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1 Einleitung

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In den vergangenen Jahren hat ausserschulisches Lernen zunehmend an Bedeutung und Beachtung gewonnen. Hinter dieser Entwicklung steckt der Gedanke, dass die Teilnahme an schulischem Unterricht nicht die einzige Möglichkeit ist, Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen zu erwerben. Es kommen zwei zusätzliche Lernchancen hinzu. Die erste besteht darin, sich durch die Teilnahme an Weiterbildungen das für den Beruf oder für freizeitliche Aktivitäten erforderliche Wissen und Können anzueignen. Für solche non-formalen Lernanlässe wurde in der Vergangenheit das Angebot an unterschiedlichsten Weiterbildungsformaten für alle erdenklichen Zwecke und Vorlieben ausgebaut. Als zweites Lernfeld haben sich berufliche Erfahrungen, ehrenamtliche Tätigkeiten sowie Aktivitäten im privaten Bereich wie beispielsweise die Familienarbeit oder die Ausübung einer bestimmten Freizeitbeschäftigung ausgebreitet. Diese informellen Lernfelder erfahren wachsende Akzeptanz, kann dort doch eine spezifische Art der Kompetenzentwicklung stattfinden, wie sie in Aus- und Weiterbildungen nicht möglich wäre. Gänzlich neu ist dieses Bewusstsein für ausserschulisches Lernen nicht, aber erst in den vergangenen zwanzig Jahren sind in der Schweiz sowie im übrigen Europa Bestrebungen im Gange, informell und mitunter auch non-formal erworbene Kompetenzen sichtbar zu machen. Neu an der derzeitigen Debatte und an der praktischen Ausrichtung dieser Sichtbarmachung ist der Blick auf die Verwertung der erworbenen Kompetenzen, die entweder für den Arbeitsmarkt oder im Hinblick auf eine vereinfachte Zulassung ins Bildungssystem zur beruflichen Weiterentwicklung erfolgen kann. Insofern hat diese Diskussion sowohl eine beschäftigungspolitische als auch eine pädagogische Dimension. Ein Blick in die nähere Vergangenheit zeigt, dass aus der Sicht der Beschäftigungspolitik schon im Zuge der «Qualifizierungsoffensive» in den 1980er-Jahren eine Aufweichung der Qualifizierungswege stattfand, damals noch vor dem Hintergrund anhaltender Arbeitslosigkeit, die vor allem Personen ohne Ausbildung betraf. Für sie mussten Mittel und Wege gefunden werden, sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Erste Verfahren zur Anerkennung von informell erbrachten Bildungsleistungen reichen insbesondere in der Westschweiz in diese Zeit zurück. Zur gleichen Zeit entstanden in einigen Bildungsinstitutionen erste regionale Ansätze von Anerkennungsverfahren, die unter bestimmten Umständen Personen zu einzelnen Fachrichtungen zuliessen, die nicht über die nötigen formalen Voraussetzungen für eine Aufnahme verfügten. Heutzutage hat sich die sozialpolitische Perspektive von individuellen Problemlagen hin zu einer volks- und betriebswirtschaftlichen Perspektive verschoben: Seit einigen Jahren fehlen in vielen europäischen Ländern, unter anderem auch in der Schweiz, vor allem im MINT-Bereich qualifizierte Fachkräfte (vgl. z. B. Gehrig/Gardiol/Schaerrer 2010; Kettner 2012). Aus Sicht der Beschäftigungspolitik gewinnt dabei sowohl die Qualifizierung Geringqualifizierter als auch die Höherqualifizierung von Personen mit dem Zertifikat einer beruflichen Grundbildung an Bedeutung – dies unter anderem deshalb, weil erst der Nachweis (berufsqualifizierender) Bildungsabschlüsse und Zertifikate berufliche Karrierechancen zulässt und dadurch die Möglichkeit zur Deckung des Bedarfs an qualifiziertem Personal geschaffen wird.

Vor diesem Hintergrund werden in Europa seit einiger Zeit neue bildungspolitische Grundsätze diskutiert, die im «Memorandum über Lebenslanges Lernen» aus dem Jahr 2000 angeregt wurden (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000). Formales, non-formales und informelles Lernen werden in diesem Dokument nicht als Gegensätze, sondern als sich ergänzende Lernformen interpretiert. Voraussetzung dafür ist eine stärkere Zusammenarbeit der Akteure im Bildungsbereich sowie die Schaffung von Bildungspfaden innerhalb eines durchlässigen Bildungssystems. Lebenslangens Lernen wird im europäischen Raum zunehmend verstanden als die Chance zur Sicherung und Erweiterung der dauerhaften, barrierefreien und über unterschiedliche Wege erreichbaren individuellen Beschäftigungsfähigkeit (Bohlinger 2009). Das Bemühen des und der Einzelnen um ihre Beschäftigungsfähigkeit wird auch durch den demografischen Wandel, die sich rasch ändernden und häufig wachsenden Anforderungen an die Erwerbstätigen sowie durch die Zunahme der Migration und der internationalen Mobilität notwendig. Hinzu kommt, dass die in der Kindheit und Jugend erworbenen Fähigkeiten, Kenntnisse, Kompetenzen und Zertifikate immer weniger genügen, um gesellschaftliche Integration, Arbeitsmarktsicherheit und persönliche Entfaltung über die gesamte Lebensspanne zu gewährleisten (Schrader 2014). Die Ausdehnung des Lernens auf unterschiedliche Lebens- und Arbeitszusammenhänge scheint vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Entwicklungen sinnvoll zu sein. Sichtbar und für den Arbeitsmarkt verwertbar gemacht werden können diese im Laufe der einzelnen Bildungsbiografien entwickelten, non-formalen und informellen Kompetenzen durch formale Anerkennung und Zertifizierung.

Die Anerkennungs- und Validierungsverfahren für non-formal und informell erbrachte Bildungsleistungen, wie sie sich in der Vergangenheit in der Schweiz entwickelt haben, zielen somit einerseits auf das Individuum, das in seiner beruflichen Laufbahn, seiner persönlichen Entwicklung und seiner Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden soll, andererseits dienen diese Verfahren aber auch der Wirtschaft, indem ihr mit diesen zusätzlichen Zertifizierungsmodalitäten qualifiziertes Personal zur Verfügung gestellt wird.

Die Schweiz hat in der Vergangenheit einige wegweisende Verfahren konzipieren können, die vereinfachte Zulassungen zu Bildungsinstitutionen, eine Anerkennung bereits erbrachter Bildungsleistungen und ihre Anrechnung an Studiengänge sowie die Validierung von informell erworbenen Kompetenzen inkusive formaler Zertifizierung ermöglichen. Ein Überblick über diese zahlreichen Verfahren fehlt aber bislang. Ziel des vorliegenden Buches ist es deshalb, eine systematische Bestandesaufnahme über die Anerkennungs- und Validierungsverfahren in der Schweiz bereitzustellen. Ausgangpunkte bilden theoretische Bezüge rund um die wissenschaftlichen Diskurse zum informellen und zum lebenslangen Lernen sowie zur Debatte über Kompetenzen, die bei vielen Validierungsverfahren eine zentrale Rolle einnehmen. Diese theoretische Fundierung wird ergänzt mit sozialpolitischen und ökonomischen Begründungsstrukturen, die zusammen mit der Verortung der Thematik in den verschiedenen Qualifikationsrahmen die Hintergründe für die zunehmende Aufmerksamkeit auf die Sichtbarmachung von non-formal und informell erbrachten Bildungsleistungen aufzeigen (Kap. 2). Ein Augenmerk gilt auch der begrifflichen Schärfung. Es hat sich gezeigt, dass in Europa verschiedene Verfahren unter ganz unterschiedlichen Bezeichnungen mit jeweils verschiedenen Zielen entstanden sind, sodass kein einheitliches Verständnis darüber besteht, welcher Begriff nun welches Verfahren umreisst. Zumindest für die Schweiz soll darüber eine Klärung erfolgen (Kap. 3). Weitere Kapitel widmen sich der Integration der einzelnen Verfahrenstypen ins Bildungssystem sowie der praktischen Ausgestaltung der verschiedenen Anerkennungs- und Validierungsverfahren in Bezug sowohl auf die Möglichkeiten der Erfassung als auch auf die unterschiedlichen Formen und Grenzen der Beurteilung und Bewertung von Kompetenzen (Kap. 4 bis 6). Ein historischer Abriss über die Entstehung und Entwicklung von Validierungs- und Anerkennungsverfahren rundet den theoretischen Teil dieses Buches ab (Kap. 7), bevor die Beschreibung der einzelnen Verfahren entlang der Bildungssystematik in der Schweiz erfolgt (Kap. 8 bis 11). Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Verfahren der beruflichen Grundbildung sowie auf dem Gleichwertigkeitsbeurteilungsverfahren in der Erwachsenenbildung. Beide Verfahren haben eine nationale Ausdehnung, erfahren breite Akzeptanz, und es liegen für beide Verfahren einige aktuelle Forschungsergebnisse vor. Die Validierung von Bildungsleistungen auf der Stufe der beruflichen Grundbildung ist darüber hinaus gesetzlich geregelt und führt zu einem eidgenössisch anerkannten Berufsabschluss.

Mit dem vorliegenden Buch soll die aktuelle wissenschaftliche und bildungspolitische Diskussion über die Validierung von Bildungsleistungen sowie über die Durchlässigkeit im Bildungssystem fortgeführt werden. Das Buch kann aber auch als Überblickswerk über die verschiedenen theoretischen und empirischen Zugänge zur Sichtbarmachung von Kompetenzen oder einfach als Landkarte für die derzeit existierenden Anerkennungs- und Validierungsverfahren in der Schweiz verstanden werden. Schliesslich kann der Band auch Anregungen für die Ausgestaltung weiterer Verfahren geben. Er richtet sich entsprechend gleichermassen an Bildungspolitikerinnen und -politiker wie auch an Bildungsgestaltende und bietet darüber hinaus Anlass für weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser Thematik.

Validieren und anerkennen (E-Book)

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