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Die Flucht

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Als Marie in den Lastwagen kletterte, schrillten alle Alarmglocken in ihr. Leider nicht eindeutig genug, denn sonst wäre sie nicht eingestiegen. Sie setzte sich neben den vollbärtigen, nach Bier stinkenden Fahrer. Verlegen sah sie ihn an, strich sich die blonde Strähne aus dem Gesicht hinter ihr Ohr.

»Vielen Dank, nett, dass Sie mich mitnehmen.«

Er lächelte sie mit einem breiten Grinsen an, dabei erkannte sie die Reste seines letzten Mittagessens zwischen seinen Schneidezähnen. Sie tippte auf Hühnchensandwich.

»Gerne, Süße. So ein nettes Ding wie dich kann ein Mann wie ich doch nicht im Stich lassen. Außerdem fängt es gleich zu regnen an, du wärst klitschnass geworden. Du hättest dich noch erkältet.« Dann fügte er noch hinzu: »Sieh mich einfach als deinen Retter an.«

»Okay, dann danke«, murmelte sie leise, er hatte ja auch Recht. Es sah nach einem bevorstehenden Wolkenbruch aus. Dicke Regenwolken hingen am Himmel.

Als Marie noch an der Autobahnauffahrt gestanden hatte, darauf wartend, dass ein Auto anhielt, war der frische Wind auf ihrer Haut deutlich zu spüren gewesen. Sie hatte so gehofft, dass jemand stehenblieb, um sie mitzunehmen. Nach einer Weile hatte sie beschlossen, egal, wer halten würde, sie stiege ein. Viel hatte sie nicht dabei, nur eine kleine Tasche und ihren Rucksack.

Der LKW bewegte sich, sie fuhren los. Marie quetschte sich in die Polster des Sitzes. Unauffällig sah sie sich im Fahrerhaus um. Dreckig und schmierig, diese Begriffe umschrieben genau den Zustand des Wagens. Das Zigarettenfach quoll über und einige Kippen lagen auf dem Boden vor ihren Füßen. Als sie nach unten schaute, sah sie eine halbleere Sandwichschachtel und sie schüttelte sich vor Ekel. Marie zog die Knie an sich heran.

»Hunger?«, fragte sie der Fahrer von der Seite.

Sie blickte ihn an und sah, wie er nicht sie, sondern mit seinem Blick in den Fußraum ihres Platzes deutete.

»Nein, danke. Mir ist schon schlecht.«

Oh Mist, hatte sie das jetzt laut ausgesprochen?

»Oh, ne ganz Freche. Du solltest etwas freundlicher zu mir sein, schließlich habe ich dich mitgenommen.«

Dabei sah er ihr in die Augen, dann auf ihre Beine. Arschloch!, zuckte es durch Maries Hirn. Sie ging nicht weiter auf seine Worte ein, blickte schweigend aus dem Fenster. Die Stadt war nicht mehr zu sehen, nur Wälder um sie herum. Es begann zu regnen, die Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Marie spürte, wie sie sich dabei entspannte. Der Fahrer sagte nichts mehr, er musste sich bei dem Wetter auf die Straße konzentrieren. Das war auch gut so.

Marie versank in Gedanken an ihre geliebte Mutter. Tränen füllten ihre Augen. Ihre Mutter hatte sich, seit Marie denken konnte, mit kleineren Kellnerjobs über Wasser gehalten. Sie hatten nicht viel gehabt, aber waren immer glücklich gewesen. Als Marie dann vierzehn geworden war, hatte ihre Mutter Oliver kennengelernt. Er war nett und liebevoll zu beiden gewesen und bereits nach kurzer Zeit hatte ihre Mutter ihn geheiratet.

Zuerst war alles gut gewesen, doch leider hatte ihr Glück nicht lange angehalten. Der Typ hatte sich vom liebenden Ehemann zum wahren Albtraum verwandelt. Ihrer Mutter war verboten worden, wegzugehen; selbst, wenn sie nur zum Einkaufen gewesen war, hatte er ihr eine Affäre unterstellt, sie mit seiner krankhaften Liebe erdrückt. Er hatte getrunken und sich immer mehr in Eifersucht und Verlustangst hineingesteigert. Am Anfang hatte sie es nicht ernstgenommen, sogar noch süß gefunden. Als es dann aber immer heftiger geworden war und Oliver förmlich ausgetickt war, hatten die beiden nur noch gestritten.

Einige Monate nach ihren siebzehnten Geburtstag war ihre Mutter in einem Hospiz an Krebs gestorben und Marie mit Oliver zurückgeblieben, denn weitere Verwandtschaft hatte sie nicht und auch nur wenige Freunde, durch die Krankheit ihrer Mutter war dafür kaum Zeit geblieben.

Schon nach kurzer Zeit hatte er sich seltsam Marie gegenüber verhalten. Nach der Schule war sie zu Hause geblieben, hatte gekocht und den Haushalt geführt, so, wie es ihre Mutter immer getan hatte, bis Oliver von der Arbeit kam. Er hatte ihr leidgetan, schließlich hatte er ihre Mutter geliebt, wenn auch auf eine krankhafte Art und Weise.

Letzte Nacht war es dann passiert, als Marie in ihrem Bett lag und schlief. Als Oliver sich zu ihr unter die Decke gelegt hatte, war sie erwacht und vom Schock wie betäubt, unfähig, sich zu rühren. Ist er jetzt völlig durchgedreht?, war ihr nur noch durch den Kopf geschossen, als er sich an sie geschmiegt hatte.

Als er zu weinen begonnen hatte, waren auch bei Marie die Tränen geflossen, aber dann musste sie feststellen, dass er mit der Hand unter ihr Nachthemd geglitten und sie gestreichelt hatte, was ihr absolut falsch vorgekommen war.

»Bitte nicht«, hatte sie geflüstert und seine Hand weggeschoben.

Doch er hatte sie einfach festgehalten, sie auf den Rücken gedreht und sich auf sie gesetzt.

»Du gehörst mir«, hatte er gezischt, sie mit glühendem Blick angesehen, doch dann von ihr abgelassen und das Zimmer verlassen.

Weinend war Marie zurückgeblieben und ihr wurde immer klarer, dass sie verloren war, würde sie bei ihm bleiben. So hatte sie am nächsten Morgen, als er auf der Arbeit war, die nötigsten Sachen gepackt und ihre Ersparnisse abgehoben.

»Zwei Wochen«, hatte sie sich gesagt. »Dann bin ich volljährig.«

Bis dahin musste sie sich vor ihm verstecken, so lange war er ihr Vormund. So hatte ihre Mutter es in ihrem Testament verfügt und das Jugendamt hatte keine Einwände gehabt. Danach war sie frei von ihm.

Der Regen prasselte immer noch auf die Scheiben. Müdigkeit überkam sie, im Traum sah sie ihre Mutter vor sich. Sie rief ihr etwas zu, doch Marie konnte es nicht hören.

»Was Mama, ich höre dich nicht.«

Ihre Mutter sah verzweifelt aus, rief immer wieder etwas. Doch es war mehr wie ein lautloses Flehen. Plötzlich befand sie sich im Bett, Oliver lag neben ihr, streichelte sie. Immer wieder schlug sie auf ihn ein.

Als Marie erwachte, war sie benommen. Wo war sie? Dann fiel ihr alles wieder ein. Ihre Mutter, Oliver, die Flucht. Irgendwas stimmte hier nicht!

Die Hand des Fahrers lag auf ihrem Oberschenkel und war fast in ihrer Jeansshorts verschwunden.

»Lassen Sie das!«

Marie schlug die Hand weg.

»Ich möchte dir keine Angst einjagen, nur du hast so tief geschlafen«, grinste er sie an. »Du siehst so heiß aus in den Shorts, da konnte ich nicht anders.«

Die Hand wanderte wieder auf ihr Knie. Schwer und rau fühlte sie sich an.

»Fassen Sie mich nicht mit ihren Drecksfingern an! Ich will sofort aussteigen!«, schrie Marie ihn an, schlug wieder auf seine Hand. Sie blickte ihn in die Augen. Etwas Eindringliches lag in ihnen, aber auch ein Hauch von Resignation.

»Okay, beruhig dich«, sagte er mit fester Stimme.

Jetzt bemerkte Marie, dass es dunkel war, auf der Gegenfahrbahn schossen die Autos mit grellem Licht an ihnen vorbei. Er sah sie immer noch an. Marie fühlte, wie er in den Gegenverkehr kam. Lichter rasten auf sie zu.

»Aufpassen!«, schrie sie ihn an.

Er griff nach dem Lenkrad, riss es herum, zurück auf die richtige Spur.

»Hoppla«, sagte er nur, als er den LKW wieder unter Kontrolle bekam, begleitet vom Hupen der Autos, die ihm ausweichen mussten. »Bleib locker, ist doch nichts passiert«, grinste er sie nur an.

Maries Herz hämmerte, der Adrenalinschub raste durch ihren Körper.

»Sie perverser Scheißkerl, Sie hätten uns fast umgebracht. Beim nächsten Rastplatz möchte ich, dass Sie mich rauslassen!«

Marie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen.

»Okay Süße, wenn du es willst. Hey, ist doch nichts passiert, bisschen Action, mehr nicht.«

Dabei grinste er und machte das Radio lauter. Das war knapp gewesen, erkannte Marie.

Dieser Vollidiot, beim nächsten Rastplatz steige ich aus, such mir eine andere Fahrgelegenheit. Am besten eine Frau oder ein Paar. Auf keinen Fall will ich sowas nochmal erleben, dachte sie.

Marie wusste, er würde es nicht noch einmal versuchen. Zumindest redete sie sich das selbst ein, um ihr Gewissen zu beruhigen. Das hatte ihr in ihrem bisherigen Leben oft geholfen. Er hätte ja auch, als sie geschlafen hatte, anhalten können, um sie zu vergewaltigen. Hatte er aber zum Glück nicht, doch das Risiko war ihr zu hoch.

Sie fuhren weiter, nach kurzer Zeit tauchte ein Schild auf. Die Rettung! Eine Tankstelle! Der Fahrer blinkte rechts, fuhr an die Tankstelle und hielt neben einer Zapfsäule.

»So Süße, Endstation. Wenn du willst, nehme ich dich aber gerne noch weiter mit.«

Er stellte den Motor ab.

»Ich weiß nicht«, hörte Marie sich sagen. Sie war müde, kaputt. Der Blick nach draußen verriet ihr, der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Außerdem war es spät. Wer wusste, wer sie mitnehmen würde?

»Na, dann überlege es dir nochmal. Ich muss tanken und aufs Klo.«

Er lächelte sie an, stieg aus und machte sich an der Tanksäule zu schaffen. Marie blieb zurück und beobachtete ihn.

Was soll ich tun?, überlegte sie. Ihr fiel die Hand auf ihrem Schenkel wieder ein. Nein, ich muss hier raus, flüsterten ihre Gedanken.

Der Fahrer ging in den Verkaufsraum, um zu bezahlen. Als er außer Sichtweite war, schnappte Marie sich ihre Sachen, öffnete die Tür und sprang auf den Boden. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass kein weiteres Auto in der Nähe zu sehen war. Wohin?

Am Ausgang der Tankstelle sah sie links ein paar Mülltonnen stehen, dahinter versteckte sie sich. Ihr Herz pochte, als sie ihn aus dem Verkaufsraum kommen sah und auf den LKW zusteuerte. Er stieg ein und ließ den Motor an, kurbelte sein Seitenfenster herunter. Das Licht im Führerhaus ließ ihn deutlich sichtbar werden. Der Mann schaute sich um, aber konnte sie nicht entdecken. Er zuckte mit den Schultern und fuhr los.

Marie war erleichtert, verfolgte die Rückleuchten sie mit ihrem Blick bis auf die Autobahnausfahrt.

»Er ist weg«, flüsterte sie erleichtert.

Doch was sollte sie jetzt tun? In die Tankstelle gehen? Dort war es wahrscheinlich warm und sie war vor dem Regen geschützt, der wieder einsetzte. Oder doch eher auf ein Auto warten und hoffen, dass sie jemand mitnahm? Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie lange würde warten müssen.

»Was machst du da?«

Ein Junge stand plötzlich vor ihr. Groß, braune längere Haare. Seine blasse Haut konnte sie trotz der Dunkelheit erkennen, in der Hand hielt er einen Müllbeutel.

»Du Idiot, hast du mich erschreckt!«

Marie pustete, strich sich dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich dich? Was soll ich denn bitte sagen? Du lungerst hier hinten zwischen den Mülltonnen rum!« Er sah sie vorwurfsvoll an, dann schmiss er den Müll in die Tonne. »Also, was machst du hier?«, fragte er neugierig.

»Hast du den LKW-Fahrer gesehen, mit dem bin ich mitgefahren. Er hat mich angegrabscht, ich dachte, hier wäre die beste Gelegenheit zum Abhauen.«

Der Junge sah sie an.

»Oh, aber du gehörst nicht hierhin.«

Was sollte das denn? Natürlich gehörte sie nicht hierhin. Marie wusste noch nicht mal, welcher Ort das hier war.

»Nein, ich bin auf der Durchreise. Ich bin auf der Flucht. Sozusagen. Hier ist ja nicht viel los. Wie hoch, meinst du, sind die Chancen, dass jemand hier anhält, und tankt?«

»Schau dir doch die Tankstelle mal an, hier halten kaum Leute, vor allem kommt keiner um die Zeit.«

Die Tankstelle sah in der Tat alt und etwas heruntergekommen aus.

Toll, dachte Marie.

»Du brauchst eine Schlafgelegenheit. Bei uns kannst du nicht bleiben, du musst hier weg, bevor mein Alter dich hier erwischt …«

Eine Tür ging auf. Er drückte sie gegen die Tonne.

»Tim, was treibst du da? Komm rein!«

Der Mann, der dort sprach, hatte eine kratzige Stimme, hustete heftig. Das hörte sich nicht gesund an.

»Paps, ich komme gleich. Geh wieder rein.«

Tim drehte sich zu Marie und kam etwas näher.

»Hinter der Tankstelle ist ein Wald, geh dort hinein, du musst dich geradeaus halten, dann kommst du zu einem verlassenden Haus. Da sieht dich keiner. Es liegt zu weit ab von der Autobahn.«

»Tim, los rein«, der Mann hustete wieder.

Tim drehte sich um, lies sie alleine zurück. ›Wie unheimlich‹, dachte Marie. Was war das denn? Nur Verrückte. Wieso sollte sie sich in einem verlassenden Haus verstecken? Wie kam er darauf? Sie sah zu dem Wald links von ihr hinter der Tankstelle, dann auf die Autobahn.

Weit und breit waren keine Lichter von irgendwelchen Fahrzeugen zu sehen, was Marie sehr seltsam vorkam. Eine so verlassene Autobahn hatte sie noch nie gesehen.

Marie seufzte, griff in ihren Rucksack, holte ihre Taschenlampe raus und lief in den Wald hinein.

Das Mädchen im Haus

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