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Ambrosia

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Sie saßen lustlos in den Bänken, obwohl es die erste Stunde war. Einige hatten ihre Köpfe über ausgestreckten Armen auf den Tisch gelegt. Nicht einmal Schrimps rasanter Schritt und das Schlagen der Tür störte ihr morgendliches Phlegma. Er hatte ganz selten einen Grund über Disziplin zu klagen, im Gegensatz zu anderen Kollegen. Er hatte so seine Methoden.

»Wir drehen hier keine Doku über den Gammelfleisch-Skandal.«

Seine Schüler wussten, was er damit meinte und erst recht, wenn er ihnen eine Drohung mal nicht auf Plattdeutsch zumutete: Nur wer dieser Schule würdig sei, dürfe in diese Schule gehen. Schrimp klatschte hart in seine kräftigen Hände: »Auf geht's. Zeit, die Welt zu retten.«

Kaum einen Sekunde verging, da war von Phlegma keine Spur mehr, da flogen die Blöcke unter die Tische, ratzten zwanzig Stühle über das staubige Linoleum, um unter der Bank eingeklemmt zu werden. Bei diesem Wetter gingen die Schüler – Jungen wie Mädchen - gerne mit Schrimp in die Natur. Erstaunlich war, dass er an diesem Tag mit ihnen ging. Gewöhnlich reservierte er für Exkursionen die Doppelstunden. Heute hatten sie nur eine Stunde Biologie und heute war noch etwas anders.

»Was hat Schrimp gesagt?«

»Was er immer sagt. Zeit, die Welt zu entdecken.«

»Nein«, stritt Sebastian Hamm, »er hat was von retten gesagt.« Sofort flog ihm das Lästern der anderen entgegen.

»Hast wohl deinen Brummkreisel im Schädel mal wieder nicht abgestellt. Warum soll er denn was von retten gesagt haben?«

Auf der Hintertreppe, die über den Schulhof führte, stoppten Schrimps Schritte für einen Moment. Er schaute hinüber zum Damm, der entlang der Spree als Radfernweg ausgebaut worden war. Von hier aus in östlicher Richtung hatte die Schule ihr Biotop. Heute bog er aber nach Westen ein auf den schmalen, nur von Anliegern benutzten Trampelpfad zwischen den von Efeu umrankten Erlen, die Inka so mochte. Wenn die Morgensonne helle Streifen zwischen die dicken Stämme zauberte und die Spree im Dunst des Tages erwachte, geriet Inka regelmäßig ins Schwärmen sooft sie den Weg gemeinsam liefen. Auch er hat dafür ein Auge, aber an diesem Morgen bewegte ihn etwas ganz anderes.

Am Ende des Pfades, da wo der Rest einer kleinen Mauer die Ruine der alten Wollefabrik begrenzte, ließ er die Schüler warten. Schrimp zog einen Wust aus seiner Tasche; ineinandergelegte Atemmasken aus festem Textil und einige Gummihandschuhe.

Männliches Kichern und weibliches Kreischen durchbrach die Stille der Natur. Keines der Mädchen wollte ihr schönes Gesicht mit einer Maske verunstalten, gerade jetzt, wo sie einmal nicht frontal mit steifen Mienen vor ihm sitzen mussten. Jetzt waren sie auf Augenhöhe. Jetzt konnten sie ihm schöne Augen machen, ihre Körper strecken und sogar kleine Reize einsetzen. Jetzt heimsten sie jeden Blick von ihm ein, der sie traf und den sie deuteten, wie es einer jeden beliebte. Schrimp blieb hart. Er diskutierte nie lange herum. Jeder hatte einen Atemschutz anzulegen und Handschuhe überzustreifen. Nur diejenigen mit einer Latexallergie durften sich zurückhalten.

Noch war er nicht sicher, ob sie es herausbekommen würden, was er zuerst selbst kaum glauben wollte. Doch sein Verdacht bestand zu Recht. In diesem Sommer gab es reichlich Niederschlag. Zusammen mit dem salzigen Boden und der Wärme hatten die Pflanzen während der Ferienwochen einen rasanten Wachstumsschub erfahren. Jetzt würde kein Mensch mehr achtlos an ihnen vorbeigehen, aber gerade jetzt ging von der Pflanze eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Gesundheit aus.

An der Mauer stand ein beachtlicher Busch einer krautigen Pflanze, die von den Schülern sofort als Korbblütler erkannt wurde. Während Schrimp ihn aus allen Positionen fotografierte, stritten sich die pfiffigsten Schüler bereits über Gattung und Unterart.

»Beifuß«, mutmaßte einer.

»Wermut«, sagte ein anderer. Lehrer Fedder ließ beides nicht gelten. Er verwies auf die behaarten Stängel, die der Wermut nicht aufweise, sowie auf die dunklere und überdies behaarte Unterseite der Blätter. Also auch kein Beifuß.

Da war es wieder, das Köpfe-Rauchen der Klugscheißerchen, das er genoss wie ein alter Krauter seinen Priem. Trotzdem. Er musste schon einen sehr guten Tag haben, wenn er den Quenglern bestätigte, dass es sich um eine Art Traubenkraut handelte. Mehr verriet er nicht. Die ganze Wahrheit würde der Leistungskurs zutage befördern und dem musste er noch eine möglichst harte Nuss übrig lassen.

Für heute ließ er am Rest der Pflanze die Unverzagten verzagen, die Zweifler verzweifeln und die Interessenlosen sich langsam dafür interessieren. Alles wurde protokolliert, aber niemand kannte diese Pflanze: Gedrungen buschig. Dreifach gefiederte Blätter. Verzweigte Stängel, zuweilen rötlich. Fingerförmige, aufrecht stehende ährige Traubenblüte. Und in den Blüten reiften winzige Früchte, die Fedder in kleine Plastiktüten füllen ließ, ebenso wie noch vorhandenen Blütenstaub, Blätter und Stängelteile. Dann war die Stunde zu Ende.

Einer vom Leistungskurs, ein ziemlich redseliger, dicklicher Bursche mit Stoppelhaaren und Nickelbrille, der bei Projektarbeiten nie ein Ende fand und den Schrimp regelmäßig aus der Schule treiben musste, um keinen Zoff mit seinen Eltern zu bekommen, dieser Junge pirschte sich an Schrimp heran. Ob er vielleicht die Teile unter dem Mikroskop betrachten dürfe, er würde schon herausbekommen, worum es sich handelte. Eine Ahnung hätte er schon.

»Kümmt Tiet, kümmt Rat, Tobias«, sagte Schrimp in seinem unverwechselbaren Platt und wenn er up platt snackte, dann war er guter Dinge, das wusste jeder in der Schule. Schrimp schob den Jackenärmel über die Uhr zurück und drängte die Klasse zum Rückmarsch. Nur die Warnung – niemand solle sich einer solchen Pflanze ungeschützt nähern – die gab er allen mit auf den Weg. Dann wies er sie an, Hände und Gesicht zu waschen, bevor sie zur Essenpause gingen.

»Das ist ja wie bei den ersten Menschen.« Die Stimmen maulten weit weg im Zug der Klasse, die grüppchenweise zurücktrottete.

»Wieso? Hatten die ersten Menschen auch schon Lehrer?«

»Nee. Die lebten ja im Paradies.«

Ganz geheuer war Schrimp bei einem gewissen Gedanken nicht. Die Pflanze musste noch stehen bleiben, bis er Tags darauf der Parallelklasse die gleiche Nuss zu knacken vorgesetzt hatte. Aber danach müsste er sofort zum Amt, eine Meldung machen. Heute muss alles gemeldet werden, dachte er und erinnerte sich noch gut an die vermutete Salmonellengeschichte, die im letzten Sommer beinahe ein Chaos ausgelöst hatte. Für jeden unnormalen Stuhlgang, für jede Übelkeit und jeden verqueren Pups wurde ein extra Protokoll angefertigt. Es waren keine Salmonellen, aber der Aufwand war auch kein Problem gewesen. Sicher war sicher. Hier aber ging es auch um die Menschen da draußen, die gutgläubig die Blüten berührten oder gar pflückten.

Schrimp hatte vor, die nächste Pause im Lehrerzimmer zu verbringen, obwohl er dort selten zu finden war. Nicht weil er menschenscheu war. In seinem Kabinett im ersten Stock gab es immerzu etwas vorzubereiten. Diesmal kam er nicht umhin. Am Stundenplan hatte sich etwas geändert. Das war normal für den Schuljahresbeginn und er musste diese Änderung in seinem Plan korrigieren. Neuerdings konnte jeder sein Wehwehchen anbringen, seine Springstunden monieren. Nur auf Fächer mit notwendigen Exkursionen wie eine solche, die er soeben hinter sich gebracht hatte, wurde keine Rücksicht genommen. Den Stundenplan baute Krüger und er baute ihn im Sinne seiner Busenfreunde. Dazu gehörten weder Ole Fedder noch Aaron Barthels und ebenso wenig Fräulein Brown. Das war kein Geheimnis.

Die Atmosphäre im Lehrerzimmer war nicht gut. Stickige Luft und schlecht gelaunte Gesichter. Warum spürte Schrimp sie immer, wenn er von seinen Exkursionen kam? Lag es an den Stimmen der Schüler, die da draußen um einiges freundlicher klangen? Lag es an der sauerstoffreichen Luft in den Auen?

Im Lehrerzimmer war die Luft tatsächlich mies und die Ausdünstung so manch eines Saubermannes tat hier noch das Übrige. Eigentlich müsste man es denen mal sagen, dachte er. Es blieb beim Denken. Es war klüger, den Mund zu halten, wie er es ein Leben lang getan hatte und gut damit gefahren war. Wenn alle anderen der Geruch von Schweiß und Bettwärme nicht störte, warum sollte er das Maul aufreißen und den Groll aller ernten? Nicht einmal Aaron, den die Luft immer störte, monierte sie an diesem Tag.

Schrimp erfasste eine gewisse Situation mit ziemlichem Missmut: Aaron saß am langen Tisch, die Zeitung lag aufgeschlagen vor ihm, doch er döste wie abwesend vor sich hin. Sein flaches, ausdrucksloses Gesicht war ungewöhnlich rosig. Die Ärmel seines geblümten Hemdes waren ordentlich zugeknöpft und reichten bis zur Hälfte über die Handrücken. Fräulein Brown, die Englisch-Lehrerin im biederen Flanellkleid, aß eines der mitgebrachten Frühstücksbrote und hielt die linke Hand fortwährend unter ihr Kinn, um die Krümel aufzufangen. Heiner Bär, der Mathematiker, hob das rechte Knie mitsamt der ausgebeulten Jeans über das linke und beugte sich zum Chemiker Sven Krüger hinüber. Sie sprachen leise miteinander und dennoch hatte Schrimp das Gefühl, alle sollten hören was gesprochen wurde. Es ging um die Stelle des Stellvertreters von Direktor Mudrack, die wegen der anhaltenden Krankheit von Karl Müller zur Disposition stand. Krüger hatte nicht nur große Ambitionen; die Erwartung seines Aufstiegs schien berechtigt zu sein.

Arme Sau! Schrimp war vermutlich nicht der Einzige, der so dachte. Krüger gab sich viel Mühe, die Bitternis seines Lebens zu überspielen. Ein Dummejungenstreich kostete ihn einst sein linkes Auge. Hinter der teuren Designerbrille fiel es kaum jemandem auf. Nur wer es wusste, der sah es auch. Was aber jeder sah, das war die schräge Haltung seines schweren Kopfes, mit der er seinen Nachteil zu korrigieren versuchte. Und was jeder hörte, das war die Großspurigkeit in Krügers Reden.

»Na, Spaziergang beendet?« lästerte der, als Schrimp in der Tür erschien. »Biolehrer müsste man sein.«

»Soviel ich weiß, ist der Aufenthalt an der frischen Luft in einem Sanatorium wie diesem Verordnung«, konterte Schrimp, wohl wissend, was die übrige Schullandschaft der Stadt über das Konrad-Zuse-Gymnasium dachte. Krüger zog seinen Kopf gerade und wandte sich wieder Bär zu.

Als Aaron Schrimp bemerkte, streckte er seinen Körper, als erwachte er soeben aus einem langen Traum. Er zog einen kleinen bunten Schein aus der Tasche und legte ihn neben die Lausitzer Rundschau, direkt dorthin, wo die Lottozahlen der Mittwochsziehung abgedruckt waren. Sein Kopf ging mehrmals hin und her, ehe seine Lippen kaum hörbar formten:

»Nicht eine einzige Zahl stimmt.«

Am anderen Ende des Tisches ruckte Heiner Bär aus seiner Lauerstellung, die er nie aufgab, auch wenn er noch so brisante Gespräche führte: »Tröste dich«, kicherte er lauter als er bisher mit Krüger gesprochen hatte. »Deinem Sohn ging es damals genauso.« Zum Glück hatte er zu sagen unterlassen, was ihm bei Aarons Abwesenheit gerne aus dem Munde rutschte: Die gehören beide nicht an diese Schule. Schrimp wusste es, wie jeder es wusste. Und er sagte nichts dazu, wie jeder nichts dazu sagte.

Aarons Sohn war längst im Auslandstudium. Also konnte er in Mathe so schlecht nicht gewesen sein.

Wütend schlug Aaron die Zeitung zu. Er stand auf, um den Raum zu verlassen. An Schrimp kam er erst einmal nicht vorbei. Der legte großen Wert darauf, Aaron erhobenen Hauptes zu sehen und den Sticheleien, die er bestens kannte, mit Würde entgegenzutreten. Vielleicht aber war es nur seine Wiedergutmachung für die Kränkung ein paar Tage vorher.

Keiner von beiden wusste es in diesem Moment. Es war der Beginn all dessen, was noch folgen sollte und was Folgen hatte. Ganz sacht begann ein kleiner Kampf, der erste, den Schrimp je in diesem Hause führte. Ein Aufbegehren gegen die kleine Gemeinschaft der Verschworenen, die hinter vorgehaltener Hand witzelten, die dem Ruf eines unbescholtenen Menschen schadeten.

»Ich habe von deinem Erfolg gehört«, sagte Schrimp. »Alle Achtung. Du schaffst es noch zum ersten Professor dieser Schule. Eine anerkannte Koryphäe in unseren Reihen. Ehrlich, das täte diesem Hause mal gut.«

Der fragende Blick von Aaron, ehe der den Raum kopfschüttelnd verließ, war Schrimp nicht entgangen, ebenso die klappende Kinnlade von Sven Krüger. Zum Glück war Aaron nicht in der Stimmung zu fragen, was genau Schrimp gemeint hatte. Es wäre ihnen beiden nicht gut bekommen. Aber es hatte gewirkt. Ganz sicher hatte es gewirkt. Und diese Sicherheit verstärkte sich Tage später, als Sven Krüger ohne ersichtlichen Grund um Aaron herumscharwenzelte. Als Schrimp dazukam, ließ er von Aaron ab und begnügte sich damit, Schrimp auf die Pelle zu rücken:

»Schau dir das an.« Er pflanzte sich mit lauerndem Blick neben Schrimp auf und schaute mit schrägem Kopf dahin, wo Schrimp mit verkniffenen Augen und kleiner Schadenfreude hinschaute. Vom Fenster aus konnte man über die Straße auf einen alten Garagenkomplex blicken, an dessen Flanke alte Autoreifen aufgestapelt lagen, von wucherndem Unkraut umgeben.

»Warum ist Unkraut so unverwüstlich, während die edlen Pflänzchen der erstbesten Widrigkeit zum Opfer fallen?« Ob Schrimps Worte zu dem Bild gehörten, das Krüger meinte, oder zu dem Bild, das sich mit Aaron gerade verflüchtigt hatte, war für Krüger nicht auszumachen.

Natürlich kein Unkraut, dachte Schrimp. Wildkraut. Das paukte er den Schülern gehörig ein und das sollte auch er so gebrauchen, trotz übler Absicht. Aber für die üble Absicht wäre Wildkraut sehr unpassend gewesen. Was hatte Krüger wirklich gemeint?

Von irgendwoher war ein nicht sehr neues Auto gekommen, mit Heckspoiler und verbreiterten Felgen. Es hielt mit knatterndem Motor vor dem Haupteingang. Der Fahrer, vermutlich der Freund eines der Mädchen aus der Dreizehn, ließ lässig einen Arm aus dem Fenster baumeln, in der Hand die glimmende Zigarette.

Krüger spurtete neugierig zum kleinen seitlichen Fenster, aber Schrimp hatte nicht sehen können, welches Mädchen wenig später eingestiegen war. Nur das knatternde Geräusch des davonbrausenden Wagens hing noch lange in der Luft.

Er hatte nicht vergessen, wie es war, als er noch zur Penne ging. Kaum, dass jemand ein Fahrrad besaß. Kaum, dass man sich einem Mädchen auf weniger als einen Meter nähern durfte, um nicht beim Direx antanzen zu müssen … Diese Zeit war längst in die Vergangenheit gewichen, nicht die Gedanken. Die heutige Gesellschaft ist erstaunlich großmütig. Jeder darf leben wie er es für richtig befindet. Ein jeder bestimmt sein Risiko selbst, wenn er es denn kennt!

Schrimp steckte eine Hand lässig in die Jackentasche und lief die Treppe hinauf, zurück in sein Kabinett. Fertig war er mit seinen Gedanken noch nicht. Ist es gut so, wie es jetzt ist? Ihm kamen Inkas Worte in den Sinn. Warum jetzt? Hatten sie etwas mit der Freimütigkeit dieser Gesellschaft zu tun, mit dem selbstbestimmten Risiko. Oder vielleicht mit Aaron?

Wenn jeder lebt, wie er es für richtig hält, muss man sich nicht wundern, wenn Unternehmer Produkte in den Markt werfen, die auf Kosten unserer Gesundheit enorme Gewinne abwerfen..

Schrimp schüttelte sich, als müsse er erwachen. Nein. Keine Schwarzmalerei. Seine Gedanken hatten nur etwas mit Inkas Angst vor schadstoffbelasteten Lebensmitteln zu tun.

Vor dem Schrank mit den besonderen Exponaten ließ er diese Art Gedanken endlich davonfliegen. Hier hatte alles Hand und Fuß. Hier war er in seinem Metier. Er zog den weißen Arbeitsmantel über und füllte die gefährlichen Pflanzenteile aus den Plastiktüten vorerst noch getrennt in kleine Dosen, ehe sie als Präparate für das Mikroskopieren aufbereitet werden sollten: Samen, Pollen, Härchen von Stängel, Blättern und Blüten. Das waren dankbare Arbeiten für die wissenschaftlich-praktische Arbeit der Zehner. Im Präparieren schlugen die Zehner sich ziemlich wacker.

Während Margot Scherz sich im angrenzenden Unterrichtsraum mit den neuen Siebenern mühte, legte er selbst die großen Pflanzenteile, detailgetreu ausgebreitet, akribisch in die Presse, nachdem er noch einmal gezoomte Foto-Aufnahmen gemacht hatte. Damit zu warten, wäre Frevel.

Am Freitag war er früher als sonst auf dem Weg nach Hause. Inka hatte ihn gebeten, nicht so lange herumzumurksen, sondern zügig die Schule zu verlassen. Sie hatten sich vorgenommen, ihre Fahrräder, die sie zur Durchsicht gebracht hatten, wieder abzuholen. Am Wochenende stand eine Tagestour mit Freunden um den Spremberger Stausee im Programm, wo immer ein ausgiebiges Mittagessen abfiel, das den Frauen die Zeit am Küchenherd ersparte. Inka war nicht böse, wenn sie mal nicht kochen musste. Sie kochte gut, aber nicht selten hörte Schrimp ihr Klagen von der vielen Zeit, die die Zubereitung eines guten Mahles benötige, um ruckzuck verschlungen zu werden. Gewöhnlich vermutete er hinter Inkas Klage einen Seitenhieb auf seine Art zu essen. Er aß wesentlich schneller als sie und wartete nicht selten ungeduldig auf den Abgesang, um sich den wahrhaft interessanten Dingen zu widmen. Irgendwie hatte Inka auf andere Weise Recht. Hausarbeit war zeitraubend und uneffektiv. Seit die Kinder aus dem Haus waren, hatte sie eine passable Methode entwickelt, um stets Hausgemachtes auf den Tisch zu bringen und trotzdem nicht täglich am Herd stehen zu müssen.

Er nahm den Weg über die Spree, überquerte die Kollwitz-Brücke und lief geradeaus weiter durch den Puschkin-Park. Hier außerhalb der alten Stadtmauer verliefen im Mittelalter die Graben- und Wallanlagen zum Schutz der Stadt. Jetzt gab es hier einen gut gepflegten Grüngürtel um die Altstadt herum. Durch die Reihe der Sträucher und Bäume blinkte das Gegenlicht der hellen Fassaden jener Häuser, die von den Alteingesessenen keines Wortes gewürdigt wurden, die ihn aber, als er hierher gezogen war, geradezu fasziniert hatten. Diese Stadt war gesegnet mit Jugendstilbauten. Das Konservatorium war nur einer von vielen. Früher befand sich dort das einzige Gymnasium der Stadt, vorbehalten für Arbeiter- und Bauernkinder. Ein staatliches Eigentor für jene Proleten, denen der Staat einst die höhere Bildung zukommen ließ. Danach waren deren Kinder keine Arbeiterkinder mehr, standen nun vor den selbst gebauten Schranken und durften sie nicht passieren, um das Werk ihrer Eltern fortzuführen. Dieser Zustand engstirniger Reglementierung hielt viele Jahrgänge an. Schrimp grinste verschlagen. Das gehörte zur Geschichte, die zuweilen kuriose Geschichten erzählt. Vorbei.

Unter den Platanen und uralten Eichen saßen kleine und größere Gruppen Jugendlicher, deren Fahrräder auf der gut gepflegten Wiese wild durcheinander lagen. Am kleinen Hang zur Stadtmauer hin gab es eine Versammlung junger Mütter mit ihren Babys, die im Schutze ihrer Wagenburg die Kleinen stillten oder windelten. Dazwischen tobten ausgelassen zwei Hündchen und hinterließen krankmachende Exkremente, obwohl unweit eine der neuen Hundeservice-Stationen stand, wo man neuerdings eine Tüte für die Entsorgung ziehen konnte. Das Bild der Mütter hätte Inka gefallen, das Bild kotender Hunde wäre nichts für sie. Inka …

Seine Gedanken waren noch nicht zu Ende gedacht, als eine Frau auftauchte, die ihm bekannt vorkam. Keine Frage, sie kam direkt auf ihn zu. Konsequent und ohne lange Floskeln sagte sie in ziemlicher Erregung:

»Herr Fedder. Ist es wahr, dass Sie die Schüler giftige Pflanzen sezieren lassen?«

Vom dunklen Haar der Frau hing eine Strähne über die Schulter nach vorn bis über das Revers des hellgrünen Kostüms. Ebenso hellgrüne Augen versprühten jenen Unmut, den er bei dieser Art Frauen ganz und gar nicht mochte. Diese »Art« war jene, die von der Männerwelt als attraktiv bezeichnet wurde. Was aber war attraktiv an dieser Frau, wenn aus so köstlichen Lippen so grimmige Worte stürzten?

»Guten Tag«, sagte er. »So viel Zeit muss sein. «

»Hamm. Simone Hamm«, sagte sie und schien einen Augenaufschlag lang verwirrt zu sein. Das gefiel ihm. Er suchte in ihrem Gesicht und glaubte, es sähe sogar ein wenig beschämt aus. Das gab sich, als sie weiterzureden begann. »Ich denke, Sie wissen, wie es Sebastian geht. Und ich denke, Sie wissen, was Sie ihm und den anderen Kindern zumuten.«

Weil Schrimp nur still seinen Kopf schüttelte und sich zurechtzufinden versuchte, wurde sie schrill. »Beten Sie zu Gott, dass Basties Zustand nichts mit der Ambrosia-Pflanze zu tun hat. Aber wenn doch, dann treffen wir uns wieder. Schon bald.«

»Woher wissen Sie …?«

»Sie wissen offenbar nicht, was Sie anrichten können.«

Sebastian Hamm war seit diesem Schuljahr im Leistungskurs registriert, obwohl er nicht gerade das stärkste Pferd im Biostall war. Er galt aber bisher nicht als Schürzenkind, das sich an der Mutterbrust ausheulte. Natürlich war Schrimp der Zustand des Jungen bekannt. Natürlich hatte er in diesem Moment nicht im Mindesten daran gedacht. Es ging auch nicht um Mut oder Experimente, es ging um die Fähigkeit, die Natur zu erkennen und die richtigen Schritte einzuleiten, wenn Widrigkeiten erkannt werden. Und das zumindest hatte der Leistungskurs der Elfer inzwischen mit Bravur bewiesen.

»Soweit ich weiß, leidet Sebastian seit Langem unter unerklärlichen Symptomen. Von der Pflanze können die nicht sein, die gibt es erst seit diesem Sommer. Wir untersuchen das Terrain jährlich. Alles, was je dort wuchs, ist katalogisiert …«

»Dann legen Sie ab jetzt einen neuen Katalog an. Kategorie Eins: Wir treffen uns beim Direktor. Kategorie Zwei: Wenn das nichts nützt, ziehen wir zum Schulamt und weiter zum Amtsgericht.«

Die Nachmittagssonne stand schon schräg und schien ihm ins Gesicht. Er blinzelte und vielleicht sah es aus, als belächelte er ihre Sorgen.

»Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen.«

Nicht, dass allein ihre grünen Augen pure Galle versprühten, der Frau war eine gewisse Atemlosigkeit anzumerken. Noch ehe er sie aufklären konnte, die Entdeckung bereits ordnungsgemäß gemeldet und die Pflanzen auf Bitte des Amtes vorschriftsmäßig entfernt zu haben, eilte sie davon. Zurück blieb nur ein ganz gewisser Duft. Kein unangenehmer. Ein süßer, aber dezenter Duft.

Schrimp hob die Nase und ebenso die Schultern und er dachte, da könne er nichts machen. Hysterische Leute gebe es immer. Leute, die überall Gespenster sahen und alles infrage stellen mussten. Herrje, wie viele davon gefährdeten bereits den Alltagsfrieden. Aaron war auch einer von denen. Verständlich. Aaron hatte ein Problem und er suchte nach Schuldigen. Und diese Frau? Hatte auch sie ein Problem und suchte nach einem Schuldigen, ob der ins Raster passte oder nicht?

Aus dem Park kommend schritt Schrimp lang aus, ging am japanischen Teehaus vorbei, das mal wieder restauriert worden war. In boshafter Regelmäßigkeit fiel es den Vandalen zum Opfer, die nichts Besseres mit sich anzufangen wussten, als Unmengen von Unrat zu produzieren, Bierflaschen zu zerschlagen und Leute anzupöbeln. Dagegen waren seine Schützlinge die reinsten Lämmer, auch wenn ihr Wissensdrang zuweilen nervte, auch wenn ihre rosarote Schläue ihm manchmal die grüne Galle bescherte, auch wenn es Eltern gab, die ihren Krösus in Watte packen möchten, wie diese Frau Hamm. Manchmal fragte auch er sich, wie manch ein Schüler es schaffte, all seine Interessen zu bündeln oder gar im Besonderen auszuleben. Sebastian Hamm war so einer. Ob seine Eltern nur zu hohe Erwartungen hatten? Denkbar, bei dieser Mutter. Andererseits lagen gerade Sebastians Hobbys nicht eben dort, wo Menschen wie diese ehrgeizige Grille, die längst seinen Blicken entschwunden war, ihre Kronjuwelen aufzubewahren pflegen. Musikschule ja. Aber Karate-Klub? Oder diese Jazz-Band, vielleicht auch Hip-Hop oder Pop? Schrimp kannte sich da nicht so genau aus und nachdenken wollte er nicht länger, das Wochenende war zu kostbar für unnützen Ärger.

GIFT geschädigt

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