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Das Waldkind

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Meine Geburt fand im Grünen statt, dort, wo Hügel ein Tal umgaben. Über die Hügel, bis in das Tal hinein, erstreckte sich Wald. Meine Eltern hatten sich in dieser Landschaft befunden, als der Zeitpunkt meiner Geburt nahte.

Die Dunkelheit hellte plötzlich auf, und die nasse Enge um mich wich einer trockenen Weite. Mutter schrie, als ich aus ihr glitt. Sie schrie derart, dass sie sich die Spitze ihrer Zunge abbiss. Vater schwitzte, während er als Geburtshelfer fungierte. Eigentlich war da nicht viel zu helfen, denn ich sorgte alleine dafür, dass ich zur Welt kam.

Mutter blutete nun oben und unten. Vater rannte los, um Hilfe zu holen. Ich lag neben meiner Mutter und starrte in das mit Spinnweben behangene Scheunendach empor. Die Nabelschnur verband mich noch immer mit der Nachgeburt, doch ich atmete schon. Das hatte ich mir selber beigebracht. Fliegen ließen sich auf mir und der Plazenta nieder.

Ich weiß nicht, ob Mutter damals in der Scheune verblutete, oder ob Vater rechtzeitig mit Hilfe zurückkehrte. Ich weiß auch nicht, was aus Vater wurde. Ich kroch aus der Scheune, über die Felder, in den Wald. Ich entkroch meinen Eltern und der Zukunft, die sie vielleicht schon für mich geplant hatten. Der außergewöhnliche Umstand meiner Geburt ermöglichte es mir, dass ich mich früher als jeder andere Mensch dafür entscheiden durfte, welchen Lebensweg ich gehen, beziehungsweise kriechen wollte. Ich war eben ein früh entwickeltes Kind.

Im Wald gefiel es mir. Ich schaute den Tieren ab, wie sich leben ließ. Um meinen Körper vor Insekten zu schützen, suhlte ich mich wie die Wildschweine im Schlamm. Nahm ich einen fremden Geruch oder ein unvertrautes Geräusch wahr, legte ich mich reglos ins Gebüsch, um wie das Rehkitz unauffällig zu sein. Trotz dieser Techniken hätte ich schon die ersten Tage im Wald nicht überlebt, wenn sich mir nicht eine Nahrungsquelle in Form zweier milchgefüllter Brüste angeboten hätte. Sie wurden mir von einer dicken Frau gereicht, die mich kurz vor dem Verhungern fand.

Die dicke Frau und der dünne Mann lebten im Wald. Ich glaubte, die beiden wären Tiere, mich selbst hielt ich auch für ein Tier. Die beiden ernährten sich von dem, was ihre Hände von Bäumen und Sträuchern pflückten oder aus der Erde gruben. Sie sprachen nie ein Wort. Vermutlich waren beide stumm. Sie liefen nackt umher und grunzten und paarten sich ohne Scheu, wie es die Tiere taten. Es waren gute Leute, die glücklich in ihrer Einsamkeit lebten.

Die dicke Frau hatte ein Kind geboren, das aber gestorben war. Deshalb war sie begeistert, als sie mich fand. Gierig saugte ich die Milch aus ihren Brüsten, wobei sie mir den Kopf hielt und der dünne Mann uns ehrfurchtsvoll betrachtete. So hatte ich zum zweiten Mal Eltern bekommen.

Mich nährte die beste Milch. Es war die Milch der Wildheit. Sie hielt mich gesund und ließ mich kräftig werden. Ich lernte aufrecht zu laufen und zu grunzen, und wenn ich sah, wie sich meine Eltern paarten, tat ich es ihnen spielerisch nach, indem ich mich im Gras ebenso bewegte, wie Papi es auf Mami tat. Ich war ein gesundes, kräftiges und früh entwickeltes Kind.

Eines Tages kehrten Mami und Papi nicht mehr heim. Sie waren ausgegangen, um Beeren zu sammeln. Ich saß im Eingang unserer kleinen Höhle und wartete den Regen ab. Meine Eltern kamen nicht. Auch am folgenden Tag kehrten sie nicht zurück. Tage und Nächte vergingen. Von meinen Eltern fehlte jede Spur. Von da an lebte ich alleine im Wald. Das war nicht so schön, aber mir blieb keine Wahl. Viele Jahre später, als ich erfuhr, was eine psychiatrische Klinik ist, kam mir ein Verdacht. Aber damals machte ich mir wenige Gedanken über das Verschwinden meiner Eltern. Wie ein Tier durchlebte ich eine dumpfe Zeit des Trauerns und lernte, alleine zurecht zu kommen.

Irgendwann fingen sie mich ein. Sie kamen nachts. Es waren viele Männer. Sie trugen Stöcke mit sich und Netze. Sie überraschten mich im Schlaf. Zwar gelang es mir, aus der Höhle zu flüchten, aber draußen fingen sie mich mit den Netzen ein. Ich grunzte und schlug um mich, doch die Männer überwältigten mich. Sie wickelten mich in eine Decke und schnürten ein Seil darum. Dann zwangen sie mich in eines jener Dinger, die ich später als Autos begriff.

Wir fuhren durch eine mir unbekannte Welt voller Lichter, die nicht die Sterne waren. Ich fühlte mich scheußlich. Ich saß hinten in dem rollenden Ding, zwischen Männern, die ganz anders rochen, als meine wilden Eltern gerochen hatten. Sie und der Mann vorne in dem Ding, mussten über mich wohl ähnlich empfunden haben, denn sie sprachen wenig, benutzten statt dessen die Münder zum Atmen. Dann schlief ich ein.

Als ich erwachte, war es heller Tag. Ich wurde aus dem Ding gezerrt und in eine große und seltsam aussehende Höhle gebracht. Ein Haus, wie ich später erfuhr. Darin wohnten ein Mann und eine Frau. So bekam ich zum dritten Mal Eltern.

Die beiden hatten schon zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Das Mädchen und ich mochten uns sofort. Wir waren auch im gleichen Alter. Der Junge war ein oder zwei Jahre älter. Wir mochten uns von Anfang an nicht leiden. Er empfand mich als Eindringling in die Familie und hasste mich, und es behagte ihm nicht, dass unsere Schwester mich lieber mochte als ihn.

Ich musste ihn oft verprügeln, denn er beleidigte und beschimpfte mich bei jeder Gelegenheit. Zuerst war mir das unverständlich, doch als ich die Sprache der Menschen gelernt hatte, begriff ich und verhaute ihn. Unsere Eltern schimpften deshalb mit mir. Das machte mich wütend. Ich äußerte meinen Unmut über die ungerechte Behandlung, indem ich gellend schrie, oder ich schiess auf den Teppich. Das half. Mit der Zeit hörten die Eltern auf, mit mir zu schimpfen. Auch mein Bruder wagte nicht mehr, mich zu provozieren.

Meine Schwester und ich teilten ein Zimmer miteinander. Unser Bruder hatte sein eigenes Zimmer. So blieb er nicht nur tagsüber, sondern auch in den Nächten von unserer Gemeinschaft ausgeschlossen. Das steigerte seinen Hass auf mich.

In meinem und meiner Schwester Zimmer standen zwei Betten. Am liebsten schliefen wir jedoch in einem. Ich mochte es, ihren Körper zu spüren, und sie liebte meinen Geruch. Auch später stellte ich immer wieder fest, dass mein Geruch angenehm auf Frauen wirkte. Mutter war allerdings eine Ausnahme. Sie, Vater und mein Bruder waren der Meinung, ich würde stinken. Vermutlich hatte sich der Wald in meine Haut gefressen. Daran konnten auch die vielen Bäder nichts ändern, in denen ich so lange geschrubbt wurde, bis meine Haut glühte. Die Wildheit blieb an mir haften, und meine Schwester durfte sich weiter an meinem Geruch erfreuen.

In Erinnerung an die Zeit, die ich im Wald gelebt hatte, saß ich oft im Garten, grunzte vor mich hin oder wälzte mich im Gras. Dabei schaute meine Schwester zu. Unseren Eltern gefiel das nicht. Nach vielen vergeblichen Versuchen, mir diese Eigenheit abzugewöhnen, resignierten sie und ließen mich gewähren. Allerdings bestanden sie darauf, dass ich, wenn ich meine Tollheiten trieb, wie sie es nannten, die Kleidung anbehielt. Aber so machte das die Vergangenheit beschwörende Ritual keine Freude, und ich ließ es dann doch bleiben.

Ersatzweise fanden meine Schwester und ich ein Spiel, woran wir beide Vergnügen hatten. Wir zogen uns aus und untersuchten unsere Körper. Wir betasteten und beschnüffelten die Fläche unserer Haut. Daran hatte meine Schwester besonderen Spaß, denn sie liebte ja meinen Geruch. Auch von diesem Spiel blieb unser Bruder ausgeschlossen. Der rachsüchtige Kerl musste uns heimlich beobachtet haben, denn er petzte unser Tun den Eltern. Die gerieten in allergrößte Aufregung. Fortan wurde ich nächtens in die Dachkammer verbannt, deren Tür bis zum Morgen verschlossen blieb. Mein Bruder fürchtete meine Prügel, deshalb wagte er sich nur noch in meine Nähe, wenn ein Erwachsener mit im Raum war. Ich verhaute ihn nicht. Ich zerstörte seinen Computer. Mit meines Bruders eigenem Baseballschläger zertrümmerte ich das Ding, bis es lauter Splitter waren.

Auch in der Schule machte ich mich unbeliebt. Zwar mochten mich die Schülerinnen, wohl meines Geruchs wegen, und die Lehrerinnen schenkten mir ebenfalls ihre Sympathie, aber die männlichen Schüler und Lehrpersonen zeigten mir auf unmissverständliche Weise ihre Abneigung. Die Schulzeit wurde jene Zeit, in der ich begriff, dass der, den die Frauen umschwärmen, nicht unbedingt die Freundschaft der Männer findet. Diese Erkenntnis hätte ich unter anderen Umständen mit einem Grinsen abgetan, doch auf der Schule gab es Jungen, die stärker waren als ich, und die mich das spüren ließen, wann immer sich eine Möglichkeit dazu bot. Und die Lehrer gaben mir schlechte Noten, auch wenn ich mal eine gute Leistung brachte. Mein Bruder blühte in seiner Schadenfreude auf, wenn ich blutend aus der Schule kam. Die Eltern verzogen die Gesichter, wenn ich ihnen ein Zeugnis vorlegte. Meine Schwester, die mir ein Licht in jener dunklen Zeit hätte sein können, lebte in einem Internat.

Qualvolle Jahre vergingen. Eines Tages glaubte ich mich alt genug, dem ein Ende zu machen. Ich lief von meinem erzwungenen Zuhause fort. Ich verließ die Kleinstadt, folgte dem grauen Band der Straße und tauchte in die Anonymität einer großen Stadt ein. Dort kannte ich niemanden, hatte kein Geld, war jung und wollte leben. Glücklicherweise erregte auch in dieser Stadt mein Geruch die Aufmerksamkeit einer Frau. In beiden Händen Einkaufstaschen haltend, humpelte sie aus dem Supermarkt, vor dem ich stand und schmachtende Blicke auf die Auslagen warf. Sie mochte über achtzig Jahre alt sein, ihr Körper nicht mehr so funktionieren, wie es wünschenswert gewesen wäre, aber ihr Verstand war klar.

"Na, Jungchen", sagte sie, "hast wohl Hunger?"

Und ob ich den hatte. Ich hätte sämtliche Schaufenster leer fressen können.

"Kein Geld?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Wie steht es mit Eltern?"

Ich zuckte die Schultern.

Die Frau schniefte. "Glaube zu verstehen", sagte sie. "Dann trag mal meine Taschen, Jungchen!"

Ich trug ihre Taschen, und ich nahm ihr alle Arbeiten ab, die für ihren alten Körper eine Plagerei bedeuteten. Dafür ließ sie mich bei sich wohnen. Ihre Wohnung war klein und altmodisch eingerichtet. Eine Kuckucksuhr tickte den Takt unseres gemeinsamen Lebens. Oft saßen wir beisammen und spielten Schach, was mich die alte Frau lehrte. Oder sie häkelte mit ihren noch immer geschickten Fingern, wobei sie mir Geschichten aus der alten Zeit, in der sie jung gewesen war, erzählte. Über meine Herkunft wollte sie nichts wissen. Allen diesbezüglichen Andeutungen wich sie aus. Vermutlich fürchtete sie etwas zu erfahren, was sie zwingen würde, sich von mir zu trennen, wenn sie nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten wollte.

"Du darfst mich Omi nennen", erlaubte die alte Frau.

Ich tat es gerne. Schon drei Mal hatte ich Eltern gehabt, aber nie eine Oma.

Durch die Fenster der Wohnung konnte man auf die Straße sehen. Es war eine wenig belebte Seitenstraße. An den Sommertagen saßen wir am offenen Fenster. Im Winter blieben die Fenster geschlossen.

Weihnachten verbrachten wir in abgeschiedener Zweisamkeit. Von ihrer mageren Rente hatte Omi einen fetten Braten gekauft. Abends las ich ihr Dickens´ Weihnachtsgeschichte vor. Danach aßen wir den Braten, tranken Wein und gingen wie üblich früh zu Bett. Einen Fernseher besaß Omi nicht.

Mit dem neuen Jahr veränderte sich Omi. Sie wurde zunehmend schweigsam. Nun erzählte ich ihr Geschichten, in die ich behutsam meine Erlebnisse als Waldkind einbaute. "Interessant", sagte Omi, die wohl ahnte, dass ich ihr von meiner Kindheit erzählte. Es schien ihr nichts mehr auszumachen. Kämmte ich ihr das lange weiße Haar, wie es unser abendliches Ritual war, empfand sie nicht mehr den Genuss wie früher.

Fortan ging ich alleine einkaufen. Überhaupt blieb Omi nun die meiste Zeit zu Hause. Oft überraschte ich sie, wie sie mit gesenktem Kopf in ihrem Sessel saß und die Augen geschlossen hielt. Stille umfing Omi und lastete in der Wohnung, die ohnehin nie mit Lärm erfüllt gewesen war. Aber diese Ruhe war drückend. Selbst die Kuckucksuhr schien ihren Takt nun stumm zu ticken.

Im Frühjahr wurde Omi wieder munter. Sie erhob sich aus dem Sessel und erledigte die Einkäufe wieder selbst, während ich wie früher die Taschen trug. Auch das Haarekämmen wurde ihr wieder zum Genuss.

"Die Geschichte vom Waldkind hast du nur erfunden, oder?", fragte sie mich.

Ich hielt es für besser zu lügen, und Omi war glücklich.

Bis zum Sommer hielt sie durch, dann fiel sie auf der Straße um. Da lag sie und war tot. Ich glaubte, dass sie tot war, denn ihr Blick galt nicht mir, sondern den Wolken, die über die Stadt zogen. Wenn man von jemandem geliebt wird und dieser Jemand fällt plötzlich auf der Straße um, und die Augen, die einen sonst zärtlich anschauten, sind zum Himmel gerichtet, dann muss der Jemand doch tot sein!

Ich stand abseits und beobachtete was geschah. Eine Menge Leute kam gelaufen. Die meisten gafften, doch einige kümmerten sich um Omi. Ich begriff, dass meine Zeit mit der alten Frau vorüber war. Ich stellte die Einkaufstaschen ab und ging.

In der Zeit nach Omi suchte ich mir keine alten Leute mehr aus, nur junge, die sterben gewöhnlich nicht so rasch. Ich wartete, bis ich jemanden traf, der mein Interesse erregte. Dies waren Menschen, die ausreichend Sensibilität besaßen, das Besondere zu erkennen. Ihnen schloss ich mich an.

Es waren Einsame, die sich mühsam am Leben hielten. Viele verzweifelten darüber. Mit einigen verbrachte ich ein paar Tage, mit anderen Wochen. Selten hielt ich es ein paar Monate mit jemandem aus. Auf diese Weise verlebte ich die Jahre. Ich empfand Sehnsucht nach Omi, während mir die lebenden Menschen immer gleichgültiger wurden.

In einem Kaufhausspiegel betrachtete ich mein Bild. Ich sah verwahrlost aus. Ich glaubte, mich selbst zu verlieren und fürchtete, wenn ich eines Tages wieder in einen Spiegel schauen würde, darin nichts zu erkennen, was ich sein könnte. Dazu wollte ich es nicht kommen lassen.

Ich begann den Leuten die Geschichte vom Waldkind zu erzählen. Ich hoffte, jemand würde sie für Film oder Buch verwerten können und mir den Weg zum Reichtum ebnen. Leider traf ich diese Person nie. Alle, denen ich die Geschichte erzählte, reagierten unsicher und rückten von mir ab, sogar die Gestrandeten, die zwischen Mülltonnen hausten. Ihnen erzählte ich die Geschichte, als niemand anderer sie noch hören wollte.

Während die Flaschen rund gingen und die verklärten Augen die Bilder schauten, die mein Mund in ihre Ohren sprach, lauschten sie mir aufmerksam. Hatte ich die Geschichte beendet, wandten auch sie sich von mir ab. Der kranke Mann war der Letzte, dem ich die Geschichte vom Waldkind erzählte.

Er sah mich nachdenklich aus trüben Augen an. "Du hast den Verstand verloren", sagte er schließlich. "Jemand, der so `nen Scheiß erzählt, muss den Verstand verloren haben." Er drehte sich auf die andere Seite, schob den Hintern dem wärmenden Feuer zu und hielt die Weinflasche wie ein Baby in den Armen.

Ich stand auf und folgte wieder dem grauen Band der Straße.

Von da an verschloss ich die Geschichte in mir. Auch schloss ich mich keinem Menschen mehr an, bis Monate später im strahlenden Sonnenschein ein Auto vor mir hielt. Das Kabriolett war offen. Der Fahrer betrachtete mich, als ich an dem Wagen vorbei ging. "He!", rief er. Ich ging weiter. Das Auto rollte langsam neben mir her.

Der Mann redete auf mich ein. So einen wie mich würde er suchen, nun ja, nicht direkt suchen, aber er wäre froh, mich gefunden zu haben. Er fragte, ob ich etwas Geld verdienen wollte. Mein Blick ließ ihn in seinem Redeschwall stocken. Nein, lachte er, nicht so, wie ich vielleicht denken würde. Es wäre so, dass er mich an jemanden vermitteln könnte, der malte und ein Modell wie mich für ein bestimmtes Bild benötigte.

Ich mochte die Einsamkeit nicht länger ertragen und den Hunger und das Gefühl, eine überflüssige Existenz zu sein. Also setzte ich mich in das Auto. Während der Fahrtwind mein Haar zerzauste und der Mann mir die Ohren wund redete, überlegte ich, wieviel Geld ich als Modell eines Malers verdienen konnte. Ich hatte keine Vorstellung darüber.

Überraschenderweise war es kein Maler, sondern eine Malerin, der ich zugeführt wurde. Sie war in meinem Alter und kam mir auf eine unbestimmte Weise bekannt vor. Sie ließ mich das Bild, woran sie arbeitete, nicht sehen. Ich zog mich aus und hockte in ihrem Atelier, während sie mit feurigen Augen das Kunstwerk schuf.

Ich war mehr als nur Modell für sie. Ich war Inspiration, Geist, kreative Kraft. Ich war das Leben, das sie mit Farben auf die Leinwand brachte, jede Sehne, jeden Muskel mit dem Pinsel nachempfindend, jede Unreinheit der Haut schattierend. Es schien, als könnte sie selbst meinen Geruch auf die Leinwand bringen. Natürlich war das unmöglich, aber der Geruch, der meiner nackten Haut entströmte, erreichte die Sinne der Malerin und regte sie schöpferisch an.

Zu etwas anderem wurde sie ebenfalls angeregt. Vereinten sich unsere Körper, glaubte ich, in der Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen und in der Weise, wie sie gewisse Laute äußerte, meine Schwester zu erkennen. Es musste eine Täuschung sein. Wir tobten unsere Wildheit aus, die auszudrücken ich besser als andere Männer verstand. Dann war das Bild vollendet, und sie teilte mir mit, dass sie sich mit dem Mann, der mich in ihr Haus geführt hatte, liieren würde.

Es war eine ihrer Eigenheiten, alle ihre Bilder im Atelier zu verschließen. Das eine Bild verschloss sie nicht. Es lag auf dem Bett, in dem ich nach Vollendung des Gemäldes schlief. Es zeigte das Waldkind, wie es nackt in der Wildnis hockte, halb Tier, halb Mensch war, und dessen kindliche Züge mein Gesicht erkennen ließen. Ich verstand, wickelte das Bild in Tücher und verließ mit dem Geschenk das Haus.

Ich besaß genug Geld, mir ein Zimmer zu mieten. Darin saß ich und schrieb Geschichten, von denen sich hin und wieder eine verkaufen ließ. Meine Schwester sah ich nie wieder. Oft betrachtete ich ihr und mein Bild und verlor mich in dem gemalten fernen Leben.

Traumscheinbar

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