Читать книгу Als ich verlor, was ich niemals war - Matthias Dhammavaro Jordan - Страница 6

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Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

wir haben nur ein Leben, nämlich dieses – und es will gelebt werden – aber wie?

Als ich mir selbst diese Frage stellte, war ich Ende zwanzig, lebte in Berlin und hatte eine kleine Gartenbaufirma. Eigentlich war alles mehr als gut – im Außen.

Aber dann schlich sich auf einmal ein seltsames Gefühl der Ernüchterung in mein Leben, weil ich die immer wiederkehrende Veränderlichkeit aller Dinge erlebte. Damals wusste ich noch nicht, dass ich eine Grundwahrheit unserer Existenz entdeckt hatte, nämlich die, dass alles, was entsteht, auch wieder vergeht. Diese Erkenntnis ließ mich langsam, aber sicher an dem Wert der Dinge zweifeln, die ich bislang als erstrebenswert erachtet hatte.

Dann stellten sich mir Fragen wie: Um was geht es hier in diesem Leben wirklich? Wer bin ich eigentlich? Und was ist der Sinn dieses Lebens? – und ich konnte für mich keine zufriedenstellenden Antworten finden.

Aber eins wurde mir sehr schnell klar: Dass ich nicht so weitermachen konnte wie bisher, und ich machte mich auf den Weg …

Ich möchte dich, liebe Leserin, lieber Leser, an einem Teil dieses Weges teilhaben lassen, wohin er mich brachte, was ich erlebt habe, welche Erkenntnisse sich einstellten.

Vielleicht ermutigt es auch dich, deinen Weg zu gehen, dich nicht von Ängsten, Sorgen oder Zweifeln leiten zu lassen, sondern mit deiner eigenen Kraft, Freude und Weisheit in Berührung zu kommen, um am Ende deines Lebens sagen zu können: Ich habe mein Leben gut gelebt. Ich wünsche dir beim Lesen viel Freude und erkenntnisreiche Momente.

Mit guten Gedanken

Matthias Dhammavaro Jordan


Unterwegs

„Hey, Anna, was meinst du, was ist der Sinn des Lebens?“

„Du stellst Fragen!“, antwortete sie und blickte kurz zu mir herüber, während sie die letzten Gabeln voll Reis in ihren Mund schob. „Nein, jetzt mal ehrlich. Hast du dich das noch nie gefragt? Um was geht’s hier eigentlich wirklich? Jetzt sind wir schon zirka sechs Wochen in Asien unterwegs und ich frage mich, was wir hier eigentlich machen? Das war doch alles ganz schön anstrengend, oder?“ „Naja, klar war es anstrengend, aber es war doch auch schön – oder etwa nicht?“

Wenn ich jetzt nein gesagt oder es angezweifelt hätte, würde sie mir ihren leicht vorwurfsvollen Blick zuwerfen, und das wollte ich vermeiden. Darüber hinaus wollte ich ihr auch nicht das Gefühl geben, dass mir das alles keinen Spaß gemacht hätte. Natürlich machte es auch Spaß, herumzureisen. Aber irgendwie war ich so satt von alledem und hatte keine Lust mehr, irgendwohin zu reisen. Aber es schien so, dass sie keine weitere Antwort von mir erwartete, und sie machte sich jetzt über den süßen Nachtisch her.

Wir hatten eine sehr schöne Zeit am Lake Toba in Sumatra verbracht, reisten durch Indonesien, waren in Malaysia, aber zuvor waren wir in Thailand auf Koh Samui gewesen, wohin wir auch gerade wieder zurück wollten, um dort die letzten Wochen unserer gemeinsamen Reise am Strand zu verbringen, bevor Anna nach Japan fliegen wollte.

Wir hatten nämlich nach einer Dschungeltour in einem Gästehaus auf Sumatra einige junge Europäerinnen getroffen, die gerade von einem Arbeitsaufenthalt aus Japan zurückgekommen waren, und sie erzählten, wie viel Geld man dort mit verschiedensten Jobs verdienen könne.

Da Anna und ich noch keine genauen Pläne hatten, was als Nächstes anstehen würde, entschied sie sich, es mal in Japan zu probieren. Wir hatten Zeit, wir hatten Geld, aber das wurde jeden Tag weniger.

Wir besprachen ihr Vorhaben, besprachen alles, was daran hing, auch unsere Beziehung, und waren uns schließlich einig, dass sieben Monate ja keine Ewigkeit sind.

Ich würde wieder nach Berlin gehen, Garten- und Landschaftsbau machen, und dann würden wir uns im kommenden Winter wieder in Bangkok treffen. Uns verblieben jetzt noch gut drei gemeinsame Wochen in Asien.

Es war eine lange Zugfahrt zurück nach Thailand. In Surat Thani angekommen, erwischten wir noch die Nachtfähre nach Koh Samui, landeten dort morgens um sieben Uhr, nahmen ein Taxi und waren wieder am Chaweng Beach angekommen. Darüber waren wir sehr froh. Endlich ausspannen, keine überfüllten Busse mehr, keine billigen Hotels mit übergelaufenen Klos, kein frühes Aufstehen mehr, um irgendeinen Bus nach irgendwohin zu erwischen.

Anna und ich freuten uns auf ruhige Tage mit Sonne, Strand und Meer.

Aber es war wirklich so, dass ich mir viele Fragen über den Sinn und Zweck unserer Reisen stellte. Und diese Fragen weiteten sich auf alles Mögliche aus, bis ich schlussendlich zu der Frage kam: Was ist eigentlich der Sinn dieses Lebens, um was geht es hier wirklich?

Wir hatten auf unserer Reise auch viel Leid und Elend gesehen: kleine Kinder, die verwahrlost bettelten, alte und kranke Menschen, die auf der Straße lebten, gestresste, überarbeitete Rikscha-Fahrer, aggressive Jugendliche, die sich mit Messern bedrohten, und vieles mehr.

Anna schien an diesen Fragen kein gesteigertes Interesse zu haben, sondern genoss in ihrer Leichtigkeit unsere gemeinsame Reise.


Ernüchterung

Am Abend desselben Tages saß ich am Strand im warmen Sand, die Sonne war am Untergehen, der blaue Himmel von leichten Wolken betupft, ein wundervolles Farbenspiel, ganz leichte Wellen bewegten sich auf dem großen, weiten Meer und ich ließ meinen Blick am Horizont ruhen.

Ich fühlte eine Sattheit in mir, keine Sehnsucht nach neuen Ländern, keine Sehnsucht nach noch mehr Erfahrungen und Erlebnissen. Ich war irgendwie müde von dem ganzen Umherreisen der letzten Wochen, doch es war keine körperliche Müdigkeit.

Ja, ich weiß, unsere Freunde in Berlin beneideten uns dafür, dass wir die Zeit hatten, zu reisen und tolle Erlebnisse zu haben, ja, das mag alles sein. Aber da waren nur diese ständigen Erfahrungen, und ich hatte nichts gefunden, was mich wirklich begeistert oder gar erfüllt hätte.

Menschen sind überall ziemlich gleich, dachte ich mir, nur die Kulturen sind anders. Alle suchen sie ihr Glück auf den verschiedensten Wegen, alle wollen Unwohlsein vermeiden und ihr Wohlsein mehren – um es mal auf diese einfache Formel zu bringen.

Hatte nicht Laotse einmal gesagt: Der Weise verlässt nie sein Haus und kennt trotzdem die ganze Welt?!

Irgendwie beschlich mich schon länger dieses eigenartige Gefühl, dass es nirgends etwas zu finden gebe, was mir als ewiger Wert erhalten bleibt. Falls es so etwas tatsächlich gibt, dann hatte ich es noch nicht gefunden oder irgendwie übersehen. Auch die großen Wellen des Meeres kommen und bleiben nicht, und die kleinen schon gar nicht. Ja, irgendwie kommt und geht alles wieder. Und jetzt geht Anna auch noch nach Japan.

Ich erschrak bei dem Gedanken, oder besser bei dem Gefühl, dass ich da sogar eine seltsame Erleichterung spürte und ich mich auf eine Zeit mit mir alleine freute. Was war das denn? Sollte ich nicht traurig sein? Abschiedsschmerz fühlen? Nein, nichts davon war spürbar.

Ich mochte Anna sehr. Ob ich sie liebte? Was heißt das schon?

Das Wort Liebe habe ich noch nie gerne benutzt. Auch das Wort Glück hatte ich nicht in meinem Wortschatz. Diese beiden Worte hatten für mich immer etwas Verdächtiges. Vielleicht, weil ich hinter deren Bedeutung eine Art ewiges Verweilen erhoffte, was ich allerdings noch nicht erlebt hatte.

Ich glaube, ich habe noch nie gesagt: „Ich bin glücklich.“ Zu diesem Wort hatte ich schon immer ein gespaltenes Verhältnis; denn Glück ist für mich ein Gefühl, das sich nie ändern sollte, ein letztendlicher Zustand. Und ich hatte bislang noch keine letztendlichen Zustände erlebt. Das Gleiche empfand ich auch bei dem Wort Liebe.

Ich dachte an Berlin und fühlte keine Freude in mir aufsteigen, wieder dorthin zurückzugehen. Ja, die Freunde, mein Geschäft, mein Bruder Reinhold, der mittlerweile bei mir wohnte. Die Stammkneipen, diese ewig langen Nächte, das Saufen und Kiffen, das Spielen, das oft unsinnige Gerede und die ganzen Pläne und Vorhaben, die immer wieder zum Besten gegeben wurden. Ich fühlte dieses ewige Einerlei, war freudlos, desinteressiert, gelangweilt und widerwillig bei dem Gedanken, mein Leben in Berlin wieder aufzunehmen. Ich war wirklich satt. Mein Freund Burkhard sagte manchmal: „Es steht mir bis zur Oberkante Unterlippe“, und das traf es irgendwie.

Eines hatte ich jedoch auf diesen Reisen erkannt und schätzen gelernt: Wie wenig man zum Leben wirklich brauchte. Da war mein Rucksack, gefüllt nur mit den notwendigen Dingen des Alltags. Und es reichte vollkommen aus. Mehr brauchte es nicht.

Ein leichtes Lächeln fühlte ich auf meinem Gesicht und meine Lippen sprachen das Wort Freiheit. Ja, das war es, was ich wollte – Freiheit.

Ich wusste zwar nicht genau, was das war, aber es hörte sich gut an.

Dann rief Anna meinen Namen und ich schlenderte langsam zum Restaurant, das nur wenige Meter vom Strand entfernt stand. Wir wollten zusammen zu Abend essen und trafen Andy und Art wieder, mit denen wir uns schon Wochen vorher angefreundet hatten.


Eine Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt …

Und während wir uns das Essen schmecken ließen, erzählte Andy, dass er in ein paar Tagen in ein Kloster gehen wolle, er sei schon mal dort gewesen und man könne meditieren lernen. Am Ersten jeden Monats beginne dort ein sogenannter Retreat, zehn Tage dauere er und koste sehr wenig.

In mir stockte plötzlich alles, auch mein Mund kaute das Essen nicht mehr weiter und eine sichere Stimme in mir sagte: Da musst du hin!!!

Aber ich hatte doch nur noch wenige Tage mit Anna, egal, ich musste da hin. Da ich irgendwie nicht an Zufälle glaubte, dachte ich, dass diese Nachricht die direkte Antwort auf meine Lebensfragen war, die ich seit neuestem immer wieder in meinen Gedanken entdeckte.

Andy wollte schon ein paar Tage vorher dort sein und reiste am nächsten Tag ab. Er hinterließ mir aber noch die genaue Wegbeschreibung, um in das buddhistische Kloster Wat Suan Mokkh zu gelangen. Ich erzählte das Garun, einem Thailänder, der meinte nur, ja, ein guter Ort, er kenne ihn und auch der Name des Klosters sei sehr bedeutungsvoll und heiße Garten der Befreiung.

Ja, das war es doch, das Wort Freiheit klang immer noch in mir und steckte in diesem Namen, und eine leise Freude machte sich in mir breit und bestätigte mir so die Richtigkeit dieser Entscheidung. Für Anna war es scheinbar okay.

Ich versicherte ihr, dass ich sie dann noch zum Flughafen nach Bangkok begleiten würde; denn wenn ich zurückkäme, hätten wir ja immer noch ein paar Tage zusammen.

In drei Tagen wollte ich los, denn der Kurs beginnt immer am Ersten jeden Monats.

An diesem letzten Abend saßen Anna und ich zusammen am Meer und unterhielten uns über dies und das, über die letzten Wochen, Japan und was alles vielleicht noch kommen würde.

Wir waren gut drauf, wie so oft in leichter Oberflächlichkeit, wo Gesagtes schnell wieder verklungen war, niemand mehr darüber nachdachte und sich neue Worte zu Sätzen formulierten, die auch gleich wieder, kaum ausgesprochen, in der Unendlichkeit verklangen, ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen.

Ich freute mich auf morgen und fühlte eine leise Erregung in mir aufsteigen. Meinen Rucksack packte ich schon am gleichen Abend, denn ich musste sehr früh los, um die erste Fähre nehmen zu können.

In dieser Nacht hatte ich einen sehr intensiven Traum: Ich liege auf einem Bett, und eine Hand kommt von irgendwo her, sticht durch meine Brust, greift in mein Herz und reißt einen Teil des Herzens heraus. Es fühlt sich überhaupt nicht schmerzhaft an, sondern ich spüre plötzlich eine große Befreiung und Leichtigkeit, denn es wurde etwas Schweres, Dunkles, Belastendes von meinem Herzen genommen und im Hintergrund sagt eine Stimme klar, deutlich, laut und eindringlich zu mir: „Erneuere dich!“

Der Wecker riss mich aus diesem Traum. Ich zog mich an, verabschiedete mich schnell, aber liebevoll von Anna, nahm meinen Rucksack, erreichte die Fähre pünktlich, der Bus nach Chaiya wartete schon auf dem Festland, und irgendwann sagte der Busfahrer: Wat Suan Mokkh.


Wat Suan Mokkh – Garten der Befreiung

Eine neue Welt eröffnet sich …

In dem Bus waren noch andere Farangs, wie die Westler in Thailand genannt werden, die ebenfalls an dem Retreat teilnehmen wollten.

Als ich das Kloster betrat, bemerkte ich die großen Bäume und wilden Pflanzen, einige einfache Holzhütten, gefegte Wege, weiter oben standen einige Steinbänke vor einem schlichten Steinhaus. Hier wurden wir von Mönchen weitergeleitet in Richtung Küche, wo man sich für den Retreat registrieren lassen konnte.

Als wir ankamen, saßen dort schon einige Teilnehmer mit Tassen in der Hand im Freien auf Holzstühlen und unterhielten sich leise. Dann sah ich das erste Mal einen Westler in einer buddhistischen Robe. Es war Santikaro, ein Amerikaner, der schon zwei Jahre in Suan Mokkh lebte und als Übersetzer für Ajahn1 Buddhadasa, den Abt des Klosters, tätig war. Er leitete auch die Retreats.

Santikaro war sachlich-freundlich, lächelte kaum und wenn doch, dann nur sehr flüchtig.

Er gab uns weitere Infos über die Registrierung, wo wir wohnen und wann es heute Abend losgehen würde.

Wir wurden, nach Geschlechtern getrennt, in kleinen Holzhütten untergebracht, die als Schlafsäle dienten, mit jeweils sechs einfachen Betten und darüber zusammengeknoteten Moskitonetzen. Die Halle, die uns als Ort der Unterweisung dienen sollte, wurde früher von Pfadfindern genutzt. Sie stand mitten auf einer großen Wiese, umrandet von Wald mit großen Bäumen, zirka fünf Minuten Fußweg von unserer Unterkunft entfernt.

Kurz vor 20 Uhr ertönte eine laute, tiefe Glocke, die anzeigte, dass es an der Zeit war, uns in die Halle zu begeben.

Zwei thailändische Mönche wiesen uns unsere Plätze zu. Jeder bekam eine Matte und ein Sitzkissen. Die Männer saßen auf der rechten Seite und die Frauen auf der linken. Vor uns war eine erhöhte Bühne, worauf eine zirka ein Meter hohe Buddha-Figur stand und vor der sich Santikaro im Schneidersitz niedersetzte. Der Raum wurde von Petroleumlampen erhellt und vor dem Buddha brannten noch ein paar Kerzen.

Wir waren ungefähr dreißig Teilnehmer, alle waren still, nur die Geräusche des Dschungels waren zu hören, es fühlte sich sehr ruhig und friedlich an.

Dann ertönte ein kleiner Gong und Santikaro erzählte, wie die nächsten Tage ablaufen würden: Retreat bedeute Rückzug vom Alltäglichen. Es gehe darum, sich selbst zu erforschen, die Kräfte in sich kennenzulernen, es gehe darum, den Geist durch Meditation in einen ruhigen Zustand zu bringen, die Gedanken zu beobachten und auch die Gefühle. Und das alles natürlich im Schweigen.

Schweigen? Also nicht reden? Auch nicht beim Essen oder bei einem Spaziergang?

Nein, Schweigen heißt Schweigen! Er erklärte, dass es den Geist dabei unterstütze, zur Ruhe zu kommen, die Gedanken zu beruhigen, denn Reden sei ja, genau genommen, verbalisiertes Denken.

Zum Abschluss leitete er eine Meditation an, in der wir einfach nur hier sein, uns mit dem Atem verbinden und bemerken sollten, wie er einströmt und wieder ausströmt.

Das war der Anfang, und als der Gong ertönte, gingen wir schweigend zu unseren Hütten und legten uns in die Betten. Ich war sehr müde, ließ mein Moskitonetz herunter und schlief sofort ein.

Der nächste Tag begann um vier Uhr morgens, eingeläutet von der gleichen lauten, dunkel klingenden Glocke, die uns schon am Abend zuvor zur Meditation gerufen hatte.

Um halb fünf waren alle in der Halle versammelt, und wir wurden wieder in der Meditation angeleitet. Nach vierzig Minuten ging wieder der Gong.

Santikaro erklärte noch ein paar organisatorische Abläufe und dann hatten wir Zeit, die Waschräume und Toiletten aufzusuchen, im Wald herumzulaufen, den Ort langsam kennenzulernen, denn Frühstück gab es erst um sieben Uhr. Das bestand aus Reis, verschiedenen thailändischen Gemüsesorten und Früchten, kein Fleisch. Das Essen war vegetarisch und zu trinken gab es Sojamilch in allen Variationen.

Wir nahmen unser Essen, serviert auf Blech- oder Plastiktellern, auf kleinen Holzstühlen sitzend im Freien ein. Es schmeckte richtig gut.

Es war sehr seltsam, mit dreißig Menschen zusammenzusitzen und nicht zu reden. Nicht nur ungewohnt, fast schon peinlich fühlte es sich zuweilen an.

Dann wieder die laute, dunkle Glocke, und um neun Uhr waren wieder alle in der Halle versammelt. Ich riskierte einen Blick auf die andere Seite der Halle, wo die Frauen saßen, und entdeckte sogleich einige, die recht attraktiv aussahen.

Andy saß auch in der Halle, etwas weiter vorne.

Santikaro nahm wieder vor dem Buddha Platz und hieß uns nochmals offiziell willkommen.

Er wünschte uns eine fruchtvolle und erkenntnisreiche Zeit und meinte, wir sollten das Beste aus dieser Zeit herausholen, denn es gehe auch darum, neu auf das Leben zu schauen und es dadurch vielleicht auch neu zu bewerten.

Was er da sagte, kam mir sehr entgegen. Sprach er nicht genau das an, was ich am Strand sitzend gefühlt hatte? Diese Sattheit und Unerfülltheit und auch die Ratlosigkeit, in welche Richtung ich gehen sollte?

Ich fühlte mich sehr wohl mit dem, was ich da hörte, und es gab keinen besseren Platz auf der ganzen Welt, wo ich in diesem Moment lieber gewesen wäre.

Dann leitete er wieder eine Meditation an und erklärte anschließend die Gehmeditation.

Das heiße, einfach nur zu gehen und sich sehr bewusst darüber zu sein, wie sich der Fuß hebt, nach vorne bewegt und wieder senkt. Und wir müssten nirgendwo ankommen, außer immer nur in diesem Moment. Alles klar, kein Problem, mach ich!

Dann lief ich hin und her, wie alle anderen auch, und dachte über alles Mögliche nach.

Was macht Anna eigentlich gerade? Meine Freunde in Berlin, ja und Reinhold, mein jüngerer Bruder, Mama und Papa in Fulda, gut, dass ich immer mal eine Postkarte schrieb. Michael, mein älterer Bruder, und seine Frau Uschi. Hoffentlich kommen genug Aufträge im Frühjahr rein … upps … Also, habe ich gerade den rechten oder linken Fuß oben? Der Fuß geht hoch, bewegt sich durch den Raum und setzt vorne wieder auf. Das war Gehmeditation. Gehen, ohne anzukommen, und zu wissen, dass man das tut, das sei Achtsamkeit, erläuterte Santikaro später.

Und die Aufmerksamkeit immer, so gut es halt geht, im Moment zu halten bei allem, was man gerade tut, sei ein Aspekt der Meditation.

Vom Gehen habe ich kaum etwas mitbekommen. Ich bemerkte im Nachhinein nur, wie viele Gedanken ständig in meinem Geist kreisten, dass ich ständig an etwas dachte und das Gehen gar nicht mitkriegte.

Dann wieder zurück in die Halle, schweigend, leise, achtsam sein, sich wieder in die Meditationshaltung begeben und ab jetzt die Aufmerksamkeit auf den Atem lenken, einatmen, ausatmen und spüren, wo ich den Atem gerade fühle.

Und so wurden wir in das Meditationssystem von Anapanasati eingeführt, was heißt, die Ein- und Ausatmung achtsam wahrzunehmen.

Mit diesen wechselnden Übungen verbrachten wir den ersten Tag, dazwischen eine Mittagspause, dann wurden Texte rezitiert, wieder meditiert, Abendessen, und am Abend gab es einen Vortrag.

Santikaro war, wie ich anfangs schon erwähnte, ein Schüler von Ajahn Buddhadasa, dem achtzigjährigen Abt des Klosters.

Er gründete dieses Kloster schon vor vielen Jahrzehnten, und später erfuhr ich, dass ich bei einem der bekanntesten und wohl auch einflussreichsten Meditationslehrer gelandet war, die es in Thailand gab. Er hatte den Buddhismus lange studiert und schließlich erkannt, dass der gelebte Buddhismus in Thailand stark vom Ursprünglichen abwich, und er wurde zu einer Art Reformator.

Ajahn Buddhadasa meinte, dass nichts geglaubt werden solle, sondern man müsse etwas selbst erforschen und erleben, um dessen praktischen Nutzen zu erfahren.

Er versuchte den Aberglauben abzuschaffen. Zum Beispiel opfern die Thais verschiedenen Hausgeistern kleine Speisen und glauben an alle möglichen Arten von Geistern, die überall seien und mit Opfergaben befriedet werden müssten. Sie sind davon überzeugt, dass Amulette eine beschützende und Glück bringende Kraft haben, und treffen keine wichtige Entscheidung, ohne zuvor irgendwelche Geister um Beistand gebeten zu haben.

Ajahn Buddhadasa lehnte das alles ab, denn das habe mit Buddhismus nichts zu tun. Er brachte den ursprünglichen Buddhismus wieder zurück in sein Land. Mir war das sehr sympathisch und machte mich noch neugieriger und interessierter. Nicht glauben müssen – ja, das war es, was ich brauchte. Ich hatte genug davon, etwas glauben zu müssen, denn ich bin ja katholisch erzogen worden und hatte von der Aufforderung: „Du musst glauben und gehorchen!“ wirklich die Nase voll.

Ajahn Buddhadasa hatten wir bis jetzt noch nicht zu Gesicht bekommen. Es war der amerikanische Mönch Santikaro, der Vorträge hielt, die Meditation leitete und uns praktische Hinweise gab.

Ja, das Schweigen hatte es in sich. Da saßen wir Teilnehmer nun schweigend zusammen in der Meditationshalle, liefen schweigend zu den Mahlzeiten nebeneinander her und schwiegen uns beim Essen an – und ich fühlte mich irgendwie alleine. Allein mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Meinungen, und es schien, als würde es in mir immer lauter werden.

Der Abendmeditation folgte dann ein Vortrag einer Thailänderin, die Ajahn Ranschuan hieß.

Sie war zirka sechzig Jahre alt und sprach sehr gutes Englisch. Sie lebte in Suan Mokkh, war Professorin in Bangkok gewesen, was erklärte, warum sie so gut Englisch sprach, und sie hatte eine sehr gesammelte, ruhige und klare Ausstrahlung.

Sie begann ihren Vortrag mit den Worten: „Meine lieben Freunde im Dhamma2.“

Und dann erlebte ich etwas, was ich sehr selten zuvor erlebte hatte. Ich bildete mir ein, dass sie über mich sprach, mich beschrieb, und mich beschlich das Gefühl, sie könne in mich hineinschauen.

„Mit unseren Gedanken sind wir immer woanders und denken meist an Vergangenes oder Zukünftiges. Unser Geist wird ständig von verschiedenen Kräften bewegt, die uns dazu bringen, Dinge zu tun oder nicht zu tun, die uns in die verschiedenen mentalen und emotionalen Zustände verleiten, so dass wir manchmal nicht wissen, was mit uns geschieht.“

Dann sprach sie über Gier, Hass und Verblendung und meinte, dass diese Kräfte ständig in uns aktiv seien und wenn wir das nicht erkennen würden, es uns schlecht gehe.

Ja, das konnte ich so unterschreiben.

Dann meinte sie noch, dass wir diese Kräfte kennenlernen müssten, damit sie nicht die Macht über uns haben, und dass hier die Meditation ins Spiel komme, denn Meditation heiße ja auch, seinen Geist mit etwas zu verbinden, was jetzt stattfinde, wie der Atem.

Als Nächstes sprach sie über Achtsamkeit. Es bedeute, sich, so gut es geht, darüber bewusst zu sein, was gerade geschieht. Also sich immer auf den gegenwärtigen Moment zu beziehen, um die Wirklichkeit so zu erfahren, wie sie tatsächlich ist, egal, was man gerade erlebte.

Und so wurden wir immer wieder angehalten, bei der Sitzmeditation den Atem zu spüren, den Körper zu fühlen, beim Essen wirklich das Essen zu sehen und zu schmecken und beim Gehen uns der sich bewegenden Füße bewusst zu sein.

Die Theorie dahinter war, dass Gedanken einen immer weniger in ihre Geschichte verstricken könnten, wenn man seine Aufmerksamkeit immer auf das lenkt, was gerade passiert und was man gerade tut, und so würde man auch seine Gedanken und Gefühle besser kennenlernen.

In einem Nebensatz sagte sie dann noch: „Achtsamkeit ist der Schlüssel zur Weisheit.“

Sie erläuterte das nicht weiter, aber in mir wurde auf einmal etwas tief berührt.

Ich fühlte mich angesprochen, war beeindruckt von dieser Frau und fühlte mich noch mehr an dem Platz auf der Welt, an dem ich sein sollte – und ich war hier!

Und ich fühlte eine Freude in mir aufsteigen, wie ich sie sehr selten gespürt hatte, wenn überhaupt schon mal. Ich fühlte mich, ja, so könnte man es sagen, irgendwie zuhause angekommen.

Es war ein langer Tag, und als ich dann im Bett lag und das Moskitonetz heruntergelassen hatte, schlief ich sofort ein.

Am nächsten Tag hatte ich Schmerzen in den Knien, hatte Schmerzen im Rücken, denn das lange Sitzen auf dem Boden war für die meisten von uns Westlern sehr ungewohnt. Aber es war noch einigermaßen erträglich, und die freundlichen und mitfühlenden Worte und Anleitungen, entweder von Santikaro oder Ajahn Ranschuan, halfen, einen anderen Blick auf diese Schmerzen zu werfen.

„Meine lieben Freunde im Dhamma, auch das geht vorbei. Lasst euren Geist dadurch nicht aus der Ruhe bringen …“ Ja zum ersten Teil und nein zum zweiten.

Ich ärgerte mich über den Schmerz, ärgerte mich über die langen Sitzzeiten, ärgerte mich über das Rascheln und Husten eines Nachbarn, ärgerte mich über … eigentlich alles an diesem Tag.

Ja, ich kannte diesen Ärger, er brannte, und ich merkte, wie der Ärger mir seine Gedanken aufzwang. Wie ich versucht war, meinen hüstelnden Nachbarn zurechtzuweisen, wie ich die Meditationshalle verlassen wollte, weil der Gong zu spät ging, ärgerte mich über das frühe Aufstehen, über das Essen, das Wetter – über alles.

Ich erschrak und fühlte mich hilflos, ich hätte laut aufschreien können, und es wurde immer stärker. Ich fing an, gedanklich die Mönche zu kritisieren, wie sie aussahen, was sie sagten, kritisierte andere Teilnehmer aufgrund meiner Ansichten, die ich über sie hatte – einfach alles.

Aber ich blieb sitzen und spürte einfach nur den Ärger, denn so lautete der Rat von Santikaro: „Egal, was im Geist geschieht, beobachte das einfach nur.“ Und ich beobachtete – immer mehr.

Ich dachte eigentlich bislang, ich sei ein freundlicher junger Mann – und jetzt das. Das sollte niemand mitbekommen, und ich hätte es am liebsten auch nicht mitbekommen. Aber es gab kein Entrinnen, keine Ablenkungen, kein TV, keinen Kühlschrank und nicht einmal ein zerstreuendes Schwätzchen, denn wir sollten ja schweigen. Niemand reagierte auf mich und ich reagierte nicht auf andere, nur gedanklich. Ich bekam keinerlei Rückmeldung über mich. Es fühlte sich plötzlich sehr einsam an und ich war, im wahrsten Sinne des Wortes, auf mich selbst zurückgeworfen.

Ging es den anderen auch so? Erlebten sie das Gleiche wie ich? Und, wer war das, auf den ich hier zurückgeworfen wurde?

Da waren meine vielen Gedanken, Gefühle, Geisteszustände und Meinungen, und es gab niemanden, dem ich das mitteilen konnte, niemanden, den ich daran Anteil haben lassen konnte, niemanden, der etwas dazu sagte, und es wurde immer deutlicher, wie schnell sich das alles in meinem Geiste abspulte und wie sich Gedanken und Gefühle die Klinke in die Hand gaben.

Vipassana3-Romanze

In der Meditationshalle saß ich etwa in der Mitte des Raums und konnte so mindestens die Hälfte der anderen Teilnehmer sehen.

Vorne links saß dieser Franzose. Er kam nicht achtsam und leise in die Meditationshalle gelaufen, sondern polterte, laute Geräusche machend, herein. Er setzte sich nicht auf das Meditationskissen, sondern schmiss sich darauf und saß in einer Art und Weise, die mich an einen verkümmerten Baum erinnerte. Sein ganzes Verhalten ging mir auf den Wecker, und nur wenn ich ihn schon sah, stieg in mir heftiger Ärger hoch.

Aber vorne rechts, bei den Frauen, saß dieser Engel, eine wunderschöne, blonde Schwedin. Sie lief nicht in die Meditationshalle, sondern schwebte eher herein, anmutig, schön, tadellos. Und auch wenn sie sich zur Meditation niedersetzte, wobei ‚setzen‘ für diese bezaubernde Bewegung schon viel zu irdisch formuliert ist, strahlte sie in einer anziehenden Schönheit, die nicht nur bestechend, sondern einfach nur umwerfend war.

Ich hatte mich sofort verliebt, und Meditation, den langweiligen Atem beobachten und dieses Gehen, immer nur hin und her, erachtete ich bei der Größe meiner Empfindungen als absolut zweit-, wenn nicht drittrangig, wenn ich sie überhaupt noch irgendwie erachtete.

Und nun war ich in einer fast neuen und doch bekannten Welt angekommen – der Welt der Sinnlichkeit, und sie schmeckte süß.

Wer wollte mir jetzt noch etwas erzählen? Welcher Mönch konnte da noch mithalten? Und ich fantasierte die schönsten Vorstellungen und Unternehmungen, die ich nach dem Retreat mit dieser jungen Frau haben könnte.

Der Atem kam und ging auch ohne mich, und ich war nun einige Stunden damit beschäftigt, mich mit diesem neuen ‚Verliebtsein‘ anzufreunden. Ich suchte mir einen Gehpfad in ihrer Nähe aus, schaute oft in ihre Richtung mit der sicheren Gewissheit, dass es ihr bestimmt auch so gehen würde. Es war schon der vierte Retreat-Tag, und ich müsste ihr doch schon längst aufgefallen sein.

An diesem Abend war Santikaro an der Reihe, wieder eine Belehrung in Form eines Vortrages zu halten. Er begann allgemein über die Wirkungsweise des Geistes zu sprechen, über die wechselnden geistigen Inhalte, aber was viel interessanter war als das, was er anfangs erzählte, war: Mein Engel hatte heute Abend ein langes, weißes Kleid an, ihre blonden Haare lagen lang und sanft auf ihren Schultern und sie saß in einer bestechenden, edlen Haltung da, und meine Schwärmereien wollten nicht enden.

Santikaro meinte dann, dass es bei Schweigeseminaren ein interessantes Phänomen gebe, allgemein bekannt als Vipassana-Romanze. Bei dem Wort Romanze wurde ich aus meinen Fantasien herausgerissen. Schaute er gerade in meine Richtung? Hatte er meine Gedanken gelesen und mich dabei ertappt? Ich fühlte mich ertappt!

Er erklärte weiter, dass wir im Schweigen noch stärker mit unserem Bewertungssystem konfrontiert würden und alles, was wir sehen, ganz gewohnheitsmäßig in positiv und negativ, mögen oder nicht mögen einteilen würden, und wir sollten erkennen, wenn das passiert.

Und es könnte schon mal vorkommen, dass man sich verlieben, also jemanden übersteigert aufwerten und gleichzeitig jemand anderen maßlos abwerten würde. Und er ergänzte, dass das ein Versuch des Geistes sei, eine gewisse Sicherheit in der gewohnten und bekannten Bewertungsstruktur zu finden.

Ich war sprachlos, nicht nur, weil das ein Schweigekurs war, sondern weil mein schönes, buntes, verliebtes Kartenhaus, bei so viel nüchterner Erklärung, einfach in sich zusammenfiel. Ich fühlte mich ertappt, erwischt, entlarvt – und plötzlich wieder alleine und ernüchtert, so, als hätte mir jemand etwas Schönes weggenommen. Es war wie das Zerplatzen einer Seifenblase, in der sich alles Bunte und Schöne dieser Welt widergespiegelt hatte.

Natürlich wusste ich tief drinnen, dass ich letztendlich diesen Impulsen nicht gefolgt wäre, denn ich war ja mit Anna zusammen, und doch hatten diese Gedankenspiele einen besonderen Reiz.

Am nächsten Morgen gab es keinen ‚Engel‘ und keinen ‚blöden Franzosen‘ mehr.

Ich fühlte mich entlarvt und bekam nun etwas Abstand zu meinen Fantasien – und musste plötzlich schmunzeln, ja schon fast laut loslachen.

Ich war beeindruckt, auch über die Vorhersagbarkeit solcher Ereignisse. Ich wollte mehr über meinen Geist erfahren, über die Gedanken und Gefühle, ich wollte diese Weisheit haben, ich wollte Erkenntnisse und Wissen und natürlich die Erleuchtung, worüber ich schon einiges gelesen hatte.

Die nächsten Tage verliefen im gleichen Rhythmus wie zuvor. Ich befolgte weiterhin die Anleitungen und lauschte interessiert den Vorträgen. Ich hatte jetzt ein Ziel, irgendwie.

Nachmittags wurde eine Fragestunde eingerichtet, bei der man aber nur Fragen stellen sollte, die mit der Meditation zu tun hatten.

Buddhismus ist dafür bekannt, dass an Wiedergeburt geglaubt wird. So ergab es sich, dass neben Fragen über den Sinn und Zweck der Meditation, Meditationserlebnisse und die Bitte um weitere Erklärungen viele Fragen über Karma und Wiedergeburt gestellt wurden.

Ajahn Buddhadasa lehne es aber ab, so Santikaro, über die Art von Wiedergeburt zu sprechen, die angeblich nach dem Tod des Körpers stattfinden würde, sondern er erkläre Wiedergeburt auf eine sehr praktische Weise. Wie ich oben schon anmerkte, wollte Ajahn Buddhadasa etwas lehren, was einen praktischen und nachhaltigen Nutzen hatte, und zwar in diesem Leben. Es stand also nicht die Frage im Vordergrund: Gibt es ein Leben nach dem Tod?, sondern: Was für ein Leben führe ich vor dem Tod?

Santikaro kam nicht mehr darum herum, etwas dazu zu sagen: „Wiedergeburt ist etwas, was du jeden Tag mehrmals erlebst. Es ist die Geburt in einen Bewusstseinszustand hinein. Immer wenn du Kontakt mit der Außenwelt hast, entsteht ein Gefühl des Mögens oder Nicht-Mögens, dann willst du dieses ‚Ding‘ oder du willst es nicht. Dann machst du eine gewisse Anstrengung, auf dieses Ding zuzugehen oder von ihm weg. Das bestimmt in diesem einen Moment dein Leben, deine Existenz, und dementsprechend fühlst du dich. Auf Grund der Gefühle entstehen deine Wünsche. Sobald du an ihnen anhaftest, kommst du ins Handeln, um sie dir zu erfüllen, und du wirst so in einen bestimmten Bewusstseinszustand hineingeboren. Das kann an einem Tag mehrere hundert Mal passieren.“

Ja, das hatte ich doch gerade erlebt. Bekam ich jetzt nicht die Theorie nachgeliefert für das Erlebnis, das ich da hatte? Die Geburt eines Engels und der Tod eines Engels, die Geburt eines blöden Franzosen und der Tod desselben. Aber das alles geschah doch nur in mir. Ich war als der ‚Verliebte‘ geboren und durch das, was ich dann hörte, ‚starb‘ der Verliebte wieder. Und immer wenn ein Gefühl entsteht, wird man in diesen Zustand ‚geboren‘. Das leuchtete mir ein.

Ich war begeistert, wie klar das plötzlich für mich war, und begann von nun an, alle diese Gefühlszustände als eine neue Geburt zu sehen, mit der Gewissheit, dass diese Zustände auch wieder ‚sterben‘ mussten.

Jede Freude, jeder Ärger, jede Eifersucht, die Schmerzen in den Beinen, Gedanken, Gefühle und das Essen, was ich oben reinschob, plumpste es nicht kurze Zeit später unten wieder heraus? All das entstand, verweilte und verging auch wieder.

Wenn das nicht eine tiefe Erkenntnis war, dachte ich, die mich der Erleuchtung einige Schritte näherbrachte?!

Die Tage vergingen in diesem Rhythmus und ich begann mich daran zu gewöhnen, morgens um vier Uhr aufzustehen, zum Frühstück Reis und Gemüse zu essen, zu schweigen, zu meditieren und zu beobachten, was da so durch meinen Geist zog.

Der letzte Tag war angebrochen und heute würde uns Ajahn Buddhadasa zum Abschied einen Vortrag halten. Nach dem Frühstück versammelten wir uns am Hin Kong, dem Steinkreis.

Große Steine, auf denen man sitzen konnte, waren dort in einem Kreis angeordnet, drumherum wuchsen große Bäume, alles auf sandigem Boden. Am oberen Ende stand eine Holzplattform, die aus einer großen Baumwurzel herausgearbeitet war und auf der der jeweilige Mönch saß, der einen Vortrag hielt. Das war hier so Brauch.

Ajahn Buddhadasa war schon achtzig Jahre alt, hatte einen rundlichen Körper, war gekleidet in die bei buddhistischen Mönchen übliche orangefarbene Robe und er näherte sich langsam der Plattform, gestützt auf einen hölzernen Gehstock, und nahm Platz.

Er hatte eine klare, sehr gesammelte und ruhige Ausstrahlung, und während ich das hier schreibe, weiß ich, dass ich es eh nicht mit Worten einfangen kann, wie ich ihn erlebte. Aber ich fühlte plötzlich eine tiefe Verbundenheit zu diesem Mann. Nein, er war mir nicht fremd, alles hier war mir nicht fremd, und wie ich schon gesagt habe: Es fühlte sich an, als ob ich zuhause angekommen sei. Ich war selbst sehr erstaunt darüber.

Wir saßen auf Bastmatten auf dem Boden und waren angehalten, uns dreimal zu verbeugen, auch das war hier so Brauch.

Er begann auf Thai zu sprechen und Santikaro übersetzte: „Liebe Freunde im Dhamma. Ihr seid aus vielen Ländern der Welt gekommen und reist von einem Ort zum anderen – um was zu finden? Ihr alle sucht Freude, Glück und Erfüllung und versucht es irgendwo da draußen zu bekommen. Dann merkt ihr irgendwann, dass es da nichts zu holen gibt, und reist dann weiter in der Hoffnung, euer Glück und eure Erfüllung woanders zu finden.

Schließlich seid ihr hier in Suan Mokkh gelandet und habt nun diese Tage erlebt. Ich hoffe, ihr habt etwas inneren Frieden gefunden, habt vielleicht erkannt, dass Leiden und Unzufriedenheit immer dann entstehen, wenn wir an etwas anhaften und festhalten wollen. Alles, was es gibt, hat drei universelle Merkmale: Es ist unbeständig. Wenn wir daran festhalten, entsteht Leid, und alle Dinge, auch wir Menschen, haben keinen Selbstbestand oder Wesenskern. Da gibt es kein ‚Ich‘ oder ‚Mein‘, das sich nie ändert.“

Er sprach noch eine Weile in dieser ruhigen, freundlichen und sicheren Klarheit und verabschiedete uns mit seinen besten Wünschen.

Nein, ich musste nicht alles verstehen, was ich da hörte, aber ich fühlte plötzlich dieses tiefe Vertrauen zu diesem Mann. Er bestand darauf, dass man nichts glauben solle, bezeichnete sich selbst nicht als Lehrer, sondern als Kalyanamitta, was so viel wie ‚spiritueller Freund‘ bedeutet. Wenn man etwas nicht verstehen würde, riet er an, dann solle man es nicht gleich wegwerfen, sondern zur Seite legen und es irgendwann wieder hervorholen und kontemplieren. All das kam mir sehr entgegen.

Später hatte ich einen Traum, in dem er vorkam, welcher die Haltung symbolisiert, die er als spiritueller Freund einnahm: Ich träumte, dass wir gemeinsam einen Hügel hinaufgehen und oben angekommen, werde ich von einem unglaublichen Glücksgefühl durchflutet. Ich strecke meine Arme nach oben aus und helle Lichtstrahlen und Blitze strömen rechts und links von den Bäumen in meine Hände, in meinen Körper und laden mich mit diesem unglaublichen Glücksgefühl auf und ich fühle mich mit dem ganzen Universum verbunden. Als dieses Strahlen vorbeigeht, bin ich erfüllt von tiefer Dankbarkeit und großer Freude. Ajahn Buddhadasa steht ein paar Meter vor mir und ich gehe auf ihn zu, will ihn umarmen und mich bedanken. Er aber hält eine Hand hoch und sagt nur: „Ich habe nichts damit zu tun!“

Die zehn Tage waren vorbei und das Schweigen wurde ‚gebrochen‘.

Es war seltsam, dass ich das Gefühl hatte, viele der Teilnehmer gut kennengelernt zu haben, obwohl ich mit den meisten nie gesprochen hatte. Ich bedankte mich bei Santikaro, bei Ajahn Ranschuan, gab eine Spende ab, verabschiedete mich von dem ‚Engel‘, der nun ein ganz normaler Mensch war, von dem ‚blöden Franzosen‘, den ich wiedertreffen sollte, Jean war sein Name und wir wurden später Freunde.


Zurück auf die Insel

Der Bus würde bald nach Surat Thani abfahren.

Ich war bei mir, fühlte mich sehr gesammelt, mir fielen Dinge auf, die ich sonst nie beachtet hätte: ein Kieselstein am Wegesrand, ein Blatt im Wind, die bunten Farben der exotischen Blumen, Gedanken, Gefühle. Nichts störte mich, weder der Lärm der anfahrenden Mopeds noch die längere Wartezeit später an der Fähre. Ich hatte keine Eile, irgendwo hinzukommen, und doch war ich gespannt darauf, Anna wiederzusehen.

Auf der Fähre angekommen, legte ich mich auf meinen Platz und ohne, dass ich es wollte, kamen plötzlich die Bilder unserer ersten Begegnung in meinen Sinn.

Anna

Sie war damals gerade von München nach Berlin gezogen, um zu studieren. Eines Nachts hatte Anna ihren Wohnungsschlüssel vergessen und ihre Gastgeberin hatte ihr Klingeln nicht gehört. So machte sie sich auf ins Pressecafé am Zoo, wo man um diese Zeit schon frühstücken konnte.

An diesem frühen Morgen kam ich gerade von einer Party aus Spandau nach Hause. Müde war ich noch nicht und im Hinterhof brannte in Burkhards Wohnung noch Licht. Ich war hocherfreut, lud ihn zum Frühstücken ein und wir machten uns auf den Weg ins Pressecafé.

Dort angekommen, setzten wir uns an einen der Tische am Fenster und konnten so dem noch spärlichen Treiben auf den Straßen zuschauen. Wir waren gut drauf, lachten und scherzten, und zu erzählen gab es mit Burkhard immer etwas. Er gehörte in Berlin zu meinen besten Freunden. Die junge, hübsche, blonde Frau am Nachbartisch war uns nicht entgangen, auch nicht, dass sie da ganz alleine saß. Wir waren beide nicht wenig überrascht, als sie plötzlich zu uns rüberkam und fragte, ob sie sich zu uns setzen könne. Na klar doch, sehr gerne.

Dann die üblichen Fragen: Woher kommt ihr, was macht ihr, was machst du?, und wir legten los, uns darzustellen. Erzählten von unseren Drogengeschäften, dem Etablissement, in dem Frauen für uns arbeiteten, kleine Waffengeschäfte nebenbei – Anna glaubte nichts davon, mit Recht. Aber sie brauchte für diese Nacht einen Schlafplatz und ich lud sie ein, bei mir zu schlafen, vergaß aber nicht, ihr zu versichern, dass sie ein Bett für sich alleine haben könne, sogar ein eigenes Zimmer, da mein jüngerer Bruder Reinhold, der übergangsweise bei mir wohnte, gerade nicht da war. So machten wir das auch und ein paar Wochen später wurde Anna meine Freundin.

Irgendwann fragte ich sie, warum sie sich damals zu uns setzte, und sie meinte, wir hätten eine schöne Atmosphäre um uns gehabt und ihr gefielen meine Augen.

Und während sich alle diese Bilder aus der Vergangenheit vor meinem inneren Auge lebhaft abspulten, musste ich plötzlich lachen und freute mich umso mehr auf Anna.

Am Nachmittag erreichte die Fähre Koh Samui, das Sammeltaxi brachte mich zum Chaweng Beach, und ich erreichte unsere Bungalowanlage am frühen Abend.

Anna war in unserer Hütte und döste gerade ein wenig. Wir umarmten uns und freuten uns, einander wiederzusehen.

„Wie war es?“, wollte sie gespannt wissen, „und hast du eine Antwort auf deine Frage nach dem Sinn des Lebens bekommen?“ Ich versuchte ihr das alles zu erzählen, was mir aber nicht wirklich gelang. Irgendetwas hatte sich jedoch in mir verändert.

Ich wurde zum ständigen Beobachter meiner Gedanken und erschrak immer öfter bei der Erkenntnis, dass ich viele unbewusste Absichten hatte, von denen ich vorher nichts wusste, sogar bei den trivialsten Alltäglichkeiten.

Zum Beispiel sagte ich später zu Anna: „Lass uns einen Kaffee trinken.“ Und tief drinnen lauerte die Erwartung, dass sie jetzt losgehen, zwei Kaffee holen und sie herbringen solle. Dann bemerkte ich dieses Auftauchen der vielschichtigen Absichten immer mehr und fast ständig, und ich bekam einen Schreck nach dem anderen. Das war also damit gemeint, dass Achtsamkeit eine klärende Wirkung habe.

Es klopfte an unserer Tür und ein Italiener stand davor und meinte zu Anna, ob sie Lust habe, Volleyball zu spielen. Nein, hatte sie nicht, oder vielleicht doch? Sie erzählte mir, dass sie die letzten Tage oft Volleyball gespielt hatte. Ich erinnerte mich an den Satz: ‚Wenn du etwas Schönes hast, dann gibt es auch andere, die das schön finden.‘ Den kurzen, eifersüchtigen Gedanken schob ich gleich wieder in seine Ecke und besann mich auf die Gelassenheit, die ich im Kloster entdeckt hatte.

Am nächsten Morgen war ich, noch im Rhythmus des Klosters, früh wach, ging zum Strand runter, beobachtete die kleinen Wellen, die sanft, aber stetig gegen den Sand rollten, leicht aufschäumten und gefolgt von weiteren Wellen mit ihnen verschmolzen und wieder zurückflossen.

Während meiner Abwesenheit war eine Gruppe junger Leute aus dem Allgäu angekommen. Ich bemerkte eine junge Frau, die tänzelnd den Strand entlanghüpfte, direkt auf mich zu.

Sie lachte vor Freude und rief mir mit deutschem Akzent ein „good morning, how are you?“ entgegen. „Good morning“, antwortete ich und meinte, ob sie denn auch aus Deutschland sei. „Yes“, sagte sie, und ich war neugierig, was denn der Grund für ihre Freude war, ob ich denn irgendwo etwas verpassen würde?

„Wir machen heute einen Ausflug über die Insel, haben einen Jeep gemietet und fahren nachher gleich los.“ Ich wünschte ihr viel Spaß und ging später mit Anna frühstücken.

Am frühen Abend sah ich dieselbe Frau mit einer Whiskeyflasche in der Hand alleine im Sand sitzen, die Hälfte war schon geleert und Tränen rollten über ihr Gesicht.

„Was ist denn passiert?“, fragte ich neugierig und etwas besorgt, und sie meinte: „Wir hatten einen so schönen Tag heute und jetzt ist alles vorbei.“

Ich wollte ihr meine neu gewonnenen Weisheiten über Vergänglichkeit und Unbeständigkeit, über Anhaften und Loslassen nicht aufdrängen, sagte irgendetwas Freundliches zu ihr und ging zurück zu unserer Hütte, wo die folgenden Worte aufs Papier flossen:


In einer Welt …

… die ständig auseinanderfällt,

das ewige Bemühen, den Mangel auszugleichen.

… und das gezwungene Lächeln,

das den Schmerz des Menschseins übertünchen soll.

Was soll’s!?

Im Gleichschritt der Zeit ein Überdauern der Ewigkeit!?

Das wär’s.

Sogar sie ist zu überwinden.

Aber der Wind bewegt auch weiterhin

die Blätter – auch die geistigen,

und sie füllen den Raum.

Müde Gesichter im Blick nach hinten

und sorgenvolle in der Schau nach vorne.

Nichts bleibt zu tun.

Die Lasten können abgesetzt werden,

aber niemand scheint es zu interessieren.

Es ist eine Entscheidung,

doch worauf kommt es an?

Das Lachen eines Kindes

weiß nichts vom Morgen

und Schokolade

schmeckt niemals besser als jetzt.

Liebe und Hingabe ohne zweites Gesicht.

Das ist die Unschuld eines Kindes.

Es weiß (noch) nichts

und hat auch noch nicht vom Apfel

der zweifelhaften Erkenntnis genascht.

Die Teufel warten aber schon

ganz geduldig und ohne Eile,

und Engel hoffen im Hintergrund.

Das Locken ist mächtig,

das Ziehen und Drücken.

Überall ist alles

zu sehen, zu hören,

zu riechen, zu schmecken.

Beim Abschied, erst dann,

wird es fade und öde,

ausgelutscht, zerfallen und spröde.

Doch dann ist es einfach

nur das, was es ist.

Und hier natürlich auch

das, was es war.

Was bleibt, wenn alles geht?

Da lacht die Dunkelkammer

und öffnet das Licht.

Heiter soll’s aber auch sein,

und wenn

auch nur

ein wenig.

So kann’s bleiben?!

1 Ajahn: bedeutet auf Thailändisch allgemein Lehrer und wird Adschaan ausgesprochen

2 Dhamma: a. die Lehre des Buddha, b. die Natur und deren Gesetzmäßigkeiten, c. die Wahrheit uvm.

3 Vipassana: bedeutet klares Sehen

Als ich verlor, was ich niemals war

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