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Ive

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Staubsaugen.

Ich, ein Mann von bald vierzig Jahren, krieche jeden Morgen unter Tische und Stühle, um die Essensreste von fremden Leuten wegzusaugen. Jeden Morgen ziehe ich dieses Gerät durch den Saal, schiebe alles hin und her, damit ich jede noch so versteckte Stelle erreiche, damit alles sauber und frei von Krümeln und Dreck ist.

Wenn meine Mutter mich so sehen würde? Ihr geliebter Sohn saugt Essenreste auf. Und das auch noch an einem Sonntag. An jedem Sonntag. Anstatt mich für die Kirche zurechtzumachen, mich auf einen freien Tag zu freuen, schiebe ich dieses Ungeheur hinter mir her und sauge die Speisereste von anderen auf.

Verfluchtes Schicksal.

Aber nicht mehr lange, mein lieber Ive, nicht mehr lange!

Noch ein, zwei Jahre und dann hat es sich ausgesaugt. Dann wird Ive wie ein echter dalmatinischer Herr seine Sonntage genießen, in die Kirche gehen, in Ruhe Mittagessen, am Nachmittag balote spielen. Nur noch ein, zwei Jahre. Nur noch kurz, nur noch ein wenig mehr und dann haben wir es geschafft. Wie heißt es doch in dem einen Lied, man muss fremde Früchte kosten, neue Länder entdecken, seinem Stern folgen und dann zurückkehren. Ich folgte ihm. Und folge ihm immer noch! Schau an, wo ich gelandet bin. Beim Staubsaugen. Unterm Tisch.

Zum Teufel mit den Sternen, den fremden Früchten und den neuen Ländern! Und dem Gejammer! Was hätte ich gehabt, wäre ich zu Hause geblieben? Vielleicht Schuhe an den Füßen. Und auch das nur mit Mühe und Not. Hunger hätte ich gehabt. Unglück. Ja, ich muss sonntags saugen, aber dieser Boden gehört mir. Und jeder Tisch, jeder Stuhl, das gesamte Geschirr und auch der verdammte Staubsauger. Und die Pfennige und Deutschmarks, die ich unter den Stühlen und Bänken finde. All das gehört mir! All das hab ich mir erarbeitet, mit meinem Geld gekauft. Niemand sagt, ´Ive, geh staubsaugen´, niemand gibt mir Befehle. Ich bin mein eigener Herr. Ich bestimme, wann geöffnet wird, wann gesaugt wird, wer, was zu tun hat. Ich hab den Geldbeutel in meiner Hosentasche.

Zum Teufel mit dem Kirchgang.

Natürlich gehen sie heute in den Gottesdient, sie haben sich fein gemacht, ruhen sich aus, aber ach, wenn das Dach erneuert oder Strom verlegt werden muss! Dann? Dann kommen sie zu mir, dann muss Ive helfen. Ive ist ja in Deutschland, er hat Geld. Hier hängt das Geld nämlich an den Bäumen, wir müssen es nur pflücken und ihnen geben. Keiner fragt, ´Ive, hast du etwa auch sonntags arbeiten müssen? Ach, Ive, du hast es so schwer´. Niemand sagt das, niemand denkt an mich!

Zum Teufel mit ihnen!

Es ist schwer, es ist hart, aber das Geschäft läuft gut. Ich will nicht jammern. Die Gäste kommen, lassen gutes Geld da, mein Geldbeutel ist jeden Abend voll. Die Beine tun mir weh. Und der Magen. Aber mein Geschäft läuft gut!

Und gleich kommen die ersten Hungrigen, sie wollen um halb zwölf scharfe Zwiebel essen. Wer hat sich bloß scharfe Zwiebel ausgedacht? Und wo zum Teufel isst man in Jugoslawien scharfe Zwiebel? Aber die Gästen lieben sie. Sie versauen sich sogar das ganze Esssen mit scharfen Zwiebeln. Solange es umsonst ist, lieben es die Deutschen. Ich geben ihnen ihre Zwiebel, hauptsache sie kommen und lassen ihr Geld hier bei mir.

Wie es wohl heute laufen wird? Die letzten Sonntage waren wirklich gut. Wie viel hatten wir letzte Woche? Fünftausend? Fünftausend ist ´ne Menge Bier.

Wenn nur jeder Tag wie ein Sonntag liefe, dann würde es nicht mehr lange dauern, und ich könnte endlich nach Split!


„Ane, ist der Schank voll? Schau mal genau hin, mein Herz. Nicht, dass wir später dauernd runter rennen müssen.“

„Ist alles da.“

Gut. Gut.

„Meri, wie viele hast du schon? Schätzchen, fang langsam an, die Servietten aufzustellen. Ist schon kurz vor elf.

Frau, ist der Grill an?“

„Du hältst mich wohl für bescheuert. Geh und kümmere dich um deine Arbeit.“

„Frane, wie gehts? Du hast gestern Abend wieder gefeiert? Mein lieber Mann, als ich in deinem Alter war, war kein Nachtclub vor mir sicher. Wo gesungen und gefeiert wurde, da war auch ich. Und, wie war´s?“

„Was soll ich dir erzählen! Ein Irrenhaus. Wie immer. Sobald Mandrilo auftaucht, gibt´s kein Halten mehr. Der Mann kann feiern.“

„Mandrilo. Ja, der kann feiern. Der kann feiern! Nur an seine Frau und seine Kinder kann er nicht denken.“


Wir haben früher auch die Nächte durchgetanzt und durchgesoffen und sind wieder um zehn, elf im Geschäft gewesen. Heute geht das nicht mehr. Das würde ich nicht aushalten. Und so wie Mandrilo jede Nacht feiern, das Geld aus dem Fenster werfen, nicht nach morgen fragen. Keine Sorgen, keine Ängste, keine Ziele! Aber die arme Frau. Meine würde mir sofort die Hölle heiß machen. Wenn ich zwei Nächte nicht nach Hause käme und dabei die Einnahmen der letzten Woche verzockte, sie würde mir die Kehle durchschneiden. Wie einem müden Hahn. Mir ein Messer ins Herz rammen. Ohne zu Zögern. Sie würde es tun. Sie würde mich umbringen.

Nein, so wie Madrilo, das könnte ich nicht. Das hier ist kein leicht verdientes Geld, das weiß jeder, der es einmal versucht hat. Jeden Tag zwölf, vierzehn Stunden lang auf den Beinen sein. Stehen, rennen, stehen. Nur an den Gast denken. Keine Zeit zum Essen, keine freie Minute. Bitteschön, Dankeschön, Auf Wiedersehen.

Nein, das ist keine leichte Arbeit.

Und dann alles verprassen?

Das ist auch kein Leben!

Wir haben gut verdient in den letzten Jahren, wir haben einiges gespart. Nur noch ein, zwei Jahre und wir können nach Split!

Wenn das Geschäft weiter so gut läuft, sind wir in ein, zwei Jahren auf der sicheren Seite. Wir machen das Haus fertig, kaufen noch eine Wohnung in Split, eröffnen ein kleines Café, am besten an der riva. Cafés laufen dort immer gut. Ich schau für ein paar Stunden am Tag rein, kontrolliere die Kasse und gehe wieder.

Leben wie ein echter Herr!

Ich hab genug in meinem Leben gearbeitet.

Als Kind habe ich die Felder bestellt, den reicheren Bauern geholfen. Geschuftet, um einen Pott Mehl oder zwei Tassen Milch zu verdienen, damit die Mutter den kleineren Geschwistern etwas zu essen geben konnte. Mit dreizehn hat mich mein Vater nach Slowenien mitgenommen. Kanäle ausgraben, Straßen bauen. Im Winter. Bei jedem Wetter. Der Regen prasselte mir ins Gesicht, ich konnte nichts sehen, ich fror und hatte Hunger, aber ich musste weiterschaufeln. Er hat mich nicht gefragt, ob ich mitkommen will. Er sagte nur, zieh dich an, wir gehen arbeiten. Du bist alt genug.

Fünf Kinder, alle hungrig. Ich, der älteste.

Verfluchte Armut.


„Sehr schön, mein Schatz. Die Tische sehen fabelhaft aus. Geh jetzt zur Mama und hilf ihr. Ane, mein Herz. Wie geht´s dir? Das wird ein guter Sonntag, du wirst sehen. Wenn du heute gut arbeitest, kriegst du zwanzig Mark von mir!“


Es wird ihr nicht schaden, ein wenig zu arbeiten. Wir müssen alle arbeiten. Sie soll nicht denken, dass es im Leben irgendetwas umsonst gibt. Erst recht nicht in Deutschland.

Ich hatte mit vierzehn nicht einmal ein eigenes Bett. Mit meinem kleinen Bruder musste ich auf der Strohmatratze schlafen. Sie haben heute alles. Eine warme Wohnung, sie können zur Schule gehen, sie haben genug zu essen, genug anzuziehen. Sie muss wissen, dass so etwas nur durchs Arbeiten kommt. Fran und ich schaffen den Saal und den Schank nicht alleine. Wenn sie uns die Getränke vorbereitet, sind wir schneller. Am Tresen arbeiten ist nicht schwer. Sie sollen lernen, wie diese Arbeit gemacht wird. Vielleicht können sie den Laden übernehmen, wenn wir gehen? Nein, sie sind zu jung. In ein, zwei Jahren sind sie noch zu jung.

Und wenn wir läger bleiben? Ein echter Familienbetrieb. Balkan Grill arbeitet so. Marko, seine Frau, seine beiden Söhne und die Schwiegertochter, sie arbeiten zusammen, das Geld bleibt in der Familie und allen geht´s gut. Sein eigener Chef sein, in seinem eigenen Haus arbeiten, das ist goldwert. Der Geldbeutel immer in deiner Hand!

Ich möchte ihnen so gerne all das ersparen, was wir am Anfang durchmachen mussten. Arme, ungebildete Bauernkinder. Wie sie uns nur rumgescheucht haben! Wir hatten ja gar keine Ahnung, auf was wir uns eingelassen haben. Wir waren dumm, ahnungslos, roh. Kein Wort Deutsch. Und von der Gastronomie verstanden wir nichts. Und sie schubsten uns, brüllten uns an, nannten uns ´Idiot, Dummkopf, Bauernsohn

Und sieh mich jetzt an! Der Bauernsohn hat ein eigenes Restaurant, trägt ein gebügeltes Hemd, ist parfümiert, macht Tausende von Mark Umsatz in der Woche, fährt einen Mercedes und hat ein Haus in Split.

Der Bauernsohn hat seine Familie und die seiner Frau gerettet. Deren Häuser ausgebessert, vor dem Hunger und der Schande bewahrt. Die Geschwister ausgebildet. Meine Schwester ist heute stellvertretende Hoteldirektorin in Opatija. Das hat sie mir zu verdanken. Ich habe ihre Schule bezahlt, ihre Buskarte, ihre Schuhe und die Arbeitsuniform. Als ob mein Bruder es geschafft hätte, auf den größten Schiffen der Welt zu arbeiten, wenn ich nicht die Agentur geschmiert, ihm die Fahrkarte gekauft und noch ein paar Hundert Mark in die Tasche gestopft hätte. Nein, er würde noch immer ein ganz gewöhnlicher Bauernsohn sein und die Felder beackern. Und mit den beiden anderen war es genauso.

Ich, Ivan, habe sie alle aus der Armut befreit.

Dafür hat Ivan von 1972 bis 1985 ohne einen einzigen freien Tag durchgearbeitet.

Danach fragt keiner.

Dreizehn Jahre lang ohne einen einzigen freien Tag!

Gut, die paar Tage im Sommer. Aber was sind schon ein paar Tage. Du fährst los, kommst an, verteilst Geschenke und fährst wieder zurück. Nein, Urlaub war das nicht.

Und als ich später in Balkan Grill oder in Split Grill einen freien Tag hatte, dann bin ich zu Manda und habe bei ihr gearbeitet.

Heute ist alles anders. Heute haben wir montags Ruhetag. Der Mensch braucht einen freien Tag. In ein, zwei Jahren wird Ivan aufhören zu arbeiten und jeden Tag frei haben.


Alles ist fertig, alles ist schön.

„Hast du den Fisch rausgeholt? Du weißt, Forelle Blau kommt noch vor zwölf.“

„Kümmere du dich um deinen eigenen Kram.“


Da sind sie ja schon. Räuberteller und seine Mutter. Gute Gäste. Mittagessen um halb zwölf. Seitdem sein Vater tot ist, kommt er auch mittwochs. Der alte Hans war von Anfang an Stammgast. Immer Grillteller mit extra Speck, dazu drei Schultheiss, ein, zwei Schnäpse. Guter Gast. Mehr als zehn Pfennig Trinkgeld gab es aber nie. Alter deutscher Geizkragen. Aber dafür gab mir Irmgard immer die Hand zum Abschied. Mit einem Fünf-Mark-Schein drin. Immer hatte sie einen Fünf-Mark-Schein dabei. Räuberteller spart nicht. Jetzt, wo der Alte tot ist.

„Guten Tag. Wie geht es Ihnen? Sehr schön. Wunderhübsch. Wie immer? Räuberteller mit extra Speck und kleine Puszta-Platte. Kommt sofort.“


Beneidenswert. Gute neuzig Jahre alt, immer in bester Kleidung. Aufrecht, elegant. Sie ist dreißig Jahre älter als meine Mutter. Sie könnte sogar ihre Mutter sein! Wenn man die beiden aber nebeneinander aufstellen würden? Welten! Sie hat immer in Berlin gelebt, sie weiß nicht, was Armut ist! Und sie weiß auch nicht, was es heißt, den ganzen Frühling und Sommer auf dem Feld zu verbringen. Verbrannte Haut, kaputter Rücken.

War meine Mutter jemals beim Frisör? Wenn ich das nächsten Mal zu Hause bin, gehe ich mir ihr zum Frisör!


„Ane, sag Mama, Forelle blau kommt.“


Eine echte Dame. Frisiert, Goldschmuck. Jeden Sonntag Mittagessen um zwölf. Forelle blau und zwei Gläser Weißwein. Immer der gleiche Tisch. Und seit Jahren allein. Sie war verheiratet. Seit wann ist der Mann tot? Geld hat sie. Schau sie dir an. Diese Kleider, der Schmuck. Und immer Trinkgeld ab zehn Mark aufwärts.

„Guten Tag, junge Frau. Wie geht es Ihnen heute? Sie sehen fabelhaft aus. Eine schöne Brosche tragen Sie heute.“

Immer reden, immer blubbern, immer unterhalten.

„Aha. Tatsächlich! Wirklich wahr? Sehr interessant. Wie immer? Kommt sofort.“


Tisch elf will zahlen, Guten Tag, Auf Wiedersehen, Dankeschön, zwei Schultheiss, ein Kadarka, ein Orangensaft, die Balkan-Platte wird kalt, zwei Tassen Kaffee, jawohl. Kassette umdrehen. Bier anschließen, zwei Slivowitz aufs Haus, extra Đuveđ-Reis, Dankesehr, Scharfe Zwiebeln, Krautsalat, Auf Wiedersehen.


„Ane, räum die Tische ab.“


Zwei Kruškovac. Das Geschäft läuft. Alle Tische voll. Neue Gäste sind gut. Jeder macht seine Arbeit. Die Küche ist schnell, Trinkgeld ist gut. Ein guter Sonntag. Wenn es heute abend auch so gut läuft, dann bin ich zufrieden. Dann war es ein guter Sonntag!


„Frau, gib uns was zu essen! Denk nicht nur an die Gäste. Wir sind auch noch da!“

„Sind etwa alle Gäste weg?“

„Nein. Aber nur drei Tische. Und die haben schon gegessen. Lass uns auch essen, es ist schon drei.“


Sobald ich mich hinsetze, kommen sicher die nächsten rein. Die Kinder haben Hunger. Das Personal muss zu Mittag essen. Nicht, dass es später heißt, der geizige Ive gebe ihnen kein Mittagessen.

„Oh, was für eine Überraschung. Guten Tag, mein Freund. Welcher Wind bringt euch hierher? Wir wollten uns gerade hinsetzen und Pause machen. Setzt euch! Was darf ich euch bringen? Anka, Drago und Slava sind hier.“


Das ist ein Leben! Sie arbeiten beide bei Siemens. Nur acht Stunden am Tag. Mit Mittagspause. Haben die Wochenden frei, bekommen Weihnachtsgeld und gehen zur Kur. Sonntags kommen sie gutgekleidet Freunde besuchen, trinken Kaffee, essen Palaćinke mit Vanilleeis. Wenn ich so eine Arbeit hätte, würde ich auch in Deutschland bleiben wollen. Eine ruhige Arbeit, festes Gehalt und am Ende des Tages musst du dir keine Gedanken machen, ob der Strom bezahlt wurde, ob du alle Waren verkaufen kannst, ob die Gäste wieder kommen, ob noch etwas für dich übrigbleibt, wenn alle Rechungen bezahlt sind. Aber wie sollte ich Bauernsohn zu Siemens oder Krone oder Telefunken gelangen? Wobei, auch dort gibt so einige unserer Bauernsöhne und Bauerntöchter!

Drago kam als gebildeter Mann nach Deutschland. Abitur in Novi Sad, Studium in Belgrad. Wie weit war ich von einem Studium entfernt? Ein Studium? Was rede ich, Abitur war schon unerreichbar. Wer aus meiner Dorfgeneration hat überhaupt Abitur gemacht? Hätte ich meinem Vater gesagt, ich will Abitur machen, er hätte mir ohne zu zögern eine verpasst, noch einen Arschtritt hinterher und dazu noch gerufen: ´Da, jetzt hast du dein Abitur´.

Doch. Petar, Paves Sohn, er war mein Jahrgang und hat Abitur gemacht. Er ist Ingenieur in Rijeka. Wie hätte ich mich mit Petar messen sollen? Pave war bei den Partisanen. Später ein echter Kommunist. Pave hatte alle Privilegien und war der mächtigste Mann im Dorf. Und wo war mein Vater? Mein Vater ist zu den Italienern rüber, weil sie Nudeln verteilt hatten. Diese ärmlichen, ausgehungerten Jugendlichen sind dorthin gelaufen, wo es was zu essen gab. Wäre er bloß zu den Partisanen gegangen, dann hätten wir alle es besser gehabt. Ich hasse Nudeln.


Forelle blau erzählte mir heute Morgen, dass sie die Brosche, die sie heute trug, von ihrem Mann zur Verlobung bekommen hat. Und zwar an dem Tag, als der Kaiser den Russen den Krieg erklärt hat! Ich hab natürlich so getan, als würde ich alles verstehen, aber ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Welcher Krieg? Welcher Kaiser? Hitler war doch kein Kaiser?“

„Sie meint den Ersten Weltkrieg. 1914. Da hatte Deutschland noch einen Kaiser.“

„Siehst du, Ane, was es heißt, wenn einer in der Schule aufpasst. Drago weiß so was.“

„Ich wusste es auch.“

„Mein schlaues Kind. Ich hab in der Schule nichts gelernt. Es war wichtiger, Schafe zu hüten. Wenn wir überhaupt Schafe hatten. Wer Schafe hatte, der galt ja schon als reich.“

„Lass doch die Schafe in Ruhe. Iss, solange niemand kommt.“

Essen auf die Schnelle. Ich habe mir das Kauen abgewöhnt. Ich schlucke nur noch. Ich sauge mein Essen ein, ich esse gegen die Uhr, gegen die Tür, die jeden Augenblick aufgehen kann. Dann springe ich wieder auf und rufe ´Guten Tag. Wie geht es Ihnen´? Ich lasse meinen Teller liegen, bringe den Gästen die Karte, sie bestellen die Getränke. Ich bringe ihnen die Getränke, sie bestellen die Speisen. In dieser Zeit ist mein Essen kalt geworden. Im Stehen nehme ich noch einige Bissen und schiebe den Teller durch die Schankluke in die Küche. Meinem Magen geht es nicht gut. Jeden Tag das gleiche. Seit wie vielen Jahren habe ich nicht mehr in Ruhe gegessen? Immer dieses Aufspringen. Jeder Gast ist wichtiger als ich. Wir springen alle auf. Anka, das Personal, nur die Kinder dürfen zu Ende essen.

Mit Freunden in Ruhe essen, danach ein Gläschen trinken, einen Kaffee. Reden, Lachen, Spazierengehen. Balote spielen. Gott, was ist das für ein Leben? Seit Jahren war ich nicht mehr in der Rehberge balote spielen. Einen Sonntag so begehen, wie Gott sich das vorgestellt hat. In die Kirche gehen, ein gutes Mittagessen, danach eine Runde über die riva, Leute treffen, balote spielen. Wie lange noch? Wie weit ist das weg?

„Ive, heute Abend feiert Der lustige Bosnier Geburtstag. Wir haben genug Bier, oder?“

„Es wird genug sein, Frau. Mach dir keine Sorgen. Wie läuft es eigentlich in eurer Firma?“ „Wir sind zufrieden. Nächste Woche haben wir Urlaub und dann wollen wir nach unten fahren. Ein bisschen ans Meer.“

„Schau, schau. Hattet ihr nicht kürzlich Urlaub?“

„Nein, ich war auf Kur. Urlaub kommt jetzt.“

Zum Teufel.

„Ihr habt´s gut. Keine Frage. Frau, ich müsste auch mal zur Kur.“

„Ich auch.“

„Gut, zuerst du, dann ich. Vier Wochen lang mit diesen Faulpelzen aus den deutschen Firmen in Schwimmbädern plantschen und uns massieren lassen. Das wäre doch was, oder Frau?“ „Davon können wir nur träumen, Mann.“

„Hört auf zu jammern. Euch geht´s doch fabelhaft. Ihr zwei versteht euch gut, der Laden läuft bestens, die Kinder sind wohlauf. Ihr seid gesund und die Villa in Split wächst und wächst. Nicht wahr?“

„Ach, die Villa. Wann sind wir denn schon da? Manchmal frage ich mich, ob das alles einen Sinn macht?“

„Natürlich! Ive, zieht das jetzt durch und geht so schnell wie möglich zurück. Martin aus Dobrovnik Grill bereitet sich aufs Gehen vor. Ich hab ihn gestern getroffen. Ihr gehört zu den Leuten, die nur hier sind, um Geld für unten zu verdienen. Ihr lebt ja nicht wirklich hier.“

„Sondern? Wo leben wir?“

„Ihr lebt unten. Alles, was ihr tut, tut ihr fürs Haus da unten, für die Familie unten. Ihr seid hier vorübergehend, euer Leben wollt ihr erst unten leben. Was macht ihr hier schon außer arbeiten? Wann wart ihr das letzte Mal tanzen? Wann warst du mit deinen Kindern im Zoo? Das Leben verfliegt, Ive. Ganz schnell. Schau uns an. Ich werde vierzig im August. Aber ich lebe mein Leben hier. Was soll ich in Novi Sad? Oder Belgrad? Vielleicht würde ich anders denken, wenn ich ein Haus am Meer hätte, wenn ich aus Dalmatien wäre. Da ist es schöner. Aber ich muss dir sagen, ich finde es hier auch gut.“

Er findet es hier auch gut! Natürlich. Arbeitet acht Stunden am Tag, hat jedes Wochenende frei, fährt vier Mal im Jahr in den Urlaub. Zum Teufel, so würde ich es hier auch gut finden.

„Was sagst du, Frau? Wollen wir bald zurück?“

„Lass mich in Ruhe. Wir haben heute zwei Reservierungen. Insgesamt siebzehn Leute. Ich mache schon die Filets fertig. Stell Servietten auf den Tisch. Manche Kerzen sind abgebrannt. Mach deine Arbeit und lass das Fantasieren.“

„Siehst du, Drago. Ich bin ein Sklave. Und wenn ich wollte, darf ich nicht. Die Frau will ein Marmorbad und Zentralheizung.“

Da sind sie ja wieder. Guten Abend, Dankeschön, Auf Wiedersehen. Teller wegräumen. Mein Magen schmerzt. Ražnjići, Leber vom Grill, Vješalica. Extra Schafskäse. Leber mit Pommes, nicht mit Salzkartoffeln. Jawohl. Zwei Schultheiss. Gudrun und Wilhelm wollen nur ihre Musik hören. Zwei kleine Italiener, Junge komm bald wieder, Er steht im Tor, Ganz in Weiß.

„Ihr wollt schon gehen?“

„Danke für den Kaffee. Wir gehen noch spazieren.“

„Du gehst nicht in die Rehberge? Balote spielen?“

„Was soll ich dort? Gröllenden und fluchenden Dalmatinern zuhören? Nein.“

„Ich zeig dir gleich, wie Dalmatiner fluchen.“

Was für ein Idiot. Hat frei und will nicht in die Rehberge.


„Hast du gesehen, Frau, wie Herrschaften leben können. Wochenende frei, sonntags besuchen sie Freunde und verbringen die Abende zu Hause. Ich kann nicht mal zum balote- Spiel! Frau, vielleicht hätten wir auch in einer deutschen Firma arbeiten sollen? Acht-Stunden-Tag, Krankschreibung, Kur, Urlaub, Wochenende frei! Was sagst du, Frau? Siehst du das?“

„Der Teufel soll dich holen. Dich und balote und die Herrschaften. Ich hab zu tun! Hast du die Tische vorbereitet?“

„Was machen wir mit den Kindern?“

„Ich brauch Meri nicht mehr, sie kann nach Hause gehen.“

„Eh, aber Ana muss noch bleiben. Zumindest bis Der lustige Bosnier die erste Runde bekommen hat. Kinder, wollt ihr Eis? Mit heißen Kirschen?“

Wenigstens kann ich so viel Eis essen, wie ich will. Wenn ich schon nichts anderes darf. Wenn Rosa besser in der Küche wäre, könnte Anka auch nach vorne kommen und ich könnte für ein paar Stunden raus. Zum Spiel gehen. Aber Rosa traut sich nicht allein. Könnte Fran alleine hier bleiben? Den Geldbeutel abgeben? Ob das eine gute Idee ist? Aber wenn Ana etwas älter wäre, dann könnte sie vorne übernehmen, Meri könnte ihr helfen und ich würde für ein, zwei Stunden abhauen. Unter die Leute kommen. Lachen.

Ana muss vorne sicherer werden. Dann kann ich sie hier alleine lassen. Es wird ihr nicht schaden, mehr zu arbeiten. In ihrem Alter habe ich schon meine Familie ernährt.

Nur noch ein, zwei Jahre.

Dann wird das Haus fertig sein und wir können zurück. Jedes Kind eine eigene Etage.

Mein schönes Haus in meinem schönen Split! Es wird weit und breit kein schöneres Haus geben, kein moderneres. Sie werden mich alle bewundern und beneiden. Wie ein echter Herr werde ich leben! Vielleicht ein Café eröffnen. Aber nur Getränke, keine Speisen. Das ist eine Höllenarbeit. Nur Kaffee, CocaCola, Schnaps, Whiskey. Das ist bares Geld. Sonntags in die Kirche gehen. Nach dem Essen auf die riva, ein Schwätzchen halten. Kein ´Dankeschön, kein Auf Wiedersehen´ mehr. Nur noch ein, zwei Jahre.

„So, Ana, wie vereinbart. Zwanzig Mark für dich. Du hast gut gearbeitet. Mach so weiter und Papa wird dir die Verantwortung für den Laden übergeben. Du wirst Chefin sein. Was hältst du davon? Geht jetzt nach Hause, macht euch fertig für die Schule morgen. Den Rest schaffen Fran und ich alleine. Schön aufpassen und nicht durch den Park gehen. Geht an der Gerichtsseite entlang. Da ist immer Polizei.“

Mein Magen. Ein Kräuterschnaps könnte helfen.

Ein guter Sonntag. Gute Gäste. Gudrun war wieder besoffen. Zum Glück hat sie sich heute nicht in die Hosen gepisst, und ich musste nicht die Sitzbank putzen. Heute hat sie es bis zum Klo geschafft. Ein guter Tag.

„Bist du zufrieden, Frau?“

„4700 Mark. Das Mittagsgeschäft war besser als heute Abend, nicht wahr? 4700 ist zwar nicht schlecht, noch 300 und dann hätten wir die 5000 voll. Aber gut!“

„4700 sind nicht schlecht. Lass uns nach Hause gehen, Frau. Wir sind müde. Gott sei Dank ist morgen Montag.“

„Der heilige Montag!

Dalmacija Grill

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