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Das Kreuz

Für all jene Birkuner, die es vorzogen, ihre Geschicke den göttlichen Entscheidungen der Vanen oder Asen zu überlassen, war er der Ausdruck ihres ganzen Stolzes – der Tempel. Bei der Errichtung des Gebäudes vor gerade mal sechs Sommern wurde nahezu ein ganzer Hain voller Holz verbaut. Und um den Bau möglichst innerhalb von wenigen Monden fertigstellen zu können, haben die vielen Dutzend Handwerksmeister und -gesellen von zahllosen, freiwilligen Handlangern tatkräftige Unterstützung erhalten. Und es war beileibe nicht nur der halbwüchsige Asleif gewesen, der sich seinerzeit jeden Tag über Stunden hinweg die Augen ausgeglotzt hatte, um beim Fortschritt der Arbeiten bloß ja kein Detail zu verpassen. Nein, jeder der in der Stadt wohnte oder auch nur zufällig in ihr weilte, hatte sich emsig darum bemüht, so viel Zeit als möglich in der Nähe der Baustelle zu verbringen, um die Wissbegier befriedigen zu können, die jeden Morgen wieder und wieder aufs Neue entflammt war. Und eines schönen Tages war es endlich soweit: unter großem Beifall der Birkuner hatte das Heiligtum seine heutige, alles überragende Gestalt erlangt.

Das Gebäude hatte – von oben betrachtet – entfernte Ähnlichkeit mit einem Thorshammer. Es war etwa vierzig Schritt lang und knapp zwanzig breit, am Hammerkopf gut dreißig. Außenfassade und Satteldächer waren durchgehend mit Holzschindeln verkleidet, wobei sich die nach oben hin stetig kleiner werdenden Dächer schwindelerregend in die Höhe türmten. An den Giebelseiten sprangen dämonisch wirkende Drachenköpfe aus den Dachenden hervor, welche ungerührt und mit starren Blicken das Treiben der Stadt zu verfolgen schienen. Zu ebener Erde verlief ein offener Umgang mit schrägem Dach und hölzerner Brüstung einmal um den Tempel herum: der Svalgang. Der 1½ Schritt breite Gang verfügte über drei, den Tempeltüren genau gegenüberliegende Durchlässe. Die Portale sowie die Pfosten der Durchgänge wiesen, analog zur Doppeltür der Jarlshalle, in sich selbst verschlungene Tierdarstellungen auf – von zarter Meisterhand in hartes Holz geschnitzt. Das Äußere des Tempels wirkte eher trutzig denn heilig, doch dies entsprach durchaus dem Geschmack der Birkuner.

Das Innere des Tempels wurde von dreißig mächtigen Stützpfeilern aus Eichenholz dominiert, welche – angeordnet zu zwei Reihen – die Standhaftigkeit der Götter symbolisierten. Auf diesen Pfeilern, den Masten der großen Drachenboote nicht unähnlich, ruhte das hölzerne Tragwerk für die gesamte, bis oben hin offene Dachkonstruktion. In doppelter Mannshöhe zog sich eine Empore die Außenwände entlang, welche man mittels einer einläufigen, schlichten Holzstiege erklimmen konnte. An den Pfeilern hingen – zu Ehren der im Kampf gefallenen Krieger – zahlreiche Waffen. Darunter befanden sich neben vielerlei Schwertern, Bogen und Pfeilköchern auch eine Handvoll alte, bereits vom Rost der Zeit angehauchte Streitäxte. Die Standbilder der mächtigsten Götter wie Odin, Thor oder Frey, waren im Bereich des Hammerkopfes aufgestellt worden, derweil die weniger einflussreichen, wie Bragi, Nanna oder Idun, an den restlichen Außenwänden ihre Plätze gefunden hatten.

Etwa in der Mitte des Tempels, da wo sich der Raum zum Hammerkopf hin erweiterte, brannte in einer quadratisch angelegten Grube ein mächtiges Feuer. Dass diese Flammen dort lohten, hatte keineswegs nur den Grund, den Raum zu wärmen und zu erhellen, nein, es galt vielmehr den Angriff der Midgard-Schlange und der finsteren Mächte – also Ragnarök, das Ende der Welt – möglichst lange aufzuhalten. Und dafür, dass dieses heilige Feuer niemals erlosch, sondern immerzu kräftig loderte, hatte der Tempeldiener Toki Sorge zu tragen.

Als Asleif den Tempel betrat, war Toki gerade damit beschäftigt, Holz nachzulegen. Seine schaufelförmigen Hände bewegten die schweren Scheite so mühelos als wären sie flauschige Entendaunen. Dabei sah Toki auf den ersten Blick gar nicht besonders kräftig aus mit seiner 6½ Fuß großen, hageren Gestalt, die er wie üblich mit einer langen, dunkelbraunen Tunika verhüllt hatte. Überhaupt erinnerte er mehr an eine Vogelscheuche denn an einen Nordmann: lange Arme; lange Beine; langer, kantiger Kopf mit langem Kinn und einem knochigen Gesicht, in dem neben den hellen, grünen Augen eine lange Nase und ein breiter Mund saßen; sein Schnauzbart endete in langen Spitzen und die langen, hellblonden Haare hielt er mit einem Stirnband aus dunkelbrauner Wolle im Zaum. Toki war Mitte zwanzig und hatte seinen Dienst als Tempeldiener gleichsam mit der Fertigstellung des Tempels aufgenommen.

»Hei, Toki, wie ist es denn?«, grüßte ihn der Schreiber.

»Ah, hei, Asleif. Thor sei’s gedankt, allmählich geht es wieder. Die Hitze war ja kaum noch auszuhalten. Ich kann mich nicht entsinnen, wann wir seit den Tagen meines Großvaters jemals dermaßen heiße Wochen hatten. Aber sag mal, was treibt dich denn hierher? Suchst wohl den Goden, was?«

Asleif zog die Stirn in Falten. »Stimmt, ja.« Er sammelte sich einen Augenblick, um nicht versehentlich etwas auszuplaudern und fragte dann: »Bist du jetzt unter die Seher gegangen oder hast du einfach nur geraten? In der Tat wollte ich mit ihm sprechen. Ist er denn nicht hier, nicht hier?«

»Nein, Asleif, das ist er nicht. Ich kann dir aber sagen, dass ich ebenfalls sehnlichst seine Rückkehr erwarte, denn wir hatten für heute vereinbart die Opferstöcke der Hauptgötter zu leeren.« Ehe er weitersprach, zog er kurz die lange Nase kraus und seufzte einmal tief. »Wenn ich mir vorstelle, wie einfach es mein Großvater noch hatte! Der brauchte lediglich nach Beendigung der Feiertage die Gehängten in den Bäumen des heiligen Hains zu zählen! Das war beinahe alles, was er zu tun hatte. Und ich? Ich muss annähernd jede Woche gemeinsam mit dem Goden die Opferstöcke, die vor den jeweiligen Standbildern der Götter stehen, öffnen und hernach sämtliche Münzen auflisten, welche die Leute heutzutage als Opfer darbringen. Vom Sauberhalten des Tempels und dem ständigen Schüren des Feuers mal ganz zu schweigen. Bisweilen träume ich davon, ich könnte so leben wie mein Großvater seinerzeit. Aber weswegen langweile ich dich eigentlich damit? Lange Rede, kurzer Sinn – ich weiß nicht, wo der Gode steckt!«

Asleif verdrehte kurz die Augen bevor er erneut zum Sprechen ansetzte. »Hat er vielleicht beiläufig erwähnt, wo er hinwollte? Du hast doch heute schon mit ihm gesprochen, oder etwa nicht?«

»Fürwahr, gesehen habe ich ihn heute bereits, gleichwohl war es mir nicht vergönnt mit ihm zu reden. Es war nämlich so: Er tauchte hier heute früh zusammen mit Ari auf und derweil ich mit Letzterem ein wenig Abseits stand, um ihm das behagliche Leben meines Großvaters zu beschreiben, erflehte Teit den Beistand der Asen für so ’ne komische Silberschatulle. Als er damit fertig war, winkte er Ari heran und übergab ihm den Kasten. Allein bevor ich ihn fragen konnte, ob er nun mit mir zählen wolle, war er bereits mit Ari durch das Westportal entschwunden. Ich lief rasch hinterher, sah aber lediglich Ari auf dem Weg in die Stadt; der Gode musste demnach in den Svalgang getreten sein. Ich vermutete, dass er wohl die Burg aufzusuchen gedachte und eilte schnell durchs Tempelinnere zum Südportal, um ihn dort abzufangen. Nichtsdestotrotz traf ich ihn auch dort nicht an. Verwundert schritt ich noch ein wenig weiter bis zur Kreuzung, wo ich mich schließlich umwandte. Unvermittelt erblickte ich nun den Goden – er hastete mit ausgedehnten Schritten über den Ostweg Richtung Ostertor. Just in diesem Augenblick fiel mir mein Großvater wieder ein und ich entschloss mich spontan, Teit ziehen zu lassen und meinerseits in den Tempel zurückzukehren. Mehr vermag ich dir nicht zu berichten, Asleif.«

Dieser bedankte sich bei Toki, bat ihn jedoch, dem Goden, im Falle dass dieser sich blicken lassen sollte, mitzuteilen, er möge sich bei Jarl Harald melden. Alldieweil Toki sich erneut dem Feuer widmete, verließ Asleif den Tempel durch die Westtür. Er gedachte nunmehr Teits Amtsstube aufzusuchen, in der Hoffnung dort, wenn schon nicht den Goden selbst, so doch wenigstens einen Hinweis auf seinen Verbleib zu finden.

Die Amtsstube hatte Teit in einem Haus eingerichtet, welches der Kaufmann Gorm Finnsson sein Eigen nannte. Unmittelbar am Knut-Markt stehend gehörte es zu den wenigen Gebäuden in Birkuna, die aus Steinen errichtet worden waren. Neben einem in Svera ohnehin schon seltenen Obergeschoss verfügte es erstaunlicherweise gar noch über unterirdische Räume.

Asleif ging durch die unverschlossene Haustür in den Flur hinein und öffnete alsdann die erste Tür links, um die Stube zu betreten. Diesen Raum benutzte der Gode in seiner Eigenschaft als Richter. Hier schlichtete er kleine Zwistigkeiten unter den Handwerkern und fällte Urteile über Gelegenheitsdiebe oder betrügerische Handelsherren. Schwere Verbrechen hingegen wie Totschlag oder Mord waren grundsätzlich dem Jarl vorbehalten oder wurden gar erst vom Thing abgehandelt, auf dem sich zweimal im Jahr die mächtigsten Männer aus ganz Svera versammelten.

Die Tür der Amtsstube war absichtlich nicht verschlossen, damit diejenigen, die des Schreibens mächtig waren, ihre Anliegen durch Hinterlassung einer Mitteilung auch bei Abwesenheit des Goden Kund tun konnten. Insofern rechnete Asleif nicht damit, bedeutsame Dokumente vorzufinden. Tatsächlich gewahrte er nebst unbenutzten Pergamenten sowie Gerätschaften zum Schreiben lediglich einen Umhang, der einsam und verlassen hinter der Tür hing. Keine Botschaft von Teit, kein Vertrag und nicht der geringste Hinweis auf des Goden derzeitigen Aufenthaltsort.

Asleif verließ die Stube und befragte die übrigen Hausbewohner, doch auch diese vermochten ihm nicht weiterzuhelfen. Der Gode ginge immerzu ein und aus, hieß es lapidar, da hätten sie weder das Recht noch die Zeit sich weiter drum zu kümmern. Nein, seit dem frühen Morgen hatte ihn niemand mehr gesehen.

Somit blieb Asleif nur noch eines: die Kammer des Goden im Langhaus. Er nahm sich vor, sie aufs Gründlichste zu durchsuchen. Dass er Teit selbst dort vorfinden könnte, hielt er mittlerweile für ausgeschlossen. Als er zur Burg zurückgekehrt war bestätigten die Wachen seine Vermutung: Der Gode war in der Zwischenzeit nicht wieder aufgetaucht.

Umgehend betrat Asleif Teits Kammer, die mit etwa vier mal fünf Schritt im Ausmaß ein wenig größer war als seine eigene und mit einer Truhe, einem Bettkasten sowie zwei Tischen mitsamt Hockern möbliert war. Überdies stand an einer der Wände ein hölzernes Gestell, auf welchem einige Dutzend Dokumente lagerten.

Asleif sah sich jedes dieser Dokumente einzeln und auf das Genaueste an. Schließlich bestand ja die vage Möglichkeit, dass eines von ihnen der gesuchte Vertrag sein könnte. Allein es fanden sich ausnahmslos derlei Urkunden, die hier auch hingehörten – nicht eines der Dokumente deutete auf einen Handel mit den Sassirab hin. Aus lauter Verzweiflung wühlte Asleif schließlich noch in der Truhe herum, doch förderte er lediglich einige abgetragene Kleidungsstücke des Goden zum Vorschein. Weil auch auf den Tischen nichts Bedeutsames lag, entschloss er sich, wieder zu gehen.

Er hatte bereits die Türklinke in der Hand, da entschied er sich doch noch dafür, das Bett zu untersuchen, welches er bislang als unerheblich übergangen hatte. Und tatsächlich – die Decke zurückschlagend, erblickte er einen Gegenstand, der ihn unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. Bei Balder, Jarl Harald hatte Recht, murmelte er in sich hinein. Entschlossen trat er wieder vor und hüllte seinen schier unglaublichen Fund rasch in die Decke – es war zweifellos besser, wenn ihn niemand damit sehen würde.

Ohne einen weiteren Augenblick zu zaudern verließ er umgehend Teits Kammer und eilte gleich hinüber in die Jarlshalle. Als der Blaufuchs ihn erblickte, brüllte er gleich los: »Wo ist der Gode, hast du ihn gefunden, Asleif?«

»Nein, Ohm, nein. Indes ich habe etwas anderes gefunden.« Als er die Jarlstafel erreicht hatte, legte er die Decke mitsamt seinem Fund so vorsichtig auf den Tisch, als handele es sich um ein halbes Dutzend roher Enteneier.

Harald Blaufuchs sah seinem Schreiber erwartungsvoll in die blaugrünen Augen. »Der Vertrag, ist es der Vertrag?« Doch kaum hatte er es ausgesprochen, da wusste er auch schon, dass dem nicht so war. Asleifs Stimme hatte zwar erregt, aber gleichzeitig auch beklommen geklungen. »Beim Schädel! Was ist es denn? Heraus damit, spann mich nicht länger auf die Folter!«

»Diese Decke stammt aus des Goden Kammer und was darin eingewickelt ist, habe ich in seinem Bett gefunden.« Indem Asleif die Decke auseinander schlug, entfloh Jarl Harald schlagartig sämtliche Gesichtsfarbe.

»Beim Schädel! Also hatten wir beide Recht«, presste er tonlos durch die geschlossenen Zähne.

Vor ihnen auf der Tafel lag ein Kreuz – ein etwa 1½ Fuß langes Chrissenkreuz, gearbeitet aus massiver Bronze.

»Ich hatte Recht mit meiner Vermutung, dass die Chrissen dahinter stecken und du mit deinem Verdacht betreffs des Goden«, fuhr der Blaufuchs erschüttert fort. »Wer hätte das gedacht? Mithin hat Teit nicht nur Birkuna verraten, sondern ist auch noch, ungeachtet der Tatsache das religiöse Oberhaupt der Stadt zu sein, ein Chrisse geworden. Dies erbost mich über die Maßen, denn wie es scheint, hat er uns, zumindest was den Glauben an unsere Götter anbetrifft, die ganze Zeit über für dumm verkauft. Und das auch noch mit Erfolg!« Jarl Harald wurde beinahe schlecht bei dem Gedanken, dass der Gode Birkunas Schicksal womöglich über Jahre hinweg nicht in die Hände der Nornen gelegt, sondern stattdessen in aller Heimlichkeit diesen verweichlichten Chrissengott angebetet hat.

Er gab sich einen Ruck. »Wächter«, donnerte er Richtung Doppeltür, »hol mir auf der Stelle den Ari und Hauptmann Thorsteinson her, und wenn die nicht auf der Stelle hier antraben, werde ich meinen Met statt aus dem Silberpokal demnächst aus deinem Schädel schlürfen, hast du mich verstanden?«

»Ja, Herr, ganz klar«, antwortete der Bemitleidenswerte, derweil er umgehend die Tür aufriss, um eiligst loszustürzen.

»Ab sofort verlässt niemand mehr die Stadt ohne auf das Gründlichste durchsucht zu werden, Asleif – weder durch die Stadttore, noch auf dem Wasserweg!«, erklärte Harald Blaufuchs seinen jähen Ausbruch – er war fest entschlossen durchzugreifen. »Des Weiteren werde ich das Chrissenviertel durchkämmen lassen – wollen doch mal sehen, was sich dort so alles finden lässt, beim Schädel!

Und was dich anbetrifft, Asleif, so wirst du jetzt schnurstracks zu Kaufmann Thorfinn Erikson gehen, dessen Haus du in der Birkstraße findest. Erikson hat bereits mehrfach mit den Chrissen Handel getrieben, daher kennt er sie leidlich und verfügt über einige gute Kontakte zu ihnen. Da ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann und er Birkuna überdies treu ergeben ist, wird er dich mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, dabei unterstützen, den Vertrag wiederzuerlangen. Richte ihm meine Grüße aus, aber sag ihm auch, dass es eilt und uns nur wenige Tage Zeit bleiben. Ich hingegen werde versuchen, ibn Fadin zu besänftigen und ihn davon zu überzeugen, dass noch nicht alles verloren ist.«

Dermaßen ausgiebig instruiert zögerte Asleif keinen Augenblick, sondern machte sich unter heftigem Stirnrunzeln eilends auf den Weg.

Alldieweil Thorfinn Erikson seinen Hof betrat und sich der Haustür zuwandte, streifte sein Blick kurz über das Anwesen: Umschlossen von einem knapp 5 Fuß hohen Flechtzaun gruppierten sich auf dem Grundstück – gelegen an der Birkstraße im südlichen Teil des Kaufmannsviertels – drei Gebäude: das Wohnhaus, ein Viehstall sowie ein Schuppen. Das Haus, in etwa dreizehn Schritt lang und sechseinhalb breit, verfügte über einen Wohnraum, ein Kontor, zwei Kammern sowie einen Abort und stand mit seiner Längsseite parallel zur Gasse, weniger als zwei Schritt vom Zaun entfernt. Im Stall, der mit dem Haus einen Winkel bildete, fanden eine Kuh, ein Schwein sowie eine Schar Hühner ihr Auskommen, derweil im Schuppen – dem Wohngebäude gegenüberliegend – Geräte zur Bestellung des kleinen Hausgartens, diverse Werkzeuge sowie Vorräte lagerten. Sämtliche Gebäude waren in der landestypischen, nordischen Bauweise errichtet worden, wobei deren tragende Konstruktion aus Holz bestand, die Wände aus Lehmflechtwerk und das Dach aus Reet. Trotzdem die Bauten bereits Jahrzehnte auf dem Buckel hatten, wiesen sie – ob der guten Behandlung und sorgfältigen Pflege – keinerlei Anzeichen von Abnutzung auf. Lediglich der große, aus derben Bohlen gefügte Brunnenkasten, der den Mittelpunkt des gepflasterten Hofes bildete, hatte vor drei Sommern auf Grund von Altersschwäche erneuert werden müssen.

Als Thorfinn die robuste Haustür aus massivem Eichenholz entriegelte, protestierte sein Magen zum wiederholten Male laut und deutlich. Tyr sei Dank, seufzte er, dass gleich Mittag ist. Er durchquerte rasch den zuvorderst liegenden Raum – sein Kontor – und betrat alsdann den Wohnraum, welcher mit sechs mal sechs Schritt der größte des Hauses und gleichzeitig sein Mittelpunkt war. Hier traf man sich, um das Tagesgeschehen zu besprechen, um gemeinsam zu musizieren oder miteinander zu spielen. Hier wurde gekocht und gegessen, gesponnen und gewebt – kurzum, hier schlug des Hofes Herz.

Mit einem fröhlichen Nicken begrüßte Thorfinn seine Haushälterin und fragte, noch auf der Schwelle stehend: »Thurid, welcherlei Delikatessen gedenkst du aufzutischen? Ich trage einen Mordshunger in mir.«

»Ach Thorfinn, du Schlingel! Das weißt du doch ganz genau. Musst du mich denn immer auf den Arm nehmen?« Thurid Varinsdottir schmunzelte übers ganze Gesicht, derweil sie drohend ihren erhobenen Zeigefinger schwenkte.

Sie war etwas über vierzig Sommer alt und für Thorfinn weit mehr als nur eine Wirtschafterin. Er vermochte sich das Haus ohne Thurid gar nicht vorzustellen, lebte sie doch schon länger auf dem Hof, als Thorfinn denken konnte. Als Thurid drei Jahre alt war, wurde ihre Mutter von Thorfinns Großvater als Magd eingestellt; viele Sommer später – der Großvater und Thurids Mutter waren längst tot, erlag völlig unerwartet die Mutter des kleinen Thorfinn einem tückischen Fieber und Thurid – gerade in ihrem fünfzehnten Sommer – nahm sich ohne zu Zaudern des Jungen an. Diese Aufgabe versah sie genau wie alle anderen häuslichen Tätigkeiten mit Hingabe und viel Liebe und somit entpuppte sie sich für Erik, Thorfinns Vater, als ausgesprochenes Juwel. Nachdem Thorfinn im vergangenen Jahr von seinem verstorbenen Vater das Geschäft übernommen hatte, stand sie auch ihm wie selbstverständlich mit Rat und Tat zur Seite. Und obschon sie sich früh entschieden hatte, keine eigene Familie zu gründen, war sie mit ihrem Leben durchaus glücklich und zufrieden.

Ihren rundlichen Körperbau und die stets rosigen Wangen hatte sie von ihrer Mutter geerbt; das strohblonde Haar, welches sie immer zu zwei langen Zöpfen flocht, war das Vermächtnis ihres Vaters Varin, der – zu Thurids Leidwesen – noch vor ihrer Geburt von den Walküren nach Walhall geleitet wurde. Mit einer Größe von fünf Fuß wirkte sie eher klein, doch mit ihrer Kraft und der unbändigen Energie, die ihr zu eigen war, hatte sie nicht nur ihren Haushalt fest im Griff, sondern sie wurde auch spielend mit jedermann fertig, der sich ihr, gleichviel ob versehentlich oder gewollt, in den Weg zu stellen gedachte.

Thorfinn schob entrüstet die Unterlippe vor: »Aber Thurid, ich dich auf den Arm nehmen? So etwas fällt mir doch im Traum nicht ein. Was denkst du nur? Fakt ist, der Speiseplan ist mir, wohl infolge meiner über Gebühr hohen Gedankentätigkeit heute Vormittag, leider entfallen.«

»Also gut, du Schleckermaul«, gab Thurid schließlich nach, »auf dass dir das Wasser im Munde zusammenläuft: Es gibt gepökeltes Rindfleisch und geräuchertes Schweinefleisch, dazu Bohnen und Linsen als Beilage. Des Weiteren frisches Roggenbrot sowie speziell für Nachbar Gatisson eine große Portion Ziegenkäse. Hernach dürft ihr euch noch an frischen Pflaumen und Kirschen laben. Doch nun setz dich, trink einen Becher Bier und schweig Stille, damit ich in Ruhe weiterbrutzeln kann. Du weißt genau, dass unser Nachbar jedes Mal mürrisch wird, wenn das Essen mit Verspätung den Weg auf seinen Teller findet.«

Derweil sie Gerstenbier aus einem großen Krug schöpfte, in einen Tonbecher füllte und diesen auf den Tisch stellte, stimmte Thorfinn ihr nickend zu und ließ sich somit gehorsam auf seiner mit Buchenholz verkleideten Erdbank nieder.

Obschon er als Hausherr seinen Platz – wie in ganz Skandland üblich – in der Bankmitte hatte, war dieser gleichwohl nur unwesentlich erhöht und wurde überdies auch nicht von fein geschnitzten Säulen flankiert, wie dies bei den überreich verzierten Bänken vieler seiner Kaufmannskollegen der Fall war, welche nur allzu gern mit ihrer glanzvollen Ausstattung prahlten. Genau wie sein Vater Erik sah jedoch auch Thorfinn wenig Sinn darin, Reichtum offen zur Schau zu stellen. Schlicht, aber gediegen war sein Haushalt ausgestattet, über den er nun seinen Blick schweifen ließ: Die Möbel waren aus solidem Buchen- oder Eichenholz getischlert, Töpfe und Pfannen aus robustem Speckstein geschnitten und Schüsseln, Teller sowie Besteck aus hartem Eschenholz geschnitzt. Bei speziellen Anlässen war Thorfinn darüber hinaus in der angenehmen Lage, auf Geschirr und Besteck, getrieben aus feinstem Silber, zurückzugreifen. Was brauchte es mehr?

Thorfinn selbst stand mit achtundzwanzig Sommern in der Blüte seines Lebens. Nach Abschluss einer Kaufmannslehre bei Egil Arisson hatte er zunächst einige Jahre in Auslandskontoren zugebracht, bevor er in das Geschäft seines Vaters eintrat. Aus den zuvor bereits erwähnten Gründen nannte er das Handelshaus mittlerweile sein Eigen und außer dem Hof an der Birkstraße zählte überdies eine prächtige Schnigge zu seinem Besitz. Das Boot war derzeitig auf großer Fahrt und würde voraussichtlich im folgenden Mond von der Insel Feuerbergen zurückkehren.

Thorfinn war knapp sechs Fuß groß, hatte schulterlange, hellblonde Haare und einen dichten Vollbart. Seine graublauen Augen huschten unentwegt hin und her und sein kleiner, gerader Mund sorgte für eine deutliche Aussprache, auch wenn er dazu neigte, ausgefallene Worte zu benutzen. Seine Statur war eher schlank zu nennen, trotzdem sich sein Bauch, dank seiner Vorliebe für gutes Essen, leicht zu wölben begann. Ungeachtet seiner durchaus ansehnlichen Erscheinung war er gleichwohl unverheiratet – hatte er doch bislang kaum Gelegenheit gehabt, sich mit dem weiblichen Geschlecht näher zu befassen. Nach dem Tod seines Vaters, musste er sich in erster Linie um geschäftliche Dinge kümmern und infolgedessen waren all seine Gedanken voll und ganz auf den Fortgang des Handels ausgerichtet.

»Mhm, bei Tyr! Dein Bier, Thurid, ist fürwahr das beste Gebräu, das es in Svera zu verköstigten gibt: klar wie ein Bergbach, frisch wie Morgentau und süffig bis zum letzten Tropfen. Es ist wahrlich ein ausgemachtes Pech für Nachbar Gatisson, dass er Met für das edlere Getränk hält. Er hat ja nicht die geringste Ahnung, welch erlesene Köstlichkeit ihm entgeht.«

Thurid strahlte sonnengleich ob des Kompliments. Sie wusste ja, welch Feinschmecker ihr Thorfinn war und zu sehen, wie er all die leckeren Speisen und Getränke genoss, die sie ihm Tag für Tag aufs Neue darbot, war ihr ein steter Quell voll Freude. Mit glänzenden Augen trat sie an den Herd zurück und ein stilles Lächeln huschte über ihr Antlitz, derweil sie erneut emsig in ihren Töpfen und Pfannen rührte. Nur dass Asgaut Gatisson gleich kommen und wie üblich seine Sprüche klopfen würde, trübte ihre Laune ein wenig. Sie wusste bei ihm nie genau, ob er es ernst meinte oder sich mal wieder einen schlechten Scherz erlaubte. Auch Thorfinn hieß nicht alles gut, was ihr Nachbar da von sich gab, doch weil sein Vater Erik und Gatisson einige Jahre Geschäftspartner gewesen waren, lud Thorfinn ihn, der nachbarschaftlichen Beziehungen wegen, immer mal wieder ein.

Sie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hörte sie Gatisson auch schon vor der Türe poltern. »Einen wunderschönen guten Tag, wünsche ich. Ist jemand anwesend?«

Die Tür weit aufstoßend blieb er für einen Augenblick auf der Schwelle stehen, um die Blicke der Anwesenden auf sich zu ziehen. Asgaut Gatisson war fürwahr eine stattliche Erscheinung: Bei einer Größe von 6 ½ Fuß war er sehr massig gebaut; auf breiten Schultern saß ein mächtiger Schädel mit lockigen, braunen Haaren; ganz im Kontrast dazu standen die winzigen Äuglein, die Stupsnase sowie der kleine, jedoch mit vollen Lippen versehene Mund; sein kräftiges Kinn hielt er stets glatt rasiert; er trug ein knielanges, edles Brokatgewand, welches trotz der herrschenden Temperaturen mit Pelz verbrämt war, sowie Beinlinge aus feinstem Leinen und polierte Hirschlederstiefel.

»Mein lieber Erikson. Ich danke Euch recht herzlich für die Einladung. Wie jeder weiß sind Frauen zumeist recht unnütze Wesen, ha, ha, ha, aber eines muss man ihnen lassen – kochen können sie, besonders Eure Thurid.« Asgaut zwinkerte ihr zu. »Nicht wahr meine Liebe, da wird Sie mir doch zustimmen? Was hat Sie denn heute wieder Leckeres auf dem Feuer?«

Thurid lächelte zuckersüß, derweil sie im Geiste die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich grüße Euch, Nachbar Gatisson. Ihr seid ja charmant wie immer. Die Speisen werden Euch mit Sicherheit munden, doch zu meinem Bedauern muss ich Euch mitteilen, dass Ihr heute Bier trinken müsst. Mir ist nämlich vorhin aus Versehen der Krug mit dem Met aus dem Korb gerutscht. Leider hat er dabei Schaden genommen und das edle Getränk ist infolgedessen im Hof versickert, ohne dass ich es rechtzeitig hätte verhindern können.«

Asgauts Gesicht verdunkelte sich sichtlich. »Das kann Sie mir doch nicht antun, Sie weiß doch genau, dass ich diese Gerstengrütze nicht ausstehen kann. Erikson, warum schickt Ihr sie nicht, einen neuen Krug zu holen?«

»Beruhigt Euch, Gatisson. Schließt die Tür und nehmt Platz an meiner Seite. Thurid will Euch bloß ein wenig aufziehen. Selbstredend haben wir Honigmet im Haus«, beschwichtigte ihn Thorfinn.

Der Stich hat gesessen, dachte Thurid, derweil sie sich still schmunzelnd wieder umwandte. Alsdann füllte sie Met in das größte Horn, welches verfügbar war und setze es Asgaut vor.

Dieser trank es in drei großen Zügen leer. »Ah, bei Heimdall! Welch ein Hochgenuss. Es gibt doch wirklich kein edleres Getränk als diesen Honigmet. Ein Jammer, Erikson, dass Ihr allzeit diese dünne Gerstensuppe trinken müsst.«

Nachdem Thurid nachgeschenkt hatte und sich hernach erneut dem Herd widmete, unterhielten sich die beiden Kaufherren über die Götter, das Wetter sowie die letzten Neuigkeiten aus Birkuna, ehe sie einige Nettigkeiten über ihre Kaufmannskollegen austauschten. In der Folge erkundigte sich Thorfinn nach dem Befinden von Gatissons Familie, insbesondere nach dem von Skarthi, Asgauts ältestem Sohn, der mittlerweile auch schon im Geschäft tätig war.

»Oh, mit Skarthi bin ich durchaus zufrieden«, antwortete Asgaut diesbezüglich, »der kommt ganz nach mir, Ihr werdet es schon noch sehen. Er ist bereits sehr sicher im Handeln: einerseits hart und konsequent, andererseits vorsichtig und nachgiebig, ganz nach Erfordernis. Gegenwärtig führt er mein Kontor in Namnete und, wie ich stolz zu berichten vermag, mit Erfolg.«

Derart plauderten sie noch eine Weile weiter, bis Thurid schließlich das Essen servierte und sich daraufhin wie üblich an Thorfinns rechte Seite setzte.

Dieser Vorgang brachte Asgaut wiederum auf den Plan. »Bei Heimdall! Erikson, Euer Verhalten ist fürwahr barbarisch! Es ist, Ihr wisst das sehr wohl, seit Jahrhunderten Sitte, dass die Frauen grundsätzlich erst dann mit dem Essen beginnen, wenn die Männer ihr Mahl abgeschlossen haben. Die Götter selbst haben den Frauen ihren Platz zugewiesen! Doch Ihr, was macht ihr? Meister Erikson stellt wie üblich seine eigenen Regeln auf! Wohin soll das noch führen mit Euch?«

»Mein lieber Gatisson, nun habt Euch mal nicht so. Bedenkt, dass bereits in vielen Häusern die Männer gemeinsam mit ihrer ganzen Familie am Tisch sitzen – selbst der Blaufuchs tafelt nicht nur mit seinen Mannen, sondern genießt regelmäßig die Gesellschaft seiner Gemahlin Gudrid. Und was mich betrifft, so müsste ich, sofern ich Eurer Anweisung gemäß handeln würde, zumeist alleine speisen, denn außer Thurids Neffen Sven – selbst der nimmt lediglich sonntags sein Mittagsmahl hier ein – befindet sich in diesem Haus nun mal kein anderer Mann. Und alleine essen, das sollte Euer mächtiger Schädel, Gatisson, doch wohl inzwischen auch schon verinnerlicht haben, ist nun wirklich nicht mein Ding. Essen füllt nicht nur den Magen, sondern fördert darüber hinaus auch das Gemüt. Indes man muss in Ruhe essen und darf nicht schlingen und bei mir ist es eben so, dass ich alles eiligst in mich hineinstopfe, sobald ich alleine vor meinem Teller sitze. Im Falle dass ich aber Gesellschaft habe und zwischen den einzelnen Bissen locker plaudern kann, bin ich hernach ohne jeden Zweifel schnurrig zugange. Überdies darf man auch nicht außer Acht lassen, abwechslungsreich zu speisen. Nur Fleisch zu sich zu nehmen verursacht über kurz oder lang Schwierigkeiten mit der Verdauung; nur Obst oder Gemüse zu essen mindert auf Dauer die Kraft, und so weiter und so fort. Seht also zu, Gatisson, dass Ihr von allem etwas nehmt und wiederum auch nicht über die Maßen, sonst beschleicht Euch der Eindruck, ein gefülltes Heringsfass auf zwei Beinen zu sein. Doch nun genug der Verbalitäten, lasst uns endlich zugreifen, denn diese von Thurid so ohnegleichen zubereiteten Köstlichkeiten, die hier voller Unschuld ihren verführerischen Duft unseren Nasen zuführen, harren der Vertilgung.«

Asgaut, erschrocken ob des wortgewaltigen Ausbruches den seine kleine Stichelei hervorgerufen hatte, beschloss dergleichen zumindest solange zu unterlassen, bis sein Hunger gestillt war. Ohnehin hatte er sich gezwungenermaßen schon längst daran gewöhnt, mit Thurid gemeinsam an der Tafel zu sitzen, insofern ließ er sich nicht lange bitten, sondern langte tüchtig zu und schob sich mit Vorliebe die großen, knusprig gebratenen Fleischstücke zwischen seine emsig mahlenden Zähne.

Während der Mahlzeit unterhielten sich Thorfinn und Asgaut ausführlich über den Stand ihrer Geschäfte, ohne dass Thurid sich einmischte.

Als sie zu guter Letzt im Begriff waren, sich dem Obst zuzuwenden, horchten sie erstaunt auf: Es hatte an der Tür geklopft. Noch bevor Thurid sich erheben konnte, um sie zu öffnen, wurde sie weit aufgerissen: Asleif Gellisson stand auf der Schwelle. »Hei, Thorfinn Erikson, wie ist es denn? Ich hoffe ich störe nicht?«

»Hei, Asleif. Was treibt Euch denn in mein bescheidenes Heim? Tretet ruhig näher. Habt Ihr schon gegessen, ich habe den Eindruck, Ihr seid etwas bleich um die Nase.«

»Ja, … nein, … es spielt keine Rolle. Der Jarl schickt mich, weil etwas … Außergewöhnliches geschehen ist. Er bittet Euch um Hilfe, allein … es ist streng vertraulich, bei Balder, streng vertraulich.« Argwöhnisch nahm er die zwei Personen in Augenschein, welche Thorfinn zur Seite saßen.

Der Hausherr erriet Asleifs Gedanken und erhob sich entschuldigend: »Ich denke, ich stelle euch erst mal einander vor. Diese wohlproportionierte Frau hier ist Thurid, meine Haushälterin, derweil der edle Herr zu meiner Linken mein Nachbar Asgaut Gatisson ist, langjähriges Mitglied der Birkuner Kaufmannszunft, und jener dort«, hierbei wies er auf den Neuankömmling, »ist der Schreiber vom Blaufuchs, Asleif Gellisson. Ihr kennt euch nicht?«

»Nun«, Asleif kam Thorfinns Nachbarn zuvor, »gesehen haben wir uns schon, gleichwohl nie miteinander gesprochen, nie gesprochen.«

Asgaut nickte zustimmend und Thorfinn lud Asleif mit einer Handbewegung ein, sich ihnen gegenüber auf einen Hocker zu setzen. »Kommt, wir haben durchaus genügend an Speise übrig, so dass es wohl reichen mag, auch Euren Wanst noch zu sättigen. Nehmt zuvor ein Horn Bier, Ihr könnt mir glauben, es ist das beste Gerstenbräu, das Ihr in ganz Birkuna finden könnt.«

»Ich danke Euch, Thorfinn«, sagte Asleif und nahm alsdann aus Thurids Händen den Trunk entgegen. Erst jetzt bemerkte er, dass er tatsächlich durstig war. »Allein Jarl Harald gab Order, dass außer Euch niemand von der Begebenheit erfahren darf. Ich weiß wirklich nicht …«

»Kommt schon, Asleif, da Euch der Blaufuchs zu mir geschickt hat, nehme ich es selbstredend auf meine Kappe. Vor Thurid gibt es in diesem Haus eh kein Geheimnis – was ich weiß, das weiß auch sie, da bedarf es gar keiner langen Überlegungen! Und was meinen Nachbarn anbetrifft: so gehört er zu den reichsten Kaufleuten der Stadt und genießt überall hohes Ansehen. Ich bin überzeugt, dass er Schweigen wird wie ein Grab, sollte er feststellen, dass ihn diese Geschichte nichts angeht. Habe ich nicht recht, Gatisson?«

»Bei Heimdall! Selbstverständlich!«, erwiderte dieser, derweil sich seine Wangen rosig färbten und die kleinen Äuglein vor Neugierde funkelten. »Als Geschäftsmann ist man schnell auf verlorenem Posten, wenn man Geheimnisse nicht für sich behalten kann. Insofern dürft Ihr mir also ruhig vertrauen. Erzählt unbesorgt, was Euch bedrückt, Schreiber.«

Asleif, dessen Stimmung sich dank des guten Essens und des wahrlich süffigen Bieres deutlich gehoben hatte, überlegte noch eine Weile das Für und Wider, doch schließlich gab er nach. »Also gut, unter Umständen können wir jede Hilfe gebrauchen, jede Hilfe. Der Gode ist nämlich verschwunden, bei Balder!«

Thorfinn und Thurid sahen sich erstaunt an, während Asgaut echote: »Der Gode ist verschwunden? Was hat das zu bedeuten?«

In aller Ausführlichkeit erzählte Asleif alsdann vom Verschwinden sowohl Teits als auch des Vertrages. Als er beschrieb, wie er vor den entsetzten Augen Jarl Haralds das Kreuz aufgedeckt hatte, sprang Asgaut bestürzt auf. »Bei Heimdall! Was sagt Ihr da? Der Gode ist ein Chrisse? Das ist ja entsetzlich! Das heißt ja Verrat an den Göttern. Dafür werden sie uns zerschmettern und der Midgard-Schlange zum Fraß vorwerfen! Wie soll es uns nur gelingen, dem Einhalt zu gebieten?« Fassungslos schritt er hin und her. »Wenn ich bedenke, dass er uns jahrelang nur was vorgespielt hat! Entsetzlich, wir … ich hab’s, es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen den Goden finden und dann machen wir es wie Generationen von Skandländern es zuvor gemacht haben: wir opfern ihn den Göttern!«

»Jetzt beruhigt Euch doch erst mal, Gatisson«, rief Thorfinn, dem das Gerenne auf die Nerven ging, »es gilt mit dem Kopf zu denken, nicht mit den Füßen.«

Asgaut hielt verblüfft inne, setzte sich dann jedoch umgehend wieder auf seinen Platz. Es schien, als habe er erst durch Thorfinns Anrufung bemerkt, dass er sich erhoben hatte.

»Und auf Geheiß von Jarl Harald durchsuchen seine Mannen just in diesem Augenblick das Chrissenviertel«, schloss Asleif seine Ausführungen.

»Ein durchaus naheliegender Gedanke«, bestätigte Thorfinn, »doch was genau steht denn überhaupt drin, in diesem Vertrag?«

»Nun, das kann ich Euch leider nicht sagen, denn Jarl Harald hat mir ganz bewusst keine Einzelheiten verraten. Er ist nämlich der Meinung, es sei nach wie vor nicht auszuschließen, dass der Gode lediglich aus einem nichtigen Grund verhindert ist. In diesem Fall wäre das Geheimnis weiterhin bewahrt, gut bewahrt.«

»Ich stimme diesbezüglich mit dem Blaufuchs überein, Asleif«, bekräftigte Thorfinn. »Was jemand nicht weiß, kann er auch nicht verraten. So weit, so gut. Doch was habe ich damit zu tun? Ihr erwähntet am Anfang, dass Jarl Harald um meine Hilfe ersucht. Was genau erwartet er da von mir?«

»Ihr sollt Erkundigungen über und vor allem bei den hier ansässigen Chrissen einziehen«, übermittelte Asleif den Wunsch des Ohms. »Wie lange sie sich bereits in Birkuna aufhalten, was sie in den letzten Wochen hier gemacht haben und auch mit welcherlei Waren sie so handeln. Derartige Auskünfte halt. Womöglich könnt Ihr sie durch Eure Nachforschungen ganz nebenbei zu Unvorsichtigkeiten provozieren, zu kleinen Unvorsichtigkeiten. Jarl Harald ließ durchblicken, dass ihr mit einigen Chrissen gut bekannt seid?«

»Nun, so würde ich das nicht gerade ausdrücken. Gleichwohl ist es ein Fakt, dass ich mit dem einen oder anderen unter ihnen durchaus schon Handel getrieben habe. Ein Geschäft übrigens, das die meisten meiner Kollegen kategorisch ablehnen. Insofern bin ich, da stimme ich dem Blaufuchs zu, gewiss nicht die schlechteste Wahl. Richtet ihm aus, dass ich mein Bestes versuchen werde, bei Tyr! Indes will sich mir nicht recht erschließen, weshalb ich noch Erkundigungen einziehen soll, wenn das Chrissenviertel von den Mannen Jarl Haralds doch in eben diesem Moment bereits durchsucht wird?«

»Na ja, es ist ja noch lange nicht gesagt, dass die Mannen es auch wirklich finden«, entgegnete Asleif. »Das Dokument könnte zum Beispiel woanders versteckt worden sein, die Chrissen könnten es einem Gewährsmann übergeben haben oder sind womöglich schon längst aus der Stadt geflohen.«

»Und in diesem Fall ist der Gode, dieser elende Verräter, mitsamt den Chrissen auf der Flucht«, ergänzte Asgaut.

»Auch das wäre gut möglich, auch das.«

Asgaut zog die Augenbrauen hoch. »Weswegen, mein lieber Schreiber, wiederholt Er eigentlich immer alles? Hält Er uns für so blöd, dass wir es mit einem Mal nicht verstehen würden?«

Asleif zog die Stirn in Falten. »Wie kommt Ihr darauf, dass ich mich dauernd …« Weiter kam er nicht, denn abermals wurde die Tür aufgestoßen und herein trat Ari.

»Mor’n zusammen. Hier steckst’e also, Asleif. Wer hätte dat gedacht? Sitzt bei die Kaufleutens un’ schlägt sich die Wampe voll.« Er grüßte die Anwesenden mit einem knappen Nicken.

»Sei still, Ari, was willst du?«

»Der Jarl schickt mir natürlich, wat sonst? Ick soll dich ausricht’n, dass wir bei die Chrissen nix nich gefunden hab’n. Un’ et hat sich auch keiner von den’n nich verdrückt. Et sind noch alle da. Un’ die Jungs von’en Toren un’ von Hafen hab’n gemeldet, dass nich ein Chrisse die Stadt verlassen hat un’ auch die Gode nich. Nur ’n paar Jägers hab’n die Tore durchschritt’n, aber die hatt’n nur Waffen un’ Verpflegung bei. Jedenfalls sind die Tore nu’ dicht un’ keinen nich kann et gelingen, wat rauszuschmuggeln. Dat sollt’ ick dich erzählen un’ nun geh ick wieder, bei Thor.«

Asleif rief noch: »Danke, Ari.« Doch der war schon wieder entschwunden.

Thorfinn fasste sich als Erster: »Bei Tyr! Da die Chrissen das Dokument offensichtlich nicht haben und Teit nach wie vor in der Stadt ist, wird er wohl doch einem Unfall zum Opfer gefallen sein. Wir sollten umgehend sämtliche Heiler in der Stadt befragen, er wird gewiss bei einem von ihnen in Behandlung sein.«

Das war der Augenblick, in dem es Thurid zu bunt wurde. Sie warf Thorfinn einen missbilligenden Blick zu und ergriff ohne Rücksicht auf Asgauts Frauenverständnis das Wort: »Also wirklich. Manchmal habe ich den Eindruck, ihr Kaufleute habt selbst euren Verstand gegen Geld eingetauscht. Der Gode hatte keinen Unfall! Schluss! Aus! Fertig! Für derartige Unannehmlichkeiten benimmt er sich bekanntlich viel zu umsichtig. Oder hat einer von euch schon jemals bemerkt, dass er sich wie ein Idiot aufführt? Natürlich nicht. Und wenn ihm wirklich etwas zugestoßen sein sollte, würde das bei einer derart hochgestellten Persönlichkeit doch gewiss nicht lange geheim bleiben, oder? Meiner Meinung nach spielt der Gode ganz eindeutig ein falsches Spiel! Nicht allein weil sich herausgestellt hat, dass er ein Chrisse ist, sondern auch wegen seiner außergewöhnlichen Sorgfalt betreffs derjenigen Pergamente, die nicht in der Schatulle gelandet sind. Für mich ist er mehr als verdächtig und ich bin darüber hinaus fest davon überzeugt, dass er sich zurzeit mitsamt dem Dokument irgendwo hier in Birkuna verborgen hält. Zweifellos wartet er nur ab, bis sich die Lage wieder soweit entspannt hat, dass er ohne Aufsehen zu erregen türmen kann. Ich brauche in diesem Zusammenhang ja wohl nicht daran erinnern, über welch ausgezeichnete Beziehungen er verfügt.«

Asleif nickte zustimmend. »Ich gebe Euch vollkommen Recht, Thurid. Ich bin ebenfalls überzeugt, dass er sich in der Stadt versteckt hat.«

»Bei Heimdall! Auch wenn bei den Chrissen nichts gefunden wurde, so haben sie trotz allem ihre dreckigen Finger im Spiel! Soviel steht für mich fest!«, donnerte Asgaut.

»Wenn ich es recht bedenke, so fallen mir noch einige völlig andersgeartete Fragen ein, die zu stellen ich nun beabsichtige.« Thorfinn ergriff den Krug und füllte abermals Bier in seinen Becher. »Besteht nicht die Möglichkeit kurzerhand einen neuen Vertrag zu schreiben, Asleif? Dann wäre es doch durchaus unerheblich, wo sich der echte befindet oder wer ihn derzeit sein Eigen nennt.«

»Tut mir Leid, Thorfinn. Das ist nicht möglich. Jarl Harald hat zwar, wie schon erwähnt, keine Angaben über den Inhalt gemacht, mich aber gleichwohl über die Machart des Dokumentes aufgeklärt: ibn Fadin hat den Vertrag aus seinem Heimatland dergestalt mitgebracht, dass der vereinbarte Wortlaut in sassirabisch und ionisch aufgeführt ist. Teit hatte nun die Aufgabe, denselben Text mit Runen in unserer eigenen Sprache daneben zu schreiben. Eine neue Ausfertigung würde aus schreibtechnischen Gründen wohl schon schwer genug sein, die größte Schwierigkeit hingegen ist, dass niemand außer dem Goden den genauen Wortlaut kennt. Selbst der Sassirab nicht, der über das Abkommen zwar selbstverständlich informiert ist, jedoch nur sinngemäß. Überdies ist davon auszugehen, dass ibn Fadin gewiss darauf bestehen wird, einzig und allein das von ihm hergebrachte Original wieder mitzunehmen. Ihr seht selber, dass es uns die Umstände nicht erlauben, eine Kopie zu erstellen. Überdies mangelt es uns auch an der Zeit, an der Zeit.«

»Weshalb hat es Jarl Harald denn so eilig?«, warf Thurid ein, die unterdessen begonnen hatte das Geschirr abzuräumen. »Ibn Fadin bräuchte mit seiner Abreise doch nur zu warten, bis das Dokument wieder aufgetaucht ist.«

»Nein, Thurid, das kann und will er nicht. Ihr müsst wissen, er hat noch eine lange und ungemein beschwerliche Rückreise vor sich: Zunächst führt ihn sein Weg über das Ostermeer in die Flusssysteme Karelias und Kiewas hinein, bis er schließlich das Schwarzmeer erreicht, welches dann ebenfalls noch zu überqueren ist. Indes je länger er seine Abreise verschiebt, umso größer wird die Gefahr, dass die Flüsse zufrieren und er unterwegs stecken bleibt. Daher steht fest: Er reist ab, sobald Arissons Schnigge ent- und wieder beladen worden ist. Und mit ihrer Ankunft ist jeden Tag zu rechnen.«

»Jetzt noch mal was anderes«, sprach Thorfinn, wobei er Asleif direkt in dessen blaugrüne Augen blickte. »Was macht den Blaufuchs eigentlich so sicher, dass der Vertrag überhaupt noch existiert? Denn ich an ihrer Statt – immer vorausgesetzt, dass die Chrissen auch wirklich über das Dokument verfügen – würde die Pergamente schlicht und einfach vernichten. Und damit, bei Tyr, wäre die Sache doch ohne großes Federlesen aus der Welt.«

»Sicher, das ist wohl wahr. Allein Jarl Harald ist der Ansicht, dass es für die Chrissen weitaus vorteilhafter wäre, das Dokument Papes Leorius in die Hände zu spielen. Das Streben des Papes zielt nämlich unentwegt darauf ab, seinen Machtbereich zu erweitern, wofür ihm nahezu jedes Mittel recht ist. Gleichviel ob er Menschenopfer anprangert, für die Abschaffung der Sklaverei plädiert oder anderen Ländern Vertragsbruch vorwerfen kann. Er ist überzeugt davon, dass ihn sein Gott als oberster Weltenrichter berufen hat. Und deswegen wäre es wie Wasser auf seine Mühlen, sollte er in den Besitz unseres Vertrages kommen.«

»Also schön«, seufzte Thorfinn, »dann werde ich mich jetzt mal ein wenig mit den Chrissen beschäftigen. Und was gedenkt Ihr jetzt fürderhin zu tun?«

»Ich? Ich werde mich nunmehr auf die Spur des Goden setzen und nicht eher ruhen, als bis ich ihn mit Balders Hilfe gefunden habe – gleichviel, ob tot oder lebendig.«

»Bei Heimdall! Ich kann Euch meine Unterstützung derzeit leider nicht angedeihen lassen, denn heute harren meiner noch wichtige Geschäfte«, sagte Asgaut, während er bedauernd seine Schultern hob, »Vielleicht ergibt es sich, dass ich nebenbei einige Informationen erhasche, die für Euch von Wert sind. In dem Fall werde ich Euch selbstverständlich umgehend unterrichten. Als guter Bürger von Birkuna bin ich natürlich allzeit bereit zu helfen, so gut ich es vermag. Und … selbstverständlich werde ich über diese Angelegenheit Stillschweigen bewahren. Guten Tag, Erikson, Schreiber, meine Liebe.«

Tödliche Habsucht

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