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In der Anderswelt

Er hielt inne und plötzlich schien er in einer andren Welt zu sein. Wie schön das war! Hagestolz fühlte sich wie neu geboren und dachte, das Schicksal hielte hier irgendwo ein Schlaraffenland für ihn bereit, wo er ohne Mühe' den Genüssen des Lebens frönen konnte. Mit dieser Vorstellung stürmte er blindlings drauflos – doch so weit er auch lief, er fand nichts.

Irgendwann ging Hagestolz die Puste aus. Er blieb stehen, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! In welcher Öde war er denn hier gelandet? Er schaute zurück, doch der wundersame Regenbogen war weg. Ringsum nur triste Ebene – er hatte keinerlei Orientierung mehr...

Hagestolz kratzte sich am Kopf und dachte nach. Das hatte er noch nie getan, doch nun blieb ihm ja nichts andres übrig. Mutter hatte stets einen Rat für ihn gehabt, wenn er nicht weiter wusste – jetzt war keiner mehr da, der für ihn dachte. Verdammt war das anstrengend! Obendrein knurrte sein Magen, doch keine Seele bat ihn zu Tisch. Und wo sollte er sein Nachtlager aufschlagen? Weit und breit war kein Obdach in Sicht. Ach, wie grausam war doch diese Welt und wie unendlich erschien ihm diese karge Steppe...

Er holte tief Luft, blickte hinauf ins unendliche Himmelsblau und strengte seine kleinen grauen Zellen mächtig an – doch in seinem Hirn herrschte heilloses Wirrwarr. Nur die Sonne schien tröstlich auf ihn herab. Mutlos sank er zu Boden, streckte seine Glieder, schloss die Augen und genoss die Ruhe. Oh, wie angenehm war das doch nach dieser Hetze! Wozu sollte er sich auch abrappeln? Es war weniger beschwerlich, in der Sonne dösend abzuwarten, bis irgend einer käme, ihn zu erlösen.

Unbekümmert glitt Hagestolz ins Reich der Träume...

Da erschien ihm die Glücksfee, lächelte wohlwollend und sagte: „Du hast drei Wunsche frei“:

Das war so ganz nach seinem Geschmack. Hocherfreut dachte er: 'Ich möchte so gern unter Meinesgleichen sein' und malte sich aus, mit einer Horde ebenso zerlumpter Gestalten durch die Welt zu ziehen. Hui, schon fegte ein Windgeist aus dem Füllhorn der Fee, hüllte den Träumer in eine Wolke und entführte ihn an einen fernen Ort voll absonderlicher Gestalten.

Als Hagestolz wieder festen Boden spürte und die Augen öffnete, stand vor ihm eine Baumhexe, die ängstlich aus ihrer Borke lugte.

„Was tust Du denn da in dem Baum?“ fragte er.

„Die Borke beschützt mich“, erwiderte sie.

„Aber Du bist doch darin gefangen“, wunderte sich Hagestolz, „mir würde das nicht gefallen, wenn ich so eingesperrt wäre“ – und sogleich machte er ein paar Purzelbäume, um ihr zu zeigen, wie schön es doch ist, sich frei bewegen zu können.

Die Baumfrau sah ihm neidisch zu, doch als er sie fragend ansah, starrte sie hochmütig über ihn hinweg. Um nichts in der Welt wollte sie zugeben, in ihrer Borke gefangen zu sein. Da er einer Antwort harrte, sagte sie schließlich: „Ich will eben nicht so sein, wie alle anderen. Als Borkentrude bin ich einmalig!“

„Einmalig bin ich auch“, lachte er, drum mag mich keiner...

Sie zuckte zusammen und aus ihren Augen sprach der gleiche Trotz, der ihn einst bewogen hatte, sein verschlamptes Äußeres zu verteidigen. Sahen so die Kameraden aus, die er sich gewünscht hatte? Hagestolz wunderte sich über die seltsame Erfüllung seines Wunsches. So verkorkst, wie diese Baumtrude, war er doch noch lange nicht. Schließlich steckte er ja in keinem selbst gewählten Gefängnis. Er wandte sich beleidigt ab und schaute sich um. Auf der andern Seite lag ein Sumpf, in dem sich etwas bewegte.

Hagestolz war neugierig, was das sei, und rief: „Hallo?“

Langsam drehte sich das Wesen um und glotzte ihn sonderbar an. Es war ein Echsenmensch, der dort im Schlamm lag und ziemlich besoffen dreinschaute. Ein Stück weiter hinten blubberte es aus dem Boden und auf dem Morast lag ein rötlicher Glanz. Rosige Schwaden zogen darüber hinweg und rochen nach modrigem Wein. „Ist das eine Weinquelle?“ fragte Hagestolz.

„Nein“, ächzte das seltsame Geschöpf, „das ist eine Heilquelle. Die Trauben hängen da oben“ und damit deutete es auf einen Berg aus rotem Gestein, der hinter dem Sumpf aufragte. „Was dort an Weinbeeren abfällt, landet hier im Sumpf und vergärt im Wasser. So lebe ich in einem Wein-Sumpf und bin ganz ohne mein Zutun ständig beduselt.

Hagestolz blickte hinauf: Auf dem Gipfel stand eine Burg, deren Mauer Weinreben bekränzten. Auch seine Mutter hatte einst einen Rebstock gehabt. Daher wusste er, dass nur verschrumpelte und angeschimmelte Beeren vom Wind verweht wurden. Gesund war dieser Abfall sicherlich nicht. „Hast Du schon mal versucht, da hinauf zu klettern, um die guten Trauben zu ernten?“ fragte er.

„Oje-oje“, jammerte der Schuppenmann, „da komm ich doch gar nicht hinauf! Der Berg ist doch viel zu hoch, das schaffe ich nie!“

„Auf allen Vieren geht das doch leicht“, erwiderte Hagestolz, der als Kind beobachtet hatte, wie Eidechsen steile Felsen hoch huschten. „Irgendwer hat dort ja sogar Steine hoch geschleppt, um eine Burg zu bauen...“

Der Echsenmensch schaute ihn ungläubig an und schüttelte den Kopf: „Das waren bestimmt urtümliche Riesen mit Bärenkräften! Normale Sterbliche können sowas nicht.“

Damit tauchte er ab, um gleich darauf schmatzend aufzutauchen.

Hagestolz sah ihn entgeistert an: „Bist Du ein Schlammfresser?“

Der Schuppenmann schüttelte den Kopf, deutete auf seine Gurgel und brabbelte: „Krötenschlucker.“

„Du lebst im Sumpf und schluckst Kröten?“

Der Echsenmensch wischte sich den Schlamm vom Mund und nickte traurig: „Mir bleibt doch nichts anderes übrig, hier gibt es sonst nichts. Man frisst eben, was man im Umfeld findet...“

„Dann such Dir doch einen besseren Ort zum Leben.“

„Ich komm hier doch nicht mehr raus“, jammerte er.

„Wieso, Du musst doch bloß raus klettern...“

„Denkste! Der Sumpf ist zäh, der klebt an mir fest und zieht mich runter, dem entkommt man nicht so leicht.“

Hagestolz glaubte das nicht: „Wenn Du Deine Schuppen anlegst und vorwärts gehst, gleitet der Schlamm doch an Dir ab. Der Sumpf saugt sich an Dir nur fest, wenn Du Dich bequem zurück lehnst und gehen lässt.“

Der schuppige Krötenfresser fühlte sich ertappt. Betreten wandte er sich ab und suchte auf der Oberfläche seines Schlammbades herum. Bald fand er eine besoffene Fliege und klatschte sie tot. Welch ein Gefühl von Überlegenheit überkam ihn da. Stolz blickte er zu Hagestolz hinüber und als dieser ihn verdutzt anschwieg, grinste er blasiert, als habe er eine Armee geschlagen.

Hagestolz lächelte scheu – nicht weil er den Schuppenmann so großartig fand, sondern weil er sich daran erinnerte, wie er selbst jedes mal sein Selbstbewusstsein aufpoliert hatte, wenn er irgendwo abgeblitzt war. Damals zog er sich geknickt in die Natur zurück, stellte Fallen und fühlte sich angesichts einer toten Maus wie ein Held. Irgendwie glichen sie wohl alle beide dem „Tapferen Schneiderlein“. Hagestolz drehte sich um und betrachtete die Baumhexe. Irgendwie verhielt sie sich ebenfalls ähnlich, wie er: Sie verbarg sich in ihrer Borke, wie er im Dickicht des Waldes, wenn er vor etwas davonlief. War er bei diesen seltsamen Wesen gelandet, um zu erkennen, was er im Leben falsch machte?

Er begann zu grübeln: Wenn er mit seiner Denkweise so daneben lag, warum hatte kein Mensch je versucht, ihm da raus zu helfen? Warum scherte es keinen, was aus ihm wurde? Gedankenverloren setzte er sich auf einen Stein und schloss die Augen. Wie im Traum sah er sich durch die Straßen einer Stadt schlendern. Vor ihm stolperte eine alte Frau und fiel zu Boden. Doch er ging achtlos an ihr vorbei, schnappte sich schnell einen der davon gerollten Äpfel aus ihrer Tasche und ließ ihn sich schmecken.

Jetzt war ihm klar, warum er damals böse Blicke geerntet hatte: Wer immer nur an sich denkt und andere in der Not links liegen lässt, dem möchte auch keiner helfen. Vielleicht hätte sich einer der Umstehenden seiner erbarmt, wenn er der alten Frau geholfen hätte, anstatt sie zu bestehlen? Die Leute schimpften damals hinter ihm her, er habe nichts Besseres verdient, als obdachlos herum zu lungern – und damit hatten sie wohl auch recht. Seinerzeit waren diese Worte an seinem Hochmut abgeprallt, nun wusste er: Wer Kritik ausschlägt, ist keiner Hilfe wert – eine bittere Lektion.

Er blickte auf und betrachtete die beiden verkorksten Gestalten, bei denen er da gelandet war. Auch sie frönten einer Einstellung, mit der sie sich selber schadeten Früher war es ihm schnuppe, wie sich andere fühlten, jetzt verspürte er Mitleid und wollte helfen.

Er dachte an seine Mutter, die sich für ihn total aufgeopfert hatte. Ihrer konnte er nur noch in Reue gedenken und er schämte sich, dass er es die letzten Jahre versäumt hatte, sich ihrer Fürsorge als dankbar zu erweisen. Jetzt konnte er wenigstens anderen Gestrandeten weitergeben, was er einst von seiner Mutter erfahren hatte. Etwas in seinem Inneren drängte ihn, diese verirrten Geschöpfe aus ihrer Zwangslage zu befreien. Wo ein Wille ist, ist ein Weg.

Hagestolz dachte an das Märchen vom tapferen Schneiderlein. War dieser Bursche nicht mit Mut und Schlauheit über sich hinaus gewachsen? Er wagte es, das Land von Riesen und wilden Tieren zu befreien, um sich der Königstochter als würdig zu erweisen. Die Vorstellung, nun auch ein hilfreicher Held zu werden, machte ihn richtig froh. Er atmete tief durch und wollte gleich beginnen.

Zuerst packte er den Schuppenmann, um ihn aus dem Sumpf zu ziehen, doch der sträubte sich, weil er das Trockene fürchtete. Also wandte er sich der Baumtrude zu, doch die traute dem dahergelaufenen Fremden nicht und zog es vor, im Schutz ihrer Rinde zu bleiben. Hagestolz seufzte. So einfach war das Helfen offenbar nicht. Wie sollte er diese Angsthasen nur aus ihrer Beklemmung befreien? Er selbst war ja bisher eher zu unbekümmert gewesen.

Obendrein knurrte ihm nun auch noch der Magen...

Hagestolz Holperbein

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