern konnte die gute Andrea sehr gut und sie erklärte sich fast allabendlich als grosse ‚Big Brother‘- Anhängerin. Dies war wirklich auch ihr Niveau. Sie wollte alle intimen Angelegenheiten von allen erfahren, ohne sich aber selber einmal zu öffnen. Einzig und allein über das hyperaktive Sexualleben des Paares schien sie gerne in aller Öffentlichkeit - und vor allem in grosser Lautstärke - zu reden. Beim genauen Hinhören allerdings fiel auf, dass verschiedene Dinge heute so und morgen so tönten: Kurz, das meiste war vermutlich frei erfunden. Doch wenigstens glaubte Andrea, dass alle anderen ihr den Quatsch, welchen sie erzählte, glaubten und damit war sie glücklich. Das war gut so. Andrea war die Frau im Leben von Karl, nicht weil sie eine grosse Leuchte gewesen wäre, nein, sondern einzig und alleine, weil sie bereit war, alles für ihn zu tun. Immer, sieben Tage die Woche. Aber gleichzeitig war sie für mich die Frau, vor der ich ein Leben lang wegrennen würde. Nicht nur, dass sie keine Allgemeinbildung besass, nein, sie zählte zum erlauchten Kreis der Boulevardzeitungsleserinnen und somit auch zum Kreis der wohl ziemlich naiven Menschen. Sie glaubte all diesen Berichten, deren Schlagzeilen man schon von Weitem ansehen konnte, dass das Wesentliche erfunden oder zumindest ziemlich aufpoliert worden war. Doch das passte zu Andrea, denn auch sie möbelte sich jeden Morgen auf. Ohne Make-up und tonnenweise andrer Kosmetikprodukte konnte sie nicht aus dem Zimmer. Ich wagte eine kleine Schätzung und kam zum Schluss, dass ihr völlig überteuerte Reisekoffer wohl mindestens zu einem Drittel mit Kosmetika und Parfums gefüllt sein musste.

Mir wurde einmal mehr bewusst, wie schön es doch eigentlich war, einfach ein Durchschnittsmensch zu sein, einer der sich keinerlei Zwängen unterwarf, im Urlaub keine Verhaltensmuster-Störungen aufzuweisen hatte und einer, der einfach normal war. Gut, hätte dies jetzt einer der ewig philosophischen, aufdringlichen „Spürst-du-mich - Typen“ gehört, dann hätte der jetzt gefragt, was denn eigentlich die Definition von „normal“ sei. Dann hätte ich ihm geantwortet, dass ich dieses, ihm missliebige Wort, mit dem Ausdruck „gesunder Menschenverstand“ gleichsetzen würde; worauf er wiederum erklären würde, dass es dies nicht gäbe. Schliesslich würden wir im Streit auseinandergehen und ich würde den Typen auf den Mond wünschen.

Familien mit Kindern sind eigentlich bei den Pauschaltouristen eher selten anzutreffen. Dies aber nicht nur, weil es einfach relativ teuer zu stehen kommen würde, nein, sondern auch aus Rücksicht den anderen erwachsenen Menschen in der Reisegruppe gegenüber. So schien mir diese Familie – Andreoli oder wie sie auch hiessen – eine richtige Ausnahme zu sein und ich fühlte mich glücklich. Glücklich darum, weil die Chance, eine solche Familie auf einer Pauschalreise anzutreffen etwa gleich gross war wie die, beim Dorffest den Hauptpreis der Tombola des Gärtnermeisterverbandes zu gewinnen. Demzufolge war ich ein Gewinner, obwohl mir der Fernseher aus der Tombola sicher lieber gewesen wäre. Nun ja, ich hatte damals halt einfach das falsche Los gezogen gehabt. Die Kinder der Andreolis waren süss anzusehen, allerdings meist nur dann, wenn sie schliefen, was leider eher selten war. Ich erinnere mich noch an die Anreise. Bereits im Flugzeug hatte alles begonnen und die beiden Gören konnten keine zwei Minuten ruhig sitzen bleiben. Carina Andreoli, die Mutter, hatte alle Mühe, die Kinder auf den Sitzen zu halten, was ja für den Start und die Landung unabdingbar war. Vater Andreoli störte sich anscheinend nicht gross ob der Szene, die wirklich lustig war. Kinder rennen durch ein Flugzeug, Mutter keucht hinterher und die Flight-Attendants ermahnen immer wieder alle Passagiere, sich bitte auf ihre Plätze zu begeben. Es schien wie ein Spiel zu sein, „Hasch mich“ oder „Eile mit Weile“: Das Ziel des Spieles war es anscheinend, Mutter müde zu bekommen, so dass – sollte irgendwann das Bedürfnis nach Süssigkeiten aufkommen – die Kinder garantiert den Nervenkrieg gewinnen würden. Schon wenige Minuten vor dem Start lagen die Kinder mit 1:0 in Führung. Irgendwann sah Carina ein, dass sie keine Chance hatte und so überliess sie das Spiel einer Stewardess, welche schliesslich, kurz vor dem Start, reussierte. Dieser Teilerfolg, das war allen anderen im Flugzeug klar, würde allerdings nicht von allzu langer Dauer sein, denn kaum waren die Zeichen mit der Gürtelschnalle darauf wieder abgeschaltet, ging das Ganze wieder von vorne los. Irgendwann dann meldete sich auch Vater Andreoli mal zu Wort. Er sprach ein Machtwort, welches die Kinder allerdings nicht als ein solches aufnahmen. So machten sie fleissig weiter, begaben sich dazu aber in die Bordküche. Kaum waren alle Flugbegleiter verschwunden, begannen die Kleinen, sämtliche Schubladen zu öffen. Da gab es eine Menge interessanter Dinge zum Spielen. Freude machten ihnen vor allem die Getränkedosen, denn mit denen konnte man Boccia spielen. Dieses Spiel hatten sie von Grossvater gelernt. Ziel war es, eine Kugel möglichst nahe an einen Zielpunkt zu bringen. Da sie aber keine Kugeln und auch keinen Zielpunkt zur Verfügung hatten, mussten sie improvisieren. Da ich gleich neben der Bordküche sass, konnte ich das Geschehen von Anfang an mitverfolgen. Reto, der ältere von beiden, kümmerte sich um den Zielpunkt. Liebevoll und mit sehr viel Hingabe drehte er seinen durchgekauten Kaugummi in den Fingern zu einer Kugel, begutachtete das Ganze noch einmal und drückte die Kugel dann mit den Fingern in den Teppich am Boden der Bordküche. Mit den Füssen wurde dann die Kugel kurzerhand flachgepresst und fertig war der Zielraum. Während also Reto das Ziel vorbereitet hatte, wurden von Martine, seiner Schwester, die Wurfgeschosse auserlesen. Sie wählte für jeden je eine Dose Canada Dry, Cola und ein Tonic-Wasser. Nun konnte das „Preis-Ziel-Werfen“ losgehen.

Der erste Wurf kam dem Ziel schon sehr nahe, dann war Martine an der Reihe und traf die von Reto geworfene Dose so unglücklich, dass beide leck schlugen. Zischend und schaumend verteilten sich die beiden Getränke, ich glaube es war eine Cola-Tonic-Mischung, in der ganzen Bordküche und dem angrenzenden Mittelgang des Flugzeuges. Schon interessant, wie unschuldig sich die beiden Kinder vom Tatort entfernen konnten. Martine wollte sich gerade umdrehen, als sie bemerkte, dass ich ganz genau gesehen hatte, was geschehen war. Sie legte beschwörend ihren Zeigefinger vertikal über ihre Lippen, andeutend dass ich gefälligst den Mund halten sollte. Nach diesem Erlebnis mit den Kindern konnte ich mir sehr gut vorstellen, dass die Eltern eigentlich gar nichts zu sagen hatten und wenn, dann war es immer noch an den Kindern zu entscheiden, ob sie das Gesagte auch wirklich tun würden.

Natürlich wurden die beiden Übeltäter, ohne mein Zutun, entlarvt. Sie erhielten eine schöne lang andauernde Standpauke, welche aber zumindest Reto nicht besonders interessierte, hatte er doch bereits schon das nächste Spiel entdeckt. In der Ablagetasche des Vordersitzes fand er die weissen Tüten, jene, welche niemand gerne von nahem ansieht, besonders deren Boden nicht. Sogleich hatte er die Idee, dass diese, mit Wasser gefüllt, sicher eine tolle Abkühlung ergeben würden. So marschierte er nach der Standpauke schnurstracks in Richtung Toilette, in der Hand einer dieser Kotztüten. Diese wurde in der Folge etwa zur Hälfte mit Wasser gefüllt und dann, schön verschlossen, einem anderen Passagier auf den Sitz gelegt. Als sich dieser dann setzte, war das Theater perfekt. Hätte Reto nicht lauthals gelacht, dann hätte ausser mir niemand herausgefunden, wer dies wieder angestellt hatte. Klar, die Vermutungen gingen in die richtige Richtung.

Später dann im Hotel ging alles so weiter, wie es bereits im Flugzeug begonnen hatte. Die Kinder trieben ihre Mutter zur Weissglut, Carina bettelte darum, dass Gian-Franco, der Vater der Kinder, endlich einmal eingreifen würde. Vergeblich. Gian-Franco steckte seine ganze Aufmerksamkeit immer in diese Hochglanzpublikationen mit den Börsenkursen und in die Wirtschaftszeitungen. Wenn Carina gewusst hätte, wieviele solcher Publikationen und Zeitungen es gab, dann wäre sie sicher alleine oder zumindest ohne Gian-Franco mit den Kindern in den Urlaub gefahren. Hätte sie vor zehn Jahren gewusst, auf was sie sich einlassen würde, dann hätte sie damals sicher ‚Nein‘ gesagt. Die Familienkatastrophe war also vorgeplant und der Urlaub der Andreolis stand unter einem sehr schlechten Stern, mit ihm natürlich auch jener der anderen Mitreisenden.

Mit einem Gefühl der Abscheu in der Magengegend versuchte ich eine Antwort auf die brennende Frage zu finden, warum man solchen Mitmenschen immer ausgerechnet im Urlaub begegnen musste. Ja, schliesslich wäre während des Jahres jeden Tag genügend Zeit, um sich mit solchen Kreaturen abzugeben. Im Urlaub wollen wir uns ja erholen, doch zwei Wochen eingesperrt in einer Hotelburg, zusammen, oder noch schlimmer Seite an Seite, mit Menschen, die einen nur nerven, das hatte sicherlich gar nichts mehr mit Erholung und Entspannung zu tun. Manchmal dachte ich, das wäre Schicksal oder eine Art der Bestrafung, doch ich war mir sicher, dass ich eine solche Bestrafung alles andere als verdient hatte.

Mein Nachbar, der Reikelbacher, der hätte eine solche Bestrafung eigentlich am ehesten verdient, war er es doch, der während des Jahres alle anderen im Haus nervte mit seinem Dudelsack. Ja echt! Der konnte seelenruhig Dudelsack spielen, sonntags um halb acht Uhr in der Früh, manchmal auch mitten in der Nacht. Dann wusste jeder im Haus, wo er wieder gewesen war. Vermutlich in der ‚Alpenrose‘, wo er sich mit Brigitte, der Kellnerin, Mut antrank, um sie danach abzuschleppen. Sie trank sich jeweils Mut an, um ihrem Boss mitzuteilen, dass sie sich entschieden habe zu kündigen. Immer aber war es beim Vollrausch geblieben, hin und wieder endete ein solcher mit einem Abenteuer mit dem Reikelbacher, aber an eine Kündigung zu glauben, wäre mehr als blauäugig gewesen. Wenn dies jeweils nichts fruchtete, dann kramte der nunmehr zutiefst enttäuschte Reikelbacher seinen Dudelsack hervor und spielte sich den Frust aus dem Bauch. Sehr zur Freude seiner Nachbarn.

Reikelbacher war das typischste Mitglied der Reisegruppe, er war einer der Sorte, die enorm unter Flugangst litten, sich aber dennoch nicht getrauten, im Reisebüro den Prospekt mit den Busreisen zu verlangen. So sass der Reikelbacher also im Reisebüro, nervös, scharrte mit seinen Schlüpferschuhen auf dem Teppich und erkundigte sich nach Flugreisen. Möglichst weit weg wollte er, warm sollte es sein und die einheimischen Damen sollten möglichst wenig an Kleidung tragen. Die nette Reiseberaterin empfahl ihm also Mallorca. Reikelbacher hatte den Namen dieses Ortes auch schon gehört und war sich sicher, das richtige Ziel für seinen Urlaub gebucht zu haben. Sie zeigte ihm ja Bilder von einsamen Stränden, halbnackten, einheimischen Damen, gemütlichen kleinen Lokalen und erzählte ihm, wie günstig dieses Angebot sei, vorausgesetzt er würde gleich buchen und anzahlen. Genau so naiv wie bei der Brigitte liess sich der Reikelbacher natürlich sofort einseifen, sagte zu und machte sich schnellstens auf zur Bank, um seine Ersparnisse zu holen. Vielen Dank, Frau Reiseberaterin. Nur war ich also nochmals zwei Wochen gestraft, für den Fall wenigstens, dass der Reikelbacher wirklich auch die selbe Destination wie ich gebucht hatte und dann auch noch im selben Hotel wohnte.

Mir fielen die Augen langsam wieder zu und es schien, als würde meine Reise am selben Punkt fortgesetzt, wie ich sie unterbrochen hatte. Mit der kleinen Aggressionswelle im Bauch hatte ich Reikelbacher natürlich gerade in meine Vorstellungen übernommen und sah ihn jetzt deutlich vor mir, wie er versuchte, der Andrea vom Karl schöne Äuglein zu machen. Mensch, war der doch doof. Er schien einfach nicht begreifen zu wollen, dass er nicht der Typ war, auf welchen die Damen der Schöpfung flogen. Er war peinlich, naiv, blauäugig und am allerschlimmsten: Er trug einen dicken Schnurrbart auf der Oberlippe. Zugegeben, über diesen Schnurr-bart konnte man sich schon amüsieren, vor allem wenn sein Besitzer versuchte, Hähnchenschenkel zu essen. Dann tauchte er die Enden seines Schnauzes jeweils tief ins triefende Hähnchenfett. Hätte er sich Zeit genommen, diesen Auswuchs von Faulheit ein wenig zu stutzen, es wäre ihm nie wieder passiert und niemand hätte mehr einen Grund gehabt, ihn deswegen auszulachen. Als er seine Versuche, Andrea zu bezirzen, wirklich noch ein wenig intensivierte, bemerkte ich, dass Karl dies irgendwie noch nicht realisierte. Im Gegenteil, er dachte anscheinend, dass der Reikelbacher ein netter Kerl sei, der als einziger der ganzen Gruppe etwas mit Andrea anfangen konnte. Da mochte Karl Recht haben. Mit Sicherheit wusste Reikelbacher, was mit Andrea anzustellen war, vor allem nachdem er mit dem Experten geredet hatte. Dieser vertraute ihm das Geheimnis an, welches er bereits allen, ausser natürlich dem Karl, verraten hatte. Er verriet ihm nämlich, dass Frauen wie Andrea keine Höschen trugen, da sei er Experte. Es war sofort ersichtlich, wie ihm diese Aussage die Schamesröte ins Gesicht trieb, gleichzeitig die Neugier zum Leben erweckte und auch gewisse Organe in Wallung versetzte. Von da an war allen klar: Reikelbacher würde versuchen, Andrea abzuschleppen.

Vielleicht wäre dies dem Karl sogar recht gewesen, denn er hätte dann in der Stadt nach netten Mädchen Ausschau halten können, die ihm, für einen kleinen Zustupf, die umliegenden Dörfer und vielleicht auch ein wenig mehr gezeigt hätten. Aber soweit war alles noch gar nicht und überhaupt war es fraglich, ob es wirklich auch soweit kommen würde. Andrea hatte bekanntlich keine eigene Meinung und wollte auch nie etwas selber entscheiden. So vermutete ich, dass sie erst ihren Karl fragen würde, ob sie......

Das war wirklich zu viel und ich musste meine Gedanken in eine andere Bahn lenken. Doch wohin nur? Wenn ich versuchte, eine andere Person zu finden in dieser Reisegruppe, eine die mir etwas ähnlicher war als all die anderen, die ich bis jetzt schon entdeckt hatte, dann gelang mir dies einfach nicht. Abscheu machte sich in mir breit und ich versuchte, diesem Albtraum zu entkommen, doch ich war irgendwie wirklich gefangen. Da war beispielsweise auch dieser Ferienclub eines Unternehmens dabei. Ich vermutete, da es sich bei den Mitgliedern dieses Clubs ausschliesslich um Frauen handelte, dass dies jene waren, die zu Hause keine anderen Kontakte finden konnten, darum taten sie sich zusammen und verreisten in den Urlaub. So musste keine von den Damen alleine sein, war dennoch auf eine spezielle Art alleine und gemeinsam waren sie auf der Suche nach dem Etwas, was keine der anderen geben konnte: Geborgenheit.

Sie waren ja so übervorsichtig und übertrieben höflich zueinander. Es ekelte einen richtig, wenn man sich das anhörte und noch vielmehr, wenn man den Damen zusah. Die Ekligste von allen war wohl Marietta. Diese Marietta hatte eindeutig einen Geltungsdrang und wollte es allen recht machen, was logischerweise aus der Natur der Sache zum Konflikt führen musste. Die Frage war nur, wie lange es gehen würde, bis der Konflikt ausbrechen würde. Ich wagte eine vorsichtige Schätzung und kam zum Schluss, dass es keine drei Tage dauern würde. Marietta war nicht nur harmoniesüchtig, sondern gleichzeitig auch falsch. Ja, sie hatte nicht nur Haare auf den Zähnen, sondern vermutlich einen ganzen Bart. Wenn sie mit einer ihrer Gefährtinnen alleine war, dann lästerte sie über die anderen, die nicht dabei waren; war sie mit dem Rest der Gruppe zusammen, dann war die verbleibende Gefährtin das Lach- und Gesprächsthema. Eigentlich war Marietta genau diese Art von einer Bekannten, mit der man alles tun würde, nur eines ganz bestimmt nicht: In den Urlaub fahren. Marietta war es, die sagte, wann es Zeit zum Schlafen war, sie war es, die Stimmung brachte oder Stimmung zerstörte, sie war es, die entschied welche Ausflüge die Gruppe gemeinsam buchen würde, kurz: Marietta war eigentlich die Gruppe und zugleich auch der Mittelpunkt. Alles drehte sich einzig und alleine um sie, alle anderen hatten gar nichts zu sagen und wenn sie es dennoch wagten, einmal einen Vorstoss zu machen, dann konnten sie sich sicher sein, bei einem nächsten Mal das Gesprächsthema zu sein. Was da ausgeübt wurde, war nichts anderes als ein Machtspiel, eines, das vermutlich nach dem Urlaub im Betrieb weitergehen würde. Es hatte sicher auch schon vor dem Urlaub begonnen. Ich konnte nicht ausmachen, was die an dieser Marietta fanden. Sie war nicht intelligent, nicht schön, nicht reich, aber auch nicht arm, sie war eine Frau, die einfach nur eifersüchtig auf alle und alles war. Sie konnte einfach niemandem etwas gönnen – sie fühlte sich stets nicht ernstgenommen und betrogen. Ich begann ein wenig zu verstehen. Diese Frau konnte man gar nicht ernst nehmen, denn niemand wusste, woran er war.

Neben Marietta gab es auch noch eine Adelheid, die allerdings von allen Heidi genannt wurde. Heidi und Marietta waren gemeinsam ein verschworenes Gespann und nützten ihre Vormachtstellung aus. So schickten sie beispielsweise einige ihrer labilen Kolleginnen nach dem Frühstück ans Buffet zurück. Nach Möglichkeit assen sie immer vom Buffet, wenigstens beim Frühstück. Sie sollten abräumen, was sie konnten, damit sich Marietta und Heidi Stullen für unterwegs bereiten konnten. Natürlich wurde das nie so offen gesagt, aber dadurch, dass alle vor den beiden Respekt hatten, brauchten weder Heidi noch Marietta lange zu warten bis sich eine nach der anderen vom Tisch erhob, um auszuführen, was den beiden vorgeschwebt hatte. So wie beim Frühstück ging das auch bei allem anderen, was die beiden Damen wollten, sagten und vielleicht auch dachten. Irgendwie passten alle diese Damen von der Art her irgendwie zusammen, nur nicht Luana. Sie war jung, intelligent und schön. Sie hatte alles, was einen Mann faszinieren, fesseln, aber auch unglücklich machen konnte. Dennoch setzte sie sich anscheinend freiwillig mit den allesamt älteren Damen an einen Tisch, statt in eine Diskothek zu gehen und Gleichaltrige zu treffen. Das Leben konnte ja schon irgendwie unergründlich sein. Die Umstände, unter denen sie mitgefahren war, konnte ich mir beim besten Willen nicht ausmalen, auch wenn ich dies gewollt hätte.

Luanas blonde Haare fielen ihr leicht gewellt über die Schultern, und ihre lagunenblauen Augen drückten ihre Befindlichkeit aus. Wenn man sie lange genug ansah, konnte man feststellen, dass sie sich nicht wohl fühlte. Nicht wohl in der Gruppe, mit der sie reiste, aber auch nicht wohl im Umfeld, in welchem sie sich befand. Gekonnt versuchte sie zu verstecken, niemanden an sich heranzulassen. Wer allerdings geübt war, konnte sehen, wie es um ihre Seele stand: Stürmisch. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie erst kürzlich einen schweren Schicksalsschlag erlitten und sich aus diesem Grund dem Damen-Club angeschlossen hatte, vielleicht um auf andere Gedanken zu kommen, um zu vergessen. War nachvollziehbar, wenn auch nicht verständlich, wenn man das sich daraus ergebende Bild ansah. Luana war die ruhigste in der ganzen Meute, sie liess sich nicht aufhetzen, nicht aus der Ruhe bringen: Sie lebte einfach ihren eigenen Rhythmus und versuchte, sich so gut wie irgendwie möglich zu entspannen. Mir wäre dies in jener Begleitung bestimmt nicht gelungen, ich hätte mich aufgeregt, geschämt und versucht mich zu verkriechen - gedanklich. Auch so regte ich mich schon genug auf. Hinzu kam, dass diese Damen im Hotel auch noch auf derselben Etage wie ich untergebracht waren, so musste ich sie nicht nur während den Mahlzeiten erdulden, sondern auch hin und wieder im Fahrstuhl ertragen oder die kleinen Streitereien durch die Wand im Zimmer mitverfolgen. Nicht, dass ich dies tat, weil es mich interessiert hätte, aber man hörte es einfach. Genauso, wie wenn ich ein Liebespärchen im Zimmer nebenan gehabt hätte, welches sich gerade intim beschäftigt hätte.

Dietmar und Paul waren ein Paar und vermutlich auch diejenigen in der ganzen Gruppe, welche noch einen Umgang pflegten, den man als normal bezeichnen könnte. Klar, sie entsprachen ihrer Ausrichtung wegen nicht ganz der Norm der Gesellschaft, aber wenigstens gehörten sie nicht zu jenen, die andere kritisierten oder ausgrenzten. Sie wussten, wie es war, ausgestossen zu sein, Objekt von schlechten Witzen und üblen Sprüchen zu sein. Dietmar gab sich sehr weiblich, putzte sich vor allem abends heraus, trug viel selber gemachten Schmuck und war sehr empfindlich. Paul gab sich als Macho, hart und unantastbar, ein Image, welches einfach nicht zu ihm passen wollte. Er hatte wohl eine harte Schale, aber drunter lag ein sehr weicher, leicht verletzbarer Kern. Vor allem verletzten ihn Sprüche über die Homosexuellen oder ihre Art zu leben. Früher hatte er dagegen gekämpft, heute sah er ein, dass es beim Rest der Gesellschaft einfach zwei Lager gab. Die einen – meist die besser gebildeten – waren eher liberal eingestellt, die Arbeiterklasse hingegen verachtete meist die Homosexuellen. Komischerweise aber unterschieden sie wiederum zwischen männlichen und weiblichen Homosexuellen und waren eher bereit, Lesben zu akzeptieren als Schwule. Nicht umsonst hatte sich das Wort ‚Schwuler‘ immer mehr als ein Schimpfwort etabliert. Immer wieder äusserten sich Männer, einmal beim Akt zweier Frauen dabeisein zu wollen. Noch nie hatte Paul so etwas von zwei Männern gehört. Vermutlich traute sich keiner, dies öffentlich zu bekennen. Wenn die gewusst hätten, wieviele der einflussreichen Menschen dieser Welt schwul sind, dann hätten sie nicht so lautstark mit ihren verachtenden Sprüchen hausiert. Beide standen zu ihrer sexuellen Ausrichtung und machten keinen Hehl daraus. Nicht, dass sie jetzt jedem die Hand gegeben und zur Begrüssung gesagt hätten, dass sie homosexuell seien, nein, das meinte ich nicht damit. Sie küssten sich, wenn sie sich danach fühlten, ganz egal, ob sie jetzt in einer Kirche standen oder im Speisesaal des Hotels auf den Hauptgang warteten – das war ihnen egal. Auch das Raunen, welches dann jeweils durch den Speisesaal ging, störte sie nicht mehr.

Als ich Dich vermisste

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